Cover

Introduction und Inhalt

 

 

Carmen Sevilla

 

 

Veruschka
Sehnsucht, Liebe und Kreativität

 

 

Erzählung

 

 

Et souvent, c'est l'effet des caprices du sort, Qu'au milieu des écueils on rencontre le port.“

Thomas Corneille

 

 

Andreas ist bis zur letzten Sekunde in seiner Firma für Natursteine beschäftigt. Frauen kennt er nur als Klarissa, seine Stellvertreterin. Probleme mit Liebe braucht er nach seiner gescheiterten Ehe nicht nochmal, und Zeit hätte er dafür sowieso nicht. Veruschka ist eine taffe, selbstbewusste Mutter von zwei heranwachsenden Kindern, zufällig lernt sie Andreas kennen. Mit Liebe hat das nichts zu tun, denn einen neuen Mann und sentimentales Gesäusel sind das Letzte, was Veruschka gebrauchen kann. Ich hatte nur zwei Worte erwähnt, als Veruschka mich harsch stoppte. „Willst du wohl still sein. Ich will davon nichts hören. Für mich war es das erste mal. Ich war sozusagen noch Jungfrau.“ erklärte die Mutter von zwei fast erwachsenen Kindern. Auch wenn es nicht das Höchste und Wichtigste war, schien es uns doch wohl zu gefallen, denn wir machten es jetzt jeden Abend, jede Nacht oder sogar einmal direkt als ich aus der Firma kam. Auch wenn es uns glücklich machte, nahmen wir unsere sexuellen Begehrlichkeiten nicht völlig ernst, sondern scherzten immer darüber. „Weißt du was, es gibt doch tausend Entspannungsanleitungen und -tipps. Alle mögen sie ja wirksam sein, aber körperlich am deutlichsten spürst du die Entspannung eindeutig nach dem Ficken. Man müsste vor Diskussionen und Besprechungen immer erst Sex haben, dann gäbe es keine Streitigkeiten, Auseinandersetzungen und Diskrepanzen mehr, absolut relaxed bist du dann.“ empfahl Veruschka. „Ja, aber so zweckrational, das geht doch nicht. Du musst schon Lust dazu haben.“ gab ich zu bedenken. „Die hab' ich doch. Das ist ja das Schlimme. Wer hätte das je von mir gedacht, ich selbst am allerwenigsten, und dann in meinem Alter. Aber das liegt ja nur an dir. Ganz allein du bist der Schuldige. Ob unsere Seelen dabei auch kopulieren, was meinst du?“ fragte Veruschka. „Ich weiß es nicht, aber möglich wäre es schon. Zumindest fühlt es sich hinterher doch so an, als ob sie hätten, nicht wahr?“ vermutete ich schmunzelnd. „Was bin ich froh, wenn diese Woche vorbei ist.“ erklärte Veruschka lachend, „Ich bin doch keine zwanzig mehr. Ich schaff das nicht. Auf die Dauer ist mir das viel zu anstrengend.“ Das gemeinsame Bett gefiel uns schon, vor allem auch, dass wir beide es nach langer Abstinenz so selbstverständlich glückstrunken genießen konnten, aber ganz ernst nahmen wir es beide trotzdem nicht. Das war es nicht, was den Kern unserer Beziehung darstellte. Trotzdem war Veruschka böse. „Wahrscheinlich bin ich jetzt schwanger. Machst du es mir dann weg?“ erkundigte sie sich und lachte nicht dabei. „Die Veruschka ist schon so alt, da kann nichts mehr passieren. Hast du gedacht, nicht wahr? Wahrscheinlich hast du aber an überhaupt nichts gedacht, wie alle Männer. Selbstverständlich hat die Frau allein an so etwas zu denken.“ beklagte Veruschka. „Was für ein Unsinn,“ habe ich gedacht, „mit niemandem gehst du ins Bett und mit dem erst Recht nicht.“, aber Vorsicht kann nie schaden. Ich habe mir wieder die Pille verschreiben lassen, gerade nachdem wir uns kennengelernt hatten. Mein Unbewusstes wird mehr vermutet haben, als mein Bewusstsein mir zu ahnen gestattete.“ Wie es das Unbewusste weiter mit den beiden trieb, aber auch wie alles überhaubt dazu kommen konnte und natürlich wie es sich bewusst weiter entwickelte, erzählt die Story.

 

Veruschka - Inhalt

 

Veruschka 3

Singe Barista 3

Keine Zeit für einen Kaffee 5

Andreas Coberg interessiert mich kein bisschen 6

Morgen bist du wieder der andere 8

Danaer Geschenke 10

Antigone und Ismene 12

Arbeitssüchtig 15

Phantasmagorie 16

Urvertrauen 19

Körper von Gewicht 21

Rankinglisten 23

Aufnahmeprüfung 25

Oder möchtest du ganz dringend? 26

Machen wir das nochmal? 27

Gemeinsame Abende 30

Die Prokuristin 31

Schlingpflanzen 32

Umzugspläne 34

Komplexität und Tiefgründigkeit 35

Neues Zuhause 38

Sehnsucht, Liebe und Kreativität 40

 

 

Veruschka - Singe Barista

In Behörden nimmt sich das Interieur meistens nur trostlos, stupide aus. Dass Architekten doch eigentlich einen Bezug zur Ästhetik haben sollten, muss be­sonders auch in Behörden bezweifelt werden. Ganz anders verhält es sich in der Industrie- und Handelskammer und in der Handwerkskammer. Hier ist man stolz auf sein Selbstbewusstsein und will es demonstrieren. Nur das Selbstbe­wusstsein dieser Kammern ist genauso wenig lebendig, wie das der Behörden. Eine lähmend trostlose Sachlichkeit, der hin und wieder großartige Bilder und Skulpturen ein imposantes Gepräge aufsetzen sollen. Als lebendiger Mensch empfindest du dich nach längerem Aufenthalt auf ihren Fluren oder in den Warteräumen erschlagen, sowohl in den Behörden als auch in den Kammern, hast Hunger nach Leben. Ich hatte eigentlich gar keine Zeit, aber einen Kaffee brauchte ich jetzt unbedingt. Das Café war um dies Zeit nur schwach besucht, aber ich musste sprechen, musste mit jemandem reden, mit einem ganz nor­malen, lebendigen Menschen wollte ich einige Worte wechseln. Einfach so mit­einander sprechen können, ist das Leben? Ich fragte eine Frau, etwa Ende dreißig, aber heute weiß man ja nie. Sie blätterte in einer der Illustrierten. „Nein, nein, nehmen sie Platz. Sie stören mich nicht, überhaupt nicht.“ sagte sie, als ob es ihr auch lieber sei, nicht isoliert dort zu sitzen, sondern, sich mit jemandem unterhalten zu können. „Lohmann.“ ließ sie mir eine Information zukommen. Wegen meines fragenden Blickes wiederholte sie: „Lohmann, Ve­ruschka.“ „Sie verunsichern mich. Was soll ich denn jetzt sagen? „Gestatten, mein Name ist Coberg, Coberg, Andreas?“ fragte ich. Die Frau hatte verstan­den und lächelte. „Und sie sind persönlicher Spion ihrer Majestät Angela Mer­kel, nicht wahr? Aber sie haben schon Recht, so spricht man nicht. Ich sonst auch nicht. Vielleicht gegenüber Fremden ist man beim ersten Wort verunsi­chert oder unkonzentriert, könnte das sein?“ fragte sie. „Schon möglich, da kennst du ja nichts, und du weißt ja nie. Da prüfst du zuerst mal nur und merkst kaum, was du sagst.“ antwortete ich scherzend. Die Frau, Veruschka Lohmann hatte ihre Illustrierte neben sich aufs Polster gelegt und wandte sich mir zu, wobei sie den linken Ellenbogen auf die Lehne stützte. Wild und frei wirkte ihr kunstvoll grob gestrickter, weißer Pullover gerade nicht, aber er hob sie heraus aus der Kaste der Frauen, die sich in Kostümchen und Hosenanzü­gen zu zeigen hatten. Ein nachdenkliches, aber wohlwollendes Lächeln um­spielte ihren Mund, und die Mimik um ihre Augen zeigte, dass sie tief blicken konnten, vielleicht wussten, wo das Glück zu suchen war, dass sie das Leben sehen konnten. „Wenn es ganz still ist, und du hörst nur Türen, die auf- und zugehen und Schritte von Menschen, die aus einer dieser Türen kommen und auf eine andere zusteuern, das ist auch nicht angenehm.“ meinte ich. „Ja, ge­spenstisch, an Friedhofsruhe, Grabesstille und Maschinenwelt oder so etwas denkt man da, nicht wahr?“ kommentierte Frau Lohmann. „Das stimmt, aber hier das Gedudel ist keine Alternative, es geht einem auf die Nerven, ist ein­fach unerträglich.“ erklärte ich. Frau Lohmann lachte. „Na, hör mal.“ begann sie und lachte wieder, „Entschuldigung, ist mir so rausgerutscht. Ich gehöre wahrscheinlich zu der Minderheit, die fast alle Menschen in ihrer Umgebung mit du anreden. Als Lehrerin duzt man die Schülerinnen und Schüler und die Kolleginnen und Kollegen sowieso.“ erklärte sie. „Sie können mich aber in der Tat gern mit Andreas anreden, wenn sie es so gewohnt sind. Ich bin es allemal. Wenn mich ein Mitarbeiter mit Herr Coberg anreden würde, wäre das eine Kriegserklärung.“ reagierte ich. „Ich weiß nicht, das habe ich ja noch nie gemacht, einen fremden Menschen einfach duzen. Aber wenn, dann müssen sie es auch tun.“ forderte Veruschka. „Darf ich denn erfahren, warum sie als Lehrerin nicht in der Schule sind, oder ist das indiskret? Bestimmt, weil sie der schönen Musik hier nicht widerstehen können?“ vermutete ich. „Du kannst es ja gar nicht. „Veruschka, du“, musst du sagen. Diese Musik ist speziell so für dich zurecht getrimmt, damit sie dich locker und beschwingt stimmt und dich so zum Kaufen animiert. Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist zu schweigen, das solltest du auch hier bedenken. Die Geschäfte erwerben diese spezielle Musik extra.“ wusste Veruschka. „Und im Rhythmus schwingt gleich unwiderstehlich der Griff ins nächste Ladenregal mit. Niemand braucht es zu sagen, nicht wahr?“ ergänzte ich. „Ich finde diese Musik ja auch widerlich. Warum singen die Menschen nicht selbst. Ihre Stimme ist nicht nur eine Sprech-, Schrei- und Brüllstimme, sie ist zum Singen geschaffen. Überall auf der Welt benutzen die Menschen ihre Stimme zum Singen. Wenn du heute nach Venedig fährst, bestaunst du die singenden Gondoliere. Im Grunde ist das nichts Ungewöhnliches, früher haben alle gesungen, nicht nur die Gondoliere. Die Frauen auf den Reisfeldern haben genauso gesungen und auf den Kartoffeläckern ebenfalls.“ erklärte Veruschka. „Ja, und bei der Hausarbeit und im Garten, immer haben die Menschen gesungen, nicht wahr?“ pflichtete ich ihr bei. „Genau, zum Beispiel die Barista hier, warum singt sie nicht selbst, was gibt es für einen Grund?“ fragte Veruschka. Ich musste furchtbar lachen, stellte mir vor, wir würden das biedere Frollein hinter der Theke auffordern, doch mal zu singen. „Wo lebst du, Veruschka? Barista, die Dame da vorne ist günstigstenfalls Konditoreifachverkäuferin, und in deren Ausbildung sind Gesangseinlagen, soweit ich weiß, nicht eingeplant. Aber ich kannte noch einen Menschen, der ganz viel gesungen hat, meinen Großvater.“ erklärte ich. „Früher waren die Männer alle in Männergesangsvereinen. Ist das heute immer noch so? Nein, nicht wahr.“ meinte Veruschka dazu. „Männergesangsvereine? Die hätte mein Opa am liebsten alle verboten und vernichtet. Er konnte den ganzen Tag singen. Es war entsetzlich, nein irre komisch. Er sang immer was ihm gerade in den Sinn kam, ach wo, das ist zu viel gesagt, seine Gedanken hatten es nie gesehen. Er sang, was ihm gerade aus dem Mund viel, wäre richtiger. Es war absoluter Nonsens, was er sang, aber immer zu einer Melodie, die überhaupt nicht dazu passte. Überlegt hat er es bestimmt nicht, es fiel ihm im Moment des Singens ein. Alle möglichen Melodien benutzte er, meistens Volkslieder oder Schlager, aber auch Opern und Moritaten kamen vor. Ich kannte sie in der Regel nicht, hatte sie allenfalls schon mal gehört, aber es wirkt einfach total komisch, wenn es überhaupt nicht passt. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an: „Die Frau in dem grünen Kostüm, ist heute so ungestüm.“, was er zur Melodie von 'Blue Moon' sang.“ erläuterte ich. „Na, das wäre doch was. Stell dir vor die Madame hinter der Theke würde so singen. Das Café wäre immer total voll, aber das kann natürlich nicht jeder. War ihr Großvater Surrealist?“ wollte Veruschka wissen. „Bestimmt wird er den Surrealismus gekannt haben. Er war ein sehr gebildeter Mann, aber aus diesem Grunde wird er es wohl nicht gemacht haben. Die Freude an dem Nonsensgesang hatte seinen Ursprung wahrscheinlich eher im homerischen Gelächter.“ meinte ich dazu. Veruschkas Augen glupschten mich lächelnd, staunend an. Gleich würde sie fragen. „Ja, ein bisschen graecophil war er schon seit seiner frühesten Kindheit. Das lag an den Danaer Geschenken.“ fügte ich hinzu. Jetzt verstand Veruschka gar nichts mehr. „Es darf nicht wahr sein, ich sitze hier und erzähle Schmonzetten, und dabei wartet die Arbeit auf mich. Wie konnte ich mich nur so verquatschen? Wie auch immer, es hat mir gefallen, wie wir uns unterhalten haben, Veruschka, aber jetzt muss ich auch ganz schnell gehen.“ erklärte ich. „Aber das homerische Gelächter und die Danaer Geschenke? Gehört habe ich beides schon mal, aber ich kann nichts mehr damit anfangen. Du musst es mir erklären, können wir uns nicht in der nächsten Woche wieder treffen?“ erkundigte sich Veruschka. „Ach je, ich kann doch nicht einfach bei der Arbeit weglaufen, weil ich jetzt gern mal im Café ein wenig quasseln möchte.“ entgegnete ich. „Wieso nicht, was machst du denn, dass du so unentbehrlich bist?“ fragte Veruschka. „Ich habe eine Firma, wir machen alles, was mit Naturstein zusammenhängt, und da kann der Chef doch nicht einfach mal so zum Spaß für eine halbe Stunde verschwinden.“ erläuterte ich. Veruschkas Lächeln hatte sich verflüchtigt und war einem kritisch, skeptisch musterndem Gesichtsausdruck gewichen. „Ich kann natürlich auch im Internet nachschauen, aber da fehlt mir die Motivation. Ich würde es gern von dir, mit deinen Geschichten lebendig erfahren. Als Schmonzetten habe ich das keinesfalls gesehen, es hat mich vieles erkennen lassen. Wir können es ja so machen: Ich gehe Dienstags morgens meistens in die Stadt, und da kann ich am nächsten Dienstag wieder um dies Zeit hier im Café sein. Vielleicht überlegst du's dir bis dahin ja doch anders und kommst auch.“ schlug Veruschka vor.

 

Keine Zeit für einen Kaffee

Nein, nein, natürlich würde ich nicht wegen einer Tasse Kaffee und ein wenig Plaudern bei der Arbeit weglaufen. Sonderbar war es allerdings schon. Wann hatte ich mal jemandem von meinem Großvater erzählt? Meiner Frau damals natürlich auch, aber sonst? Jetzt erzähle ich es gleich dieser fremden Frau. Sind ja auch völlig unbedeutende Kindergeschichten. Veruschka hatte kaum et­was gesagt, nur dass sie es schön fände, wenn die Menschen mehr singen würden. Aber sie hatte mir intensiv zugehört. Klarissa zum Beispiel kannte im Wesentlichen drei unterschiedliche Arten zuzuhören. Bei der einen sah sie dich gar nicht an, machte ihre Arbeit weiter, bekam aber schon genau mit, was du sagtest. Eine andere war des konsultative Zuhören, zum Beispiel, wenn wir et­was gemeinsam besprachen, durchdachten oder planten. Höchste Vigilanzstufe für Klarissa und mich, aber es galt der Sache und dem Weiterdenken. Manch­mal konnte es aber sein, dass ich dachte sie schaut mich nur an und hört kaum auf mein verbal Geäußertes, folgt mehr ihren eigenen Assoziationen. Nicht viel anders kam es mir bei Veruschka heute auch vor, nur sie hatte schon sehr ge­nau zugehört, das war deutlich zu erkennen. Schwer Verständliches hatte ich ja nicht gesagt, sondern nur Kurioses erzählt, aber Veruschkas Mimik vermit­telte mir immer den Eindruck, dass sie mich verstehen würde, nur wobei denn. Ich konnte es immer noch gar nicht fassen, stellte mir vor, wie ich es erwartet hätte. Der eine sagt dies, der andere jenes, sagt etwas zur Rentenentwicklung oder vielleicht sogar zum Wetter, man tauscht ein wenig die Stimmen aus und achtet vor allem auf Distanz. So ähnlich lief es ja meistens beim ersten belanglosen Kontakt mit Fremden. Und ich erzähle dieser völlig fremden Veruschka gleich etwas von meinem Großvater. Ob sie mich wohl für ein bisschen daneben hielt? Nein, das ganz gewiss nicht. Ich glaube sogar eher, dass es ihr gefiel. Aber so Spannendes und Erhebendes hatte ich doch gar nicht erzählt. Bestimmt hatten ihre Augen mehr gesehen, als ihre Ohren gehört hatten. Das müsste sie mir mal erklären. Aber ich würde sie ja gar nicht wiedertreffen, es sei denn, sie würde bei uns eine Marmor- oder Granitplatte bestellen. Am nächsten Dienstag dachte ich schon an sie. Öfter hatte ich an sie denken müssen. Warum genau weiß nicht, aber ihr freundliches, offenes Lächeln hatte mir schon gefallen. Ich sah ihr Gesicht, sah, wie sie mich anschaute, wie sie etwas sagen würde. Aber ich konnte ja nicht einfach bei der Arbeit weglaufen.


Andreas Coberg interessiert mich kein bisschen

„Frau Lohmann. Sie hat gesagt, du würdest sie kennen.“ erklärte Klarissa, als sie Veruschka zu mir brachte. Absolute Überraschung, ich freute mich richtig, wollte sie zur Begrüßung umarmen, aber sie wehrte ab. Ihr Lächeln zeigte sie auch verhaltener. „Eigentlich wollte ich eine Marmorbüste von mir bestellen, aber so etwas könnt ihr sicher nicht.“ erklärte Veruschka. „Aber natürlich, ge­rade und mit Vorliebe würden wir das machen. Ich bin zwar selbst auch Bild­hauer, aber ich mache nur noch das Geschäftliche. Unsere Künstlerin würde das liebend gerne machen. Wie viel könntest du denn anlegen?“ reagierte ich. „Stop, mein Lieber. Ich wollte zunächst mal mit dir persönlich reden. Dir hat unser Gespräch nicht gefallen. Was hast du denn zu kritisieren, oder warum hast du mich versetzt?“ wollte Veruschka wissen. „Das ist ein absolutes Miss­verständnis. Ich hatte es so interpretiert, dass es offen wäre, ob ich käme. Un­ser Gespräch fand ich bezaubernd. Ich habe öfter daran gedacht.“ erklärte ich. „Und warum kommst du dann nicht?“ fragte Veruschka. „Du siehst ja selbst, ich bin hier total eingebunden. Was ich mache, ist im Grunde alles unbekannt und neu für mich.“ antwortete ich ihr. „Wieso?“ wollte Veruschka es genauer wissen. „Meine Eltern hatten einen Steinmetzbetrieb, hauptsächlich Grabsteine und so. Ich hatte damit nichts zu tun und verachtete es eher. Ich sah mich als Künstler. Dass ich Bildhauerei studiert habe, lag mit Sicherheit nicht an der Ar­beit meines Vaters. Mein Großvater hat in mir die Begeisterung für griechische Kunstwerke geweckt. Ein Praxiteles im Deutschland des zwanzigsten Jahrhun­derts sollte aus mir werden.“ stellte ich es dar. „Und hat es geklappt?“ jetzt konnte Veruschka wieder ihr wundervolles Lächeln zeigen. „Ich habe nie daran gedacht, den Betrieb mal zu übernehmen. Mein Vater hat einen Schlaganfall bekommen und lebt jetzt mit meiner Mutter in einer Wohnanlage mit Pflege­kräften. Da verspürte ich zum ersten mal Mitleid mit meinen Eltern und kam gleichzeitig auf die Idee, ob ich den Betrieb nicht ganz umgestalten könne. Weg von der Grabsteinen-Kultur zur Schönheit und zum Wert von Naturstein und Künstlerisches einbinden. Wenn jemand bei uns einen Grabstein haben will, bekommt er den auch, aber in unserer Werbung taucht es nirgendwo mehr auf. Das bedeutete für mich natürlich Arbeit ohne Ende und ist es immer noch, zumal ich ja vom Kaufmännischen und Rechtlichen überhaupt keine Ahnung hatte.“ erklärte ich. Ob Veruschka mich jetzt auch verstand? Freundlich, verständnisvolles Lächeln zeigte ihre Mimik nicht. Ihre Augen schienen mich eher zu mustern und zu prüfen. „Und was sagt deine Frau, die Familie dazu? Sind sie auch mit eingebunden?“ erkundigte sie sich. „Hab' ich nicht mehr. Vielleicht auch wegen des Betriebes. Nein, das kann man so nicht sagen.“ antwortete ich ihr. „Es stimmte schon vorher nicht mehr, aber als ich den Betrieb übernahm, war es bald ganz aus. Wir hatten auch gar keine gemeinsamen Freunde mehr.“ „Deine Frau hatte ihre, und du hattest deine. Hast du denn viele Freunde?“ wollte Veruschka wissen. „Nein, einige alte von früher, das verliert sich ja nie.“ erklärte ich. „Und mit denen triffst du dich dann immer, nicht wahr?“ vermutete Veruschka ironisch. Ich konnte nur verlegen grinsen. „Aber wann solltest du denn, dazu würdest du doch gar keine Zeit haben. Ist es nicht so?“ nahm Veruschka an. „Ja, Klarissa sagt ja, ich sei krank, müsse zum Arzt, zum Therapeuten. Sie meint, ich sei arbeitssüchtig, und das sei eine richtige Krankheit. Aber wenn hier alles so weit geschafft ist, normalisiert es sich ja auch, und dann wird es weniger.“ erklärte ich. „So wird es sein, und dann hast du Zeit, alles noch perfekter zu machen, oder in Oberhausen einen Betrieb zu kaufen und den auch nach deinem Konzept umzumodeln, und dann in Essen und in Bochum. Und auf einmal macht es Peng, du fällst um und bist tot. Das war dann dein Leben. Ich weiß kaum etwas von dir, aber so gut glaube ich dich schon zu kennen, dass dein Traum vom Leben so nicht aussieht.“ machte Veruschka mir klar. „Was meinst du, wie mein Traum vom Leben aussieht? Und was rätst du mir zu tun, um ihn zu verwirklichen?“ wollte ich von Veruschka scherzend wissen. „Es ist ja toll, was du geschafft hast, was du machst, was du erledigst, gar keine Frage, aber gleichzeitig gilt immer, dass es der Kern aller Lebensweisheit ist, das Unwesentliche auszusortieren. Ich glaube nicht, dass du das kannst. Für dich ist alles, was mit deiner Firma zusammenhängt, immer wesentlich und absolut wichtig. Unwesentlich ist für dich alles Übrige, das, was das eigentliche Leben ausmacht.“ antwortete Veruschka. „Du meinst also, es wäre wesentlicher, sich mit dir zum Kaffee zu treffen, als die neuen Lieferungen aus Italien zu kontrollieren?“ stellte ich es beispielhaft dar. „Quatsch, ich weiß doch nicht, wie dringend und wichtig es ist, was du an diesem oder jenem Dienstag zu tun hast, ich weiß nur, wenn es für dich nur noch deine Arbeit gibt, dass du dann auch vieles selbst tun willst und wirst, was überflüssig wäre, was du gut delegieren könntest. Ich kenne auch Situationen, in denen ich intensiv beschäftigt bin, aber das sind Projekte mit absehbarem Ende. Du hast die Liebe deiner Frau verloren und suchst für dich selbst ständig neue Anerkennung durch dein Engagement und deine Arbeit zum Erfolg der Firma. Diese Suche wird nicht enden, für dein Bedürfnis gibt es letzten Endes keine Befriedigung. Da hat Klarissa schon Recht, wenn sie sagt, es sei eine Sucht.“ erklärte Veruschka. „Du würdest alles ganz anders machen, nicht wahr?“ vermutete ich. „Andreas, du nimmst doch wohl nicht an, dass ich dir jetzt sagte, wie ich deine Firma leiten würde. Aber darum geht es auch gar nicht. Unser kurzes, ja eigentlich belangloses Gespräch hat mir von dir ein Bild gezeichnet, das überhaupt nicht zu dem passen will, wie ich dich jetzt erfahre. Das Bild von dir hat mir sehr gefallen, und ich musste öfter daran denken, an den kleinen Jungen, der seinen surrealistischen Großvater liebt und mit ihm über seine skurrilen Scherze lacht. Davon ist noch ganz viel in dir, dass konnte ich merken. Verloren gehen die glücklichen Erlebnisse der Kindheit ja nie. Ich habe einen anderen gesehen, als den, der sich von rastloser Arbeit auffressen lässt. Nur deshalb wollte ich dich wiedertreffen. Der übereifrige Firmenchef Andreas Coberg interessiert mich kein bisschen.“ erklärte Veruschka. Veruschka schien mich zu mögen, und ich freute mich darüber. Dass Klarissa mich mochte, bedeutete mir auch äußerst viel, aber diese völlig fremde Veruschka? Frau Kleinert hatte neue Granitplatten für ihre Küche bekommen. Sehr freundlich war sie schon, aber ob sie mich mochte? Ich weiß es nicht, nur es interessierte mich auch überhaupt nicht. Ich wusste gar nicht, wie ich darauf reagieren sollte, sagen: „Mein Bild von dir gefällt mir auch sehr gut.“ etwa? Gefühle waren schon vorhanden, aber sie drangen nicht zu meinem Bewusstsein vor, zumindest nicht in der Form, dass ich sie aussprechen konnte. „Veruschka, du kommst aus dem Osten, nicht wahr?“ formulierte ich schließlich Worte wie eine Übersprungshandlung. Veruschka lachte sich tot. „Ja, im Osten, da heißen die Frauen doch alle Veruschka, oder?“ blödelte sie. „Na, hier doch auch nicht.“ entgegnete ich. „Meine Eltern.“ sagte sie nur, „Aber ich finde es auch nicht schlecht, besser als Vera. So lautet ja im russischen der Diminutiv von Vera, aber da ist es nicht nur eine Verkleinerungsform wie Veralein. Es beinhaltet immer auch etwas zärtlich Liebkosendes und würde etwa meiner lieben, süßen, kleinen Vera entsprechen.“ Warum nennst du dich nicht so 'Liebe-Süße-Kleine-Vera'? Das würde jedermann verstehen.“ empfahl ich. „Du hast schon Recht, das würde ich auch tun, aber verständliche Vornamen sind bei uns verboten, zumal wenn sie zusammengesetzt sind. Zum Beispiel kannst du deiner Tochter nicht den Namen Blume geben, sondern musst sie Fleur nennen.“ wusste Veruschka. „Jetzt verstehe ich Veruschka auch, und dein Name gefällt mir sehr gut.“ kommentierte ich. Veruschka zeigte ihr tiefsinniges Lächeln, und ich glaube, in diesem Moment sah sie den Mann wieder, den sie auch beim Gespräch im Café gesehen hatte.


Morgen bist du wieder der andere

Wir wollten uns wieder Dienstags um elf im Café treffen, jetzt aber nicht nur vielleicht, sondern fest abgesprochen. Wir tauschten unsere Handynummern aus, falls etwas Unerwartetes dazwischen kommen sollte, und jemand verhin­dert wäre. Unser Steuerberater hatte keinen anderen Termin mehr frei als am Dienstagmorgen. Das ging natürlich vor, was auch Veruschka verstand. Wir sollten eine teure moderne Treppe in einem großen Haus anlegen. Das konnten unsere Arbeiter natürlich nicht so einfach aus der Lamäng heraus, wir konsul­tierten einen bekannten Architekten, und das ging natürlich nur am Dienstag­morgen. Da konnte ich selbstverständlich nicht Kaffeetrinken gehen. In der Woche darauf rief Veruschka an. Sie müsse mich unbedingt sprechen, und ich solle mir für den nächsten Dienstag keinesfalls etwas vornehmen. Keine freundliche Begrüßung, ein eher verbindliches Lächeln beim Handreichen. Nachdem ich bestellt hatte, erklärte Vera: „Ich will es gleich sagen, Andreas, ich möchte nicht mehr, dass wir irgendwelche Termine ausmachen. Ich habe keine Lust mehr, dich zu treffen oder darauf zu hoffen. Offensichtlich bin ich ei­ner Illusion aufgesessen, habe mir etwas vorgestellt, was ich mir wünschte, das aber in Wirklichkeit gar nicht existiert.“ „Doch, Veruschka, es existiert. Wenn ich dich sehe, ist es da. Das hört sich albern an, nicht wahr, aber so war es schon gleich, als wir uns zum ersten mal begegnet sind.“ erklärte ich leicht verlegen. „Mag ja sein, Andreas, aber was spielt das für eine Rolle. Du bist in deinem Leben nicht der, den ich in dir zu erkennen meinte. Du bist kein normaler Mensch, wenn es für dich in deinem Leben nichts als deine Arbeit mehr gibt. Was soll man mit so einem schon anfangen? Mich interessiert er jedenfalls überhaupt nicht, genauso wenig wie der Mann da drüben am Tisch.“ erklärte Veruschka. „Und was, meinst du, sollte ich tun?“ wollte ich von ihr wissen. „Ich denke auch wie deine Mitarbeiterin, dass es sich um eine richtige Krankheit handelt, dass du arbeitssüchtig bist.“ meinte Veruschka. „Also zum Therapeuten, oder was?“ vermutete ich. „Na, es gibt ja auch Leute, die sich alleine von ihrer Sucht lösen. Die ganzen Raucher, die aufhören, schaffen es ja meistens ohne Therapie.“ erklärte Veruschka. „Und ich, wenn ich wirklich arbeitssüchtig wäre, wie könnte ich da rauskommen. Einfach aufhören zu arbeiten und niemals wieder anfangen?“ versuchte ich lustig zu sein. „Du nimmst es nicht ernst. Das ist aber die Grundvoraussetzung, wenn du etwas ändern willst. Du glaubst es aber selbst nicht, weil du es vor dir selbst nicht wahrhaben willst, von deiner Arbeit abhängig zu sein. Du bewältigst nicht deine Arbeit, sondern sie hat dich psychisch im Griff, und solange du das nicht einsiehst, wird dir nichts helfen können.“ erläuterte Veruschka. „Und wenn ich es einsähe, was sollte ich denn schon großartig ändern, um da heraus zu kommen?“ wollte ich von Veruschka wissen. „Du hast ein Bild von deinem Leben, deinem Alltag, deinen Ansprüchen, deinen Verpflichtungen. Das muss nicht zwangsläufig so sein wie es jetzt ist. Die Vorstellung von deinem Leben könnte ganz anders aussehen, und so wird es sicher auch gewesen sein. Versuche dich daran zu erinnern, versuche das andere Leben, die Aufgaben der Firma werden sich auch dort integrieren lassen. Du selbst, dein Leben ist das Wertvollste und Wichtigste, wenn dir die Firma dabei helfen kann, umso besser. Aber du hast die Verhältnisse umgekehrt. Ich selbst bin unwichtig, die Firma dominiert alles. Dein Leben ist gegen dich selbst gerichtet. Mit Sicherheit hast du deinen Großvater geliebt, stell dir vor er wäre jetzt anwesend. Bestimmt würde er dich loben für das, was du geschafft und geleistet hast, aber wenn er erführe, dass du keine Zeit für einen Kaffee hast, würde man da nicht sein homerisches Gelächter hören?“ erklärte Veruschka. Was sie gesagt hatte, ließ mich tief nachdenken, als ob diese fremde Frau direkt etwas zu meinem Innersten gesagt hätte, und ich hatte mich dem geöffnet. Das war sonst allein Klarissa vorbehalten, bei allen anderen bewegte es sich immer mehr oder weniger an der Oberfläche. „Veruschka, bitte, es ist mir ganz wichtig, den Kontakt zu dir nicht zu verlieren. Was können wir tun?“ erklärte ich. „Kontakt? Wo und wann haben wir denn Kontakte? Du hast doch immer keine Zeit, hast immer etwas Wichtigeres zu erledigen. Kontakte kann es nur geben, wenn du auch zeigst, dass es dir wichtig ist.“ sagte Veruschka. „Wir müssen uns ja nicht Dienstags im Café treffen. Zum Beispiel Klarissa, die lebt auch von der und für die Firma, aber sechzehn Uhr ist Schluss, dann beginnt ihr Privatleben. Ich könnte mir ja auch einen Zeitpunkt setzen, wann Schluss ist, gleichgültig ob ich meine, dies oder jenes noch erledigen zu müssen. Wäre das ein Anfang? Und wir könnten dann zum Beispiel am Abend gemeinsam ins Kino oder ins Konzert gehen. Die Antigone geben sie zur Zeit im Theater, wäre das nicht was? Hättest du Lust, dir gemeinsam mit mir die Antigone anzuschauen?“ fragte ich. Veruschka lachte. „Und dir würde plötzlich am Abend einfallen, dass du noch ganz dringend wichtige Abrechnungen zu erledigen hättest. Andreas, es fällt mir schwer, dir zu glauben. Nach allem, was ich erlebt habe, muss ich eher annehmen, dass es sich um einen Wunsch von dir handelt, an dessen Realisierung du im Moment zwar selbst glaubst. Aber morgen bist du wieder der andere und nicht der, der mich jetzt anschaut, und dem ich angeblich viel bedeute.“ erklärte Veruschka. Sie hatte ja Recht, als Außenstehender hätte man mich sicher für unmöglich gehalten. Klarissa hatte es ja auch gesagt, dass ich nicht mehr normal sei. Ein Süchtiger, der erklärt, zu einem bestimmten Zeitpunkt aus einem bestimmten Anlass seine Sucht zu überwinden. Wer sollte dem denn glauben? „Ich kann dich ja verstehen, Veruschka, dass du mir nicht traust, aber was kann ich denn anderes tun, als es dir fest versprechen?“ reagierte ich. „Das Entscheidende ist ja, dass du es selbst einsiehst und auch wirklich davon loskommen willst. Dass du keine Zeit für einen Kaffee oder Dergleichen hast, das sind doch wirklich Lappalien, für die dich nicht nur dein Großvater auslachen würde. Wenn du beweisen willst, dass es dir ernst ist, besorgst du die Karten und bringst mir meine am Dienstag hier vorbei. Wäre das ein Weg?“ fragte Veruschka. Im Moment kam es mir so vor, als ob mir Veruschka viel wichtiger wäre als meine Arbeit. Selbstverständlich würde ich die Karten besorgen.


Danaer Geschenke

Als ich Veruschka am nächsten Dienstag ihre Theaterkarte überreichte, fühlte ich mich stolz wie der Sieger. Immerhin hatte ich ja gegen mich selbst, gegen mein untergründiges Drängen nach Arbeit gewonnen. Ich meinte, auch in Ver­as tiefgründigem Lächeln einen Anflug von Anerkennung wahrnehmen zu kön­nen. „Mein Opa hat gesagt, die modernen Interpreten würden Sophokles gar nicht verstehen. Sie diskutierten immer nur über rechtliche Fragen und gar nicht darüber, worin denn für Antigone das göttliche Gesetz gelegen habe. Die alles überragende Bedeutung der Menschlichkeit spiele bei den Interpreten überhaupt keine Rolle. Und das sei heute nicht anders, sowohl im Gesetz als auch im Alltag.“ erklärte ich. „Werden wir es erkennen und verstehen können? Du hast deinen Großvater sehr gemocht, nicht wahr?“ vermutete Veruschka. „Na klar, er wusste alles, und besonders was mit den Griechen zu tun hatte. Er konnte alle Abenteuer des Odysseus aus dem Kopf erzählen.“ antwortete ich. „Hat er sich so stark für die griechische Mythologie interessiert?“ fragte Ve­ruschka. „Ja, doch schon, aber der Anlass war total kurios. Er sollte nicht zu viel Süßigkeiten essen, und da Kinder ja immer Süßes geschenkt bekommen, sollte er von anderen keine Geschenke annehmen. „Das können alles Danaer­geschenke sein. Du kannst es nie wissen.“ hatte sein Vater gesagt. Unter Er­wachsenen damals wohl ein üblicher Ausdruck, den jeder verstand, nur der kleine Junge natürlich nicht. Also musste sein Vater es ihm erklären, und das wurde zu einer unendlichen Geschichte. Jeden Abend bekam er ein Abendteuer von Odysseus erzählt, was sein Vater immer erst nachlesen musste. Der kleine Junge hat alles behalten und sich später für das andere interessiert. Mir hat er besonders die griechischen Statuen nahegebracht, hat mir von Praxiteles und Pygmalion erzählt. Das hat mich schon fasziniert.“ erzählte ich. Veruschka fi­xierte mich wieder mit ihren offenen, freudigen Augen. „Und du, du nimmst heute auch keine Danaergeschenke an, nicht wahr?“ juxte sie. „Das Urdanaer­geschenk war doch das Trojanische Pferd. Homer bezeichnete die Griechen als Danaer. Daher „Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes.“, auf Deutsch: “Was immer es ist, ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie Geschenke brin­gen.”, also jeder Lolli könnte auch vergiftet sein, da weiß man ja nie.“ erläuter­te ich. „Aber die Theaterkarte ist kein Danaergeschenk, da brauche ich nichts zu befürchten, oder?“ fragte Veruschka. „Nein, Veruschka, garantiert nicht. Ich werde dich nicht sitzen lassen. Nur mehr als versprechen kann ich es ja nicht.“ antwortete ich. „Du musst einen Weg finden, Andreas, es ist doch nur für dich selbst, andernfalls gehst du unter. Versuche dir doch vorzustellen, dein Groß­vater wäre immer anwesend. Ob er nicht sagen würde: „Es ist genug für heu­te, Andreas, oder das können doch auch andere machen, du musst nicht alles selbst erledigen oder Ähnliches. Er würde bestimmt dafür sorgen, dass du dich nicht selbst ausbeutest.“ riet mir Veruschka. Eine fremde Frau? Das war Ve­ruschka nicht mehr. Auch wenn ich nichts von ihr wusste, gehörte ihr doch ein bedeutender Platz in meinen Gefühlen. Sie schien mich zu durchschauen, mochte mich, hatte mir Anerkennung und Verständnis vermittelt. So ähnlich hatte es sich ja umgekehrt mit Klarissa entwickelt. Eigentlich hatte sie kündi­gen wollen. Jetzt sagte sie, sie liebe nur mich und meinte die Firma, die ihr so, seit ich sie übernommen hatte, Anerkennung und Bestätigung verschaffte. Ich war ja nicht nur zu Anfang auch jetzt noch völlig auf sie angewiesen. Sie sei my Brain, sagte ich.


Ob Veruschka als Frau besonders attraktiv war, kann ich wahrscheinlich gar nicht beurteilen. Ich weiß nur, ihr Gesicht hätte ich immer anschauen können. Es kam mir ständig so vor, als ob ihre Augen mich direkt sehen, mich persön­lich erkennen könnten, dass sie mehr von mir sah, auch mehr als Klarissa. Un­angenehm war das keinesfalls, im Gegenteil, es gefiel mir extrem gut. „Ja schau genau, vielleicht ist da noch etwas, das du nicht kennst. Ich weiß du wirst es lieben.“ hätte ich ihr sagen mögen. Als schön empfand ich sie allemal, wunderschön. Wenn für dich das schön ist, was du mit Liebe anschaust, muss­te ich Veruschka zweifellos lieben. Ich fühlte mich ja im Betrieb nicht unwohl, es gab nicht selten sehr erfreuliche Momente, in denen ich mich glücklich wähnte, aber Gespräche mit Veruschka waren etwas ganz anderes. Solche Ge­fühle kamen in der Firma nicht auf. Veruschka berührte etwas in mir, das tiefer lag, was ich aber nicht benennen konnte. Das hatte mein Großvater ja auch gemacht, das surreale an seinem Gesang, Unbewusstes in einem automati­schen, nicht gesteuerten Prozess zum Ausdruck kommen zu lassen, die durch Kombination unmöglicher Texte und Melodie die Wirklichkeit überstiegen. Hat­te mein Verhältnis zu Veruschka auch surreale Züge? Die Wirklichkeit meines Alltags überstieg es auf jeden Fall.


Antigone und Ismene

„Ach je, dass die Mami mit einem fremden Mann ins Theater geht, kommt ja nicht jeden Abend vor.“ stöhnte Veruschka auf, als sie bei mir im Auto Platz nahm. „Mit wem geht sie sonst ins Theater?“ erkundigte ich mich. „Gar nicht, oder mit 'ner Freundin.“ lautete Veruschkas Antwort. „Einen Papi, der mitgehen könnte gibt’s nicht?“ fragte ich weiter nach. „Schon, aber der geht nicht mit ins Theater. Ich erklär dir das mal, aber nicht jetzt. Ich möchte mich mit dir auf die Antigone freuen.“ sagte Veruschka. „Na, freuen bei soviel Mord und Ster­ben?“ wand ich ein. „Andreas, mein Süßer, was redest du. Keiner der Schau­spieler wird auf der Bühne sterben müssen. Ich freue mich auf die Kunst, und wer müsste das besser verstehen können als du.“ reagierte Veruschka. Am liebsten hätte ich sie geküsst, aber wie konnte ich. Absolut elegant empfand ich sie in ihrem Abendkleid, aber auch wenn sie Pullover oder eine Bluse mit Jackett trug empfand ich es nicht anders. Sie war eben die schönste Frau der Welt. Ob andere das wussten, interessierte mich nicht, Hauptsache ich konnte es erkennen. Öfter schauten wir uns grinsend an und kommentierten das Ge­schehen auf der Bühne durch unsere Mimik. Veruschkas Arm lag auf der Leh­ne. „Willst du mir mal deine Hand geben? Magst du, oder lieber nicht?“ fragte sie plötzlich. Fast ekstatische Gefühlswallungen löste es bei mir aus. Wir hatten uns ja bislang noch nicht einmal Begrüßungsküsschen gegeben, und jetzt hielt ich die warme Hand dieser mir doch unbekannten Frau in meiner Hand. Nach der Garderobe standen wir im Foyer voreinander. Wir mussten uns wohl ge­genseitig bis ins Herz blicken und dort etwas Wundervolles erkennen, warum sonst hätten wir uns umarmen und küssen sollen? Verantwortung, Sorge, Pflichtbewusstsein, das alles existierte plötzlich in meinem Leben nicht mehr, es gab nur noch das pure Glück. Ich habe oft über meine Jugend und meine Beziehung zu meinem Großvater nachgedacht. Alle und jeder bewerten ständig das Verhalten der Menschen, mit denen sie zu tun haben, nur bei meinem Großvater war ich absolut sicher, dass es ihm unmöglich war, Negatives über mich zu denken, dass er mich niemals verurteilen könnte. Das hatte es nur bei meinem Großvater gegeben. Im Grunde könnte es zwischen allen Menschen so sein. Jeder wird einen irgendwie gearteten Grund oder Anlass haben, für das, was er tut, doch wir urteilen sofort, ohne seine Motive zu kennen. Mein Groß­vater sah in mir den Menschen, aber gewöhnlich können wir ihn im anderen gar nicht sehen, erkennen in der Regel nur die Oberfläche, die irgendeinem un­serer Klischees entspricht, was uns aber nicht stört. Im Grunde bewegen sich unsere Beziehungen auch meistens an der Oberfläche. Nicht anders war es von Anfang an zwischen Marielle und mir. Es ist uns damals gar nicht bewusst ge­worden. Veruschkas Blick hatte mir fast direkt gesagt, dass sie etwas anderes sah. Bewusst geworden war es mir nicht, aber gespürt musste ich es haben, dass sie in mir so etwas wie das Wunder Mensch erkannte. „Du siehst Antigone als Sinnbild für Menschlichkeit und ihre Schwester Ismene als Metapher für den Alltagsmenschen, der sich unkritisch an der Allgemeinheit orientiert und han­delt, wie man es eben so macht.“ sagte Veruschka beim Abendessen. „Genau, Achtung, Wertschätzung, Liebe für den anderen Menschen, nur das kann das höchste Gesetz für die Menschen sein. Niemand gehört sich allein, alles was du bist, hast du von den Menschen, mit denen du zu tun hattest oder zu tun hast, besonders von denen, die du liebst und denen, die dich lieben. Das ist einfach so und lässt sich nicht gesetzlich ändern. Ismene verkörpert die jedermann Frau, die nach den gängigen Rollenklischees lebt, die etwas für richtig hält, weil es alle so machen.“ lautete meine Ansicht. „Das könnte dir nicht passie­ren, nicht wahr?“ wurde ich ironisch gefragt. „Veruschka, es wird doch jetzt al­les anders.“ behauptete ich tapfer. „Ah ja, seit wann und wieso?“ wollte sie es genauer wissen. „Aus Liebe.“ sagte ich nur knapp und lächelte. Auch wenn ich nicht ganz ernst dabei war, völlig lächerlich war es nicht. „Liebe? Ha! Sollte ich da nicht etwas von wissen? Wo sollte die denn sein? Ich bin einer Phantasmagorie aufgesessen, habe mir ein Trugbild imaginiert von einem Mann, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Vielleicht oder wahrscheinlich hat es ihn mal gegeben, aber du hast ihn tief vergraben und gut abgedeckt, damit er keinesfalls wiederkommen und dich in deinem Alltag, bei deiner Arbeit stören kann.“ klärte mich Veruschka auf. „Und heute Abend, wer war heute Abend mit dir im Theater?“ fragte ich. „Ich weiß es doch auch nicht, ich bin verrückt. Erklären kann ich es mir nicht, was ich mir warum einbilde. Ein Traum kann es nicht sein, meine Träume kennen so etwas nicht. Nur wenn wir miteinander reden, verschwindet der wirkliche Andreas. Nur noch mein Phantasma ist dann gegenwärtig. Dass du eine Firma hast, in der du wie der Teufel arbeitest, kann ich dann gar nicht sehen, es ist verschwunden. Den realen Andreas gibt es dann nicht, weil ich den nicht sehen möchte.“ erläuterte Veruschka. „So ist es nicht, Veruschka. Dein Bild ist keine Phantasmagorie, den Andreas, so wie du ihn dir vorstellst, gibt es wirklich. Er ist immer anwesend, wenn du mit ihm sprichst, weil du ihn erkennen kannst. Als Klarissa dir die Tür geöffnet hat, ist er mit reingekommen. Ich selbst werde ihm öfter die Tür öffnen müssen. Vergraben ist er nicht, ich müsste ihn nur öfter suchen. Leider sind wir uns so fremd geworden, dass ich ihn oft gar nicht erkennen kann.“ entgegnete ich. „Ich weiß es nicht. Ich bin unrealistisch und verrückt. Lasse mich von einem Traumbild benebeln und empfinde glücklich. So etwas ist für mich selbst eigentlich unvorstellbar. Das gab es noch nie, und ich schäme mich dafür vor mir selbst. Andreas, das kann doch keine Perspektive haben. Lass uns aufhören mit gemeinsamen Treffen und Theaterbesuchen oder dergleichen. Ich will es noch vergessen können.“ erklärte Veruschka. Mir fehlten die Worte. Was sah ich denn eigentlich. So wie Veruschka es beschrieben hatte, konnte es nicht sein. Vergessen? Das wäre unmöglich. Als ob sie selbstverständlich zu mir gehören würde, so nahm ich es wahr. „Veruschka, das geht nicht. Ich werde dich nicht vergessen können. Selbst wenn wir uns nicht mehr treffen sollten, wirst du doch immer da sein. Was du in mir gesehen und für mich empfunden hast, wirst du auch nicht wieder auslöschen und ungeschehen machen können, besonders nicht, wenn es dir emotional viel bedeutet hat. Wenn ich dich nicht mehr sehen kann, werde ich eine Marmorstatue von dir anfertigen. Ich werde sie so wundervoll gestalten, dass die Götter nicht widerstehen können und ihr Leben einhauchen müssen. Dann wirst du immer bei mir sein.“ erklärte ich. Jetzt lachte Veruschka wieder. „Also nicht Praxiteles sondern Pygmalion, das klappt aber nur, wenn du alle anderen Frauen hasst, tust du das?“ scherzte sie. „Für dich würde ich es tun, wenn du es verlangtest. Nur bei Klarissa, könnten wir da nicht eine Ausnahme machen?“ bat ich. „Aber, Andreas, wie willst du das denn ändern? Dass du es einmal geschafft hast, ins Theater zu kommen, ist doch kein Beleg dafür, dass du deine Arbeitssucht überwunden hättest. Eine sehr ernsthafte Angelegenheit ist das schon, da müsstest du in der Tat zum Therapeuten oder zumindest konkrete Pläne haben, wie du etwas daran ändern könntest.“ meinte Veruschka. „Es hat mich sehr betroffen gemacht, was du dazu gesagt hast, und mir ist deutlich geworden, dass ich mich verrannt habe, in eine Richtung in die ich selbst niemals gewollt hätte. Unzweifelhaft stand immer für mich fest, dass ich alles, was ich tue, zum Nutzen der Firma mache, aber ich sehe schon, dass ich es für meine verdrehte Psyche gebraucht habe. Ich will darauf achten, wer ich denn eigentlich selbst bin, was ich denn selbst will. Der arbeitssüchtige Andres Coberg, das bin ich nicht. Ich denke oft an meine Kindheit und Jugendzeit, in der ich sehr glücklich war, und das lag hauptsächlich auch an meinem Großvater. Ich habe ihn für sehr klug gehalten. Er müsste mich äußerst gut kennen. Ich stelle mir vor, dass ich ihn heute fragen könnte, und er mir Rat gäbe. Bestimmt würde er mir helfen, wenn er meine Lage heute sähe.“ erklärte ich. „Du wirst viel von deinem Großvater geerbt haben, nicht nur seine Gene, vermute ich.“ meinte Veruschka dazu. „Natürlich, er hat mir den Zugang zur Bildung eröffnet und mein Interesse daran geweckt. Bestimmt war er für mich die entscheidende Person in meiner Sozialisation.“ bestätigte ich Veruschka. „Weißt du, ich halte nicht viel davon, dass es irgendwo in den Sphären eine Ruhmeshalle geben soll, in der die Seelen der Verstorbenen gemeinsam mit den Engelchören glorreich die Ehre Gottes preisen, und zu der man Himmel sagt. Ich denke eher, dass wir in denen, die wir geliebt haben und die uns geliebt haben, überleben und zwar nicht nur mit den Einflüssen, die wir auf ihre Entwicklung gehabt haben, sondern dass in ihnen auch das Wesentliche unseres Seins, Sehnsucht, Liebe und Kreativität überleben.“ erläuterte Veruschka. Ich musste über den Tisch langen und ihr die Wange streicheln. Vorgenommen hatte ich mir das nicht, meine Hand machte es fast aus sich selbst. „Ich glaube, dass ich das Wesentliche meines Seins schon verbuddelt hatte, bevor ich die Firma übernahm. Ein fataler Irrtum war das mit der Liebe und Ehe. Mein Großvater war zwar immer freundlich, aber er mochte Marielle, meine Freundin und spätere Frau, nicht. Da hätte ich ihn auch am besten schon gefragt, nicht wahr. Aber irgendwann muss man ja mal selbständig werden.“ erklärte ich. „Das sehe ich auch so, nur solltest du dabei trotzdem auf das hören, was in dir selbst ist. Wie es alle so machen und wie man so allgemein denkt, das ist Ismene, nicht wahr?“ meinte Veruschka dazu. „Das sehe ich mittlerweile genauso. Je mehr du dich an der Oberfläche der Allgemeinheit bewegst, umso stärker verlierst du dich selbst.“ kommentierte ich. „Aber du willst dich jetzt selbst wiederfinden. Und wie willst du das machen?“ wollte Veruschka wissen. „Für mich selbst will ich es tun, weil ich mich so nicht mehr leiden mag. Ich hoffe, dass ich es schaffen kann. Wenn ich jedoch wüsste, dass es dir gefiele, du es gut finden würdest, das gäbe mir Kraft, das machte mich stark, und ich weiß, dass ich es dann sicher schaffen würde.“ antwortete ich. Veruschkas Lächeln zeigte jetzt besonders warmherzige, liebevolle Züge. Sie strich mir übers Haar. „Du wirst es schaffen, Andreas, du musst es schaffen.“ sagte sie dabei, „Genau, du schaffst es für dich selbst und für mich. Wir beide werden es für uns schaffen.“


Arbeitssüchtig

Zunächst hatte ich es ja immer abgestritten, nach Ausreden und Entschuldi­gungen gesucht, konnte es für mich selbst nicht akzeptieren. Als ich mich dann aber auch kundig gemacht hatte, war es nicht mehr zu bestreiten, wie Klarissa und Veruschka es sahen. Ich musste mir eingestehen, dass ich eindeutig ar­beitssüchtig war. Und was ändert sich dadurch, dass du es weißt, dein Be­wusstsein dem nicht widerspricht? Nichts. Du weißt es jetzt, lebst aber weiter in deinem bisherigen Lebensgefühl. Als Veruschka mir klar machte, dass sie mit mir nichts mehr zu tun haben wolle, kam es wie eine Erscheinung. Ich sah auch den, den sie nicht mochte, konnte mich selbst so sehen und mochte diesen Menschen auch nicht mehr. Aber wer ist das denn, der Veruschka gefällt? In mir sein muss er ja schon, nur in dem Arbeitssüchtigen würde ich ihn nicht finden. Der war hohl und ohne wirkliches Leben. Von den wesentlichen Dingen des Lebens, wie Veruschka gesagt hatte, von Sehnsucht, Liebe und Kreativität war bei ihm nichts zu spüren. Vielleicht bestand darin schon der größte Schritt zur Überwindung meiner Arbeitssucht, dass sich in mir liebevolle Gefühle für Veruschka entwickeln konnten. Dass ich spüren konnte, wie bedeutsam mir das war, Gefühle für eine Frau, von der ich nur wusste, dass sie Lehrerin war, zwei Kinder und Dienstags frei hatte, deren wundervolle Hand aber über eine Stunde lang in meiner gelegen hatte. „Klarissa, wir müssen unbedingt etwas besprechen.“ forderte ich Klarissa am Montagmorgen auf, „Es gibt zwei neue Gesetze für die Firma. Erstens, ich bin arbeitssüchtig, und zweitens, ich habe mich verliebt.“ Während Klarissa zu Anfang noch skeptisch auf den Fortgang gewartet hatte, lachte sie jetzt schallend auf. „Und wie passt das zusammen?“ wollte sie wissen. „Ja, eben nicht. Deshalb ist das oberste Gebot die Bekämpfung der Arbeitssucht, weil es sonst mit der Liebe nix wird.“ erläuterte ich. Das Vordringlichste war die Beschäftigung einer Schreibkraft. Sobald die eingestellt sei, würde ich um achtzehn Uhr Feierabend machen. Untätig zu Hause sitzen müssen, bestimmt würde mich das in den ersten Tagen quälen. Vielleicht würde der Arbeitssüchtige ja eine Ersatzdroge finden, zum Beispiel Liebesbriefe an Veruschka schreiben. Nein, aber Klarissa hatte mir erklärt, dass ich anders arbeiten müsse. Jetzt erledigte ich immer eins nach dem anderen. Ich müsse terminiert und unterschieden nach Wesentlichkeit meine Arbeit planen. Wenn ich dann etwas nicht geschafft bekäme, sei es das Unwesentlichste gewesen. Dazu würde ich mir doch auch in meiner neuen Freizeit etwas durchlesen dürfen, oder? Klarissa war meine Göttin, ohne sie hätte ich das niemals geschafft. Sie war im Grunde unterwertig beschäftigt, hatte einen Abschluss der Höheren Handelsschule und hätte studieren können. Eigentlich hatte sie auch vor, zu gehen, nur mein Konzept gefiel ihr, der neue Chef war ja jetzt ein Künstler und kein Steinmetz mehr, das gefiel ihr auch, und sie war für mich die wichtigste Person im Betrieb. Sie war die Chefin, und das sagten auch auch die anderen Beschäftigten, aber eine Chefin, die sie liebten. Sie hätte Ökonomieprofessorin sein können, die Liebe, Anerkennung und Wertschätzung für ihre Person, die sie bei uns erfuhr, konnte es an einem anderen Arbeitsplatz nicht geben. Trotzdem war sie nicht arbeitssüchtig geworden. So wie für Klarissa hatte es sich für mich ja auch nicht gestaltet. Niemals hätte ich den Betrieb meiner Eltern weitergeführt, ich war kein Steinmetz, der Grabsteine schleift und graviert. Mir kam die Idee mit der Umgestaltung, was ja auch gelungen ist, und worauf ich schon stolz bin. Nur meine Sehnsucht lag nie darin, einen Handwerksbetrieb zu verändern und auch nicht darin, neue Marketingkonzepte zu entwickeln. Mein Leben sah in letzter Zeit aus, wie die Freude über das Lob für eine gute Mathe-Arbeit, obwohl ich Mathe gar nicht mochte. Süchtig nach Anerkennung war ich, und die verschaffte ich mir permanent durch meinen Arbeitseifer. Die Arbeitssucht wäre bestimmt behandlungsbedürftig, aber psychisch gesund war ich auch schon vorher nicht mehr. Das Gleichgewicht war schon lange gestört. Sinn und Freude konnte ich dem Leben nicht mehr abgewinnen. Meine Kreativität drängte nicht mehr nach Entfaltung. Mir fiel nichts mehr ein, da gab es nichts mehr, was mich nach Gestaltung drängte. Klarissa hätte als Metapher für Lebenslust und Gesundheit gelten können, ich war ein psychischer Krüppel, der sich mit der untauglichen Krücke Arbeitssucht aufrecht zu halten versuchte.


Phantasmagorie

Wir telefonierten jetzt öfter miteinander, einfach so. Wenn Veruschka aus der Schule gekommen war und das Dringendste erledigt hatte, rief sie mich an. Stolz erzählte ich von den neuesten Fortschritten bei der Suchtbekämpfung. „Das waren ja auch unhaltbare Zustände, dass der Chef und die Chefin ihre Korrespondenz persönlich erledigten. Dass uns das nicht schon früher aufgefal­len ist.“ erklärte ich stolz. „In den letzten Jahren hast du sicher nicht viel oder wahrscheinlich eher gar nicht gelesen. Das ist nicht nur schade für dich, es lässt dich auch verkommen. Schau dass du im Leben bleibst. Ließ mal „Körper von Gewicht“ von Judith Butler. Du wirst es nicht kennen, aber es macht dich intellektuell fit.“ schlug Veruschka mir vor. Bei einem anderen mal. „Du machst doch jetzt immer achtzehn Uhr Feierabend, und um achtzehn Uhr gibt es bei uns Abendbrot. Am nächsten Montag möchte ich es aber gern gemeinsam mit dir einnehmen. Ich bin um achtzehn Uhr bei dir und hole dich ab. Ist das o. k.? Sag, dass du dich darauf freust.“ verkündete Veruschka mir. Was denn sonst? Worauf sollte ich mich mehr freuen. Jetzt begann ich auch, mich nicht mehr darüber zu freuen, wie fleißig ich sein konnte, sondern wie stark ich war, mein Denken und Fühlen für die Firma und die damit verbundene Arbeit in Grenzen halten zu können. Ich glaubte es nicht nur, sondern ich spürte es, dass der Sinn des Lebens für mich anderswo liegen musste. Ich war kein gesunder Mensch, der ein Geschwür bekommen hatte, das Arbeitssucht hieß. Ich meinte alles im Griff zu haben und rational begründen zu können, ein Trugbild, das mich darüber hinwegtäuschen sollte, dass ich längst die Kontrolle über mich selbst verloren hatte. „Wenn du es ernst nimmst, beweise es dir, indem du mit dem irrsinnigen Rauchen aufhörst, da sagst du dir doch auch, dass du es ei­gentlich gar nicht wolltest.“ hatte ich mir verdeutlicht. Radikal war ich mit mir selbst, ab sofort keine einzige Zigarette mehr. Es war wie der Beweis, dass ich es schaffen könnte, zu einem anderen Leben zu finden. „Weißt du, Lenny, mein Sohn, der ist vierzehn und da machen Jungs schon mal ein Gesicht, das nicht die ausgeglichene Harmonie persönlich verkörpert. Warum, das können oder wollen sie dann selbst gar nicht erklären. Ich habe ihn im Bett gebeten, er solle mir doch ein paar liebe Worte sagen, damit er an etwas Schönes denke. Darauf hat er geantwortet, ich hätte doch jetzt einen Lover, ob der mir denn keine lie­ben Worte sagte? Tut er das, wirst du mir liebe Worte sagen wollen?“ musste Veruschka am Montagabend beim Essen wissen. Ich lachte. „Aber, Veruschka, alle Worte von mir an dich sind Worte der Liebe, nur wenn ich dir gegenüber das Wort Liebe erwähne, meine Liebste, sprichst du von Phantasmagorie. Das Phantasma liegt eher bei mir. Ich bin ein süchtiger Mensch, wenn ich dich sehe, brauche ich meine Arbeitssucht nicht mehr. Dich zu sehen und an dich zu denken, wirkt wie eine Ersatzdroge. Nein, Veruschka, es ist mehr und etwas ganz anderes. Wenn ich sehe, wie deine Arme verschränkt auf dem Tisch vor dir liegen und deine Augen mich erwartungsvoll lächelnd fixieren, beginnt es in mir zu kribbeln. Dann möchte ich etwas tun, möchte etwas gestalten, das diesem weisen, tiefen, samtigen Ausdruck, der mir voller Versprechungen erscheint, gleich kommt. Möchte etwas bilden und formen. Es stört mich dann, dass ich kreativ, praktisch in diesem Moment nichts tun kann. Nur mit deiner Person, indem du mich anschaust, hilfst du mir, mich selbst wieder zu finden, zu dem zurückzufinden, der ich eigentlich bin.


Es ist viel Sorge,
sagt die Angst.
Es ist viel Verantwortung,
sagt der Verstand.
Es ist das größte Glück auf Erden,
sagt die Liebe.


Es ist einfach da, so empfinde ich für dich, obwohl ich dich doch gar nicht ken­ne. Das ist mein Phantasma.“ erklärte ich. „Ja, Elena, meine kleine Elli, will im­mer alles ganz genau wissen. Ständig fragt sie, ob ich denn jetzt verliebt sei, und wie das denn wäre. Sie möchte alles von dir wissen, nur ich weiß ja auch fast nix. Als ich ihr das von deinem Großvater erzählt habe, hat sie sich schief gelacht. Ich glaube, du hast im Grunde viel Ähnlichkeit mit ihr, deshalb mag ich dich bestimmt auch so gern.“ sagte Veruschka. „Und was sagst du deinem Töchterchen: „Ja, es stimmt, meine Süße, die Mami hat sich verliebt?““ wollte ich wissen. Veruschka lachte. „Andreas, ich weiß es doch selbst nicht. Für so etwas habe ich eigentlich gar keine Zeit, deshalb hat es sich ja auch mit mei­nem Mann auseinander entwickelt. Ich habe meinen Beruf, das ist unverzicht­bar, und die Kinder haben mich von Anfang an emotional okkupiert. Das kannst du dir vorher gar nicht erträumen, wie wundervoll es ist, die kleinen Elefanten aus deinem Bauch wachsen und sich entwickeln zu erleben. Da merkst du wirklich, das jeder Tag ganz neu und immer anders ist. Einen Alltag, einen Tag, der wie alle ist, gibt es dann nicht. Das ist auch bei deinem Handeln nicht anders. Du tust nie was alle tun, das gibt es nicht. Du tust immer das, was du tun willst. Und wenn du sagst, dass es alle so machten, hast du dir nur die billigste und wertloseste Rechtfertigung für dein Handeln gesucht. In Wirk­lichkeit tust du es, weil du es für dich am bequemsten und sichersten hältst, und du Angst hättest, sonst aufzufallen. Es gibt nichts Gleiches, du kannst nie­mals das Gleiche wie andere tun, alles ist immer auf irgendeine Art anders. So war das eben, Beruf und Kinder haben mein Leben dominiert und der emotio­nale Stellenwert der Beziehung zu Gerri, meinem Mann, verringerte sich mehr und mehr. Geliebt hatten wir uns schon, aber die gemeinsamen Zukunftsträu­me hörten auf zu blühen. Ich sah mich mit meinem Beruf und den Kindern, Gerri kam da kaum noch vor. Für ihn hat es dazu geführt, dass er sich ver­mehrt anderswo, im beruflichen Bereich Anerkennung und Beachtung ver­schaffte. Er ist zwar aufgestiegen, aber arbeitssüchtig ist er, glaube ich, noch nicht geworden.“ erläuterte Veruschka. „Ja, Arbeitseifer und rastloses Streben als höchste Tugenden, eine Mesalliance aus kapitalistischen Theorien und christlicher Ethik. Den Griechen wäre so etwas zum Beispiel als verabscheu­ungswürdig erschienen. Und ich Idiot, lasse mich von diesen Ansichten der All­gemeinheit benebeln. Es fällt mir noch nicht einmal auf, sondern ich suche selbst meine Bestätigung und Anerkennung auf diese Weise. Getrennt habt ihr, dein Mann und du, euch aber doch nicht.“ erkundigte ich mich. „Doch, schon, innerlich und in gewisser weise auch äußerlich. Wir haben überlegt, ob wir uns trennen sollten, aber wir haben keinen Streit miteinander, nur auch nichts mehr, außer den Erinnerungen, was uns verbindet. Ich habe erklärt, dass es mich nicht stören würde, wenn er wohnen bliebe, und Gerri sah es für sich auch so. Für die Kinder sei es so auch am besten. Jetzt sitzen sie zwar jeden Abend mit Mami und Papi gemeinsam beim Abendbrot, aber sie wissen auch, dass sie kein Ehepaar mehr sind, nur scheint sie das nicht sonderlich zu stören, ob wir gemeinsam ins Bett gehen oder nicht.“ erläuterte Veruschka. „Du lebst also mit deinem Mann wie in einer WG zusammen. Ihr seid höflich und freundlich zueinander, aber dass ihr euch mal geliebt habt und verheiratetet seid, spielt gar keine Rolle. Und wenn du dich jetzt verliebst, wie lange wird es dann dauern, bis diese Beziehung auch in der Bedeutungslosigkeit vor sich hin dümpelt?“ wollte ich wissen. „Ganz schön frech, mein Lieber, aber es gefällt mir, wenn du frech bist, dann erkennt man, dass du wirklich lebst. Genau, du hast ja Recht, deshalb darf es doch auch nicht geschehen, dass ich mich verliebe. Das wäre das Letzte, was ich gebrauchen könnte, war mir immer klar. Wenn ich schon meinen Mann vernachlässigte, hatte ich erst Recht kein Bedürfnis nach zusätzlichen neuen Sentimentalitäten. Das hatte ich nie, und habe ich auch jetzt noch nicht. In Millionen Schriften, Filmen und Opern wird gesagt, was Liebe ist oder gezeigt wie sie geht, nur über deine Liebe kannst du darin nichts finden. Das weißt du oft selbst noch nicht einmal. Deshalb nehmen die meisten ja auch etwas, was sie gesehen, gehört oder gelesen haben und wollen es auch so machen. Selbst Gefühle von Zuneigung und Sehnsucht, die ja dazu gehören, empfinden sie, aber es sind nicht ihre wirklichen, eigenen Gefühle. Sie machen etwas nach inclusive der Gefühle. Sie haben sich verliebt, wie man es eben so macht, wie Liebe so geht, wie sie es so ähnlich ja alle machen. Ich glaube nicht, dass es mit Gerri ganz so banal war, ich meine schon persönlich stark empfunden zu haben, aber allzu tiefgründig und profund kann es wohl nicht gewesen sein, sonst hätte es mir auch trotz der Kinder mehr bedeutet und wäre mir nicht so leicht gefallen, ihn kaum noch wahrzunehmen. Mit dir, das hat mit Liebe nichts zu tun. Ich sag ja, eine Erscheinung, eine Halluzination habe ich gehabt. Ich sehe Andreas beim Kaffee und meine, diesen Menschen an sich zu sehen, zu erkennen wie er wirklich ist. So ein Quatsch, etwas anderes als die Erscheinung kannst du niemals erkennen, und sie ist ein Bild, das du aus dem, was in dir ist, zusammengestrickt hast. Anders geht es nicht. Aber ich kenne nichts von diesem Bild in mir. Mit Liebelei und süßlichen Gefühlen hat das nichts zu tun. Wie ein Wunder kommt es mir vor, und ich weiß nur, dass ich dieses Wunder will. Wenn es Wirklichkeit werden könnte, würde es meinem Leben einen zusätzlichen, anderen, neuen Sinn geben. Liebe? Ich will ohne dieses Wunder nicht leben, aber es ist eben nur meine Imagination.“ sprach Veruschka zur Liebe. „Hast du den Hoffnungen, dass deine Imagination, dieses Wunder in dem Menschen, der dir gegenüber sitzt, mal Realität werden könnte?“ wollte ich von ihr wissen. „Das ist ja das Perverse. Immer wenn ich mit diesem Menschen zusammen bin, muss ich mich wohl in einem Trance ähnlichen Zustand befinden. Ich kann dann nicht mehr differenzieren und halte meine Imagination für die Realität.“ meinte Veruschka. „Eine traurig machende Ansicht eigentlich. Dein Liebster kann ich nicht sein, sondern nur das Objekt deiner imaginären Leidenschaft. Ich kann dir nicht glauben, Veruschka, ob es Liebe ist, das müsstest du doch spüren, sie ist die stärkste von allen Leidenschaften, denn sie erfasst gleichzeitig den Körper, den Kopf, das Herz und die Sinne.“ wandt ich ein. Ganz ernst war das Gespräch schon lange nicht mehr. „Und auf welche weise erfasst es dich, was spürst du dann?“ forschte Veruschka nach den Details. „Ist doch klar, in deinem Körper spürst ein Kribbeln, du möchtest unbedingt die Geliebte berühren und küssen, deine Gedanken sind auf die Liebste fokussiert und erlauben keinen allgemeinen Überblick mehr, deine Augen sehen das Objekt deiner Liebe Strahlen umkränzt als das Schönste, was sie je erblickten und deine Ohren hören ihre Worte wie die betörendsten Gesänge der Sirenen. Mit dem Herz ist es schon ein wenig schwieriger, weil unser Sprachzentrum und unsere Sprechwerkzeuge nicht in der Lage sind, seine Informationen zu verbalisieren. Die Sprache des Herzens kannst du nur mit den Augen ausdrücken und vermitteln, und da kommt es eben auf den anderen an, ob er die Sprache deines Herzens in deinen Augen erkennen und verstehen kann.“ erläuterte ich und lachte. „Sollten wir da nicht zunächst mal das mit dem Küssen erledigen?“ fragte Veruschka lachend und war schon aufgestanden. „Du meinst also es sei keine Halluzination, sondern eher so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen, obwohl wir uns kein bisschen kannten?“ vermutete Veruschka. „Genau, die ganze Geschichte der katholischen Kirche ist doch ein Opus aus Halluzinationen, nur werden sie dort auch nicht so bezeichnet. Man nennt sie Wunder, sollten wir das, was uns zusammen geführt hat und uns verbindet, nicht auch so nennen, ein Wunder, das Liebe heißt? Du brauchst Mut dazu, um dir deine Liebe einzugestehen und sie zu zeigen.“ erklärte ich. „Ich glaube dir doch Andreas. Liebe muss es schon sein, auch wenn ich mir darunter so etwas nie vorstellen konnte. Ich vertraue dir absolut und will dir helfen, wo ich kann. Nur eins muss auch immer klar bleiben, dass ich mit dem süchtigen Arbeitstier von den Natursteinen nie etwas zu tun haben will.“ verdeutlichte Veruschka.


Urvertrauen

„Ich wollte mit dir am Montag eigentlich über das Buch, das du mir empfohlen hattest reden, aber dazu sind wir gar nicht gekommen. Zuerst habe ich näm­lich gedacht … .“ weiter kam ich nicht, weil mich Veruschka unterbrach, als ich es ihr am Telefon mitteilte. „Aber am Telefon geht das doch nicht. Sollen wir es so machen, dass ich am Dienstag zu dir komme, da brauchst du nicht extra in die Stadt zu fahren. Kommt es dir denn terminlich aus?“ fragte sie. „Weißt du meine Liebe, ich bewerte doch jetzt alles und kategorisiere es nach sehr we­sentlich, wesentlich, weniger wesentlich und unwesentlich. In der Kategorie 'Sehr Wesentlich' wirst du auf dem allerersten Rangplatz geführt. Wie könnte es da sein, dass ich für dich keine Zeit hätte. Ich freue mich also nicht nur, wenn du kommst, sondern es handelt sich auch um einen höchst wesentlichen Akt.“ machte ich deutlich. „Hast du es gegenüber deiner Tochter jetzt einge­standen, dass du dich verliebt hast?“ wollte ich von Veruschka wissen, als sie am Dienstagmorgen kam. „Ja schon, aber ich konnte ihr nichts erklären. Jede Liebe sei immer anders, sogar bei dem gleichen Menschen gebe es niemals zweimal die gleiche Liebe, habe ich ihr gesagt. Aber alle sagten doch Liebe, was denn das Gemeinsame sei, sonst sei das Wort ja unbrauchbar, wollte sie wissen.“ erzählte Veruschka. „Weißt du es denn? Hast du es ihr verraten?“ scherzte ich. „Du müsstest es doch selbst am besten wissen. „Es ist das größte Glück auf Erden, sagt die Liebe.“ hast du mir erklärt. Und das faszinierende, das Wunder ist, dass die herrlichsten Erfahrungen, die ein Mensch erleben kann, sich aus der Beziehung zu einem anderen Menschen ergeben. Der andere, dein Mitmensch ist dir das Wichtigste und Bedeutsamste. Das sollte niemand jemals vergessen, nicht wahr?“ sinnierte Veruschka. „Hat deine Tochter denn schon einen Freund? Sie ist doch auch in der Pubertät.“ erkundigte ich mich. „Ich glaube nicht,“ sagte Veruschka lachend, „sonst wüsste ich es. Von der Entwicklung her unterscheiden sich Elena und Lenny nicht viel, Mädchen sind eben immer schneller, aber Elena ist irgendwie ganz anders. Draußen ist es ihr schon wichtig, nicht mehr als Kleinkind behandelt zu werden, aber mir gegenüber ist ihr alles egal. Sie hat so eine absolute Sicherheit, dass es unmöglich ist, von mir nicht gebührend respektiert und anerkannt zu werden. Zweifel können da nicht aufkommen. Das weiß sie einfach. Für mich ist das ein Faszinosum, wie kann so etwas entstehen, ich habe nichts Besonderes getan.“ Veruschka verwundert. „Von dir selbst kennst du so etwas nicht, hast selbst eine derartige Sicherheit einem anderen gegenüber nicht erfahren? Ich denke nicht, dass es ein Phänomen ist, das sich bei einem geliebten Menschen zufällig entwickelt. Du entdeckst es wieder, und wünscht dir es wiederzufinden. Als ganz kleines Kind empfindest du das gegenüber der Mutter immer. Sie ist alles für dich und existiert nur für dich. Du überträgst es auf alles andere, diese Welt ist nur für dich da. Das weißt du, darauf kannst du dich verlassen, dem kannst du vertrauen. Nur nach und nach musst du erkennen, dass es nicht das vorrangige Ziel aller Menschen ist, dich glücklich zu machen. Das Urvertrauen, das du hattest, ist nicht mehr angebracht, aber es ist in dir und verschwindet nie wieder. Vertrauen zu können, wird dir immer äußerst viel bedeuten. Bei meinem Großvater empfand ich genauso, wie du es von deiner Tochter erzählst. Es wäre ihm unmöglich, Schlechtes über mich zu denken, so erschien es mir, dessen war ich mir absolut sicher. Ich habe es nachher so interpretiert, dass er mehr von mir gesehen hat als nur die Erscheinung, sondern den Menschen in mir erkannt hat. Das kannst du spüren.“ lautete meine Ansicht. „Bei deiner Freundin und Frau hattest du dieses Empfinden aber nicht?“ erkundigte sich Veruschka. Ich überlegte und lachte. Vielleicht aus Verlegenheit, weil ich nicht wusste, wie ich es formulieren sollte. „Es ist absoluter Unsinn und kann gar nicht sein. Wir kannten uns ja kein bisschen, aber ich musste nach dem Kaffee, bei dem wir uns kennengelernt haben, immer an dich denken. Warum? Es war ja nichts geschehen. Es war dein Blick, wie du mich angeschaut hattest. Ich hätte dir gern alles von mir gezeigt, dir meine Seele geöffnet, du solltest alles sehen. Deine Augen hatten mir gesagt, der kannst du vertrauen, die wird niemals Schlechtes über dich denken. So ein Quatsch, nicht wahr? Reine Einbildung. Vielleicht ist es ein Wunschtraum, den jeder in sich birgt, nur du hast ihn mit deinem Blick, der den aller drei Grazien vereint, geweckt.“ erklärte ich. „Ich kann mich nicht daran erinnern, selbst so Ähnliches erfahren zu haben, aber ich glaube, dich schon zu verstehen. Dass besonders unter Kindern tiefe, bedeutsame Beziehungen möglich sein können. Lenny hatte zum Beispiel im Kindergarten eine innig geliebte Spielkameradin. Wenn die mal morgens nicht da war, wollte Lenny auch unbedingt wieder nach Hause. Ein Leben ohne deine Spielkameradin ist kein Leben. Du wirst lachen, aber daran habe ich gedacht, als wir uns kennenlernten. Ich war ausgeglichen, zufrieden und glücklich. Mein Beruf schenkte mir Anerkennung und Beachtung, und meine emotionalen Bedürfnisse wurden durch die Kinder bestens befriedigt. Mir mangelte es an nichts. Ich sah mich als taffe, selbstbewusste Frau, hielt mich für sehr abgeklärt. Liebe oder Partner brauchte ich nicht, das waren Bedürfnisse nach Sentimentalitäten für Leute, die nicht mit der Angst fertig wurden, dass ihnen diese Welt allein gehört, dass sie allein damit fertig werden mussten. Als ich dich erlebte, wurde mir deutlich, dass es um all dies nicht ging, dass es auch ein ganz anderes Leben geben könnte. Ich hielt mich für gebildet und intellektuell, aber in dieser Rolle lebte ich doch, bis auf kleine Extravaganzen, sehr ordinär und angepasst. Ich spürte, dass du das Leben sehen konntest, ein aufgewecktes, buntes Leben sahst du. Plötzlich hatte ich einen hellwachen Moment, in dem es mir schal erschien, wie ich mich in meinem Alltag zufrieden und glücklich wähnen konnte. Du versinnbildlichtest in meiner Vorstellung die Form eines anderen Lebens mit anderen Gewichtungen und Prämissen, du wecktest in mir Lust, dich zum Freund zu haben, machtest mir klar, dass mir doch etwas fehlte. Ja, so ist es, ein erwachsener Mensch braucht auch einen geliebten und begehrten Spielkameraden, bei dem er sicher ist, dass die Tage mit ihm einen Sinn haben und Freude bereiten werden. In dir habe ich ihn gesehen. Du hast mir gezeigt, wie sehr er mir fehlt. Es muss ja eine Erscheinung gewesen sein, ein Geist, eine Vision, aber so ähnlich habe ich dich sofort gesehen.“ erklärte sich Veruschka. Sie griff mit beiden Händen nach meiner Rechten und drückte sie kräftig.


Körper von Gewicht

„Zuerst dachte ich, ich könnte das Buch gar nicht lesen. Ich verstand nichts. Aber es ist ja ein feministisches Buch, bist du auch aktive Feministin?“ meinte ich zu dem Buch. „Auch? Wer ist es denn noch? Klarissa ist aktive Feministin?“ fragte Veruschka. „Nein, Klarissa, das weiß ich nicht. Sie will zwar keinen fes­ten Freund, sagt aber, dass es sie zu sehr einenge. Wieweit und ob das mit fe­ministischen Hintergründen zusammenhängt, weiß ich gar nicht. Marielle, mei­ne frühere Frau, hatte statt mir plötzlich den Feminismus entdeckt. Damit fing alles an. Dann kam noch Globalisierungskritik und schließlich allgemeine Um­weltpolitik hinzu. Da blieb auch für mich keine Zeit mehr.“ erklärte ich und lachte. „Na, ist doch toll, du hältst es aber anscheinend für lächerlich.“ Ve­ruschka dazu. „Veruschka, wer bin ich denn, dass ich etwas gegen Feminismus und feministische Politik hätte. Nur im Grunde war das alles albern und an der Oberfläche, sollte aber das Wesentliche, intellektuell Höherwertige darstellen, mit dem ich nichts zu tun hätte. Vom bewunderten Künstler wurde ich in ihren Augen zum Handwerker degradiert, und als ich den Betrieb übernahm war es völlig aus. Ein Nichts, ein Steinhauer und Steineverkäufer war aus mir gewor­den.“ erläuterte ich. „Du hast es erlebt, daneben gestanden, zugeschaut und es mit dir geschehen lassen?“ fragte Veruschka. „Ein Fehler war es von Anfang an, nur ich war zu blind, es zu erkennen. Sie bewunderte mich ja immer. Nur sie bewunderte nicht mich, denn von bildender Kunst hatte sie so gut wie keine Ahnung und von Bildhauerei erst recht nicht. Sie bewunderte ihr Klischee von einem Künstler, und das gibt ja nicht viel her. Verstanden hat sie im Grunde nichts, und mich hat sie erst recht nicht verstanden, aber ich sie auch nicht. Das war Liebe, wie man es eben so macht, und Anerkennung ist immer verführerisch, auch wenn sie sich an der Oberfläche bewegt.“ erklärte ich. „Warum hast du denn nicht mal auf den Tisch gehauen und gesagt: „So läuft das nicht, meine Liebe, nicht mit mir.“?“ fragte Veruschka und brachte mich zum Lachen. „Kannst du dir so etwas von mir vorstellen? Aber eigentlich hätte ich es machen sollen. Auch wenn ich meinte, darüber zu stehen, und Marielles Verhalten innerlich zu belächeln, verletzt es dich trotzdem, missachtet und nicht geschätzt zu werden. Ich hätte alles viel früher beenden sollen, denn verstehen würde ich sie nie. Das könnte nur ein Psychiater.“ meinte ich. „Ob das der Fehler in deinem Leben gewesen ist, der dir den Weg zur Arbeitssucht bereitet hat?“ mutmaßte Veruschka. „Wir können es vermuten, aber was bedeutet es? Rückgängig machen kann ich die Erfahrungen meiner Ehe nicht, schließlich habe ich ja auch Entscheidendes daraus gelernt.“ lautete meine Ansicht. „Und was ist es, das man aus einer missratenen Ehe lernt? Verlieb dich schnell beim Kaffee in eine Lehrerin, die du gar nicht kennst.“ scherzte Veruschka. „Gewiss wird mein Unbewusstes mich nach dieser Regie dirigiert haben, denn mein Bewusstsein wollte eigentlich von Liebe und Dergleichen nichts wissen, viel zu lästig, wie Klarissa sagt. Nein, es ist mir erst jetzt im Zusammenhang mit der Bekämpfung meiner Arbeitssucht bewusst geworden, dass ich schon damals aufgehört habe, nach mir selbst, meinen wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen zu fragen. Du bist es, deine Person hat mir schlagartig klar gemacht, dass meine Empfindungen und Gefühle das Wichtigste sind, auf sie muss ich hören, und nicht auf die Versprechungen der Allgemeinheit von Anerkennung für fleißiges Befolgen der Arbeitstugenden. Dann kann das Leben ein anderes werden.“ so sah ich es. „Wirst du das Buch denn lesen, oder willst du von feministischen Gedanken nichts mehr hören?“ fragte Veruschka. „Aber sicher werde ich mich da durcharbeiten und anschließend ein umfänglich gebildeter Mensch sein. Im Grunde ist es ja gar kein feministisches, doch schon sehr tiefgründig, aber vorrangig sehe ich es als philosophische, sprachwissenschaftliche Arbeit, die mich bei jedem zweiten Satz zum Nachschauen zwingt. Bewundernswert, wenn man das einfach so lesen kann. Mit so einem wirst du es hinterher zu tun haben. Einsatz für Gleichbehandlung von Frauen? Wichtig, natürlich, aber Alltagsarbeit. Dein Andreas steht weit darüber. Er weiß doch jetzt schon, dass es feminin und maskulin biologisch gar nicht gibt, sondern dass es sich dabei auch um eine Schöpfung unserer Sprache handelt.“ scherzte ich. Veruschka grinste verschmitzt. „Und wenn ich dich weiterhin doch lieber als Mann sehen möchte, geht das gar nicht? Wenn ich es aber trotzdem täte, wäre das denn sehr schlimm? Ich meine natürlich für dich persönlich aber auch unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten.“ fragte sie und wollte ganz ernst dabei bleiben. „Veruschka! Mann und Frau, so etwas Banales. Wir sind uns doch einig darüber, dass in unserer Beziehung jeder für den andern nur ein Wunder sein kann.“ wusste ich dazu. „Und die sind sexuell indifferent, meinst du, Neutrum sozusagen?“ verstand es Veruschka und lachte. „Da habe ich dir also zusätzlich Arbeit für den Feierabend verschafft. Dann hast du auch keine Langeweile, hast du die manchmal?“ wollte Veruschka wissen. „Ich hatte richtig gehend Angst. Stellte mir vor, ich würde wie ein Tiger im Käfig zu Hause herumlaufen und immer daran denken, was doch eigentlich im Betrieb noch getan werden müsste. Aber ich hatte Glück. Ich habe immer gern und viel gelesen und meine geliebten Bücher über die schönen Künste sind alle verstaubt. Sie gehören zu mir, sind ein Teil von mir, aber während meiner Arbeitswut mussten sie schweigen. Es macht viel Spaß, mich darin selbst wiederzufinden. Die erkenntnis- und sprachphilosophischen Gedanken Judith Butlers über „Körper von Gewicht“ bilden eine wundervolle, tiefgreifende Basis, wovon ich bislang überhaupt noch keine Ahnung hatte.“ erklärte ich.


Rankinglisten

Veruschka kam jetzt öfter am Dienstagmorgen, manchmal nur kurz auf einen Kaffee und wenige Worte. Wir hatten uns gegenseitig wirklich gesehen, darum ging's. „Andreas, der Spielkamerad wartet auf seinen Freund, weil er mit ihm eine Burg bauen will. Dass es am besten wird, wenn der mitmacht, das weiß Andreas sicher. Auf die Idee, der Freund könnte etwas falsch machen oder zer­stören, so etwas fällt ihm gar nicht ein. Das würdest du doch auch nicht tun, wenn wir gemeinsam etwas machten, nicht wahr? Es gefällt mir, wenn wir mit­einander reden, aber Liebe sucht auch nach Bestätigung und Vertiefung im ge­meinsamen Handeln.“ erklärte Veruschka. „Wie stellst du dir das denn vor? Willst du hier einige Briefe schreiben oder soll ich dir deine Mathe-Arbeiten nachsehen? Das kann ich nicht.“ erklärte ich. „Aber blöd sein, das kannst du. Nie ist mir eingefallen, dass mir jemand fehlen könnte. Ich habe Freundinnen, Bekannte, gute Kontakte in der Schule und vor allem natürlich die Kinder. Aber jetzt denke ich oft an dich, bei allem, was es ist, es spielt gar keine Rolle, beim Einkaufen, beim Müll rausbringen, immer könntest du dabei sein. Es kommt mir vor, als ob du mich immer beachten würdest. Ja, wäre das so, könntest du mir immer deine Beachtung schenken?“ erkundigte sich Veruschka. „Wenn ich nur an dich denke, ist meine Beachtung schon bei dir. Wozu sollte mir sonst die Möglichkeit, jemandem Beachtung und Anerkennung zuteil werden lassen, gegeben sein, wenn nicht, um sie dir zu schenken. Aber du hast Recht, wir könnten viel mehr gemeinsam machen als einmal ins Theater zu gehen.“ er­klärte ich. „Ich wusste nicht, dass es mir fehlen könnte, dass ich es brauchte, ich kannte es nicht und konnte es mir nicht erträumen, aber meine Ohren konnten nur die Frequenzen nicht wahrnehmen und meine Augen die Farben nicht sehen, jetzt kann ich mir nicht vorstellen, wie ich ein Leben ohne dem ertragen konnte.“ tat Veruschka ihre glücklichen Empfindungen kund. „Mit un­seren gebräuchlichen Wahrnehmungsorganen ist so etwas auch gar nicht zu erfassen. Es sind nicht unsere Worte, die Wirklichkeit erschaffen, und es sind nicht unsere Augen und unsere Ohren, die sie erkennen. Die Wirklichkeit ist in uns, in unserem Unbewussten schläft sie, und du kannst sie mit deinem Blick in mir erwecken.“ kommentierte ich. Offensichtlich hatte ich den Weg der Bes­serung und Heilung betreten. Stolz war ich, wenn mir wieder etwas einfiel, was geändert werden musste. Eindeutig war meine missratene Ehe zumindest dafür mitverantwortlich gewesen, dass ich in der Übernahme des Betriebes meiner Eltern eine mich bestätigende und entschädigende Zukunft leuchten sah, bei der ich aber gleichzeitig Angst hatte, dass sie mich vielleicht auch überfordern könnte. Dieser Zustand perpetuierte sich. Ich meinte, meine Unsicherheit durch intensivere Arbeit überwinden zu können, aber es blieb immer so. Ich arbeitete nur immer mehr und vergaß zunehmend anderes oder hielt es für nicht so vordringlich wie meine Arbeit. Wahrgenommen habe ich es selbst gar nicht richtig. Was ich wie tat, hielt ich so einfach für notwendig und erforderlich. Es störte mich ja überhaupt nicht, dass ich keine Freunde mehr hatte. Unglücklich war ich nicht. Die Erfolge und die wundervolle Zusammenarbeit mit Klarissa ließen mich gar nicht erkennen, was mir als gewöhnlichem Menschen immer mehr fehlte. „Du weißt, wie ich mich freue, wenn wir zusammen sein können. Dann treffe ich immer mein geliebtes Bild von dir, dem Menschen Andreas. Ich bewundere dich auch für deine Kraft zur Veränderung, und du bist selbst mit dir wahrscheinlich auch höchst zufrieden.“ begann Veruschka, „Aber ich blende dann auch aus, was ich nicht sehen will. Es hört sich gut an, was du sagst, wie viel ich dir bedeute, nur zweifele ich auch daran. Vielleicht möchtest du es, aber du täuscht dich selbst, denn der Wirklichkeit entspricht es nicht. Du stellst immer Rankinglisten der Wesentlichkeit auf, wenn du das für deine Persönlichkeit machtest, dann stünde dort unangezweifelt an erster Stelle die Firma, nicht deine Arbeit, aber der Betrieb ist nach wie vor dein Leben. An zweiter Stelle kämst du selbst. Du warst stolz auf dich, was du geschafft hattest und wie eifrig du warst, bis du merktest, dass da etwas nicht stimmte. Das Bild von dem krankhaft Arbeitswütigen passte nicht zu dem Andreas, der dir gefiel und den du lieben konntest. An dritter Stelle kommt, dass er eine Freundin hat, die ihn leiden mag und die er liebt. Es lässt sich nicht verkennen, dass es so ist, aber ich verdränge dieses Bild, weil es mir nicht gefällt.“ Ich schwieg, schloss die Augen und wiederholte das Gesagte in meinen Gedanken. „In allem völlig Unrecht hast du sicher nicht. Dass ich arbeitssüchtig bin, hätte ich jedoch wahrscheinlich bis zum Kollaps abgestritten, und ich habe es nicht eingesehen, mir selbst eingestanden und zu ändern versucht, weil es so besser in mein narzisstisches Selbstbild passt. Mag ja sein, dass ich auch ein wenig selbstverliebt bin, aber es gab eben auch Zeiten in meinem Leben, in denen ich es dringend brauchte. Dass ich arbeitssüchtig war, konnte ich erst erkennen und eingestehen, als du mir drohtest, mit so einem nichts zu tun haben zu wollen. Du und nicht mein vermuteter Narzissmus nähmen also zumindest den zweiten Platz ein. Der Betrieb? Es ist schon so, er ist mein Leben, ist mein Alltag. Wenn ich mir vorstelle, Veruschka hätte gesagt: „Ich oder der Betrieb.“ und ich sagte: „Macht doch nichts, dann verkaufe ich den Laden eben.“, das denkst du so doch auch nicht.“ antwortete ich. Veruschka lachte. „Aber wenn eine Frau sagte: „Ich oder das neue Auto.“, dann wäre doch klar, dass ein Mann, der seine Frau liebt, sich für sie entscheiden müsste, oder?“ wollte sie wissen. „Im Prinzip hast du schon Recht. Es kann ja zum Beispiel nichts Materielles auf dieser Welt geben, für das du die Liebe zu einem deiner Kinder eintauschen würdest. Du meinst, dass mir unsere Liebe nicht bedeutsam genug ist, und ich die Firma und mich selbst emotional höher bewerte. Aber du musst auch wissen, Veruschka, dass ich mir so ebenfalls nicht gefalle. Es wird sich etwas ändern müssen. Es war ja mein letztes, wirklich menschliches Lebenszeichen als Workaholic, als ich nicht überhören konnte, dass meine Psyche noch nicht vergessen hatte, wie alles im Alltag überragend die Beziehung zu einem anderen Menschen sein kann Wir müssten nur unsere Liebe häufiger praktisch erfahren können.“ wünschte ich mir.


Aufnahmeprüfung

Zunächst musste ich die Kinder kennenlernen, oder vielmehr sie brannten dar­auf, mich zu besichtigen. Kaffee und Kuchen gab's im Parkrestaurant. Alles musste haargenau nochmal erläutert werden, obwohl sie's ja schon längst von der Mami wussten. Dann wurde Liebe allgemein zum Thema, es dauerte nicht lange, bis ich über die amourösen Verhältnisse aller Schülerinnen und Schüler, mit denen sie zu tun hatten, informiert wurde. Veruschka kannte die Mädchen und Jungen ja, aber sie schien es auch nicht viel mehr zu interessieren als mich, wer schon mit wem im Bett gewesen sein wollte, und wem man es nicht glauben konnte. „Ich weiß nicht,“ begann ich zu zweifeln, „mag ja sein, dass Nina und Max sich gut leiden mögen, aber wirkliche Liebe, die sitzt doch viel tiefer.“ „Die küssen sich aber sogar in der Schule.“ widersprach Elena. „Aber Veruschka und du, ihr liebt euch doch. Ich weiß nicht, wie oft ihr euch küsst. Trotzdem liebst du deine Mami, stell dir vor sie würde zu dir sagen: „Ich liebe dich nicht mehr, ich will mit dir nichts mehr zu tun haben, ich gehe weg.“. Was geschähe denn dann. Du würdest ausrasten, und deinen Schrei würde man bis ans Ende der Welt hören.“ versuchte ich zu verdeutlichen, was Liebe bedeutet. Alle lachten. „Wenn Andreas dich verließe, würde man dann deinen Schrei auch bis ans Ende der Welt hören?“ wollte Elena von Veruschka wissen. „Ich glaube, die Liebe von Müttern zu ihren Kindern ist die stärkste und tiefste Lie­be, die's gibt, nicht wahr?“ wusste Lenny ein wenig altklug beizusteuern. Über alle Missetaten von Veruschka wurde ich informiert aber andererseits wurde sie auch in den höchsten Tönen gelobt. Nicht nur Veruschka damals, auch Lenny und Elena behandelten mich gleich wie einen alten Vertrauten und am Abend kannten sie mehr aus meiner Biographie als Veruschka. Mir selbst kam es wie eine Aufnahmeprüfung für die Familie vor, die ich offensichtlich gut bestanden hatte. Als Rivale für ihren Papi wurde ich jedenfalls nicht gesehen, denn der wurde in der ganzen Zeit nicht einmal erwähnt. „Als ich fragte, was sie denn von dir hielten, wurde ich von Lenny belehrt: „Das macht man nicht, hinterher über andere Leute tratschen.“.“ berichtete Veruschka.


Oder möchtest du ganz dringend?

„Den musst du dir unbedingt ansehen.“ forderte Veruschka mich am Telefon auf und empfahl mir einen Film im Fernsehen. „Oder sollen wir ihn uns nicht gemeinsam anschauen? Soll ich zu dir kommen?“ fragte sie. Ja natürlich sollte Veruschka kommen. Sie erzählte mir noch mehr zu dem Film und ich entschul­digte mich für meine Behausung, die im Laufe der Zeit allmählich sehr an ih­rem gastlich, gemütliches Flair eingebüßt hatte. Wir saßen gegenüber dem TV nebeneinander auf der Couch und grinsten uns an. Eine ungewöhnliche Positi­on, die sonst noch nicht vorgekommen war. Bald lehnten unsere Köpfe anein­ander und Veruschka ertastete mit einer Hand die Haut in meinem Gesicht. Sie kommentierte ihre haptischen Erfahrungen und wandte sich bald ganz meinem Kopf zu, um die Stellen in meinem Gesicht, an meinem Hals und meinen Ohren nicht nur mit den Fingerkuppen, sondern auch mit ihren Lippen und ihrer Zun­genspitze befühlen zu können. Wir küssten uns zwar zur Begrüßung und zum Abschied immer voll, aber so schmusende Zärtlichkeiten hatte es zwischen uns noch nie gegeben. Veruschka trug wieder einen ihrer dicken Pullover mit Roll­kragen. Als sie meinte, es würde meine Liebkosungen an ihrem Hals behin­dern, sagte sie: „Warte mal, ich zieh das aus.“ Im ersten Moment bekam ich einen Schreck. Wenn sie mal nichts drunter trüge. Bestimmt hätte ich sie ge­beten, etwas anzuziehen. Der Gedanke, Veruschka plötzlich halb nackt zu se­hen, beängstigte mich. Selbstverständlich trug sie ein Hemd unter dem Pull­over. Der bedeutsame, gute Film lief zwar immer noch, aber niemand schaute mehr hin, bis Veruschka fragte, ob mich das TV nicht störe. Für uns beide wa­ren es völlig neue Erfahrungen. So hatten wir uns noch nie erlebt. Es war nicht nur höchst aufregend sondern sogar erregend. „Du möchtest gern mehr und weiter, nicht wahr?“ hauchte Veruschka. „Mhm“ bestätigte ich, „und du?“ „Ich auch, aber wir tun es nicht, nicht jetzt und nicht heute Abend. Oder möchtest du ganz dringend?“ fragte Veruschka nicht ganz ernst. „Aber meine Liebste, wir werden das tun, was wir beide wollen und wir werden es dann tun, wann wir es beide wollen.“ reagierte ich. Anschließend sprachen wir über die Mög­lichkeiten, unter denen wir es uns vorstellen könnten. Die Kinder wollten schon wissen, warum wir denn nicht miteinander ins Bett gingen, wenn wir uns doch liebten, und hatten vermutet, dass wir der Ansicht seien, uns noch nicht genug zu lieben. Das Veruschka es im Prinzip schon wollte, aber ihr immer wieder Zweifel kamen, wie sich alles entwickeln könne. „Du wirkst so selbstsicher, warum meinst du, dir selbst nicht vertrauen zu können?“ hatte ich wissen wol­len. „Das ist es ja gerade, dass ich mir viel zu schnell viel zu sicher bin. Jede andere hätte gesagt: „Eine nette Episode.“ und hätte es am Abend schon wie­der vergessen, aber ich bin sicher, ganz Bedeutsames für mich erlebt zu ha­ben. Ich zweifele an meiner eigenen Selbstsicherheit.“ erklärte Veruschka und wollte deshalb lieber noch warten, aber das konnten wir den Kindern nicht so gut erzählen. Wir unternahmen jetzt abends öfter etwas zusammen, gingen ins Kino, ins Konzert oder die Oper. Veruschka erklärte: „Das läuft nicht. Ich kann nicht Abends einfach nicht zu Hause sein. Im Grunde bin ich alleinerziehend. Ich beklage mich gar nicht über meinen Mann, anders habe ich es ja auch nicht gewollt. Er ist dann zwar zu Hause und potentiell ansprechbar, und die Kinder sind ja auch schon größer, aber wenn ich nicht da bin, gibt es eine Lücke. Wie sich der Abend auch immer gestaltet, aber ich gehöre eben dazu, sonst fehlt etwas. Ein freier Abend für mich das ließe sich komplikationslos arrangieren.“ Der Montagabend gehörte jetzt immer uns, und wenn wir unbedingt am Diens­tag ins Konzert oder am Donnerstag in die Oper mussten, blieb Veruschka da­für am Montagabend zu Hause.


Machen wir das nochmal?

Zusammen ins Bett wollten wir erklärter Maßen schon, obwohl wir beide gar nicht mehr wussten, wie das war. Aber es ging uns ja auch nicht darum, jetzt plötzlich doch Verlangen nach Sex mit einem Mann oder einer Frau zu haben, Veruschka und Andreas wollten ihre Liebe auch körperlich erfahren. Veruschka meinte, ich solle einfach zu ihr kommen, und wir könnten dann ja sehen, wie es sich entwickle. Im Familienkreis das sagte mir nicht so zu. Veruschka wollte nicht zu mir kommen. „Was soll ich denn sagen: „Ich fahre jetzt zum Ficken zu Andreas?“ spottete sie. Also warteten wir eben. Es gab Weihnachtsferien und der Vater fuhr mit den Kindern in Skiurlaub. „Ich weiß nicht, ich habe vorhin noch alles organisiert und bin noch richtig im Stress. Stimmung für Amore kommt da bestimmt nicht auf.“ erklärte Veruschka. „Oh je, was hast du für Sorgen. Wir werden nur das tun, wozu wir gerade Lust haben. Bei mir wäre das zum Beispiel jetzt, einen Kaffee zu bekommen.“ reagierte ich. Wir hatten Abendbrot gegessen und saßen noch bei Wein und Käse. „Sag mal, Andreas, bist du eigentlich romantisch?“ wollte Veruschka plötzlich wissen. Ich musste schrecklich lachen, und Veruschka biss mir ins Ohr. „Ja, wenn ich so schönes Abendrot sehe, kommen mir immer vor Rührung die Tränen.“ spottete ich. „Wenn du frech bist, das gefällt mir ja, aber wenn du dich über mich lustig machst, das mag ich gar nicht.“ erklärte Veruschka, „Ich meine doch nur, ob dir eine harmonische Umgebung wichtig ist.“ „Natürlich, die Umgebung wirkt sich auf jeden aus. Von den Eindrücken, die seine Augen wahrnehmen, kann sich niemand befreien, und da macht es schon einen Unterschied, ob es har­monisch wirkt oder dich mit Disharmonien quält. Aber ob ich beim Sex im Bett gerne Kerzen leuchten sähe, das weiß ich ja noch nicht.“ meinte ich dazu. „Sind da nicht auch die Gefühle für die Geliebte entscheidender als für die Ker­ze auf dem Nachttisch?“ suchte Veruschka Bestätigung. „Im Moment hast du aber gar keine Gefühle für mich, oder?“ erkundigte ich mich. „Und du hast sie alle unter deinem Jackett und seinem Oberhemd gut verborgen.“ bekam ich zur Antwort. Ich zog sie aus, um Veruschkas Gefühlen freien Zugang zu mei­nem Kopf und Oberkörper zu ermöglichen. Veruschka zog ebenfalls ihre Bluse aus. Das heute Abend einer von uns beiden „Mehr nicht“ sagen würde, war un­wahrscheinlich, aber wie es sich entwickeln würde, wusste auch keiner. Nach einiger Zeit des Küssens, Liebkosens und Streichelns, saß Veruschka fast nackt auf meinem Schoß in der Küche. „Komm mit.“sagte sie nur, stand auf, nahm mich an die Hand und führte mich in ihr Schlafzimmer. Ein überwältigendes Gefühl, Veruschka nackt umarmen und an mich drücken zu können. Ähnliche Glücksgefühle hatte ich in meinem Leben wahrscheinlich noch nie empfunden. Veruschka schien auch high zu sein. Was sich erst nach einem Orgasmus ein­stellen soll, wir erlebten es schon vorher, einfach das Glück, so zusammen sein zu können. Es veranlasste uns, zunächst einiges zu bereden, wobei die eroti­sche Erregung aus der Küche langsam zu verblassen begann. Wir juxten und alberten, wie wir's denn machen wollten und kamen auch zu ernsthaften Ge­sprächen über unsere Beziehung. So nah beieinander hatte ich uns bislang noch in keinem Gespräch empfunden. Wir gehörten zusammen, waren eins. Eine Alternative zu Veruschka konnte es nicht mehr geben, Veruschka, das war auch ich selbst. Unser Gespräch nahm uns so gefangen, dass wir immer weiter redeten, Zukunftspläne entwickelten, Philosophisches diskutierten, bis Ve­ruschka mitten in der Nacht irgendwann ihren Kopf auf meine Schulter legte und einschlief. Als wir am Morgen aufwachten, kam es mir wie selbstverständ­lich vor, dass Veruschka und ich gemeinsam im Bett lagen. Wir schmusten ein wenig, und Veruschka meinte: „Wir haben es ganz vergessen.“ „Vielleicht ist es doch nicht so wichtig, wenn wir es einfach so vergessen. Unser Unbewusstes wird entschieden haben, dass es Wichtigeres gibt, als die Vereinigung unserer Genitalien.“ versuchte ich zu deuten. „Du meinst unserer Herzen, unserer See­len oder so etwas, unseres tiefsten Persönlichen, nicht wahr?“ vermutete Ve­ruschka. „Vielleicht so. Für mich gibt es nicht mehr die Welt, die Andreas ge­hört, und eine andere, die Veruschka gehört. Sie gehört uns beiden, es ist die Welt von Veruschka und Andreas gemeinsam. Und da gibt es noch einen Be­trieb, wem gehört den der? Das ist doch völlig unbedeutend, eine banale Fra­ge, die das Wesentliche nicht berührt.“ erläuterte ich. „Wir haben aber auch vergessen, eine beutende Perspektive zu diskutieren, nämlich die, dass ich jetzt nie mehr aufstehen werde. Mein weiteres Leben wird sich nur noch im Bett abspielen.“ verkündete Veruschka. „Dann müsstest du aber in ein Pflege­heim übersiedeln.“ kommentierte ich. „Wieso das denn? Unzählige Könige, Fürsten und Päpste bestimmt auch, haben ständig im Bett gelebt. Aber du hast schon Recht, mir fehlt die erforderliche Entourage. Könntest du das nicht über­nehmen, die Kinder würden dir bestimmt dabei helfen.“ sinnierte Veruschka. „Ich glaube nicht, „Steh auf, du faule Sau.“ würden die eher sagen.“ lautete meine Ansicht. „Du nimmst mich nicht Ernst. „Hol mir mal, bitte, einen Kaf­fee.“ würde ich sagen und das ist absolut ernst.“ trieb Veruschka es weiter. „Was für ein Ziel soll das haben? Ich denke du wirst es selbst nicht kennen.“ vermutete ich. „Findest du es denn nicht wonnig mit uns beiden im Bett? Und dass Leben kennt nur ein Ziel, es möglichst wonnevoll zu genießen.“ erklärte Veruschka. „Wie könnte ich dir widersprechen? Da werde ich erst mal einen Kaffee holen.“ antwortete ich. Übermütig vor Glück juxten und alberten wir weiter, unterbrochen und gepaart mit Phasen der Zärtlichkeit und liebevollen Streichelns. Die Mittagszeit war schon vorüber, wir lagen immer noch im Bett. Gegessen hatten wir noch nichts. Kaffee hatten wir mehrfach getrunken. „Ich fress' dich auf.“ verkündete Veruschka in einer Phase intensiven Streichelns. So ähnlich spielte es sich auch ab. Es war nicht die Atmosphäre drängender erotischer Begehrlichkeit wie am Vorabend, jetzt entwickelte es sich eher aus einer Rangelei von Mann und Frau. Da hatten wir's doch geschafft, einfach so. Banal war es keinesfalls, aber als heiliges Hochamt unserer Liebe kam es mir auch nicht vor. Ob Veruschka auch ernüchtert war? Glückliche Sonne verkün­dete ihre Mimik schon. „Machen wir das nochmal?“ fragte sie mit scherzhaftem Unterton. „Wie, jetzt sofort nochmal?“ erschrak ich. „Nein, ich meine doch so generell und überhaupt.“ korrigierte Veruschka. „Also, ich schon. Wenn's dir nicht gefallen hat, warum hast du's nicht gesagt?“ meinte ich. „Na, wenn du's gut findest, da mach ich auch mit, oder hast du etwas dagegen? Allein ist es doch öde.“ kommentierte Veruschka. Wenn's uns auch nicht so erhebend und tiefgreifend erschien, wie unsere Gespräche in der letzten Nacht, es waren eben andere Gefühle, aber unsere Liebe betrafen sie allemal und wirkten eben­falls sehr verbindend. Wir schmusten so liebevoll miteinander, dass nicht viel gefehlt hätte, und wir hätten es tatsächlich nochmal gemacht. Ich wollte er­zählen, dass es mit Marielle wahrscheinlich nur so lange gedauert hatte, weil wir uns verwunderlicher weise im Bett immer gut verstanden hatten. Ich hatte nur zwei Worte erwähnt, als Veruschka mich harsch stoppte. „Willst du wohl still sein. Ich will davon nichts hören. Für mich war es das erste mal. Ich war sozusagen noch Jungfrau.“ erklärte sie. Auch wenn es nicht das Höchste und Wichtigste war, schien es uns doch wohl zu gefallen, denn wir machten es jetzt jeden Abend, jede Nacht oder auch einmal direkt als ich vom Arbeiten kam. Auch wenn es uns glücklich machte, nahmen wir unsere sexuellen Begehrlich­keiten nicht völlig ernst, sondern scherzten immer darüber. „Weißt du was, es gibt doch tausend Entspannungsanleitungen und -tipps. Alle mögen sie ja wirk­sam sein, aber körperlich am deutlichsten spürst du die Entspannung nach dem Ficken. Man müsste vor Diskussionen und Besprechungen immer erst Sex haben, dann gäbe es keine Streitigkeiten, Auseinandersetzungen und Diskre­panzen mehr, absolut relaxed bist du dann.“ empfahl Veruschka. „Ja, aber so zweckrational das geht doch nicht. Du musst schon Lust dazu haben.“ gab ich zu bedenken. „Die hab' ich doch. Das ist ja das Schlimme. Wer hätte das je von mir gedacht, ich selbst am allerwenigsten, und dann in meinem Alter. Aber das liegt ja nur an dir. Ganz allein du bist der Schuldige. Ob unsere Seelen dabei auch kopulieren, was meinst du?“ fragte Veruschka. „Ich weiß es nicht, aber möglich wäre es schon. Zumindest fühlt es sich hinterher doch so an, als ob sie hätten, nicht wahr?“ vermutete ich schmunzelnd. „Was bin ich froh, wenn diese Woche vorbei ist.“ erklärte Veruschka lachend, „Ich bin doch keine zwanzig mehr. Ich schaff das nicht. Auf die Dauer ist mir das viel zu anstrengend.“ Die Lust hatten wir schon am Fernsehabend bei mir bemerkt. Dass wir zusammen ins Bett wollten, war uns klar. Am ersten Abend waren wir beide so gierig, dass wir es schon beinahe auf dem Küchenstuhl gemacht hätten. Wo kam das nur her? Jahrelang waren sowohl Veruschka als auch ich völlig abstinent gewesen, meinten wir brauchten so etwas nicht mehr, hätten alles bestens sublimiert. In sofern war es schon etwas völlig Neues, dass wir Sex wollten, und wie Veruschka gesagt hatte, wie zum ersten mal. Natürlich gefiel uns das gemeinsame Bett, vor allem auch, dass wir beide es nach langer Abstinenz so selbstverständlich genießen konnten, nur danach fragte keiner, und keiner wollte es wissen, aber ganz ernst nahmen wir es beide trotzdem nicht. Das war es nicht, was den Kern unserer Beziehung darstellte. Trotzdem war Veruschka böse. „Wahrscheinlich bin ich jetzt schwanger. Machst du es mir dann weg?“ erkundigte sie sich und lachte nicht dabei. „Die Veruschka ist schon so alt, da kann nichts mehr passieren. Hast du gedacht, nicht wahr? Wahrscheinlich hast du aber an überhaupt nichts gedacht, wie alle Männer. Selbstverständlich hat die Frau allein an so etwas zu denken.“ beklagte Veruschka. „Was für ein Unsinn,“ habe ich gemeint, „mit niemandem gehst du ins Bett und mit dem erst Recht nicht.“, aber Vorsicht kann nie schaden. Ich habe mir wieder die Pille verschreiben lassen, gerade nachdem wir uns kennengelernt hatten. Mein Unbewusstes wird mehr vermutet haben, als mein Bewusstsein mir zu ahnen gestattete.“ „Wieso an gar nichts gedacht? Alle Männer denken immer daran, ihren Samen zu verbreiten und sich zu vermehren. Sie sind es, die die Arterhaltung beflügeln. Und ich? Kein einziger Nachkomme bis jetzt.“ stellte ich die Verhältnisse klar. „Warum hast du keine Kinder? Konnte deine Frau keine bekommen?“ erkundigte sich Veruschka. „Nein, zuerst war es uns noch zu früh und später hielten wir schon die Verhältnisse für Kinder nicht mehr als optimal.“ erklärte ich.


Gemeinsame Abende

Die gemeinsame Woche im Winter hatte mich verändert. Es konnte in meinem Leben nichts Bedeutsameres mehr geben, als die Beziehung zwischen Verusch­ka und mir. An Veruschka zu denken, machte immer warme und glückliche Ge­fühle, aber jetzt hatte ich den Eindruck, dass sie immer gegenwärtig sei. Gleichgültig was ich machte, Veruschka war immer in mir dabei. Wir telefonier­ten abends öfter, und es war schon erfreulich, Veruschkas Worte zu hören, aber mit einem Gespräch in Anwesenheit war es überhaupt nicht zu verglei­chen. Dann war es fast gleichgültig, worüber sie sprach. Wenn andere es dir erzählt hätten, wäre es dir eventuell als uninteressant er schienen, aber Ve­ruschka, dass und wie sie es dir sagte, faszinierte mich. Nicht der Text ihrer Worte war entscheidend, sondern wie sie sich mir darstellend vermittelte. Bei meinem Großvater habe ich es erst nach seinem Tod erkannt, worin die Tiefe unserer Beziehung gelegen hatte. Ich hielt es für ein singuläres Phänomen, denn bei Marielle, meiner späteren Frau, kam ich gar nicht auf derartige Gedanken. Veruschka und mir musste allerdings wohl von Anfang an der wirkliche Mensch in uns erschienen sein. Wir hatten gegenseitig unsere Engel gesehen, auch wenn wir uns gar nicht kannten. „Bei der Arbeit kannst du Listen aufstellen mit Wichtigkeit und Bedeutung, im Leben sind solche Rangordnungen aber unsinnig. Da gibt es mehreres, was für dein Glück unverzichtbar ist. Aber Glück und Ausgeglichenheit erfährst du nur, wenn sie im Gleichklang miteinander harmonieren. Sollte ich etwa sagen: „Die Kinder, Andreas oder meine Arbeit ist mir das Wichtigste?“, nur mit allen dreien kann mein Glück perfekt werden. Am Montagabend war das Glück jetzt auch öfter für mich perfekt, wenn Veruschka die Nacht über bei mir blieb. Ich hätte mir dann auch am liebsten den Dienstag frei genommen, aber das ging noch nicht. Ich konnte auch bei Veruschka übernachten, nur gehörte ich dann am Abend Elena und Lenny. Den Papi gab's ja auch, aber der war eben selbstverständlich da, während der Geliebte der Mami wesentlich interessanter war. Ich glaube jedoch, dass sie mich mochten und bei unserem ersten Zusammentreffen ins Herz geschlossen hatten. Keineswegs war Liebe und die Beziehung zwischen Veruschka und mir häufiges Thema. Elena hatte zum Beispiel die Faszination für meinen Großvater ergriffen. Ihre beiden Opas waren ernste ältere Männer, die zwar auch freundlich zu ihr waren, aber das mochte Elena gar nicht so gern. Sie ließ sich alles von meinem Großvater erzählen und wir sprachen auch über Surrealismus und Dadaismus, das Bewusstsein und das Unbewusste im Menschen. Lenny hatte als kleines Kind Steine gesammelt und sie nicht später weggeworfen. Ich musste sie alle bestimmen und erklären. Die beiden hingen einfach an mir, wenn ich abends bei Veruschka war, und es war nicht so, dass Veruschka und ich einen schönen gemeinsamen Abend gehabt hätten.


Die Prokuristin

Im Betrieb hatte sich schon vieles organisatorisch verändert und ich fühlte mich längst nicht mehr für alles und jedes verantwortlich. Klarissa unterstützte mich tatkräfig dabei. Mich störte, dass ich ihr bei allem, was sie tun wollte, eine Vollmacht erteilen musste. Sie war eben als Sekretärin eingestellt worden. Das hatten wir allerdings schon verbessert, nur sie durfte nichts im Namen der Firma entscheiden. Ich machte mich kundig. Es gab die Möglichkeit ihr eine Generalvollmacht zu erteilen, aber sinnvoller erschien es mir, sie zur Prokuris­tin zu ernennen, dann wurde es auch im Handelsregister eingetragen. Klarissa viel aus allen Wolken, als ich ihr davon berichtete. „Nein, nein, das geht nicht, das kann ich doch nicht.“ lautete ihre erste überraschte Reaktion. „Klarissa, im Grunde läuft es doch auch jetzt nicht anders. Ohne dich hätte es den Laden so nicht geben können. Nur jetzt muss ich dir immer extra eine Genehmigung ge­ben. Albern ist das, dann kannst du alles selbständig machen, als ob die Firma dir gehörte, unterschreibst nur mit Klarissa Klamt ppa. Auflösen oder verkau­fen kannst du den Betrieb allerdings nicht.“ erklärte ich. Am nächsten Tag war sie sich sicher, dass sie es machen würde. Sie fiel mir um den Hals und lachte, aber ihre Augen waren feucht dabei. Natürlich musste es dazu ein Fest geben, ein Sommerfest im Hof der Firma. Klarissa bestimmte wer eingeladen wurde. Alle durften ihre Partner mitbringen, nur sie selbst hatte acht Freundinnen eingeladen, die allein kommen mussten. Einen jungen Mann hatte sie eingeladen, den sie schon sehr lange kenne und mit dem sie sich gut verstehe, aber ausdrücklich erklärt, dass er nicht ihr Freund sei. Klarissas Eltern waren auch gekommen. Die Mutter bedankte sich immer wieder mit Tränen in den Augen bei mir. Sie hätten Klarissa damals abgeraten, aber jetzt sei sie ja überglücklich. Ich lobte ihnen gegenüber ihre Tochter. Veruschka hatte die Kinder mitgebracht. Sie saßen bald bei Klarissas Freundinnen am Tisch. Lenny gefiel sich in der Rolle als Hahn im Korb und Elena erfuhr alles über die Bosheiten von Männern, die sie Frauen antun können. Veruschka und ich saßen mit Anna und Max, den beiden Bildhauern, die gelegentlich für uns arbeiteten, zusammen. Wir sprachen und scherzten über meine Arbeitssucht. Max meinte, er sei vom Gegenteil befallen, nämlich der Sucht, nicht arbeiten zu wollen. Anna meinte aber: „Ich finde, es wird daran liegen, dass du dich selbst missachtet hast. Du bist doch Künstler und willst etwas kreativ gestalten, wenn du das einfach verleugnest und unterdrückst, kannst du krank werden, oder zum Beispiel arbeitssüchtig. Ich verstehe das auch nicht, dass du jetzt immer noch nichts wieder machst. Es müsste dir doch in den Fingern kribbeln. Ich würde dir dringen raten, etwas praktisch zu gestalten.“ „Aber was sollte ich denn machen? Ich könnte doch nur eine Büste von Veruschka erstellen. Aber wie willst du das denn schaffen? Die Griechen haben drei Göttinnen dafür gebraucht, um das darzustellen, was Veruschka in ihrem Blick vereint.“ monierte ich. Nach dem Lachen schlug Max vor: „Du könntest doch eine abstrakte Skulptur, die Frohsinn, blühendes Glück und Glanz versinnbildlicht, gestalten und sie Veruschka nennen. Sie bekäme bestimmt einen Platz neben den drei Grazien im Louvre.“ Wir scherzten noch darüber, dass die Grazien nur Götter und Helden begleiteten, und ob ich mich denn auch als ein solcher wähne? „Für Veruschka bestimmt.“suchte ich Bestätigung. „Mhm,“ wehrte Veruschka ab, „ich begleite dich nur, wenn du ein ganz normaler Mensch bist. Idioten begleite ich nicht.“ Erst einige Zeit nachdem sich Klarissas ppa eingespielt hatte, wurde mir bewusst, was es für mich bedeutete. Wir besprachen zwar immer alles Wesentliche gemeinsam, aber die psychische Last, letztendlich für alles verantwortlich zu sein, begann langsam zu verschwinden.


Schlingpflanzen

„Elena und Lenny haben mich gefragt, ob und wann wir heiraten würden.“ be­richtete mir Veruschka als erstes am Dienstagabend. Ihre Mimik zeichnete da­bei aber auch schon leichte Züge eines schelmischen Grinsens. „Und, werden wir? Was hast du ihnen gesagt?“ erkundigte ich mich. „Dazu müsstest du mir einen Heiratsantrag machen, aber das tätest du ja nicht. Würdest du mich denn heiraten? Nein, es war ein richtig ernstes, für die beiden sehr bedeutsa­mes Gespräch. Sie hatten untereinander wohl intensiv über unsere Beziehung beraten, und waren letztlich zu dem Schluss gekommen, dass du bei uns woh­nen müsstest.“ „Stiefvati sozusagen. Dass ihr richtiger Vater auch noch anwe­send wäre, würde sie nicht stören?“ vermutete ich. „Ach, Andreas, das ist doch Quatsch. Das geht doch überhaupt nicht. Sie sehen und empfinden es so, dass ich ihre Welt bin, zu ihrer Welt gehöre, und bei der tiefen Liebe, die uns verbindet, gehörst du einfach zu mir, bist ein Teil von mir. Ihre Welt ist erst rund und harmonisch, wenn du auch dabei bist, bei mir und bei ihnen.“ erläuterte Veruschka. „Für Elena und Lenny ist es also klar, dass ich zu dir gehöre?“ versicherte ich mich. „Ja, als ich ihnen erklärt habe, dass es nicht auf die Heiratsurkunde ankomme, sondern darauf, wie tiefgründig die Liebe zwischen uns beiden sei, wollte Elena wissen, wie tief sie denn sei. Sie sei ein Wunder, habe ich gesagt und reiche so tief, bis dahin, wo du anfingst ein Mensch zu sein. Bei dir sei es gewiss nicht viel anders. Wir hätten uns dadurch veränderte, dass wir beide uns liebten. Das Leben sei für dich und auch für mich anders geworden. Zu meinem Leben gehörtest du dazu, das Gleiche sei umgekehrt für dich nicht anders. Ein Leben ohne den oder die andere könnten wir uns beide nicht mehr vorstellen. Ob das denn nicht ein Wunder sei?“ berichtete Veruschka. „Hast du ihnen denn nicht gesagt, wir beide seien so eng verbunden, dass ich in dir auch immer anwesend sei?“ fragte ich nach. „Andreas, der eine Mensch, in dem wir beide völlig verschmolzen sind, dass ist doch eine dritte Person. Es ist unsere Liebe, du kannst anderen davon erzählen, aber sehen können sie sie nicht. Bei dir und mir ist sie aber immer gegenwärtig. Nur eine jeweils eigene Person werden wir beide auch immer bleiben. Ist das nicht auch fantastisch und wichtig. Ich möchte zum Beispiel keinesfalls, dass du dir meinen Kopf zerbrichst und weißt, wie ich zu denken und zu handeln hätte.“ stellte es Veruschka dar. Das brauchte nicht kommentiert zu werden, ich stöhnte aber: „Ach, Veruschka, nichts wäre mir lieber, wenn du dir auch mal meinen Kopf zerbrechen würdest.“ Veruschkas Grinsen und ihre Mimik verlangten Erläuterungen. „Jeden Abend zerbreche ich ihn mir schon selbst wenigsten dreimal. Mein Lesequantum habe ich auf maximal zehn Seiten begrenzt, sonst kann es sein, dass ich bis tief in die Nacht weiter forsche. Die 'Körper von Gewicht' erfassen mich total. So wie Anna gesagt hat, dass ich verkommen würde, wenn ich nichts kreativ gestaltete, genauso bin ich bildungsmäßig verkommen. Ich habe ja nichts mehr mitgekriegt, nur hin und wieder mal in der Lokalpostille geblättert. Mit Judith Butler hole ich das nicht nur nach, es hebt mich durch die vielen Sekundärinformationen auf eine völlig neue Ebene. Ich habe mir auch schon wieder eine Zeitung abonniert. Manchmal denke ich sogar, dass ich mehr dafür arbeite, neu zu meinem tatsächlichen, alten Ego zu finden, als ich mich mit der Firma beschäftige.“ stellte ich es dar. „Weißt du, ich glaube auch, dass Elena und Lenny dich persönlich sehr mögen, obwohl du doch nur sehr selten mit ihnen zu tun hast. Gerry, ihr Vater, ist ein feiner Kerl. Er ist keinesfalls unfreundlich und unsensibel, aber ihm scheint in der Kommunikation mit anderen Menschen eine Art von Gespür zu fehlen, die ihm Lust macht, sich näher und tiefer auf den anderen einzulassen. Das Wunder im anderen bleibt ihm immer verborgen. Die Kinder scheint das wenig zu stören, nur ihrer Beziehung zu Gerry fehlt es eindeutig an Tiefe. Er ist zwar ihr Vater, aber für Elena und Lenny kommt ihm eher die Rolle eines netten Onkels zu. Konkurrenzgedanken zu dir konnten daher gar nicht aufkommen. Elena ist gerade dabei, sich ein neues Idealbild für einen Mann zu gestalten. Es scheint absolut identisch mit dem zu sein, was sie von dir über die Persönlichkeit deines Großvaters erfahren hat. Lustig und witzig muss er sein, aber nur, wenn er auch klug und kulturell gebildet ist. Du bist für sie als Enkel deines Großvaters auch automatisch so ein Mensch. Sie hat übrigens schon begonnen, die Odyssee zu lesen.“ erzählte Veruschka. „Da wird sie später alle Chancen haben, wenn sie die Odyssee richtig liest, kann das doch etwas Fundamentales sein. Da wird aus ihr bestimmt eine zweite Judith Butler, aber nein, die hat bestimmt zuerst den Tanach gelesen.“ kommentierte ich. „Die jüdische Bibel ist das, nicht wahr? Ich werde sie auch nochmal lesen müssen, denn ich will jetzt wieder gläubig werden.“ erklärte Veruschka und ließ mich lachen. „Ja, ich bin eine nüchterne, realistische Frau, und wenn ich es als Außenstehende betrachten würde, wie sich was bei uns und warum entwickelt hat, dann ist das alles unerklärlich und unwirklich. Ich befürchte, ich könnte morgen wach werden, und alles wäre geplatzt, wie eine große illusionistische Blase aus Glücksträumen. Da werd ich am besten religiös, dann ist es ein Wunder und ich brauche es nur zu glauben. Habe durch meinen Glauben Wirklichkeit geschaffen, das wäre doch am einfachsten.“ schlug Veruschka vor. „Natürlich ist es ein Wunder, aber ein menschliches, es ist das Wunder von dir und mir. Ich denke, dass bei der Kommunikation mögliche Wahrnehmungskapazitäten existieren, für die es keine Beschreibung und Benennung gibt. Nur wenn du das sagst, schreien alle sofort „Parapsychologie“ und ordnen es der Esoterik zu. Das unsere Augen und Ohren nur begrenzte Wahrnehmungsmöglichkeiten haben, gesteht jeder ein, aber bestimmt gibt es auch kommunikativ mehr, als wir mit unserem Bewusstsein benennen können.“ vermutete ich. „Und da werden wir uns sofort erkannt haben, meinst du. Mit erweitertem Bewusstsein könntest du es dann sehen, du müsstest nur intensiv genug meditieren können.“ kommentierte Veruschka. „Da würden wir dann zwei Schlingpflanzen sehen, die dringend nacheinander gesucht und sich endlich gefunden haben. Umschlungen würden sie gewachsen sein und jetzt das Licht der Alltagsrealität erreicht haben. Zu trennen wären sie nie wieder. So ähnlich, nicht wahr?“ suchte ich lachend Zustimmung. „Aber blühen würden sie beide in verschiedenen Farben, ich rot wie der Mohn und du blau, wie die gesuchte Blume der Romantik.“ komplettierte Veruschka. Die Pflanzen hielten es für dringend notwendig, öfter etwas gemeinsam mit den Ablegern zu machen. Als erstes sollte ein Open Air Konzert besucht werden, obwohl mir die Philharmonie wesentlich näher lag als Punkrock im Freien.


Umzugspläne

Ein außergewöhnliches Erlebnis war das Konzert schon, aber für meinen Ge­schmack musste es überhaupt nicht so lange dauern. Mit dem ersten Song war doch längst alles gesagt. „Dir müsste es eigentlich gefallen haben,“ meinte Lenny zu mir, „sie zeigen doch dass sie sich gegen das Hergebrachte, das An­gepasste wehren:“ Sie renommierten mit ihrer Inkompetenz, bildeten sich et­was darauf ein und schrien es laut krächzend heraus, lautete Veruschkas ab­schließende Einschätzung, der nicht zu widersprechen war. Am nächsten Samstag wollte Veruschka nachmittags zu mir kommen. Am Sonntag sollte es dann einen gemeinsamen Brunch mit Elena und Lenny geben. Die beiden staunten nicht schlecht, als sie kamen. So ein Sonntagsfrühstück hatten sie noch nicht erlebt, selbst Ostern nicht. Alle futterten fleißig, jeder wollte ja so viel wie möglich wenigstens probieren. „Verumaus, ich kann nicht mehr, ich platze gleich.“ mit diesen Worten kroch Elena auf Veruschkas Schoß und um­schlang ihren Hals. „Ja, Elli scheint's gut zu gehen. Dann muss sie unbedingt schmusen und erfindet Kosenamen für mich. Am häufigsten bin ich Verona, das scheint ihr wohl sehr zu gefallen.“ erläuterte Veruschka. Dann wurde bei mir alles angeschaut. Ich zeigte ihnen einige Bücher. Zu den kleinen Skulptu­ren, die ich bei mir zu Hause hatte, meinte Lenny: „Also, Michelangelo gefällt mir da doch besser.“ Das löste eine allgemeine Diskussion über Kunst aus. Ich zeigte ihnen vom Balkon aus noch eine größere Plastik, die unten im Garten stand. Wir gingen ein wenig spazieren, ob wir gleich noch weiter essen wollten? Große Mengen waren noch übrig geblieben. „Mami,“ begann Elena mit einem fragenden Unterton, „wenn Andreas das ganze Haus gehört, könnte die Familie, die jetzt unten wohnt, nicht auch anderswo wohnen? Dann wäre doch Platz genug für uns alle zusammen, und wir würden immer auf Andreas Haus aufpassen, bis er aus der Firma zurückkommt.“ Keiner sagte etwas. „Ja, An­dreas, wär das denn nicht klasse, dann könntest du immer mit Mami zusam­men sein.“ begann schließlich Lenny. Veruschka und ich blickten uns an, ge­sagt wurde aber nichts. Entgegen dem, was ihr Blick verkündet hatte, erklärte Veruschka: „Das weiß ich doch überhaupt noch nicht, ob ich direkt mit einem Mann zusammenleben möchte, egal ob ich ihn liebe.“ Die Kinder lachten. „Du bist vielleicht eine Nudel.“ meinte Elena, „Jetzt lebst'e direkt mit einem Mann zusammen, obwohl ihr euch nicht mehr liebt, mit deinem aller heiß Geliebtes­ten geht das nicht, oder wie.“ Jetzt lachte Veruschka auch. „Aber es hängt doch von Andreas ab, wie er das sieht.“ erklärte sie. „Das Haus gehörte mei­nen Eltern. Sie haben unten gewohnt. Für mich allein war das Haus zu groß, und außerdem stellten die Mieteinnahmen immer noch eine gewisse Absiche­rung dar. Ich wusste ja überhaupt nicht, wie es sich mit dem Betrieb entwi­ckeln würde. Wenn wir dort alle zusammen wohnen wollten, müsste ich der Fa­milie Breuer ja kündigen. Ich glaube, ich muss es mir erst mal richtig vorstel­len, wie prächtig das mit uns allen zusammen würde, dann fiele es mir sicher leichter.“ erklärte ich. Veruschka und mich beschäftigte es ab jetzt natürlich ständig. Als ich es Frau Breuer erklären wollte, nahm sie mir schon die Worte aus dem Mund. Sie war eine wunderbare Frau und hatte volles Verständnis. Nur wollten wir nichts überstürzen und fassten das kommende Frühjahr als Termin ins Auge. „Herr Coberg, wenn sie mir eine Freude machen wollen, ha­ben sie nicht eine kleine Plastik für mich als Erinnerung an unsere schönen Jahre hier?“ fragte Frau Breuer. Ich war so glücklich und steckte alle an, oder sie waren es vielleicht auch schon aus sich selbst. An den Wochenenden prob­ten wir das Zusammenleben jetzt schon öfter. Dann mussten Elena und Lenny zusammen bei mir im Zimmer auf der Couch schlafen, was schon immer ein wenig kitzlig prekäre Züge hatte, sie waren ja keine Kinder mehr. Gerry, ihr Vater, hatte sich schon vor Weihnachten eine neue Wohnung gesucht. Ve­ruschka sah es so, dass es ihn nicht stören würde, wenn er weniger mit den Kindern zu tun hätte. Er frage immer, ob er am Wochenende etwas mit ihnen unternehmen solle. Zum Skiurlaub in den Weihnachtsferien sollte er aber auf jeden Fall fahren. Daran war nicht nur Elena und Lenny gelegen. Für Veruschka und mich stellte es den Geburtstag unseres Honeymoons dar.


Komplexität und Tiefgründigkeit

„Wiederholen können wir da nichts. Gefühle lassen sich nicht wiederholen, und außerdem hat sich ja auch einiges entwickelt, sodass die Situation eine ganz andere ist.“ erklärte Veruschka nüchtern beim Kaffee, als die Kinder mit Gerri abgereist waren. Ein Bedürfnis nach Zärtlichkeiten oder gar Sentimentalitäten schien diese Frau nicht zu kennen. „Du sagst, Elena achtet nach draußen schon darauf, als die junge Lady und nicht wie ein Kind behandelt zu werden, aber dir gegenüber lege sie überhaupt keinen Wert darauf, da sei sie absolut sie selbst. Du hast es bewundert. Gibt es für dich auch Ähnliches?“ wollte ich wissen. Ve­ruschka grinste. „Was willst du damit sagen? Etwas Freches bestimmt, nicht war?“ vermutete sie. „Absolut, meine Sprache kennt nur Worte die an Rotz­frechheit nicht zu überbieten sind. Was du von Elena siehst, ist immer ihre Er­scheinung, und darauf kann sie Einfluss nehmen. Die wirkliche Elena an sich kann nie jemand sehen. Sie kann nur bestimmen, wie sie gern gesehen wer­den möchte. Und du, wie möchtest du gern gesehen werden?“ wollte ich wis­sen. „Wieso, was soll denn daran falsch sein. Ich möchte so gesehen werden, wie die Frau, für die ich mich selbst halte und die ich selbst bin.“ reagierte Ve­ruschka. „Ja, natürlich. Du bist eine selbstbewusste, kluge, gebildete, taffe Frau in mittlerem Alter. Musst du mir das erzählen? Ich weiß es doch so gut, wie du selbst. Mir brauchst du diese Frau nicht vorzuführen. Die kenn ich so gut, wie du. Ich finde sie schon stark, aber das ist nicht die Veruschka, die mir imponiert.“ erklärte ich. „Aha, und was ist das für eine Veruschka, die dir im­poniert?“ wollte Veruschka wissen. „Das weißt du doch, mon Amour, dass ist die Frau, deren Blick mich hat spüren lassen, dass ich noch wirkliche, mensch­liche Gefühle habe und noch nicht völlig zu einem wesenlosen Arbeitstier ver­kommen bin, es ist die Frau, der es Lust bereitet, mich zu lieben, die mich aus meiner unsäglichen Lage gerettet hat. Es ist aber auch die lustbetonte Frau, die gesagt hat, sie wolle ihr zukünftiges Leben im Bett verbringen. Alles in al­lem ist es die Frau, der es völlig gleichgültig ist, wie ihre Erscheinung auf mich wirkt, weil sie sich völlig sicher ist, dass ich niemals Nachteiliges über sie wer­de denken können.“ beantwortete ich Veruschkas Frage. „Ob das für mich auch so ist? Ich weiß es gar nicht ganz genau. Absolutes Vertrauen habe ich zu dir schon, wie ich meine, aber manchmal bin ich dir gegenüber auch die Frau, als die ich mich im Alltag, in der Schule, bei Behörden, überall eben gebe. Als ge­spieltes Rollenklischee kann ich es gar nicht empfinden, es ist keine Maske, hinter der eine ganz andere steckt, die es zu verbergen gilt.“ erklärte Verusch­ka. „Das sehe ich auch so, nur du hast ja selbst gesagt, dass dir dein Leben schal erschien. Du orientierst ja auch vieles mehr an diesem Rollenbild, ver­hältst dich und kleidest dich, wie man es allgemein von einer derartigen Frau erwarten würde. Wenn wir zusammen sind, spielt das alles überhaupt keine Rolle. Da stehen deine wirklichen Gefühle im Vordergrund. Lustvoll und enthu­siastisch möchtest du leben. Du willst mir dann nichts zeigen, willst nicht sa­gen: „Schau her, so bin ich.“, du bist einfach nur ganz du selbst, mit deinen ei­genen wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen. Da hast du kein Bedürfnis, die leidenschaftslose, coole Lady zu demonstrieren.“ meinte ich dazu. „Du würdest bestimmt sagen, ich solle mich auch sonst mehr von meinem äußerlichen Rol­lenbild lösen, solle nur ganz ich selbst sein. Ob ich eine Bäuerin oder Studien­rätin bin, das spielt keine Rolle, nur was ich selbst will und was mir gefällt ist entscheidend. Konkret vorstellen kann ich mir das allerdings kaum. Ich habe nicht zu allen Menschen so ein Vertrauen, wie zu dir.“ sah es Veruschka. „Dar­um geht es doch. Was könnte es Schlimmeres geben, als wenn man dich für eine kleine, schwache, unselbständige Frau hielte. Macht und Herrschaft, Stärke und Überlegenheit sowie die damit verbundene Anerkennung spielen eine ganz bedeutende Rolle in dem Bild, das du nach außen hin von dir präsentierst. Im Grunde sind das Kopien von Männerrollenbildern, hast du so etwas für dich nötig?“ zweifelte ich. „Nein, mit Sicherheit nicht, da hast du schon Recht. Aber so großartig und mächtig komme ich mir auch in Wirklichkeit gar nicht vor. Weißt du, wenn du dich intellektuell nur um deine beiden Schulfächer kümmerst, verblödest du allmählich, verkommst zu einer eingeschränkten Schmalspurbildung, so wie du mit deiner Lokalpostille. Nicht nur Judith Butler, sondern auch vieles andere lässt mich zu der Frau werden, mit der ich selbst halbwegs zufrieden sein kann. Ich bekomme zum Beispiel immer die Zusammenfassungen aus allen relevanten Feuilletons im Perlentaucher Newsletter, den solltest du auch unbedingt abonnieren. Das hat mit meinem Beruf primär überhaupt nichts zu tun, nur ein wenig überlegen fühle ich mich allerdings manchmal schon. Zur Liebe habe ich auch etwas ganz interessantes in der amerikanischen Internetzeitung 'The Atlantic' gelesen. Ein israelischer Wissenschaftler hat untersucht, warum die Liebe häufig nur so kurz besteht und weshalb es aber auch zur 'endless love' kommen kann. Aber wenn du deine 'Körper von Gewicht' liest, wirst du immer mehr wollen. Statt arbeitssüchtig wirst du dann bildungssüchtig werden.“ sagte Veruschka und lachte. „Mit der Liebe, das musst du mir aber verraten.“ forderte ich. „Er unterscheidet zwischen romantischer Intensität und romantischer Tiefgründigkeit. Die Tiefgründigkeit kann durch vielfältige liebevolle gemeinsame Erfahrungen entstehen, entscheidend ist aber vor allem die Komplexität.“ erläuterte Veruschka. „Du wirst meinen, die Komplexität unserer Liebe sei nicht zu überbieten.“ vermutete ich. „Genau, so wird es sein. Wir haben gleich bei unserem ersten Zusammentreffen die Komplexität der Person des anderen erspürt, die ja unmöglich wahrnehmend zu beschreiben ist. Und das ist der endlose Prozess unseres Verliebtseins, es drängt uns durch gegenseitigen Austausch diese nie voll erfassbare Komplexität weiter zu erhellen. Hast du heute schon ein neues Licht meiner Komplexität entdeckt? Willst du lieber hier oder im Bett danach suchen?“ erkundigte sich Veruschka. „Aber, meine Liebe, bei der Frage nach der Tiefgründigkeit geht es da nicht um die Komplexität der Liebe insgesamt und weniger um die Komplexität der beteiligten Personen?“ zweifelte ich. „Beides, Andreas, du musst immer beides zusammen sehen. Es gibt keine komplexe Liebe ohne beteiligte Personen.“ bekam ich knapp erklärt, und dem war nicht zu widersprechen. Diese gemeinsame Woche hatte den Leitstern bekommen, die Komplexität unserer Liebe bis in die feinsten Verästelungen aufzuspüren, nur wir lachten so schrecklich viel dabei. Vielleicht ein Beleg für die enorme Komplexität und Tiefgründigkeit. Jede Nacht bildete zwar ein komplexes System, das wir beide voll erlebten, aber ob wir es in seiner Komplexität voll erfassen konnten, musste bezweifelt werden. Manchmal vergaßen wir aber auch alle Komplexität und Tiefgründigkeit. Gaben uns einfach der Trivialität unserer temporären Gelüste hin, wobei es sich zum Beispiel um einen Spaziergang, gemeinsames Kochen, Vorlesen oder gemeinsames Lesen handeln konnte. Keineswegs dominierte dabei die Sinnenlust, die Lust auf Veruschka insgesamt hatte mich voll besetzt, wie ich es noch nie bei einem anderen Menschen erlebt hatte. Vielleicht war es damals für mich bei meinem Großvater ähnlich, nur da war ich noch ein Kind. Bestimmt war bei unserer Liebe die romantische Tiefgründigkeit mit romantischer Intensität gekoppelt, nur da wusste Veruschka auch nicht, ob der israelische Professor das auch untersucht hatte. Die romantische Intensität empfand ich besonders, wenn wir auf dem Bett lagen, und Veruschka las mir etwas vor. Im Moment hatte ich gedacht, es basiere auf ihren Erfahrungen als Lehrerin, aber in Mathematik und Biologie gab es keine Gedichte oder dergleichen, was sie vorzulesen hatte. Bei den letzten Worten einer Passage oder eines Absatzes blickte sie schon vorher auf, sah mich an, und während sie den Text sprach, interpretierten ihre Augen und die Mimik um sie herum das Vorgelesene. Wie eine kleine, göttliche Kommunikation mit den Augen. „Einfach so, gelernt habe ich da nix.“ sagte Veruschka als ich mich lachend und liebkosend erkundigte, „Du sagst, wenn wir zusammen wären, sei ich ganz ich selbst. Ob ich selbst auch ein Kind sein möchte? Bewusst ist mir so ein Wunsch nicht, aber ich komme mir manchmal so vor, absolut direkt und mit Lust auf Albernheiten und Späße. Wie ich dir vorlese, ist für mich eher ein kleines juxiges Schauspiel, das mir Spaß macht. Bei anderen würde ich das niemals tun. Doch bei Elena und Lenny habe ich es immer gemacht, und Elli liebt es auch schon mit den Augen zu spielen.“ erklärte Veruschka. „Ich weiß nicht so Recht, beim Sprechen unterstützt du immer das Gesagte vornehmlich mit deinen Augen und ihren mimischen Fähigkeiten, Gestik oder Körpersprache kommen kaum vor.“ bemerkte ich. „Aber irgendeine Art von Körpersprache hat doch jeder. Bin ich etwa stocksteif und verspannt?“ wollte Veruschka erfahren. „Nein, nein, du gleichst ehr einer Tigerin. Geschmeidig sanft wirken deine Bewegungen, als ob du dich anschleichen würdest.“ stellte ich es dar. „Bis ich dann zum großen Sprung ansetze, nicht wahr?“ führte Veruschka fort. „Erlebt habe ich das direkt noch nicht, aber deine Augen glühen, als ob es jeden Moment geschehen könne.“ erklärte ich. „Meine Augen scheinen dich ja fast mehr zu faszinieren als ich selbst.“ ironisierte Veruschka. „Ja, wie du mich damals angeblickt hast, das hat mich nicht losgelassen. „Lorsque vos yeux me parlent, c'est mon cœur qui vous écoute.“ Was deine Augen mir sagen, versteht mein Herz.“ verdeutlichte ich. „Ich versteh schon, brauchst mir nicht zu übersetzen. Von wem ist das denn, von Baudelaire?“ wollte Veruschka wissen. „Nein, Michel Vaner, ein französischer Poet, ich kenne ihn auch nicht näher.“ antwortete ich. „Aber dein Herz sagt dir nicht, was es verstanden hat. Es macht dir nur Gefühle.“ bedauerte Veruschka. „Was für dich aber bestimmt viel bedeutsamer ist als jedes verständliche Wort.“ vermutete ich. „So ist es. Wie öde wäre das Leben, wenn nur das geschähe, was rational notwendig und sinnvoll ist, und was wir begreifen können. Wir würden zum Beispiel niemals miteinander ins Bett kommen.“ kommentierte Veruschka. Wir belebten in diesem zweiten Honeymoon die Tiefgründigkeit und Komplexität unserer Liebe, aber vergaßen auch das Triviale nicht.


Neues Zuhause

Die kalten Wintertage zogen sich. Unsere Auftragslage war nicht gerade florie­rend. „Das ist doch im Winter immer so.“ jetzt, als Klarissa es sagte, beruhigte es mich, und ich konnte dem gelassen zustimmen. Das hätte es sonst niemals gegeben. Ich hatte eben zu einem neuen Lebensstil gefunden, den Andreas von früher neu entdeckt. Den besessenen, arbeitssüchtigen Menschen gab es nicht mehr. So gefiel ich mir wieder vor allem aber Veruschka, die das alles ausgelöst und bewirkt hatte. Nach dem Besuch in der Kammer, wollte ich nur bei einem Kaffegespräch Leben spüren, und ich bekam ein neues geschenkt. Seitdem Gerri nicht mehr dort wohnte, verbrachte ich in der Regel die Abende bei Veruschka und Elena und Lenny. Wir übten schon für unser Zusammenleben bei mir im Haus, konnten es gar nicht mehr abwarten und hatten schon alle Räume verteilt und zugeordnet. Anfang April zogen Breuers in ihre neue Wohnung ein. Trotz unserer gemeinsamen Erfahrungen, kam es uns vor, als ob ein neuer Lebensabschnitt begänne. Besonders mit Terrasse und Garten war es schon wesentlich komfortabler und vermittelte ein ganz anderes Lebensgefühl als in der alten Etagenwohnung. Anfang Mai gab's eine Fète. Meine Mutter war auch gekommen. „Eigentlich kann ich ja nichts dazu sagen. Ich kenne Veruschka ja gar nicht, aber sie erweckt doch den Eindruck einer gestandenen Frau. Ich wünsche dir nur, dass du mehr Glück haben wirst als damals, und da bin ich mir eigentlich ziemlich sicher. Aber ihr selbst seid es doch wohl auch, wenn ich das richtig einschätze.“ meinte meine Mutter. Sie war die Tochter meines Großvaters, zu ihr hatte ich noch den besseren Drath, während mein Vater für mich immer ein fremder Mann geblieben war. Es waren nicht viele Gäste eingeladen, Freundinnen von Veruschka waren da und natürlich Klarissa. Den jungen Mann, von dem sie ausdrücklich erklärt hatte, das er nicht ihr Freund sei, hatte sie auch wieder mitgebracht. Christian hieß er und studierte Physik. „Klarissa, wie kann ich dich denn überzeugen, dass es das größte Glück ist, verliebt zu sein?“ fragte Veruschka leicht provokant. „Mag ja sein.“ antwortete Klarissa, „Aber wenn ich allein bin, kann ich ruhig etwas machen, was ich vielleicht selbst nicht so gut finde. Dann ist es eben so und ich brauche mich nicht vor jemand anders zu schämen. Ich kann tun und lassen, was ich will und wie es mir gefällt. Bei allem, was du tust, bist du nicht mehr allein. Immer musst du in dein Denken den anderen einbeziehen. Das will ich alles nicht. Ich will frei sein, will mein Leben so gestalten können, wie es mir ganz allein auskommt.“ „Ich glaube, dass ich dich sehr gut verstehe, Klarissa. Nicht viel anders habe ich selbst gedacht. Ich brauche keine zusätzlich Person, die lästig ist und stört. Das mag ja so auch richtig sein. Jetzt werde ich aber mit einer Person zusammenleben, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es jemals als lästig und störend empfinden würde.“ erklärte ich. „Ich hätte das für mich auch nie wieder für möglich gehalten.“ bestätigte es Veruschka, „Aber du weißt eben nie, welche Wunder sich ereignen können, so dass es dir als wundervolle Bereicherung und keinesfalls Einengung deines Lebenns erscheint.“ „Du meinst, ich müsste nur ganz heftig verliebt sein, dann würde ich es schon ander sehen.“ vermutete Klarissa. „Kann sein,“ meinte Veruschka, „aber so plötzliche Liebesrauschattacken haben meistens nur ein geringen Halbarkeitswert. Was duch vielfältige, frundschaftliche und lebevolle gemeinsame Erfahrungen entsteht, ist in der Regel viel tiefgründiger und dauerhafter.“ Natürlich hatte Veruschka auf ihr Verhältnis zu Christian anspielen wollen. Sie wusste ja hichts genaueres davon, aber Veruschka sah immer das, was anderen verborgen blieb, und Klarissa schien verstanden zu haben. Kurzes Nachdenken und dann schmunzelte sie mit breiten Lippen. Es sagte, dass sie verstanden habe, aber weitere Worte verlor Klarissa dazu nicht. Über Liebe und das immer rätselhafte, unergründliche der Liebe sprachen wir allerdings noch weiter. Lenny unterbreitete Klarissa jedoch schon Liebesanträge. So eine Frau wie sie, würde er später mal heiraten wollen. Elena schien zu mir ähnliches Vertrauen zu haben wie zu Veruschka. Sie kam auch zum Schmusen zu mir, und meinte einmal: „Eigentlich bin ich ja schon eine Frau, aber du willst doch sexuell nichts von mir, oder?“ „Na ich weiß nicht, du bist jung und hübsch und attraktiv, meinst du nicht, ich sollte es mir da nochmal überlegen?“ reagirte ich. Wir scherzten noch weiter und Elena erklärte mir ganz vertraulich, der einzige Junge, der ihr gefalle, sei Lenny, aber das sei schon immer so gewesen. Nur mittlerweile müsse man ja aufpassen. Zum Glück achte Lenny ganz strikt auf Distanz. Sie wisse nicht, ob sie nein sagen könne, wenn er sie anfassen und streicheln wolle, er sei eben einfach ihr Liebster. Zum Ende der Fète hatte Klarissa Christian zwar noch nicht zu ihrem Liebsten erklärt, aber zu behaupten, dass sie ausnehmend freundlich zu Christian war, ist keineswegs eine eingebildete Vermutung, und unsere Gespräche über Liebe und darüber, wie entscheidend für das persönliche Glück liebevolle Beziehungen sind, würden bei Klarissa gewiss Prozesse des Nachdenkens auslösen.


Sehnsucht, Liebe und Kreativität

Ein Leben, wie ich es nicht gekannt hatte. Immer gab es neue, verrückte Ide­en. Lenny, der sich mittlerweile zum Hobbygeologen entwickelt hatte, wollte in den Ferien nach Island und sehen wie unsere Erde entsteht. Während Elena nach Griechenland wollte. Nur Homer und Odysseus würde sie wohl kaum tref­fen können und selbst die schöne Helena müsste sie schon zu Hause im Spie­gel anschauen. Am meisten faszinierten sie die Auswirkungen des alten Grie­chenlands auf unser Leben heute. „Wir sind keine Töchter und Söhne der Ger­manen, Gallier oder Franken, was wir in unserem Kopf haben stammt von den Griechen vor zweitausend Jahren.“ hatte sie Veruschka stolz erlärt. „Zum Glück,“ hatte Veruschka kommentiert, „wo wären wir heute, wenn unsere Kul­tur von den wilden Sauf- und Raufbolden aus den germanischen Wäldern stammten. Ein Pythagoras oder Sokrates wären niemals aus einer Höhle im Thüringer Wald gekommen.“ Ich hatte einen kleinen Marmorblock aus der Fir­ma beschafft und wir wollten gemeinsam eine Büste erstellen, von wem, das würde sich später herausstellen. Wenn ich aus dem Betrieb kam, wurde ich je­den Tag begrüßt, als ob ich für lange Zeit verschollen gewesen sei. So wollte ich leben, es war mehr, lebhafter und bunter als ich es mir hätte erträumen können. Veruschka hatte gleich erkannt, was für mich wirklich das Wesentliche in meinem Leben war, obwohl es damals nach außen so verdeckt war. Sie hat­te erkannt, dass es das Erbe meines Großvaters, seine Sehnsucht, Liebe und Kreativität, war, das in mir fortlebte. Jetzt hatte ich zu der erforderlichen Har­monie und dem Gleichgewicht gefunden, das ich meinem Leben wieder Sinn und Freude abgewinnen konnte, und das mir Lust und Kraft gab, meine Kompetenzen und Möglichkeiten zu entfalten. Übermütig und surreal waren wir schon öfter, aber Singen wie mein Großvater konnte ich trotzdem nicht, auch wenn Elena es sich noch so sehr wünschte.

 

 

FIN

 

 

Et souvent, c'est l'effet des caprices du sort, Qu'au milieu des écueils on rencontre le port.“

Thomas Corneille

 

 

 

Andreas ist bis zur letzten Sekunde in seiner Firma für Natursteine beschäftigt. Frauen kennt er nur als Klarissa, seine Stellvertreterin. Probleme mit Liebe braucht er nach seiner gescheiterten Ehe nicht nochmal, und Zeit hätte er dafür sowieso nicht. Veruschka ist eine taffe, selbstbewusste Mutter von zwei heranwachsenden Kindern, zufällig lernt sie Andreas kennen. Mit Liebe hat das nichts zu tun, denn einen neuen Mann und sentimentales Gesäusel sind das Letzte, was Veruschka gebrauchen kann. Ich hatte nur zwei Worte erwähnt, als Veruschka mich harsch stoppte. „Willst du wohl still sein. Ich will davon nichts hören. Für mich war es das erste mal. Ich war sozusagen noch Jungfrau.“ erklärte die Mutter von zwei fast erwachsenen Kindern. Auch wenn es nicht das Höchste und Wichtigste war, schien es uns doch wohl zu gefallen, denn wir machten es jetzt jeden Abend, jede Nacht oder sogar einmal direkt als ich aus der Firma kam. Auch wenn es uns glücklich machte, nahmen wir unsere sexuellen Begehrlichkeiten nicht völlig ernst, sondern scherzten immer darüber. „Weißt du was, es gibt doch tausend Entspannungsanleitungen und -tipps. Alle mögen sie ja wirksam sein, aber körperlich am deutlichsten spürst du die Entspannung eindeutig nach dem Ficken. Man müsste vor Diskussionen und Besprechungen immer erst Sex haben, dann gäbe es keine Streitigkeiten, Auseinandersetzungen und Diskrepanzen mehr, absolut relaxed bist du dann.“ empfahl Veruschka. „Ja, aber so zweckrational, das geht doch nicht. Du musst schon Lust dazu haben.“ gab ich zu bedenken. „Die hab' ich doch. Das ist ja das Schlimme. Wer hätte das je von mir gedacht, ich selbst am allerwenigsten, und dann in meinem Alter. Aber das liegt ja nur an dir. Ganz allein du bist der Schuldige. Ob unsere Seelen dabei auch kopulieren, was meinst du?“ fragte Veruschka. „Ich weiß es nicht, aber möglich wäre es schon. Zumindest fühlt es sich hinterher doch so an, als ob sie hätten, nicht wahr?“ vermutete ich schmunzelnd. „Was bin ich froh, wenn diese Woche vorbei ist.“ erklärte Veruschka lachend, „Ich bin doch keine zwanzig mehr. Ich schaff das nicht. Auf die Dauer ist mir das viel zu anstrengend.“ Das gemeinsame Bett gefiel uns schon, vor allem auch, dass wir beide es nach langer Abstinenz so selbstverständlich glückstrunken genießen konnten, aber ganz ernst nahmen wir es beide trotzdem nicht. Das war es nicht, was den Kern unserer Beziehung darstellte. Trotzdem war Veruschka böse. „Wahrscheinlich bin ich jetzt schwanger. Machst du es mir dann weg?“ erkundigte sie sich und lachte nicht dabei. „Die Veruschka ist schon so alt, da kann nichts mehr passieren. Hast du gedacht, nicht wahr? Wahrscheinlich hast du aber an überhaupt nichts gedacht, wie alle Männer. Selbstverständlich hat die Frau allein an so etwas zu denken.“ beklagte Veruschka. „Was für ein Unsinn,“ habe ich gedacht, „mit niemandem gehst du ins Bett und mit dem erst Recht nicht.“, aber Vorsicht kann nie schaden. Ich habe mir wieder die Pille verschreiben lassen, gerade nachdem wir uns kennengelernt hatten. Mein Unbewusstes wird mehr vermutet haben, als mein Bewusstsein mir zu ahnen gestattete.“ Wie es das Unbewusste weiter mit den beiden trieb, aber auch wie alles überhaubt dazu kommen konnte und natürlich wie es sich bewusst weiter entwickelte, erzählt die Story.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.04.2014

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