Cover

Introduction und Inhalt

 

 

Carmen Sevilla

 

 

Anett und Joschi
Anfassen nicht möglich

 

 

Erzählung

 

 

Those who restrain desire do so because
theirs is weak enough to be restrained.”

 

William Blake

 

 

Anett und Joschi lernten sich schon im Kinderladen kennen. Später wollten sie sich trennen, aber welch ungewöhnliche Entwicklung es nahm, ist in der Geschichte zu erfahren. „Ihr werdet euch also trennen, und was machst du dann?“ fragte Joschi. „Na, dann können wir uns immer treffen wie früher. Nur früher haben wir alles zusammen gemacht, haben viel miteinander geredet, jetzt gehen wir nur noch miteinander ins Bett. Und wenn wir nicht miteinander ficken, was machen wir dann? Hast du da schon eine Idee?“ erkundigte ich mich. Eigentlich war alles schrecklich und grausam, aber es war wie früher, mit Joschi war alles zu ertragen. Ich konnte es Alex nicht sagen und schob es Tag für Tag hinaus. „Es ist fast genauso wie früher, wenn wir uns treffen,“ erklärte ich, „aber es wird das Licht des Tages angezündet, können wir das denn heute noch sagen?“ „Schon, nur heute machen wir dazu erst einen Ringkampf bis die Morgenröte anbricht. So war es in der Bibel auch. Anschließend ist es doch hell, oder für dich nicht?“ meinte Joschi. „Ich weiß nicht, hell schon, aber ich bin auch tot. Ich muss mich hinterher immer erholen. Total angespannt bin ich dabei, jede Zelle muss mit dir auf den Gipfel. Ich könnte ja auf der anderen Seite abstürzen, aber ich falle immer in weiche Maienbutter umgeben von Margeriten und Mohnblüten. Insofern ist es schon wie die Morgenröte. Ein Licht das nicht nur hell, sondern auch warm, wonnevoll und glücklich empfinden lässt.“ stellte ich es dar.

 

 

Anett und Joschi - Inhalt

 

Anett und Joschi 3

Freund und Feundin gesucht 3

Verliebtheitszirkus 4

Enge Freunde vom ersten Tag 5

Eigenständiges Leben 6

Herbstschleier 7

Studium 8

Tanz in den Mai 9

Ohne Drehbuch 9

Nicht nochmal 10

Es hat keinen Zweck mehr 13

Geständnis 15

Leben mit Joschi 15

 

 

Anett und Joschi - Freund und Feundin gesucht

„Weißt du, ich habe einen total netten Jungen kennengelernt. Absolut toll find' ich den. Super klasse ist der. Ich werd mich jetzt öfter mit ihm treffen, da bleibt für uns nicht mehr so viel Zeit. Natürlich können wir nicht mehr ständig zusammen sein. Und ich werde auch gar nicht mehr so viel an uns denken, Jo­schi, die Liebe ist nämlich auch etwas Berauschendes und füllt meine Gedan­ken fast ganz aus. Für uns bleibt da gar nicht mehr so viel Platz.“ erklärte ich ganz nüchtern. Joschi hatte auch ganz ruhig zugehört. „Und für wann hast du das vorgesehen? Ist schon ein Termin festgelegt?“ erkundigte er sich. „Joschi, du bist gemein, ich bin doch schon verliebt. Hast du das denn nicht gehört?“ reagierte ich lachend. „Aber wie stellst du dir das denn vor? Mehrere Mädchen aus unserer Klasse haben schon einen Freund, mit dem sie gehen. Soll ich mir auch einen zulegen? Bei dir wird es bald nicht anders aussehen. Alle werden sie eine Freundin haben, da brauchst du doch auch eine.“ erklärte ich. „Du spinnst, Anett, ich brauche keine Freundin.“ reagierte Joschi. „Aber immer, Jo­schi, alle Jungen brauchen eine Freundin, und alle Mädchen brauchen einen Freund, weil alle Frauen einen Mann und alle Männer eine Frau brauchen. Das ist nun mal so. Das ist natürlich. So ist das in den Genen festgelegt, in deinen auch.“ reagierte ich. „Und du? Seit wann bist du auf einmal nicht mehr meine Freundin? Hat es seitdem wir uns im Kinderladen kennengelernt haben einen Tag gegeben, an dem du bezweifeln konntest, meine Freundin zu sein?“ Joschi dazu. „Na klar, du bist genauso gut für mich das Kostbarste auf der Welt, und das weiß du doch auch, aber das ist ja ganz anders. Bei uns ist es doch nicht so, wie bei Verliebten, oder soll ich jetzt sagen: „Joschi, ich liebe dich. Ich will mit dir gehen. Komm her und küss mich.“?“ wollte ich geklärt haben. Wir krin­gelten uns vor lachen. Das taten wir offensichtlich am liebsten. Unsere Bezie­hung war ganz stark geprägt von dem Bedürfnis, gemeinsam zu lachen. Damit hatte es am ersten Tag im Kinderladen begonnen und die Struktur hatte sich bis heute immer erhalten. Früher hatten wir uns meistens umarmt und dabei auf dem Teppich oder dem Bett gekugelt. Wir balgten auch gern und kämpften mit Kitzeln, aber das hatte irgendwann, wir wussten nicht mal genau wann, wahrscheinlich war es schleichend weniger geworden, aufgehört. Warum, konnte auch keiner sagen. Wahrscheinlich war es eines von diesen unausge­sprochenen und ungeschriebenen Gesetzen der Allgemeinheit, die du internali­siert hast, ohne dir je Gedanken darüber zu machen. Du weiß es nicht einmal, aber befolgst sie unbewusst. Wie viel es davon sonst noch wohl gab, was du einfach so machst, wie alle es so tun, wie man es eben so macht? „Wenn es dir gar nicht bewusst wird, kannst du es doch auch nicht verhindern. Dann tust du oder unterlässt etwas doch automatisch.“ hatte Joschi gemeint. „Aber wenn ich dich frage, warum du für die Mathearbeit paukst, dann kannst du mir sagen, warum du es tuest. Wo du aber sagen musst, weil man es so macht, weil alle es so tun, hast du eigentlich keinen Grund genannt. Alles was du machst ist dein persönliches Handeln, immer. Die Allgemeinheit oder man können kein Grund sein, der mit dir selbst etwas zu tun hat. Wenn du zu mir kommst, tust du es doch, weil du dich darauf freust. Mit der Allgemeinheit wollte ich nicht jeden Nachmittag etwas zu tun haben.“ erläuterte ich. Wir hatten schon darüber gesprochen, als wir noch relativ jung waren. Das hatte zur Folge, dass unser Verhalten nicht selten als widerspenstig, renitent und nonkonformistisch bezeichnet wurde, wenn man freundlich war. Bei den Mitschülerinnen und Mitschülern brachte es manchmal Anerkennung, wenn es so eingeschätzt wurde, dass man sich etwas nicht gefallen ließ.

 

Verliebtheitszirkus

Aber jetzt, wollten wir es nicht genauso machen, wie es alle machen? Auch wenn keiner von uns beiden ein Bedürfnis nach Liebesrausch in sich verspürte, war es doch nicht etwas, worum man sich nicht zu kümmern brauchte. Es war nicht eine Mode von heute, etwas was die Leute zur Zeit so machten, worauf man aber auch genauso gut verzichten konnte. „Stell dir das doch mal vor, wir würden verliebt spielen. Immer mit verliebter Stimme uns gegenseitig zärtlich Süßes sagen.“ malte ich ein Bild. „Hör auf, lass das, benimm dich normal.“ würde ich sagen, weil ich es nicht ertragen könnte, dich so bekloppt zu erle­ben.“ erklärte Joschi. „Na klar, das ging gar nicht. Es wäre absolutes Zirkus­theater.“ bestätigte ich Joschi. „Meinst du nicht, dass es bei den andern oft ge­nauso ist. Die wollen es nur nicht sehen und dürfen es vor sich selbst nicht wahrhaben. Liebe? Wo soll denn da die Liebe sein? Die kennen sich doch meis­tens kaum. Die lieben ihre eigenen Illusionen und Träume.“ erklärte Joschi. „Na, was willst du auch anders lieben, als das was in deinem Kopf ist, nur hat das bei den meisten ja gar keine Basis. Die haben doch keine Erfahrung in ge­meinsamer liebevoller Praxis. Die haben doch meistens kaum etwas miteinan­der zu tun gehabt. Die schwärmen ausschließlich von ihren Wunschbildern und von der Glückseligkeit der Liebe. Total an der Oberfläche. Sentimentalitäten sind das, wie sie sie auch auf dem Weihnachtsmarkt haben können, nur das darf man nicht erkennen.“ kommentierte ich bestätigend. „Und was meinst du, wie lang die Erfahrung mit gemeinsamer liebevoller Praxis dauern müsste, bis du erkennen kannst, dass es sich um tiefgründige, fundierte Liebe handelt? Würden da zehn Jahre ausreichen?“ wollte Joschi von mir wissen und lachte. „Wäre doch nicht schlecht, oder. Nur kann man sich dann auch gegenseitig nicht mehr anfassen, nicht mehr küssen oder sogar miteinander ficken.“ mein­te ich dazu. Wir kannten uns schon länger als zehn Jahre. Eigentlich hätte sich doch in der Pubertät der Wunsch nach sexuellem Kontakt entwickeln müssen, aber das Gegenteil war eher der Fall. Die Vorstellung, dass ich mit Joschi ins Bett gehen und mit ihm Sex haben sollte, war nicht nur undenkbar, sondern widerlich abstoßend. Joschi erklärte auch:„Ich weiß nicht, warum das so ist, aber wenn ich mir vorstelle, dass ich dir an die Brust fasse, und es würde mich erregen, müsste ich mich vor mir selbst furchtbar schämen.“ „Ich kann mir das nur so erklären,“ stellte ich es dar, „dass wir so eng verbundene Freunde sind, macht uns direkt selbst aus, den Menschen Joschi und den Menschen Anett. Das ist etwas Unzerbrechliches aus unserem Wesen. Das Verhältnis von Mann und Frau, mit dem wir jetzt konfrontiert werden, hat damit nichts zu tun. Das sind Zusammenhänge aus dem Alltag, der keineswegs automatisch zu uns passt.“ „Und warum passt der Alltag nicht zu uns? Wir sind doch in diesem All­tag aufgewachsen und leben in ihm?“ wollte Joschi wissen. „Na, unsere Liebe das sind wir selbst, wir ganz authentisch, aber das Alltagsleben, das uns umgibt, sind keineswegs wir selbst. Es ist auch nicht selbstverständlich zufällig alles so, wie es ist. Hinter allem was geschieht, was die Leute tun, stecken immer Interessen, und das sind nicht unsere.“ erklärte ich. „Sondern? Welche Interessen stecken dahinter?“ wollte Joschi wissen. „Du Schlaumeier, wir leben im Kapitalismus, das weißt du doch auch. Letztendlich ist alles daran ausgerichtet. Verhalten, das dazu passt oder nicht stört, ist erlaubt, was ihn stört oder sogar bekämpft, ist verboten oder wird sonstwie sanktioniert.“ erläuterte ich. „Du meinst also, wie wir uns lieben, sieht der Kapitalismus nicht so gern. Wir sollten uns einen Freund oder eine Freundin zulegen, dann wäre es in Ordnung?“ erkundigte sich Joschi und bot dadurch wieder einen Lachanlass.


Enge Freunde vom ersten Tag

Auch wenn wir keinesfalls vorhatten uns kapitalismuskonform zu verlieben oder unsere Liebe in ein Liebesrauschtheater zu verwandeln, blieb es das zen­trale, ungelöstes Problem. Im Grunde bestand direkt gar kein Problem. Nie­mand verspürte ein Bedürfnis oder ein Verlangen, es war uns nur völlig unklar, wie es in Zukunft werden könnte. Glücklich und zufrieden waren wir miteinan­der. Entstanden war es so ähnlich, wie das, was andere mit Liebe auf den ers­ten Blick bezeichnen. Wenn es bei Frau und Mann geschieht, kann Liebe daraus werden, aber ich glaube, dass Ähnliches grundsätzlich unter allen Menschen immer möglich ist. Es wird etwas Angeborenes oder zutiefst Menschliches sein, wie und was du in dem anderen erkennst. Schon Babys, denen alle Erfahrun­gen mit den später erlernten Klischees fehlen, können beim Anblick eines an­deren Menschen sehr gut differenzieren. Den Menschen an sich sieht der kleine Junge in seinem Opa, bei dem er spürt, dass der nie etwas zu seinem Nachteil wird denken können. Nichts ist ihm davon bewusst oder sogar formulierbar. Ähnlich muss es bei mir und Joschi im Kinderladen verlaufen sein. Als ich mit ihm bekannt gemacht wurde, sagte er: „Anette, Babette.“ Ich wollte wissen, wieso. „Ja, so heißen die Frauen von den Männern, Anette, Babette, Henriette. Henriette ist die Frau von Heinrich.“ erläuterte er. „Und wie heißt mein Mann?“ wollte ich wissen. „Anton“ bekam ich zur Antwort. „Aber von Joschi, wie heißt denn deine Frau?“ sollte er beantworten. „Gibt es nicht. Ich finde bestimmt nie eine Frau.“ meinte er. Nach kurzer Bedenkzeit fiel mir ein: „Doch, ich weiß, Josefine heißt deine Frau.“ „Weiß du denn, wie Frau Merschmann heißt?“ fragte ich. „Marianne.“ wusste Joschi. „Und ihr Mann, wie heißt der?“ wollte ich wis­sen. „Wir können sie ja mal fragen.“ schlug Joschi vor. „Herr Merschmann.“ sagte sie zunächst, aber Joschi fragte nach dem Vornamen. „Frank.“ antworte­te sie knapp. Offensichtlich waren wir leicht verblüfft. Das passte doch über­haupt nicht. „Und warum heißt du nicht Franziska?“ erkundigte sich Joschi. Aber die Antwort warteten wir gar nicht ab, sondern rannten lachend weg. „Deine Mutter, wie heißt die?“ fragte ich Joschi. „Ruth.“ sagte er. „Und dein Va­ter?“ wollte ich noch wissen. „Der passt überhaupt nicht dazu. Für Ruth gibt es keinen Mann.“ erklärte Joschi. Ein schweres Problem. „Joschi, ich weiß, Rudolf heißt dein Papa.“ Schon seit Anton und Heinrich hatten wir immer gelacht und gekichert, und das ging immer so weiter. Wir redeten absoluten Blödsinn und lachten uns schief. Aber Joschi zeigte und erklärte mir auch alles im Kinderla­den. Er war ja schon fast ein halbes Jahr da. Auch die anderen Kinder erklärte er mir nochmal, aber so, dass wir uns bei jeder oder jedem schief lachten. „An­ett hat sofort einen Freund gefunden.“ erklärte die Erzieherin meiner Mutter, „Die beiden haben die ganze Zeit zusammengehangen.“ Das blieb auch so, am nächsten Tag und am übernächsten Tag und immer. Kinderladen, das war für mich, mit Joschi zusammen sein. Die anderen bildeten nur die Equipage und der Laden selbst hatte den Rang von schmückendem Beiwerk. Schon im Kin­derladen besuchten wir uns gegenseitig und verbrachten die Nacht gemeinsam bei Joschi oder bei mir. Unsere Eltern verstanden sich gut und amüsierten sich über uns. Wir seien wie verschweißt, erklärten sie, aber freuten sich auch dar­über, dass wir so dick befreundet waren. Urlaube mussten gemeinsam ver­bracht werden. Die Provence mochte ja noch so schön sein, aber was zählte sie, wenn man Joschi da nicht sah? In der Schule änderte sich daran nichts. Wenn ich ermahnt wurde, meine Hausaufgaben sorgfältiger zu machen, fuhr Joschi auf: „Warum beleidigen sie Anett? Sie ist eine gute Schülerin.“ „Joschi, was geht dich das denn an?“ reagierte die Lehrerin. „Anett ist meine Freundin. Wenn jemand ihre Freundin beleidigt, dann sagen sie auch nichts dazu?“ kon­terte Joschi. Es sprach sich wohl im Laufe der Zeit überall herum, dass Lehre­rinnen und Lehrer es bequemer fanden, nie jemanden von uns beiden zu kriti­sieren. Ich hatte schon Freundinnen und Joschi hatte auch Freunde, wir ver­standen uns sehr gut und unternahmen auch gemeinsam etwas, aber dabei handelte es sich um eine ganz andere Kategorie von Beziehungen. Ob wir ver­schweißt oder wachsen waren, was spielte das für eine Rolle? Joschi war in mir, ich war ohne ihn nicht denkbar. Gleichzeitig war er aber auch ein anderer, den ich gewiss so gut kannte, wie sonst niemanden, aber trotzdem wurden wir nie identisch. Darin lag ja auch der Reiz seit dem ersten Moment unseres Ken­nenlernens. Wir meinten, uns direkt als originale nackte Menschen erkannt zu haben. Später umgeben sich die Menschen mit Masken und einer ganzen En­tourage aus Verhaltensweisen und Beiwerk, dass ihrer Auffassung nach, ihre Persönlichkeit darstellen soll, den wirklichen Menschen in ihnen aber kaum noch erkennen lässt. Vielleicht geschieht das bei der Liebe auf den ersten Blick doch. Der Blick sieht nur tiefer und erkennt mehr als die vorgeführte Oberflä­che, weshalb diese Liebe auch dauerhafter sein soll.


Eigenständiges Leben

Wir konnten das Problem nicht lösen, wollten das eine nicht und konnten das andere nicht. Es war müßig, immer erneut darüber zu reden, und wir sprachen nicht mehr darüber. Eine sonderbare, unehrliche Situation entstand. Beide spürten wir es, dass die Zukunft unserer Beziehung unser Hauptanliegen war, nur wir sprach über etwas anderes. „Joschi, dass ist doch hirnrissig, wir wissen beide, dass unser Problem durch reden nicht zu lösen ist, würden es aber doch gerne tun, nur schweigen wir darüber. Ich sehe es mittlerweile ganz anders.“ erklärte ich, was Joschi natürlich erläutert haben wollte. „Wir suchen und wol­len sie finden, aber vielleicht ist es schlicht so, dass es da wo wir suchen, gar keine Lösung geben kann. Schau mal, wenn du zu studieren beginnst, dann ziehst du aus, dann ist die gemeinsame Zeit mit deinen Eltern und deinem Zu­hause zu Ende. Dann beginnt etwas Neues für dich, und du suchst ja auch nicht, nach einer Lösung für das Problem, weil du die alte Zeit trotzdem fort­setzen möchtest. So ähnlich sehe ich es auch mit uns. Die wundervolle Zeit un­serer Kindheit und Jugend sollten wir beenden und versuchen zu einem neuen selbständigen Leben zu finden. Nichts von allem was gewesen ist, werden wir deshalb vergessen, aber wir sollten ein eigenständiges, neues Leben begin­nen.“ erläuterte ich. Joschi schwieg und sagte auch weiterhin so gut wie nichts mehr. „Sieh doch mal, zur Pubertät gehört doch nicht nur, dass du ge­schlechtsreif wirst, sondern deine Mentalität ändert sich genauso gut. Du emp­findest dich als erwachsener, eigenständiger Mensch. Da sollten wir nicht ver­suchen, unsere Kindheit und Jugend hinüber zu retten. Wir müssen selbst je­mand werden, dann wird sich unser Problem nicht mehr stellen, sondern wir werden ganz andere, neue Wege finden.“ fuhr ich fort. „Du meinst also, es sollte vorbei sein mit uns beiden. Das wäre das Beste und würde alle Probleme lösen?“ mehr sagte Joschi nicht. Dann ging er. Zu Hause hat er bestimmt ganz viel geweint, wenn er es sich vorzustellen versuchte, oder er hat überlegt, warum alles falsch wäre, was ich gesagt hätte. Bei mir schwankte es immer hin und her. Einerseits glaubte ich schon, was ich gesagt hatte, aber eine Welt ohne Joschi? Das konnte ich mir auch nicht vorstellen, das war gar nicht denk­bar. Ich würde mich daran gewöhnen müssen. Einfach würde das keinesfalls werden, aber ich war schon überzeugt von dem, was ich gesagt hatte. Ich wür­de stark sein, denn einfach zu dem zurück, wie es immer gewesen war, kam keinesfalls in Frage. Natürlich kam Joschi jetzt auch noch, aber seltener. Ein­mal haben wir noch lange darüber geredet, weil Joschi alles ganz anders sah. Letztendlich lief es darauf hinaus, dass er meinte, es sei unmenschlich, was wir uns damit antun würden, sowohl mich als auch ihm würde das psychischen Schaden zufügen. So ginge es nicht, das könnten wir uns selbst nicht antun. Nur eine andere Lösung wusste er auch nicht.


Herbstschleier

Zu Anfang kam ich mir stark und tapfer vor, dass ich auch in der Lage war, Tage ohne Joschi zu verbringen. In der Regel, wenn nicht etwas Besonderes anlag, hatten wir uns jeden Tag außerhalb der Schule am Nachmittag oder Abend getroffen. Fast immer bei mir. Wir hatten anfangs mal gesagt, bei mir gebe es mehr Möglichkeiten, aber später war es einfach zum Ritual geworden. Seit dem ersten mal spürte ich die Freude, wenn ich wusste, das Joschi kam. Zur selbstverständlichen Alltagsroutine wurde es nie. Menschen, für die es zum selbstverständlichen Alltag gehört, liebe Freunde mit einem flapsigen „Hy“ zu begrüßen, erkennen ihre wirklichen Gefühle nicht mehr, nehmen sie gar nicht mehr war. Der Freund wird zum Teil ihres technologisierten Tagesablaufs. Na­türlich fehlte mir Joschi. Wie richtige Trauer kam es mir vor, als ob ich ihn ver­loren hätte. Geweint habe ich auch nicht selten. Es veränderte mich aber auch selbst insgesamt. Anett, das war die Junge Frau, in deren Leben es jeden Tag einen Anlass zur Freude gab. Als absolut lebenslustig konnte man mich be­zeichnen. Im Grunde war ich immer gut drauf, und wenn es irgendwo ein Pro­blem gab, wusste ich, dass ich es würde lösen können. Das dämpfte sich alles und legte sich. Es war nicht nur so, dass ich Joschi nicht mehr sah, sondern es gab auch die Situation seines Besuches nicht mehr. Dem Tag würde das Licht angeschaltet, wenn wir zusammen kämen, hatten wir mal gemeint. Jetzt blieb das Licht immer aus. Psychischer Schaden? Das weiß ich nicht genau, aber es veränderte mich sehr stark. Eine graue Arbeitsbiene wurde aus mir. Es ging mir nur noch um gute Zensuren. Angeblich damit ich anschließend die Möglichkeit hätte, alles studieren zu können. Aber ob das als tägliche Motivation ausreicht, würde ich heute bezweifeln. Wahrscheinlich suchte ich dadurch eher Anerkennung und Bestätigung für meine selbst verursache, aber nicht eingestandene Frustration. Joschi sah ich ja immer noch jeden Tag in der Schule, und er kam mich auch hin und wieder besuchen, aber es tat außerordentlich weh. Da redete ich mit meinem Joschi wie mit einem guten Bekannten. Es war so pervers, dass ich anschließend immer heulen musste. Wir hatten zwar unsere regelmäßigen Kontakte eingestellt und wollten ein neues Leben beginnen, aber in mir hatte sich kaum etwas verändert, da war Joschi wie eh und je. Da war auch nichts dran zu löschen und das wollte ich auch keinesfalls.


Studium

Die Tage zogen sich. Im Grunde war das nicht mein Leben. So konnte es nicht sein und sollte es nicht sein. Das war ich nicht gewohnt, dafür war ich nicht ge­schaffen, aber was sollte ich denn tun? Meinem Leben fehlte der Glanz, wie ein Sommer, dem die Sonne fehlt. Schließlich war das Abitur doch erreicht. Was ich studieren sollte, wusste ich gar nicht genau. Ich hatte schon bei einigem Aversionen, und bei anderem sah ich mich nicht in der Lage. Informatik? Dar­auf war ich durch Joschi gekommen. In der Schule war ich auch ganz gut, aber vorm Studium hatte ich Befürchtungen. Medizin hätte ich sogar studieren kön­nen. Die sozialen Kontakte mit den Patienten sagten mir ja auch wohl zu. Bei Sprachen hatte ich gar keine Erfahrung, und ich meinte, die sei unverzichtbar. Psychologie fand ich interessant, aber vor allem hatte mich Biochemie interes­siert. Für eins von den beiden wollte ich mich auch entscheiden. Die Psy­chostruktur der Beziehung zwischen Joschi und mir verstehen zu wollen, war sicher keine gute, brauchbare Basis. Vor allem war es ja auch eine Angelegen­heit sozialen Verhaltens. Folglich studierte ich Biochemie, da war ich mir si­cher, dass ich auch sofort wieder viel zu pauken hätte, das gewohnte Leben. Joschi hatte sich auf einen Studienplatz für Informatik in München beworben und ihn auch erhalten. Jetzt konnte das neue Leben wirklich beginnen. Wir sa­hen uns nicht mehr und schrieben uns auch nicht. Ich wollte es nicht, weil es mich quälte, mit Joschi Smalltalk zu reden. Mich erinnerte hier nichts mehr an Joschi, außer meinem Zimmer, in dem ich sein Bild noch öfter sah. Joschi war wohl extra unseretwegen nach München gegangen, um alle Erinnerungsmög­lichkeiten zu tilgen und wirklich ein neues Leben entwickeln zu können.


Tanz in den Mai

Tanz in den Mai. Der Asta veranstaltete eine Fète und ich war mit zwei Freun­dinnen dort. Ich ging schon zu Parties und Fèten, wenn jemand Geburtstag hatte oder aus einem anderen Grund eingeladen war, nur es gab eben immer ein wenig Smalltalk und ich war meistens früh wieder zu Hause. Kontakte zu Männern suchte ich nicht. Das war genauso geblieben, wie seit der gemeinsa­men Zeit mit Joschi. Es zog mich nichts und wäre mir eher lästig vorgekom­men. Wir redeten über dies und das und wollten wohl ein wenig lustig dabei sein, Mai und Frühling symbolisieren ja schließlich neu erwachendes Leben und lassen dich glücklich fühlen. „Es ist Tanz in den Mai. Wollt ihr gar nicht tanzen?“ meinte ein Mann, der bei uns am Tisch vorbei kam. Wir grinsten nur. „Wollen sie nicht mal mitkommen und mit mir tanzen?“ fragte er mich direkt. Na, warum nicht, dachte ich. Er erzählte beim Tanzen irgendwelchen Blödsinn, und ich musste lachen. Er wollte nochmal. War ja nicht schlecht und lustig. Wir tanzten immer weiter. Mir machte es auch Spaß. Irgendwann spielten sie auch einen Walzer. Der Mann umschlang mich, wir drehten uns und lachten uns schief. Es war als ob wir gar nicht wieder aufhören könnten, zu tanzen. Ich brauchte eine Pause. Nach kurzer Zeit kam der Mann und fragte, ob ich noch­mal Lust hätte. Es kam mir vor, als ob ich in meinem Leben nichts anderes ge­wollt hätte, als tanzen, es nur bislang vergessen hatte. Jetzt spielten sie auch einen Tango, und wir bogen uns vor Lachen bei dem Versuch, ihn zu tanzen. Ich war total aufgeblüht. Getrunken hatte ich so gut wie nichts, aber ich kam mir richtig high vor. Alex hieß der Mann und war auch Student. Wir redeten fast die ganze Nacht, und solange es Musik gab, tanzten wir auch immer mal wieder. Die Nacht war ein ungekanntes Erlebnis. Ich hatte mich wieder richtig gefreut, und bemerkt, wie lange es das für mich schon nicht mehr gab. Nicht nur das Tan­zen mit ihm, sondern auch Alex selbst gefiel mir extrem gut. Aus meinem Tanzpartner wurde mein Freund, der mit mir zusammenleben wollte und seine bisherige Freundin deshalb verließ. Er meinte, vom ersten Tanz an hätten un­sere Körper gezeigt, dass wir zusammen passen würden. Natürlich gab es viel mehr und anderes, als dass wir gut miteinander tanzen konnten. Ich meinte, einen Jungen oder Mann wie Alex noch nie kennengelernt zu ha­ben. Er studier­te Germanistik und war äußerst gebildet. Nicht nur in der Litera­tur kannte er sich aus, sondern auch in allen anderen kulturellen Bereichen. Unsere Unter­haltungen waren immer sehr anspruchsvoll und bereiteten große Freude. Trotzdem war er körperlich so flexibel und begeistert sich zu bewegen. Wir verstanden uns äußerst gut und meinten, dass es nichts geben könne, was uns je wieder auseinander brächte. Deshalb überlegten wir, ob wir da nicht schon jetzt Kinder haben wollten, und nicht so lange warten, bis wir beide fer­tig wä­ren. Es könnte ja auch gut sein, dass wir noch promovieren würden, und da hätten die Kinder dann später alte Eltern. Folglich setzte ich die Pille ab und wurde schwanger.


Ohne Drehbuch

Vier Jahre waren jetzt seit der Schule vergangen. Mein Sohn José war schon fast ein Jahr alt und Alex und ich würden uns demnächst um unsere Examina kümmern müssen. Es waren Semesterferien, und ich wollte zu einer Freundin. Auf der Straße begegnete ich einem Mann. Wäre beinahe an ihm vorbei gelau­fen. „Joschi!“ entfuhr es mir ungläubig und erstaunt, vielleicht auch erschro­cken. Wir fielen uns um den Hals und wollten uns gar nicht wieder loslassen. Es durchglühte mich wie ein plötzlicher Fieberstoß. Bestimmt war ich auch im Gesicht ganz rot geworden. Wie glückliche Sonnen starrten wir uns an. „Wo warst du? Wo hast du gesteckt?“ fragte ich blödsinnig. Was sollte ich Joschi denn auch Gescheites sagen? Joschi schien es auch nicht fassen zu können. Er starrte mich nur wie mit Kuhaugen an. „Warum lässt du mich so lange warten?“ fügte ich dem Schwachsinn noch hinzu. Total ergriffen und verwirrt kam ich mir vor. Ob es gar nicht Joschi tatsächlich selbst war, sondern eine Erscheinung? So war es bei den ganzen Heiligen ja auch. Dein Unbewusstes ist voll davon, und plötzlich meinst du ihm real gegenüber zu stehen. Es würde sich ja zeigen. „Ich muss noch eben zu Hella, ihre Blumen gießen. Die ist in Urlaub. Kommst du mit?“ fragte ich. Natürlich kam Joschi mit zu Hella. In ihre Wohnung angekommen, zog ich meine Jacke aus und zog Joschi seine auch aus. Selbstverständlich geschah das, als ob es so im Drehbuch stünde. Wir drückten und rieben uns aneinander. „Joschi ich habe dich so vermisst, wie kannst du mich so lange allein lassen?“ erklärte ich noch. „Du bist zwar immer bei mir, aber manchmal muss man sich doch auch richtig lebendig sehen.“ verkündete ich, als ich Joschi das Hemd öffnete und es ihm auszog. Kein Wort verlor ich dazu. Es musste eben so geschehen. Ich zog mir auch Bluse und BH aus. Meinen Joschi musste ich doch richtig spüren können. Wir touchierten uns nicht zärtlich mit den Fingerkuppen, meine ganze Hand wollte alles von Joschi erfassen und begreifen. Überall wollte ich alles von ihm in meiner Hand spüren, wollte Joschi in der Hand halten. Joschi machte es nicht anders. Ob er es mir nachmachte, was ich eher nicht glaube, oder ob es ein Ausdruck von Eupareunie, unausgesprochenem Gleichklang, was bei uns ja gut möglich sein konnte, war, wusste ich nicht. Es dauerte nicht lange, bis wir nackt auf Hellas Bett lagen. Ob ich sexuell erregt war, kann ich im Nachhinein gar nicht mehr genau sagen. Ich empfand mich nur insgesamt als glühend und wollte Joschi ganz, alles von ihm. Es gab nichts an mir und in mir, das kein Verlangen nach Joschi spürte. Nur mein Verlangen zu befriedigen spielte jetzt eine Rolle. Alles andere auf der Welt existierte für mich in diesem Moment nicht. Joschi sagte fast nichts, sondern brachte immer nur in allen Versionen von Sprachmelodien: „Anett“ hervor. Bestimmt rief die Nennung meines Namens alle Assoziationen an glückliche Erinnerungen von uns beiden in ihm wach. Mit vielen Küssen und immer wieder die Wangen streichelnd und aneinanderlegend verabschiedeten wir uns hinterher. Weiteres vereinbarten wir nicht.


Nicht nochmal

Beurteilen konnte ich das nicht, was geschehen war. Ich hatte es ja auch gar nicht verstanden. Nur dass es unbedingt sein musste, und nichts anderes mög­lich war, das hatte ich verspürt und erlebt. Es war ein Rausch, ein unbedingtes Verlangen. Warum ich mit dem Joschi, den ich damals nicht zu berühren wag­te, jetzt zwanghaft ins Bett musste, verstand ich erst Recht nicht. Offensicht­lich hielten wir uns beide plötzlich für unwiderstehlich. Vielleicht waren wir beide mittlerweile vitale Erwachsene geworden, die sich über ihre Libido keine kindlichen theoretischen Gedanken mehr machten. Ich kannte mich nicht mehr, diese Anett kam in meinem Leben nicht vor. Ich sah mein Gesicht in vie­len Bildern. Ernst waren sie, sie lachten nicht, doch Traurigkeit und Sorgen ka­men auch nicht vor. Ihr Ernst war milde, freundlich, fest. Zu einem zarten Lä­cheln waren sie bereit. Aber das war ich ganz allein und ganz authentisch. Mit der Anett, der Ehefrau und Mutter hatten die Bilder nicht viel gemeinsam. All die Vielzahl von Gedanken und Empfindungen, die Ausdrucksformen und Dar­stellungsweisen, die mein Alltagsleben bildeten, fehlten. Erst jetzt war ich per­sönlich erwachsen geworden, hatte den erwachsenen Menschen in mir gese­hen. Ob Joschi mich auch so erkannt hatte? Wie ich Joschi gesehen hatte, kann ich gar nicht beschreiben, der Rausch meines Unbewussten hatte sich mir nicht offenbart.

Joschi hatte meine Telefonnummer herausgefunden und rief mich nach einigen Tagen an. Mein Mann war am Telefon, ob er wohl Anett sprechen könne. „Was gibt’s, Joschi“ fragte ich. „Wir müssen uns nochmal Treffen, Anett.“ wünschte er. „Wir haben uns doch getroffen. Das reicht.“ erklärte ich. „Anett,...“ begann er. Ich unterbrach ihn: „Ich kann jetzt nicht.“ und legte auf. Ein mieses Gefühl in der Magengegend. Ich hatte meinem Joschi das Wort abgeschnitten. Aber was sollte ich denn machen? Unser Wiedersehen war schon ein irres Erlebnis für mich. Wie eine Süchtige hatte ich Joschi gewollt, das war für mich unvor­stellbar, und ich hätte es abgestritten, wenn es mir jemand prophezeit hätte. Nochmal brauchte ich so etwas nicht, aber das könnte es ja auch gar nicht ge­ben. Gefühle lassen sich eben nicht wiederholen. Joschi hatte mit einem Such­programm meine E-Mail Adresse herausgefunden. Er müsse unbedingt mit mir sprechen. Ich solle ihm seine Bitte nicht abschlagen und so tun, als ob ich ihn gar nicht kennen würde. Damit würde ich ihm sehr weh tun. Ich richtete eine neue E-Mail Adresse ein und antwortete ihm von da aus: „Joschi, mein Joschi, wir haben uns doch wiedergetroffen. War das denn nicht berauschend, oder hast du es nicht so empfunden? Sollen wir es nicht bei dieser wundervollen Er­fahrung bewenden lassen? Was willst du denn noch besprechen? Anett, die dich ihr Leben lang in ihrem Herzen tragen wird.“ Wir hätten ja kaum etwas gesagt, sondern uns nur fast obsessiv gegenseitig verschlungen. Es dränge ihn intensiv, mich nochmal zu treffen und ein paar Worte mit mir zu reden. Wir trafen uns in einem Café. Joschi berichtete, dass es bei ihm auch allmählich mit dem neuen Leben funktioniert und er jetzt eine feste Freundin habe. Ich erzählte von meiner Familie, aber es hatte den Anschein, dass es nicht das war, was uns beide brennend interessierte. Aber was denn sonst, das war doch eigentlich wichtig für uns beide. Joschi starrte mich schon wieder so komisch an, und ich wusste auch nicht richtig, wie mir war, als ich erklärte: „Hella ist immer noch in Urlaub.“ Du kannst Liebe nicht miteinander vergleichen und Sex bestimmt auch nicht. Zweifellos liebte ich Alex, aber so wie ich Joschi in mir trug, das würde niemals jemand anders erreichen können. Wir hatten ja da­mals keinen Sex gehabt, trotzdem war es mit Joschi so, als ob das gemeinsa­me Erlebnis niemals überboten werden könnte. Es war eben Joschi und den spürte nicht nur mein Körper, sondern er füllte all mein Denken und Empfinden aus. Mir wurde bewusst, wie normal es mit Alex war, wie man es eben so macht und sich vorstellt. Man ist lieb und nett zueinander. Man streichelt sich, du erregst dich, und es fühlt sich ja auch ganz gut an. Zu kritisieren hatte ich nie etwas, aber mit Alex und Joschi das war ein Unterschied wie zwischen ei­nem Kaffeekränzchen und einer rauschenden Ballnacht. Joschi fragte, wann und wo wir uns wiedertreffen könnten. „Überhaupt nicht, Joschi. Das geht nicht. Deine Freundin wird auch sicher nicht begeistert davon sein, und ich bin glücklich verheiratet. Meine Ehe möchte ich dadurch nicht gefährden.“ stellte ich klar. „Anett, ist es denn nicht ein Wunder, wie wir zusammengefunden ha­ben? Wenn wir beide es wollen, wer darf uns denn daran hindern und warum?“ hakte Joschi nach. „Ich habe es doch erklärt. Natürlich gefällt es uns, aber wir müssen doch nicht deshalb unsere bestehenden, gut funktionierenden Lebens­zusammenhänge aufs Spiel setzen oder sie gar zerstören.“ ergänzte ich noch­mal. Als Joschi wieder schrieb, ob wir uns nicht nochmal treffen könnten, frag­te ich Anja, ob wir an diesem Nachmittag ihr Bett benutzen dürften. Ich muss­te Anja schon ein wenig erklären, worum es ging. „Und in Zukunft macht ihr das nicht mehr, dann ist alles wie vorher?“ wollte sie skeptisch wissen. „Anders geht es doch nicht. Dann ist Joschi wieder in München und ich bin hier. Dann ist nichts gewesen.“ erklärte ich. „Das kann ich euch nur wünschen.“ meinte Anja, die es wahrscheinlich so nicht so recht glaubte. Unrecht hatte sie mit ih­rer Vermutung nicht, denn Joschi überlegte, nach Köln zurückzukommen, und sich hier einzuschreiben. „Du spinnst wohl. Was soll das denn. Mich wirst du dann nie wieder sehen. Und Sandra, deine Freundin bedeutet dir offensichtlich nicht sehr viel.“ fuhr ich ihn an. „Doch, schon, ich hatte mir ein wundervolles Leben mit Sandra ausgemalt. Es tut mir sehr weh, für Sandra und für mich selbst ebenso.“ erklärte Joschi. „Dann lass es doch auch bleiben. Meine Ehe werde ich nicht zerstören lassen.“ antwortete ich. Joschi überlegte. „Das möch­te ich doch auch nicht.“ erklärte er dann, „Aber dass wir zwei zusammengehö­ren, willst du das denn bestreiten?“ fragte er. „Ja, du hast ja Recht. Irgendwie kommt es mir auch so vor, als ob das schon in unseren Genen festgelegt wäre.“ scherzte ich. „In unseren Genen nicht, aber es ist schon als kleines Kind in meinem Gehirn eingewachsen. Ein liebevoller, begehrenswerter Mensch, das bist du. Dann kommt zunächst mal lange Zeit gar nichts, dann kommt meine Mutter, und ganz zum Schluss kommen die anderen Menschen, die ich später kennengelernt habe, und da hat Sandra einen Spitzenplatz.“ erläuterte es Jo­schi. „In gewisser weise hast du sicher Recht. Du warst und bist immer noch das Liebste in mir. Das kann und wird sich nie ändern. Und jetzt bin ich eben richtig gierig nach dir, ich will alles, will nicht nur mit dir reden, ich will dich voll erfahren.“ meinte ich dazu. Es ereignete sich tatsächlich so. Joschi kam nach Köln und immer, wenn er vorschlug, sich zu treffen, besorgte ich irgend­wo ein freies Bett. Eigentlich wollte ich es doch gar nicht mehr, aber das ging nicht. Ich konnte es mir vornehmen, aber handelte dann doch anders. Ich saß auf Hannes Bett und weinte. „Ich kann das nicht mehr, Joschi.“ erklärte ich, „Mein Leben stimmt nicht mehr. Es ist nicht das glückliche Leben mit Alex mei­nem kleinen José.“ „José? Warum hast du ihn nicht gleich Joschi genannt?“ fragte Joschi. „Ich nenn ihn öfter Jossele.“ erklärte ich und lachte schelmisch. So hatten seine Eltern Joschi oft genannt, als er klein war. „Du, was willst du denn wohl über Namen sagen? Joshua, wie kann man sein Kind nur so nennen.“ erklärte ich. „So hat mich ja auch nie jemand genannt, aber meine Eltern ha­ben eben einen Tick, das weißt du ja. Mit der Religion haben sie nichts zu tun, aber dass sie Juden sind ist ganz wichtig, und da braucht das Kind eben einen jüdischen Namen.“ erläuterte Joschi. „Ja, aber da gibt es doch auch verträgli­chere. Joshua kann man einen Propheten nennen, aber nicht ein Kind. Da hät­ten sie dich auch gleich Melchisedech nennen können.“ meinte ich. Wie auch immer die Atmosphäre war, Joschi und ich mussten immer zum Scherzen kom­men. „Joschi, ich glaube du verstehst mich nicht. Es ist wirklich ein absolutes Drama für mich. Ich habe es immer so empfunden, dass mein Leben das Leben mit Joschi ist. Ohne Joschi bin ich es nicht, es ist nur ein Teil von mir, der al­lein nicht das Glück finden kann. Mit Alex habe ich gemerkt, dass es auch ein Glücklichsein neben Joschi geben kann. Ich bin glücklich mit Alex, das ist mein Leben.“ erklärte ich. „Und Joschi, den brauchst du jetzt nicht mehr, oder?“ fragte Joschi. „Ach, wie du redest. Wir haben damals gesagt, dass wir jeder ein eigenständiges, erwachsenes Leben brauchen. Über Jahre habe ich gedacht: „Das ist unsere Theorie, aber praktisch lässt es sich nicht verwirklichen. Unsere Leben hätten sich eben so entwickelt, dass wir völlig abhängig voneinander seien, ohne den anderen nicht glücklich werden könnten. Die Tage ohne dich würden immer ein Herbstflair tragen. Dann ist aber plötzlich der Frühling auf mich zugekommen und hat alles in mir wieder aufblühen lassen. Das ist mein Leben, das will ich behalten.“ erläuterte ich. „Das ist dir das Wichtigste, da verzichtest du lieber auf mich?“ erkundigte sich Joschi. „Joschi, mein Joschi, wie sollte ich denn jemals auf dich verzichten können. Das ist doch nicht die Alternative. Ich bin immer noch ein Teil von Joschi und mir. Das lässt sich genauso wenig ändern, wie meine Haarfarbe. Ich sollte mir nicht die Haare färben. Aber du hast schon Recht. Aufgesetzt und eingebildet ist meine Liebe zu Alex sicher nicht. Aber die Tiefe und Art unserer Beziehung wird sie grundsätzlich nie erreichen können. Ich werde Alex nie so sehen und erkennen können wie dich. Vieles Tolle und Wunderbare sehe ich an ihm, nur das wäre zwischen uns unbedeutend gewesen. Ich habe es als schön empfunden, dass du mir die Zusammenhänge mit dem Computer erklären konnte, aber das hat dein Bild bei mir nicht beeinträchtigt. Bedeutend war, dass du ein wirklicher Mensch warst, jemand dem ich immer würde voll vertrauen können und dem es nicht möglich wäre, Nachteiliges über mich zu denken. Das haben wir am ersten Tag im Kinderladen so gespürt, und immer haben wir uns so gesehen. Es stimmt schon, du kannst dich nicht davon frei machen, bei allen Menschen, die du später kennenlernst, ihr schmückendes Beiwerk zu sehen. Wir haben uns noch im Tiefen, Wesentlichen, in unserer Komplexität als Menschen erfahren.“ argumentierte ich. „Na ja, du hast damals gesagt, profunde Liebe brauch lange gemeinsame liebevolle Erfahrungen. Siehst du das immer noch so?“ fragte Joschi mit schelmischem Grinsen. „Doch, na klar. Da ist unsere Beziehung auch nicht zu übertreffen, aber trotzdem halte ich meine Liebe zu Alex nicht für ein Gefühl, das sich an der Oberfläche bewegt. Es erfasst mich schon emotional tief und sehr persönlich. Vielleicht auch, weil es sich so gestaltet, wie wir es nie erlebt haben.“ meinte ich dazu.

 

Es hat keinen Zweck mehr

Wir hatten viel besprochen, aber wie die Perspektive konkret aussehen sollte, das hatten wir ausgespart. Beim nächsten mal zu sagen: „Nein, Joschi, ich will nicht mehr.“ war illusionär, da war ich mir sicher. „Das ist nicht richtig. Das ist nicht gut, was du tust, Anett.“ sollte ich das denken? Aber das ergibt nur einen Sinn, wenn du die Möglichkeit hast, es mit deinem wirklich freien Willen so oder so zu entscheiden. Ich war aber nicht frei und Joschi genauso wenig. Wir waren voneinander abhängig, und das waren wir immer gewesen. Als Ein­schränkung oder gar Behinderung hatten wir es aber nie wahrgenommen, son­dern es war das, was unser Glück ermöglicht hatte. Alles andere konnte schön sein und mich erfreuen, aber Joschi symbolisierte das Glück. Ich stellte fest, wie ich mich zu Hause immer intensiver um José kümmerte. Ich konnte ihn keine Minute mehr allein lassen. Zum Schlafen hätte ich ihn am liebsten auf dem Arm behalten, anstatt ihn in sein Bettchen zu legen. Am meisten quälte mich, dass ich mit Alex nicht mehr schlafen konnte. Es war schon so, dass ich im Grunde zwei getrennte Leben führte, aber ich hatte keine gespaltene Per­sönlichkeit. Alex war lieb und zärtlich zu mir, ich mochte ihn doch auch, aber ich spürte, dass ich es lieber nicht wollte. Es kam mir vor, als ob ich dabei sei, Alex zu einem fremden Mann zu entwickeln. Das hatte so auch keine dauerhaf­te Perspektive. Mein altes, zufriedenes Glücksgefühl zu Hause tauchte längst nicht mehr auf.

 

„Es hat keinen Zweck mehr, Joschi. Da ist nichts mehr zu retten. Meine glückli­che Familie gibt es nicht mehr.“ erklärte ich. „Und, was willst du tun?“ wollte Joschi wissen. „Ich werde Alex sagen: „Du, ich habe da einen Liebhaber. Mit dem treffe ich mich öfter.“ erklärte ich. Eigentlich war es ja nicht zum Lachen, aber wir lachten trotzdem. „Dein Liebhaber bin ich?“ fragte Joschi nach. „Ja, komisch nicht wahr? Aber was bist du dann? Meine Obsession, wäre das bes­ser?“ wollte ich wissen. Wir konnten über alles lachen, weil wir uns immer auf einer anderen, höheren Warte sahen, betrachteten alles von oben. Das war das Wesen unserer Beziehung vom ersten Tag an. Wie wir uns gegenseitig sahen, gab uns das Empfinden über all dem geschäftigen, nicht wesentlichen Alltägli­chem zu stehen. „Und was geschieht dann? Alex wird doch nicht sagen: „Dann ist es eben so. Was will man da schon machen?“ wollte Joschi wissen. „Ich werde es Alex gar nicht sagen können. Ich werde selbst sterben dabei. Verhin­dern lässt es sich aber nicht. Was er tun wird, kann ich mir auch nicht vorstel­len. Es wird die Enttäuschung seines Lebens sein. Vielleicht lässt es sich ein wenig abmildern.“ antwortete ich. „Ihr werdet euch also trennen, und was machst du dann?“ fragte Joschi. „Na, dann können wir uns immer treffen wie früher. Nur früher haben wir alles zusammen gemacht, haben viel miteinander geredet, jetzt gehen wir nur noch miteinander ins Bett. Und wenn wir nicht miteinander ficken, was machen wir dann? Hast du da schon eine Idee?“ er­kundigte ich mich. Eigentlich war alles schrecklich und grausam, aber es war wie früher, mit Joschi war alles zu ertragen. Ich konnte es Alex nicht sagen und schob es Tag für Tag hinaus. „Es ist fast genauso wie früher, wenn wir uns treffen,“ erklärte ich, „aber es wird das Licht des Tages angezündet, können wir das denn heute noch sagen?“ „Schon, nur heute machen wir dazu erst einen Ringkampf bis die Morgenröte anbricht. So war es in der Bibel auch. An­schließend ist es doch hell, oder für dich nicht?“ meinte Joschi. „Ich weiß nicht, hell schon, aber ich bin auch tot. Ich muss mich anschließend immer erholen. Total angespannt bin ich dabei, jede Zelle muss mit dir auf den Gipfel. Ich könnte ja auf der anderen Seite abstürzen, aber ich falle immer in weiche Mai­enbutter umgeben von Margeriten und Mohnblüten. Insofern ist es schon wie die Morgenröte. Ein Licht das nicht nur hell sondern auch warm und glücklich empfinden lässt.“ stellte ich es dar.

 

Geständnis

Einfach so nebenbei im Bett konnte ich es Alex nicht sagen. Am Sonntagnach­mittag setzten wir uns zusammen mit einem Kaffee ins Wohnzimmer. Ich hätte über etwas für uns alle ganz Schreckliches zu erzählen. Ich lobte Alex und un­ser glückliches Zusammenleben. Dass es da Störungen geben könnte, hätten wir uns ja beide nicht vorstellen können. Dann erklärte ich, worin die Störung bestand. Er hätte von Joschi ja gar nichts gewusst, beklagte Alex. Ich hatte nur beiläufig mal von einem Kinderfreund gesprochen. Nein, als mein Geheim­nis sah ich es nicht, eher als intime, persönliche Kostbarkeit, die man nicht je­dem auf die Nase bindet. Verstehen und es sich erklären konnte Alex es nicht. „Aber wenn du es selbst nicht willst, warum sagst du denn dann nicht nein?“ wollte er wissen. „Bist du diesem Joschi verfallen? Bist du krankhaft abhängig von ihm?“ fragte Alex. Was sollte ich denn darauf antworten? Wollte er mich zum Therapeuten schicken, um mich von Joschi heilen zu lassen. Ich stritt es einfach ab, und erklärte ihm nochmal die Wirkung unserer tiefsten Verbunden­heit seit frühesten Kindertagen. Dass keine Möglichkeit bestand, unsere Bezie­hung zu retten, spürte Alex wohl bald, und es machte ihn stumm. Seine Per­spektive und sein Leben seien zerstört und er könne sich nicht vorstellen, wie er damit fertig werden solle. In den nächsten Tagen sprachen wir noch über Organisatorisches, denn Alex wollte ausziehen. Verweinte Augen hatte er manchmal, aber in meinem Beisein zeigte er keine Träne. Ich verglich jetzt al­les mit der Beziehung zu Joschi. So schön und glücklich wie ich die Beziehung zu Alex auch empfunden hatte, musste ich jetzt doch feststellen, dass sich vie­les schon sehr im Bereich der Oberfläche bewegt hatte. Vor dem anderen die Tränen zu verbergen, unvorstellbar zwischen Joschi und mir. Sich darzustellen, wie der andere einen sehen soll, wie oft hatte ich so etwas doch erlebt. Warum ich das nicht von Anfang an erkannt hatte, weiß ich nicht. Vielleicht war ein­fach das Bedürfnis nach einem glücklicheren leben in mir zu intensiv. In Alex hatte ich eine Chance dafür gesehen und wollte sie selbst gern glauben, hatte alles was ich hätte kritisch einwenden können, ausgeblendet, weil es mein Glück nicht stören sollte.

 

Leben mit Joschi

Allein konnte ich die Wohnung nicht halten. Joschi hatte mehr Geld als Alex, weil er zwei Jobs hatte und damit gut verdiente, aber direkt mit Joschi zusam­menleben. Das ganze Leben lang hatten wir uns immer besucht, nein, in den Ferien waren wir ja auch zusammen gewesen. Aber wenn Joschi hier wohnte, würden wir dann ständig übereinander herfallen, oder hätten wir dann gar kei­ne Lust mehr, weil es ja immer möglich wäre? Das waren dumme Gedanken, aber kitzlig war es schon, weil wir uns gar nicht vorstellen konnten, wie es sich entwickeln würde. Nur Joschi war ganz bieder und so normal, wie wir uns im­mer gekannt hatten. Er hatte viel zu arbeiten, und ich musste es immer José zeigen und Joschi dabei stören. Trotzdem war jeder Moment spannend wie ein Wunder. Früher freute ich mich, wenn ich wusste, das Joschi kam, jetzt gab es ständig solche Gelegenheiten. Erschien Joschi zum Frühstück, mache das ein warmes Gefühl. José hatte schnell gelernt, dass man sich zu freuen habe, wenn Joschi erschien. Er lachte immer, vor allem aber, wenn die beiden balg­ten, Joschi Quatsch machte und Josè kitzelte. Mich kitzelte er nicht, und ich kitzelte Joschi auch nicht. Zarter als die kostbarste chinesische Seide fühle sich meine Haut an, und die Seidenraube badete in Wonne, wenn Joschi sie sanft streichelte. Ob es ihn erregte? Ich weiß es gar nicht, jedenfalls schämte er sich nicht mehr dafür. Direkt genauso wie früher war es nicht, wir hatten uns schon verändert, aber nicht in unserem Wesen. Joschi hatte Neues erlebt und ich wollte auf vieles aus meinem Leben mit Alex nicht verzichten. Es gehörte ja nicht Alex, war zum Be­standteil meines eigen Lebens geworden, auch wenn es von ihm ausgegangen war und er es initiiert hatte. Die Kulturnachrichten bei 3sat und arte blieben obligat, und Joschi sollte wieder Klarinettenunterricht nehmen. Er war damals ziemlich gut gewesen. Keineswegs hatte ich direkt we­gen Joschi Klavierunter­richt genommen. Ich persönlich liebte das Piano, aber als Joschi und ich uns trennten, war es sofort gestorben. Ob ich das Klavier von zu Hause kommen lassen und auch wieder Klavierunterricht nehmen soll­te? Lust hatte ich schon, vor allem auch wenn ich mir vorstellte, wie ich mit José auf dem Schoß die Tasten erkundete. Ein kleiner Mozart würde er dann bestimmt. Anstatt der Gier nach seiner kleinen Freundin, wie bei Joschi, würde sich dann das Verlangen nach dem Piano in seinem wachsenden Gehirn verfes­tigen und wenn er in den Kinderladen käme, könnte er schon die Mond­scheinsonate spielen. Trotz aller Lust am und Gier auf Leben hatten wir viel zu tun und zu organisieren. Zum Glück half uns meine Mutter sehr viel. Zunächst hatte sie es nicht verstanden und mich massiv für meine Absichten und mein Verhalten kritisiert. Aber sie hatte mich auch damals stark kritisiert, als ich ihr von unserer beabsichtigten Trennung berichtete. Sie war davon ausgegangen, dass es sich gar nicht reali­sieren ließe und wir wieder zusammenkämen, denn Joschi empfand sie in vie­lem so, als ob er ihr Sohn wäre. Ihn mochte sie be­sonders gern, während ich mir eher so vorkam, als ob ich eben zum Familien­alltag gehörte. Dieses Emp­finden schien sie sehr schnell wiederbelebt zu ha­ben, denn wenn sie kam, frag­te sie als erstes immer nach Joschi, von Alex sprach sie nie mehr. Wenn Joschi von der Uni kam, freute sie sich genauso, ihn zu sehen, wie José und ich. Kei­neswegs nur beim Sex kann das Leben einem Kaffeekränzchen entsprechen. Meistens verhielt es sich nicht anders. Das All­tagsleben vollzog sich in der Re­gel nach schalen Riten, die du für deine Rolle angemessen hieltst. Du vollzogst sie, erledigtes alles wie man es gewöhnlich macht, involviert warst du kaum einmal. Im Grunde nicht anders als Smalltalk beim Kaffeekränzchen. Lustvoll war der Alltag so gut wie nie. Seine Gefühle zu zeigen, galt eher als uncool. Vielleicht mochte das so dem Kapitalismus dien­lich sein, aber unseren wirkli­chen, menschlichen Bedürfnissen entsprach es nicht. Wir wollten unser Leben enthusiastisch erfahren und genießen, das kam schon eher einer rauschenden Ballnacht gleich. Das Gefühl der Freude anein­ander beglückte unse­ren Alltag. So war es ständig. Ob das immer so bliebe, oder sich auch irgend­wann in einer Alltagsroutine verlaufen würde? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich glaub­te, hoffte und wollte es auf keinen Fall, denn Joschi und ich mussten uns schon immer sogar physiologisch etwas Beson­deres gewesen sein. Das Licht des Tages wurde jetzt immer schon angeschal­tet, wenn wir uns weckten und nicht erst bei der Morgenröte nach heftigem Ringkampf.

 

 

FIN

 

 

 

 

 

 

Those who restrain desire do so because
theirs is weak enough to be restrained.”

 

William Blake

 

Anett und Joschi lernten sich schon im Kinderladen kennen. Später wollten sie sich trennen, aber welch ungewöhnliche Entwicklung es nahm, ist in der Geschichte zu erfahren. „Ihr werdet euch also trennen, und was machst du dann?“ fragte Joschi. „Na, dann können wir uns immer treffen wie früher. Nur früher haben wir alles zusammen gemacht, haben viel miteinander geredet, jetzt gehen wir nur noch miteinander ins Bett. Und wenn wir nicht miteinander ficken, was machen wir dann? Hast du da schon eine Idee?“ erkundigte ich mich. Eigentlich war alles schrecklich und grausam, aber es war wie früher, mit Joschi war alles zu ertragen. Ich konnte es Alex nicht sagen und schob es Tag für Tag hinaus. „Es ist fast genauso wie früher, wenn wir uns treffen,“ erklärte ich, „aber es wird das Licht des Tages angezündet, können wir das denn heute noch sagen?“ „Schon, nur heute machen wir dazu erst einen Ringkampf bis die Morgenröte anbricht. So war es in der Bibel auch. Anschließend ist es doch hell, oder für dich nicht?“ meinte Joschi. „Ich weiß nicht, hell schon, aber ich bin auch tot. Ich muss mich hinterher immer erholen. Total angespannt bin ich dabei, jede Zelle muss mit dir auf den Gipfel. Ich könnte ja auf der anderen Seite abstürzen, aber ich falle immer in weiche Maienbutter umgeben von Margeriten und Mohnblüten. Insofern ist es schon wie die Morgenröte. Ein Licht das nicht nur hell, sondern auch warm, wonnevoll und glücklich empfinden lässt.“ stellte ich es dar.

 

 

 

 

 

Anett und Joschi – Seite 17 von 17

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Tag der Veröffentlichung: 09.05.2014

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