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Introducion und Inhalt

 

 

Carmen Sevilla

 

 

Maharani von Lendice
Lenny, die anarchistische Herrscherin

 

 

Erzählung

 

 

Where there is love there is life.”

 

Mahatma Gandhi

 

Depressive Wut hatte mich im Griff. Warum tat ich das? Zeitvertreib, reine Zeitverschwendung. Was wollte ich hier. Ich befand mich da, wo der Pfeffer wächst, an Indiens Malabarküste. Was habe ich mit Indien zu tun? Lenny, die eigentlich Lendice hieß, war Soziologieprofessorin, und hatte seit frühester Kindheit ein Faible für Indien und für Orangen. Dass sie auch anderes beachtenswert finden konnte, wusste sie gar nicht. Sogar für Gerry interessierte sie sich, obwohl sie es doch eigentlich nicht wollte. Wütend war sie auf Gerry keinesfalls, auch wenn sie nicht wusste, warum sie das tat. „Nur wenn du meinst, es sei alles Gefühl, dann werden wir bei unserem Verhältnis vornehmlich auf den Bahnen unserer Limbischen Systeme miteinander verkehren. Unser Cortex bleibt relativ verschont, alles nur Psycho. Aber im limbischen System agieren ja vornehmlich die Triebe. Sag mal, Gerry, möchtest du auch, dass wir Sex miteinander haben? Ich meine, ob du gern mit mir ficken möchtest?“ wollte ich wissen. Gerry lachte sich tot und bekam sich gar nicht wieder ein. „Lenny, du sagst ja, dass wir durchaus vernünftig miteinander reden können, aber die ernsthafte Frau Professor Dr. Ahlers muss sich dann doch sehr zurückhalten. Die andere dominiert wohl meistens, und sie hat Lust an Albernheiten, Quatsch und lustigen Späßen. Dann gefällst du dir doch auch so, oder?“ fragte Gerry. „Ja, aber nur, wenn du dabei bist. Ob das auch ein Symptom des Liebessyndroms ist?“ vermutete ich. „Aber du musst schon antworten. In einer Beziehung zwischen Mann und Frau, zumal wenn sie annehmen sich zu lieben, ist das ja nicht unbedeutend.“ „Na, beim ersten Anblick bist du mir natürlich primär als Frau aufgefallen. Aber das ist ja bei allen so.“ erklärte Gerry. Was Lendice, genannt Lenny, und Gerry sonst noch alles zu klären und sich zu erklären hatten, weiß die Geschichte.

 

 

Maharani von Lendice - Inhalt

 

Maharani von Lendice 3

Wo der Pfeffer wächst 3

Orangenmalheur 4

Tanzt die Orange 5

Du bist eine wunderschöne Frau 9

Nein, Gerry sollte nicht sterben 11

Was Hexen alles so zu eigen ist 12

Einkauf im Ambulatorium 15

Bea 15

Dazu reicht meine Zeit nicht 16

Idiotische Teenyträume 17

Entzugssymptome 19

Labialen Kontaktaufnahme 20

Ernste Besprechung 22

War das nicht ein Anarchist? 23

Ich denke, also bin ich. 24

Deine Casta Diva möchte ich nicht sein 26

„Ein Feigling ist unfähig Liebe zu zeigen, es ist das Vorrecht der Tapferen.“ Gandhi 27

 

 

 

Maharani von Lendice - Wo der Pfeffer wächst

Depressive Wut hatte mich im Griff. Warum tat ich das? Zeitvertreib, reine Zeitverschwendung. Was wollte ich hier. Ich befand mich da, wo der Pfeffer wächst, an Indiens Malabarküste. An der Exkursion heute würde ich mich nicht beteiligen, auch wenn es tausend Königstiger und Elefanten zu sehen gäbe. Im Grunde hatte ich mit Indien nichts zu tun, nur seit frühesten Kindertagen ver­folgte mich ein Indientick. Ein Verwandter war Theologe, und es hieß, er sei in der Mission, in Kerala in Indien. Was er da gemacht hat, davon habe ich nie etwas erfahren. Vielleicht hat er nur auf dem Rücken liegende Frauen gefickt, wie es unter Missionaren gebräuchlich ist. Meine Mutter und mein Vater haben mir aber solange ich mich erinnern kann, von Indien erzählt. Ein fremder Stern war es für mich, ich staunte und staunte, und mein Wissensdurst schien gren­zenlos. Es war nicht nur das Land der Tiger und Elefanten, das Land in dem Af­fen für Götter gehalten, Frauen aber nichts wert sind, die höchsten Berge der Welt gab es hier und schmutzige Flüsse, in denen man ein Bad nahm, um eine reine Seele zu bekommen. In meiner Gedankenwelt existierte Indien immer als mein unbekanntes Zuhause, eine Wunderwelt, wie sie andere nur aus Märchen kannten. Vielleicht ist China, Afrika oder Brasilien viel interessanter, aber ich war eben mit Indien verwachsen und aufgewachsen, Indien war in mir. Was konnte mein Unbewusstes mir da schon als erstes anbieten, wenn ich nach ei­nem Urlaubsziel suchte, Indien natürlich. Vielleicht existierte ja in mir der ver­drängte Impuls einer Sehnsucht nach Indien, es einmal gesehen zu haben, ein­mal dort gewesen zu sein. Ich hätte ja Indologie studieren und Sanskrit lernen können, aber Indien dominierte nicht mein Leben. Sozialwissenschaftlerin war ich, gerade in Indien hätte ich dafür ein weites Tätigkeitsfeld auftun können. Nicht nur die ungeheuerliche Armut und die schreiende Ungerechtigkeit gegen­über Frauen waren Ausdruck der Herrschaftsverhältnisse im Lande Mahatma Gandhis, auch viele andere soziologisch interessante Bereiche gäbe es hier zu betrachten und zu untersuchen. Ich kümmerte mich jedoch um Gesichtspunkte des Zusammenlebens in den Gesellschaften unseres abendländischen Kultur­kreises, wenn auch Mahatma Gandhi eine sehr bedeutende Rolle in meiner per­sönlichen Entwicklung gespielt hatte. Hätte ich an einem Kongress einer Uni­versität in Indien teilgenommen, oder ein bestimmtes Projekt besucht, aber nein, mit einem Tourismusunternehmen schöne Natur anschauen. Indien war das schon, aber was wir erlebten, war nicht einmal Kerala und Kerala war nicht Indien. Was hatte mich nur zu so einer Idiotie motiviert? Dass ich im Unbe­wussten damit gerechnet hatte, mit einer Tigerfelltrophäe nach Hause zu kom­men, glaube ich eher nicht. Selbst symbolisch nicht, weil mich Bilder davon seit je angewidert hatten. Ob ich so etwas sonst auch machte, meinen Bauch eine Idee produzieren, mich von ihr begeistern lassen und sie ohne jegliche kritisch rationalen Erwägungen handelnd in die Tat umzusetzen? Bekannt war mir Der­artiges aus anderen Zusammenhängen bei mir nicht. Zumindest konnte ich mich an Situationen bösen Erwachens während der Ausführung, so wie jetzt, nicht erinnern. Andere hätten es auch gar nicht als böses Erwachen empfunden, wären gar nicht erwacht, waren es nicht die meisten, die noch nicht erwacht waren?

 

Orangenmalheur

„Du dummer Schnösel. Wirst du dich mal benehmen? Bin ich eine alte Frau, der man helfen muss?“ fauchte ich ihn an. Ich war so erschrocken. Als es raus war, schämte ich mich vor mir selbst, auch wenn ich es ein bisschen lustig ge­meint hatte. Jünger als ich war der Mann schon. Während ich achtunddreißig war, lag sein Alter gewiss unter dreißig, oder er war es gerade. „Kann ich ihnen irgendwie behilflich sein?“ hörte ich plötzlich die Stimme eines Mannes neben mir, als ich gebückt meine Apfelsinen vom Boden aufsammelte. „Ach je, nein, nein, Entschuldigung, daran hatte ich doch gar nicht gedacht. Sie hätten vier­zehn oder vierundachtzig sein können. Mit dem Alter hat das überhaupt nichts zu tun, ich hätte jeder Frau gern geholfen.“ reagierte der Mann auf meine Pö­belei. „Und Männern, hätten sie denen auch geholfen?“ wollte ich es genauer erfahren. Der Mann lachte. „Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht, aber ich glaube schon. Männern hätte ich auch geholfen. Helfen können, macht doch ein angenehmes Gefühl, ob es sich um einen Mann oder eine Frau han­delt, ist dabei doch gleichgültig.“ antwortete er. „Sie helfen anderen Menschen gern? Sind sie in einem karitativen Beruf tätig?“ wollte ich wissen. Der Mann lachte wieder. „Nein, überhaupt nicht. Ich lerne sie zu richten und zu verurtei­len.“ scherzte er, „Jura habe ich studiert und schreibe gerade an meiner Disser­tation.“ „Wohnen sie denn auch hier in der Nähe? Ich habe sie hier noch nie gesehen?“ wollte ich zu dem noch wissen. „Na, sie sind vielleicht öfter hier, wenn sie für eine ganze Familie einzukaufen haben. Ich muss mich nur selbst versorgen.“ antwortete er. Was waren da denn wieder für Impertinenzien ent­halten. „Junger Mann, ganz koscher scheinen sie mir aber doch nicht. Woran wollen sie denn erkennen, dass ich eine Familienmutter bin? Weil Frauen in meinem Alter das grundsätzlich zu sein haben? Und die Mutter ist in ihren Fa­milienvorstellungen dafür prädestiniert, immer alles einzukaufen, nicht wahr?“ vermutete ich. Der Mann lachte wieder auf. „Nein, nein,“ wehrte er ab, „was haben sie denn immer mit ihrem Alter. Sie sind eine gut aussehende, attraktive junge Frau. Ich dachte nur, dass man so viele Orangen doch nicht für sich al­lein holt. Aber ich habe überhaupt nicht nachgedacht, das Bild war einfach so da, dass da auch noch andere sein müssen.“ „Ich wollte sie mir auspressen. Ihre frisch ausgequetschten Saftschläuche geben für mich das wundervollste Getränk der Welt ab. Aber was erzähle ich ihnen da? Was geht sie das an. Warum sollte sie das interessieren?“ erklärte ich dem Mann. „Mich interessiert es aber. Erzählen sie weiter, ich höre ihnen gern zu.“ reagierte er darauf. Ein sonderbarer Mensch, was wollte er von mir? Ich musterte ihn. Ganz nett schien er schon, und lachen konnte er ja auch. „Oh, oh, das ist aber sehr intim. Ich habe nämlich eine Orangen Manie, und davon soll ich ihnen hier im Geschäft zwischen den Regalen erzählen?“ wollte ich von ihm vertraulich spielend wis­sen. „Wir können auch nach dem Einkauf ins Café gegenüber gehen. Zeit und Lust hätt' ich schon. Ich weiß natürlich nicht, wie das für sie wäre.“ antwortete der Mann. Mit dem fremden Mann ins Café gehen und ihm von meiner Oran­genlust erzählen, wozu? Vielleicht ein unvorhergesehenes, amüsantes Inter­mezzo mit dem Helfermann. Eventuell wüsste er ja dazu auch mehr zu sagen, das würde mich schon interessieren. „Für mich wäre das auch o. k.. Da muss die Familie heute eben mal ein wenig warten.“ scherzte ich. Was hatte ich denn immer mit meinem Alter? Der Mann hatte ja Recht, immer wo es möglich war, hatte ich etwas auf's Alter interpretierend bezogen. Dabei wollte ich mit dem ganzen Hype der Frauen um die Angst vorm Älterwerden doch nichts zu tun haben. Zumal ich, mit meinen achtunddreißig, das war ja lächerlich. Oder hatte ich doch die Einschätzung, dass bei einer Frau mit dreißig das Welken beginnt, internalisiert, wollte es nur nicht wahrhaben, ließ es nicht zu, mein Bewusst­sein sperrte sich dagegen? Was sollte dieser ganze Unsinn? Ich wollte darüber nicht nachdenken, brauchte nicht jung und schön zu sein. Oder bekommen es Mädchen schon in ihrer Kindheit während des Gehirnwachstums vermittelt, dass sie Lob für ihr Aussehen als Anerkennung für sich selbst empfinden. Du kannst es dir nie wieder ausreden oder verbieten, es ist physiologisch in deinen Gehirnbahnen verankert. Vielleicht hatte es ja auch mit der Libido und dem Geschlechtstrieb zu tun. Platon hatte Diotima ja auch schon Ähnliches über den Eros verkünden lassen, nur war er dann zur Schönheit der Seele und zum Er­kennen des Schönen allgemein gelangt. Das wäre mir ja Recht, eine schöne Seele hatte ich doch bestimmt, und die wollte ich auch haben. Das Schöne in den Künsten und den Wissenschaften liebte ich allemal. Auf die Ästhetik des Körpers des anderen abzufahren, war eine Beschränktheit, die den unerfahre­nen, jugendlichen Liebhabern vorbehalten war. So sah ich es auch, fühlte mich ganz im Bunde mit den Ursprüngen unseres Denkens in der griechischen Philo­sophie.


Tanzt die Orange

„Ich hätte mir ja Orangensaft bestellen müssen, nicht wahr, aber die Plörre, die du dann bekommst, kannst du nicht trinken, ich zumindest nicht. Wie heißen sie eigentlich? Wir haben uns gar nicht vorgestellt. Also ich heiße Lenny Ah­lers.“ erklärte ich im Café. „Gerry Conrads ist mein Name. Ich mach mal einen Vorschlag: Wenn wir sowieso nichts miteinander zu tun haben, sollen wir uns da nicht lieber mit den Vornamen anreden? Lenny und Gerry das hört sich doch einfach viel besser an, als Frau Ahlers und Herr Conrads? Aber Lenny, ist das nicht ein Name für einen Mann?“ wollte Herr Conrads wissen. Dass er mich ei­gentlich Frau Professor Dr. Ahlers hätte nennen müssen, erfuhr er nicht. „Doch, das finde ich auch, nur als Grund sich zu duzen, nimmt man in der Regel, dass man sich ein wenig besser kennt, aber vielleicht ist es ja so viel lustiger. Lenny werde ich nur überall genannt. In meinem Pass steht etwas anderes. Früher war das viel gebräuchlicher und bedeutsamer. Auf alten Grabsteinen kannst du es noch lesen. „Friedensreich Bergentath, genannt Friedel“ steht da. Heute zählt nur noch, als wer du in deinen amtlichen Papieren geführt wirst, als wer du in der Welt herumläufst, mit deinen Mitmenschen kommunizierst, interes­siert niemanden.“ legte ich meine Ansicht dar. „Gerry heiße ich auch nicht offi­ziell. Heute wäre das ja möglich, bei mir vielleicht auch schon, aber meine El­tern waren der Ansicht, ich sollte Gernot heißen. Und von Lenny, wie lautet da der offizielle Name?“ wollte Gerry wissen. Ich druckste ein wenig. Nein, ich schämte mich nicht. Andere wären vielleicht sogar stolz darauf gewesen, aber mir gefiel der Name 'Lendice' nicht besonders. Ich hörte es nicht gern, wenn mich jemand so nannte. „Wo kommt der denn her? Den Namen habe ich ja noch nie gehört.“ kommentierte Gerry. „Ich auch noch nicht und will auch gar nichts hören. Dass ich es bin, dass es mein Name ist, dass ich so heiße, reicht das nicht? Oder stehst du mit den Burgunderkönigen in Beziehung und spielst im Nibelungenlied mit?“ fragte ich. Gerry lachte wieder, ich hörte es gern. Er konnte offen und direkt lachen, fast wie bei Kindern. Ob seine Seele mitlachte? Bestimmt, wenn sie sich freute anderen Menschen helfen zu können, würde sie auch lachen können. „Woher das kommt, weiß ich gar nicht. Solange ich mich erinnern kann, gefiel mir der Geschmack von Orangen extrem gut. Das hat sich immer weiterentwickelt und gesteigert. Ich habe sogar in Israel in einem Kibbuz gelebt und gearbeitet, aber nicht wegen der Orangen. Nur gab's da ge­meinsam mit einem anderen Kibbuz Orangenplantagen und eine Fabrik, in der die Orangen verarbeitet wurden. Hauptsächlich wurde Saftkonzentrat für welt­weit alle möglichen Saftverkäufer hergestellt. Das bekommst du auch überall zu trinken. Erst in letzter Zeit gibt es in den Kühlregalen originalen Orangen­saft. Der schmeckt in der Regel nicht schlecht, und den trinke ich auch meis­tens, aber an den Saft von selbst frisch ausgepressten Apfelsinen kommt er nicht heran. Nur ist das trotz wundervollem Maschinchen immer ein ziemlicher Aufwand. Eigentlich wollte ich mir heute gar keine Orangen auspressen. Des­halb hatte ich ja auch meinen Einkaufswagen im Hauptgang stehen, aber als ich bei den Orangen stand, spürte ich plötzlich den Geschmack und die Lust ihn zu genießen. Und da sind sie eben angefangen runter zu kullern, als ich sie mir auf den Arm legen wollte.“ erläuterte ich zu den Orangen. „Du musst jeden Tag deinen Orangensaft haben, sonst bekommst du Entzugserscheinungen.“ ver­mutete Gerry. „So wird es wahrscheinlich sein. Ich habe es noch nicht auspro­biert. Deshalb trinke ich vorsichtshalber in Hotels auch den Konzentrat-Wasser Saft. Ich wüsste mal gern, welche Aromastoffe beim Konzentrieren wohl verlo­ren gehen. Es handelt sich ja um eine Melange aus vielen unterschiedlichen Aromen, die allein zum Teil entsetzlich stinken. Deshalb können Apfelsinen ja auch höchst unterschiedlich schmecken, weil sie über eine andere Aromakon­stellation verfügen. Aber so genau kenne ich mich da auch nicht aus. Ich bin ja keine Chemikerin. Nur was die an künstlichem Orangenaroma für die Dufter­zeugung produzieren, ist schon beachtlich. Ich habe so etwas zwar, aber ich verwende es nie. Keine Angst, bei mir duftet nicht alles nach Orangen. Die Orange bildet nicht meinen Lebensmittelpunkt.“ stellte ich ich es dar. „Aber ein bisschen verliebt bist du schon in sie, nicht wahr?“ meinte Gerry. „Klar, das sind wir doch alle. Ein Leben ohne Orangen, ist das überhaupt noch ein genui­nes Leben? Jeden Nachmittag tanze ich sie, wenn ich nach Hause komme:


"Tanzt die Orange. Wer kann sie vergessen,
wie sie, ertrinkend in sich, sich wehrt
wider ihr Süßsein. Ihr habt sie besessen.
Sie hat sich köstlich zu euch bekehrt.
Tanzt die Orange."


Kennst du bestimmt nicht. Von Rainer Maria Rilke ist das. Genauso ist es beim 'Land, wo die Zitronen blühen'. Das kennen sie alle, aber dass Goethe im zwei­ten Satz vom 'dunkeln Laub in dem die Gold-Orangen glühn' spricht, wer weiß das schon? An der Wertschätzung der Orange mangelt es absolut. Dass der Orange benebelnder Duft deine Sinne berauschen kann, wen interessiert das denn? Sie ist ein Massenprodukt, das künstlich entgrünt wird, weil es sich an­geblich nur in orangener Farbe verkaufen lässt. Meinst du nicht auch, wir soll­ten etwas zur Ehrenrettung der Wertschätzung natürlicher Orangen unterneh­men.“ unterbreitete ich einen Vorschlag. Gerry hatte bislang die Rolle des freundlich, dominanten Zuhörers gespielt, jetzt erweckte er einen leicht ver­wirrten Eindruck. Was er sich wohl fragte: „Ist die verrückt?“, „Meint die das ernst?“, „Was will die damit sagen?“. Das Kinderlachen zeigte Gerry jetzt nicht, er schmunzelte, eher ein wenig verlegen. „Keine Angst, ich wollte dir nicht vor­schlagen, ein Kampfkomitee zur Rettung der Ehre von Orangen zu gründen. Ich liebe den Geschmack von Orangen und möchte ihn täglich genießen „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“ empfiehlt Gandhi. Das versuche ich zu leben und nicht nur bei den Orangen.“ versuchte ich zu er­läutern. „Eigentlich kann ich sehr gut zuhören und verstehen. Ich verstehe auch deine Worte, aber ich verstehe dich nicht. Ich verstehe nicht was du wirk­lich willst und wer du bist.“ erklärte Gerry. „Gerry, was willst du alles verste­hen? Hat die gesamte Situation nicht surreale Züge? Wir sitzen gemeinsam im Café, weil du mir beim Aufsammeln von Orangen helfen wolltest. Aber was ich zu den Orangen gesagt habe ist kein Fake, alles ganz real und auch normal. So wie andere ihre Geschmackspapillen gern mit Sauerkraut in Berührung brin­gen, bereitet es mir einen gustatorischen Genuss das Aroma von Orangen in meinem Mund zu spüren. Mehr ist da nicht. Ich nehme keine Orangen mit ins Bett, küsse und streichele sie nicht, und die Wände in meinem Haus sind nicht zugehängt mit Bildern von Orangen. Alles ganz normal.“ erklärte ich es. „Das mit den Orangen ist ja lustig, aber du selbst. Benutzt du mich nicht, um einen Spaß mit mir zu haben? Machst du das mit deinem Mann oder deinem Partner auch?“ wollte Gerry wissen. „Du darfst ja alles vermuten, annehmen und aus­sprechen, aber, Gerry, ich bitte dich. Anzunehmen, ich würde dich zu meinem Spaß gebrauchen, geht das nicht ein bisschen zu weit? Ich brauche andere Menschen schon, aber ich würde niemals wen auch immer zu meinen Vergnü­gen benutzen. Gemeinsam mit einem anderen Menschen Spaß haben zu kön­nen, macht auch ein gutes Gefühl, nicht wahr, und steht dem, anderen helfen zu können, bestimmt nicht nach.“ reagierte ich. „Das ist in der Tat so, aber ich verstehe deine Scherze nicht auf Anhieb, dafür kenne ich dich zu wenig, und einfach zu erkennen bist du gewiss nicht. Aber, dass du keine Familienmutti bist, davon bin ich mittlerweile überzeugt.“ antwortete Gerry. „Was willst du, Gerry? Soll ich dir erklären, wer und wie ich bin? Nur das zählt, was du selbst von einem anderen Menschen erkennst. Dazu musst du deine Augen schon weit öffnen. Nein, deine Augen sehen nichts, dein Herz musst du weit öffnen, und frei sein für Neues und Unbekanntes. Dass es dir Freude bereitet, anderen Menschen zu helfen, lässt sehr viel von dir erkennen. Es zeigt das dein Herz of­fen ist und öffnet das Herz dessen, der es erfährt.“ erklärte ich. „Das ist doch nichts Besonderes, das ist doch bei jedem Menschen so, das er gern bereit ist, zu helfen.“ meinte Gerry. „Hah, das weiß ich aber nicht. Ich fände schön, wenn es so wäre. Vielleicht sind Menschen ja auch grundsätzlich so angelegt. Es gibt nicht wenige, bei denen Helfen sogar zur Sucht wird. Sie haben meistens eine sehr schwache Persönlichkeit. Den Eindruck erweckst du aber nicht. Einen gesellschaftlichen Stellenwert, sich gegenseitig zu helfen, wo willst du den denn erkennen? Eine christliche Tugend ist die Nächstenliebe. Im Alltag geht es eher Auge um Auge, und nicht wenige sind schon blind davon geworden.“ lautete meine Ansicht. „Natürlich hat es einen gesellschaftlichen Stellenwert, anderen zu helfen. Du kannst sogar ins Gefängnis kommen, wenn du nicht hilfst.“ wusste Gerry. „Davor hast du Angst gehabt, und deshalb wolltest du mir beim Apfelsinenaufsammeln helfen, nicht wahr?“ vermutete ich. Jetzt konnte Gerry wieder lachen. „Wahrscheinlich war es so, nein, wir sind doch als Menschen aufeinander angewiesen vom ersten bis zum letzten Tag, wir definieren uns doch aus der Beziehung zu anderen Menschen, und wir tun es nicht zwanghaft aus Notwendigkeit. Denen es Freude macht, die Gefallen daran finden, die es suchen, zu anderen befriedigende Beziehungen zu finden, haben sich evolutionär durchgesetzt. Ob es da einzelne Muffel oder Griesgrame gibt, spielt doch keine Rolle. Du wirst mit Sicherheit nicht dazu gehören, soviel kann ich von dir auch schon erkennen.“ wusste Gerry und lachte. „Und zu deiner Profession, wie passt deine philanthropische Einstellung dazu?“ Du wirst beurteilen und urteilen, richten und bestrafen, Freude, behilflich sein zu können, kommt da nicht vor.“ erkundigte ich mich. „Was kann einem Menschen Besseres widerfahren, als ein gestrenger Richter.“ scherzte Gerry, „Damit werde ich nichts zu tun haben. Mir schweben andere Perspektiven vor.“ Gerry dazu. „Ach so, darf ich denn auch erfahren, was du mal werden willst? Bleibst in der Wissenschaft, habilitierst dich und wirst Professor?“ vermutete ich. „Nein, dazu reichen meine Kapazitäten und meine Wissenskompetenzen nicht aus. Ich wollte in die Wirtschaft, da hast du als promovierter Jurist gute Chancen.“ erklärte Gerry. Ich musste ihn mir anschauen. Im Grunde kannte ich ja auch überhaupt nichts von ihm. Trotzdem gefiel er mir irgendwie. Sein Lachen, zu erklären, dass ihn Helfen erfreut, nicht schlecht, aber da war auch noch etwas anderes. Er war so offen und nicht nur sein Lachen war natürlich. Bei einem Mann um die Dreißig erlebte man das sonst nicht. „Aber dann musst du ja in einer großen Firma arbeiten. Kleine und mittlere Betriebe können sich keinen Juristen leisten. Da hast du aber Glück. Die Telekom und Mercedes Benz zum Beispiel sind ja ausgesprochene Unternehmen der Hilfe für den Menschen. Die einen beschenken sie mit immer neuen Handys und die anderen schenken ihnen schicke, neue Autos.“ kommentierte ich. „Was willst du, Lenny? Was passt dir nicht?“ fragte Gerry nach. „Mensch Gerry, wo lebst du denn? Mit Menschenfreundlichkeit und Lust am Helfen und Schenken hat das rein überhaupt nichts zu tun. Sie verkörpern das Gegenteil, bilden die Stützpfeiler der Herrschaftsverhältnisse, in denen wir leben.“ antwortete ich. Gerry schwieg, starrte mich tief an und überlegte. Offensichtlich wollte er mich jetzt erkennen, herausfinden auf welcher Grundlage meine Einschätzung basierte. Er sagte aber nur ganz schlicht und simpel: „Also ich fühle mich ziemlich frei. Wir leben doch glücklicher weise in einer Demokratie.“ Oh, Gerry, ich konnte ihn auch nicht erkennen. So konnte nur jemand sprechen, der frei war von jeder Form kritischen Denkens und Betrachtens. Ein Alltagsmensch, der blind alles übernahm, weil die anderen es auch so sahen und machten. Konnte sich so jemand trotzdem bewahren, seine wirklichen Gefühle zu erkennen und nicht nur in Denken, Handeln und Empfinden vorgegebenen Rollenklischees folgen? „Ich will dir mal eine Geschichte erzählen.“ begann ich, „Mein Bruder war zwei Jahre älter als ich. Es machte uns Spaß, gemeinsam zu balgen. Dass er mir weh tun oder über mich bestimmen könnte, auf die Idee kam ich gar nicht, obwohl er doch viel stärker war als ich. Sein Liebstes war ich. Draußen war aber das Gegenteil der Fall. Da liebten nicht die Stärkeren die Schwächeren, sondern sie nutzten sie aus und drangsalierten sie. Später sah ich, dass es sich nicht nur in unserer Klasse so verhielt. Überall dominierten die Stärkeren, die Mächtigeren, die Wichtigeren, die Reicheren die Schwächeren und beherrschten sie, in welcher Form auch immer. Ich habe überlegt, warum es nicht überall so sein könnte, wie zwischen mir und meinem Bruder. Das habe ich immer weiter gedacht, und das dominiert mein Leben und nicht etwa die Orange. Vielleicht werden Menschen grundsätzlich mit der Lust auf freundliche Beziehungen geboren, mit der Lust von anderen beherrscht zu werden, wird garantiert niemand geboren. Niemand ist als Sklave auf die Welt gekommen, wir sind geboren, um frei zu sein.“


Du bist eine wunderschöne Frau

War ich verrückt? Was erzählte ich nur diesem völlig fremden Gerry? Warum konnte ich denn seine Absicht, in die Wirtschaft gehen zu wollen, nicht kom­mentarlos akzeptieren und so stehen lassen? War ich von einem missionari­schen Eifer beseelt, diesen mir wildfremden Menschen über unsere tatsächli­chen Herrschaftsverhältnisse aufklären zu müssen? Das passierte mir doch sonst auch nicht. Gestörtes Sozialverhalten, Beziehungen zu anderen Men­schen nicht richtig einschätzen zu können, war mir eigentlich fremd. Hatte es sich mit diesem Gerry nicht von Anfang an sonderbar entwickelt. Meine Nach­barin kannte ich ja schon seit meiner Kindheit, aber da blieb es immer nur beim zwar freundlichen, aber distanzierten Smalltalk. Ein Bedürfnis nach freundschaftlichen Beziehungen, kam nie auf. Im Gegenteil, ich dachte: „Hof­fentlich lädt sie dich nicht zu einem Kaffee ein.“. Ich wollte von ihr nichts, sie war mir fremd. Und dieser Gerry? Ich wollte von ihm doch auch nichts, wusste überhaupt nichts von ihm, hatte mich aber direkt von ihm zum Kaffee einladen lassen. Diese übliche Distanz gegenüber Fremden, die sich im Gespräch viel­leicht verringern lässt, schien von Anfang an nicht zu existieren. Er musste in mir beim ersten Wortwechsel positive Assoziationen ausgelöst haben. Aber warum? Das wusste offensichtlich nur mein Bauch. „Die Menschen sollten sich gegenseitig helfen und nicht die Stärkeren die Arbeitskraft der Schwächeren ausnutzen, um sich selbst zu bereichern. Siehst du es so?“ fragte Gerry nach. Ich wollte da wieder raus, wollte nicht mit diesem fremden Mann meine per­sönlichen Ansichten und Einstellungen diskutieren. „Wäre doch nicht schlecht, oder?“ meinte ich lapidar. „Lendice,“ begann Gerry. Das mochte ich eigentlich gar nicht, aber für Gerry schien es wohl zu symbolisieren, dass er ernst, etwas für ihn Wichtiges sagen wollte, „das wollen doch alle Menschen, glücklich sein. In der amerikanischen Verfassung ist das Streben nach Glück sogar als unver­äußerliches Naturrecht garantiert. Wie unterschiedlich auch die Vorstellungen darüber sein mögen, aber dass dazu die Freiheit gehört, ist seit der französi­schen Revolution in jeder Verfassung so verankert. Dass es trotzdem diese Herrschaftsverhältnisse gibt, wie du sie siehst, kann ich wohl nicht bestreiten, nur das ist immer und überall so gewesen, und wird auch in Zukunft immer so bleiben. Wie du es dir vorstellst, das sind Träume, die sich in der gesellschaftlichen Praxis aber nicht realisieren lassen.“ Sollte ich nicht einfach Schluss machen? Diesem fremden Mann seine Ansichten so unkommentiert lassen? Wozu sollte ich mit ihm weiter diskutieren? „Gerry, das ist nicht richtig und nicht wahr, was du sagst. Ich könnte dir dazu einiges erklären, aber ich habe keine Lust.“ bekundete ich direkt. Gerry lachte. „Lenny, was ist los? Ich bin dir zu bieder und zu banal nicht wahr? An erforderlichem Selbstbewusstsein mangelt es mir, glaube ich, nicht. Ich meine schon einiges zu wissen und zu können, ganz echt und nicht, weil ich mir die allgemeine Arroganz der Juristen zugelegt hätte. Im ökonomischen Bereich kenne ich mich auch noch ein wenig aus. Nur das bezieht sich alles auf meinen Beruf. In allem anderen weiß ich im Grunde nicht mehr, als ich von der Schule kenne und was man so hört. In unserem Gespräch tauchte der Anflug einer Vermutung auf, dass ich in vielen anderen Bereichen sehr einfach gestrickt sein könnte. In Jura kenne ich meine Schwächen und ich weiß, was mir fehlt. Für mein Leben allgemein, kann ich aber überhaupt nicht erkennen, wo mir was fehlen könnte.“ Was meine Gefühle sagten, konnte ich gar nicht interpretieren und mein Bewusstsein brachte alles noch mehr durcheinander. „Nein, nein, Gerry, darum geht es nicht. Ich halte dich nicht für einen dummen Jungen, nur wer bist du? Wenn du mein Cousin wärst, würde ich mir gerne die Zeit nehmen, mich mit dir zu unterhalten, aber wir beide haben doch nichts miteinander zu tun.“ erklärte ich. „Ist das wirklich so? Verwandt sind wir beide nicht, da hast du schon Recht, aber haben wir in dieser kurzen Zeit gegenseitig nicht viel Persönliches von uns erfahren? Also ich möchte den Kontakt lieber nicht verlieren, würde mich gern nochmal weiter mit dir unterhalten. Ich finde du bist ...“ da stockte Gerry und lachte, „du bist eine äußerst interessante Person.“ fuhr er fort. „Gerry, wer sagt denn so etwas? „Du bist eine interessante Person“? „Du bist eine wunderschöne Frau.“ hätte ich erwartet. Aber das wolltest du eigentlich auch sagen, nicht wahr?“ kritisierte ich. Jetzt bekam sich Gerry gar nicht wieder ein vor Lachen. „Du bist eine wundervolle, nicht nur wunderschöne Frau. Es tut gut, mit dir zusammen zu sein. Ich kenne niemanden, der so ist wie du, du bist einzig.“ erklärte Gerry. Was wollte er denn jetzt sagen? Am besten überhörte ich es. „Da magst du schon Recht haben. Eine Kopie von mir gibt es auch nicht. Für einzig halte ich dich auch. Sollen wir beiden Einzigartigen uns nicht lieber vorm Einkaufen zu einem Kaffee treffen, sonst wird die Milch noch sauer und der Saft beginnt zu gären, wenn wir sie erst im Café erwärmen?“ schlug ich vor. „Und wann wirst du wieder Orangen brauchen?“ erkundigte sich Gerry. „Nächste Woche zur gleichen Zeit, Freitags fünfzehn Uhr dreißig das kommt mir prinzipiell gut aus.“ antwortete ich.


Nein, Gerry sollte nicht sterben

Erstaunt und verwirrt schmunzelnd saß ich bei der Heimfahrt im Auto. „Je ne sais rien. Je ne comprends pas.“ Ich weiß und verstehe nichts. Dass ich Kon­takt mit mir bislang nicht bekannten Menschen aufnahm, war doch nichts Un­gewöhnliches, aber so, wie mit Gerry, hatte sich das noch niemals zugetragen. Ob es an dem Orangenszenario lag? Aber Gerry fehlte nicht nur jene Arroganz, die meint, nur Juristen könnten die Geschehnisse der Welt richtig erkennen, erklären und beurteilen, ihm fehlte auch jeder Hauch von überheblichem Gehabe, der gemeinhin der Männerrolle immanent ist. War er gar kein 'richtiger' Mann? Mein Bruder war kein Mann. Wenn wir uns trafen, zeigte sich wie überflüssig die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen von Mann und Frau sind. Wir empfanden uns gegenseitig schlicht als reine Menschen. So war das bei Gerry nicht. Ein Mann war er schon, wenn auch eher ein in die Jahre gekommener großer Junge. Nein, Probleme mit Männern hatte ich nicht. Zum Problem wird es ja erst, wenn du Leidensdruck empfindest. Ich litt nicht. Ich hätte nichts dagegen, es könnte sicher wundervoll sein, einen geliebten Freund zu haben, nur drängte mich kein krampfhaftes Verlangen danach. Dass eine Frau erst mit Mann komplett ist, mochten zwar viele draußen immer noch so empfinden, aber ich war mit Sicherheit nicht die einzige, die das für absolut frauenfeindlichen Stuss hielt. Dass ich keinen Partner hatte, lag wahrscheinlich auch mit an meiner Persönlichkeit. Von klein auf hatte ich immer meine eigenen Ansichten vertreten, war dafür nicht selten ausgelacht und beschimpft worden, aber ich war mir immer sicher, dass ich im Recht war. Schon in der Grundschule entsprachen meine Ansichten häufig nicht dem, wie alle es so sahen, und was man allgemein so meinte. Einen großen Freundeskreis hatte ich daher nie. Probleme im sozialen Bereich kannte ich jedoch nicht, für nett und freundlich hielt man mich schon, aber ich war eben irgendwie anders. Ob ich das heute auch noch bin? Ich weiß es nicht. Als linke Professorin gelte ich an der Uni, aber das ist ja nichts Ungewöhnliches, und ich kann auch alle möglichen Themen anbieten, aber dass ich mich als Anarchistin verstehe, wissen nur Bea und Pat, meine Freundinnen. Ungeheuerlich ist es eigentlich, was soll am Engagement für Herrschaftslosigkeit unter den Menschen böse und verwerflich sein? Aber bei dem Wort Anarchismus sehen die Augen nur Gewalt und Attentate. Du musst zum 'Schwarzen Block' gehören und Arm in Arm mit dem Unabomber durch die Welt gehen. Es gibt nichts, was die Menschen so lieben, wie sich von horriblen Vorurteilen in die Irre führen zu lassen. Wenn du sagst, dass du Anarchistin bist, kannst du über Herrschaftslosigkeit nicht mehr reden. Es gibt und gab vielfältige Vorstellungen auf welchem Weg man dem Ziel der Freiheit von Herrschaft näher kommen könne, selbstverständlich auch mit Gewalt verbundene, aber ich und viele andere lehnen Gewalt ab und halten es für widersprüchlich. Das spielt aber keine Rolle, aus dem 'Schwarzen Block' lässt man dich nicht raus. Mein Bruder und ich, wir haben uns immer geliebt. Unsere Herzen tanzen, wenn wir zusammen kommen. Bei Pat und Bea, Liebe ist das auch bestimmt. Es zündet in dir ein Licht an, die andere zu sehen. Bei Männern, die ich näher kennengelernt und ganz in Ordnung gefunden hatte, war allerdings niemals ein Licht angegangen, noch nicht mal ein bisschen warm war es geworden. In früheren Zeiten war das ja auch gar nicht erforderlich. Da handelten die Eltern es aus. Aber mir wäre es heute doch schon wichtig, emotional etwas empfinden zu können. Selbst wenn man es für so flüchtig und unbeständig hielt. Gerry? Unsinn, was hatte Gerry damit zu tun? Ein amüsantes Zwischenspiel am Freitagnachmittag war es, sonst nichts. Aber ich würde ihn ja nochmal treffen. Warum hatte ich da nur zugestimmt? Ich war damit gar nicht einverstanden, mein Bauch hatte entschieden, dass es mir gefallen würde, mich erneut mit Gerry zu unterhalten. Ungewöhnlich war er ja schon trotz seiner biederen, unbedarften Ansichten. Ich würde ihm raten, er solle mal mein Seminar über 'Luddismus und Neo-Luddismus' besuchen. „So we, boys, we will die fighting, or live free.“ hatte Lord Byron zu den Luddisten gesagt. Gestorben sind sie, weil die englische Polizei sie brutal bekämpft hat. Gerry brauchte ja nicht für die Freiheit kämpfend zu sterben, aber er könnte mal erfahren, was sie den Menschen bedeutet und immer bedeutet hat. Nein, Gerry sollte nicht sterben. Gerry war ein lieber Junge. Ich mochte ihn schon.


Was Hexen alles so zu eigen ist

Gerry stand auf als ich zu seinem Platz im Café kam. Wir standen uns gegen­über, lächelten uns breit grinsend an, hätten uns die Hand geben sollen, aber wie selbstverständlich begrüßten wir uns französisch. Ob wir doch schon ver­traute, gute Bekannte waren? Ja, bestimmt, denn übliches Smalltalkgewäsch wäre mir peinlich gewesen. Ich musste ihm etwas Persönliches sagen. „Konnte ich dich überzeugen? Wirst du heute auch Orangen kaufen?“ fragte ich Gerry. „Du meinst, es sei eine Sache der Überzeugung, ob ich den Geschmack von Orangen liebe.“ Gerry darauf. „Ja, natürlich, es geht doch darum, ob meine Darstellungen für dich so überzeugend waren, dass sie in dir ein Verlangen ge­weckt haben, doch unbedingt den Saft frisch gepresster Orangen selbst mal probieren zu müssen.“ wusste ich. „Aber ich habe ja gar keine Orangenpresse.“ bemängelte Gerry. „Das geht auch mit der Hand, mit einer normalen Zitrus­presse, dauert nur ein wenig länger.“ machte ich ihm klar. „Die habe ich doch auch nicht.“ lautete Gerrys Reaktion. „Wie, keine Zitronenpresse, was ist das denn für ein Haushalt. Was sagt denn deine Frau oder Freundin dazu?“ wollte ich erstaunt wissen. Gerry verzog seine Lippen, nein ein Lächeln war das nicht, aber er schwieg. Ich ebenso, er würde reden, da war ich sicher. Nur Gerry sprach nicht. Wir blickten uns in die Augen, zum ersten mal so richtig tief, es gefiel mir. Ob ich etwas von seiner Seele gesehen habe? Das glaube ich kaum, aber sehr direkt persönlich war es schon. Wir lächelten, als ob wir uns verste­hen würden, aber ich wusste ja nichts. „Lenny, ich möchte da gar nicht drüber reden.“ sagte Gerry schließlich. Ich hätte ja auch nicht weiter nachgefragt, nur ein Bestätigung vermutendes: „Schwere Enttäuschung erlebt?“ konnte ich mir nicht verkneifen. Wieder eine Pause. „Wir haben ja nichts miteinander zu tun, warum soll ich es dir nicht erzählen. Lenny, ich kann das einfach nicht. Bei mir klappt es nie. Ich bin einfach zu blöd, mache glaube ich immer alles falsch.“ erklärte Gerry dann. Jetzt verstand ich ihn wieder nicht. Das konnte doch gar nicht sein. Er war doch ein eloquenter, netter und sicherlich sozial kompatibler Mensch. „Weißt du denn genau, was du falsch machst, und wie man es eigent­lich richtig machen müsste?“ wollte ich von ihm wissen. Gerry lachte. „Ich stel­le mich einfach zu blöd an. Ich weiß gar nicht, was richtig oder falsch wäre, aber was ich tue ist immer falsch.“ erklärte er. „Da sieht's aber schlecht aus für dich mit der Wirtschaft, wenn du im Geschäft mit der Liebe schon immer das Falsche tust.“ reagierte ich. Gerrys Mimik verdeutlichte, dass er nicht verstand. „Gerry, du bist doch Jurist, aber bei deinen Schlussfolgerunen und Beweisfüh­rungen muss ich mich doch sehr wundern. „Weil es immer so war, wird es auch so bleiben.“ Nichts ist so, weil es immer so war. Alles ist so, weil es jetzt han­delnde Menschen so machen. Sie könnten es auch anders machen, dann wäre es nicht so, wie es jetzt ist. Alle können das mit der Liebe, alle wissen, wie man das so macht, und dann kann es ja nicht falsch sein. Du würdest es auch gern wissen, wie man das so macht. Aber es wird wohl nicht so sein, wie es alle machen, wenn du es immer falsch machst. Gerry, wie denkst du? Nichts ist richtig, weil alle es so machen. Ob etwas richtig ist, ist eine Bewertung, deine Bewertung, und wenn du morgen andere Kriterien für vorrangig hältst, wirst du es anders bewerten. Mit der Allgemeinheit hat das nichts zu tun. Niemand kann dir sagen, ob du in der Liebe etwas falsch oder richtig machst. Es sind deine richtigen Entscheidungen, die auf deinem Empfinden basieren.“ verdeutlichte ich ihm. Gerry sinnierte: „Ich glaube, ich habe dich verstanden und denke, das sollte ich auch so sehen, nur welche Konsequenzen sich daraus für mein Handeln ergeben, kann ich noch nicht erkennen.“ „Jemand hat mal gesagt, man solle alles so tun, als ob es das Einzige auf der Welt sei, was zähle, gleichzeitig aber wissen, dass es völlig gleichgültig sei. Das sehe ich nicht so. Bei Märchen weißt du, dass die Geschichte nicht die Wirklichkeit beschreibt. In einer Traumwelt spielt sie sich ab. Die ist vielleicht auch interessant, aber entscheidend ist der dahinter liegende Sinn. Wenn dir jemand vom Dschungel oder von Wüsten erzählt, spricht er von deiner Welt, die dir dort zeigt, dass du nicht gebraucht wirst, dass deine Welt ohne dich, ohne Menschen existieren kann. Als ich Island besuchte, meinte ich, die Kräfte der Natur zu erkennen, wie sie meine Erde schafften und mit ihr umgingen. Wüsten, Dschungel und Meere waren da auch nur spielerische Accessoires, die nicht gebraucht wurden. Und ich selbst? Ein Sandkörnchen? Viel zu viel, ein leichter Hauch vielleicht, der schnell verweht. Wie ein Nichts kommst du dir vor, aber in dir trägst du die Fähigkeit, das Einzige zu tun, was auf der Welt zählt. Geologische Kräfte, die Mächte der Meere und die Gewalten des Dschungels können es nicht hervorbringen. Du kannst einem anderen Menschen Liebe schenken und seine Liebe empfangen. Etwas Größeres und Gewaltigeres hat diese Welt den Menschen nicht zu bieten, auch wenn sie dir klar zu machen versucht, dass du ihr völlig gleichgültig seist. Nur darum geht es, Gerry. Ob du eine Freundin hast, wie sie es alle haben, ist so platt und banal, solche Gedanken sollten für dich unwürdig sein.“ meinte ich zu seinen Handlungsperspektiven. Gerry dachte nach, aber mit wohlwollender Mimik, als ob ihn seine Gedanken erfreuten. „Du bist eine Nonkonformistin, nicht wahr?“ schlussfolgerte er dann. Ich platzte los. „Ja, ja, so kann man es vielleicht ausdrücken. Entschuldige mein Lachen, Gerry. Aber ich bin noch viel mehr Böses, eine Feministin, eine Widerspenstige und vieles mehr, was Hexen alles so zu eigen ist.“ antwortete ich lachend. „Es ist wundervoll mit dir, Lenny. Dein Mann oder dein Freund muss der glücklichste Mensch der Welt sein.“ kommentierte Gerry. Nein, darüber würde ich aber nichts erzählen, das ging ihn nun wirklich nichts an. „So wird es sein.“ sagte ich nur und lachte. „Du willst es nicht erzählen, brauchst du ja auch nicht. Aber ich habe doch auch freimütig alles erzählt und habe dadurch bestimmt nichts verloren.“ reagierte Gerry. „Hach, Gerry, was soll das denn? Das ist doch nun wirklich meine absolute Privatsphäre.“ ich darauf. „Ist doch o. k., Lenny. Ich möchte keinesfalls, dass du das Gefühl hast, ich würde dich zu etwas drängen wollen.“ erklärte Gerry. Gerry mich zu etwas drängen, wie sollte das denn gehen? Dass er gern mehr wissen wollte, spürte ich schon, aber was interessierte ihn? Er mochte mich und wollte gern mehr von mir wissen. Und ich? Ob ich ihn mochte? Ja natürlich, meinem Cousin hätte ich solche Geschichten nicht erzählt. Dass ich Anarchistin war, dass zu erfahren, war Gerry noch nicht reif genug. Wie auch immer würde ich es ihm niemals erzählen, aber dass ich keinen festen Partner hatte, warum durfte er das nicht wissen. Bloß tiefere Diskussionen darüber würde es nicht geben. „Gerry, bei mir klappt es auch nicht. Ich bin wahrscheinlich auch zu doof dafür. Nur habe ich nicht die Vorstellung, dass ich alles falsch mache, sondern die Männer machen alles falsch. Du brauchst also keine Komplexe zu haben, wahrscheinlich machen die meisten Männer immer alles falsch.“ erklärte ich und wir lachten. „Nein, ich suche keinen Mann. Ich kann gut allein leben, und das mit der Liebe hat sich einfach noch nicht ergeben.“ fügte ich hinzu. „Du wirst sehr wählerisch sein, mit Recht. Daran, dass es nicht genügend Männer gibt, die dich gut leiden möchten, kann es doch nicht liegen. Ich, zum Beispiel, würde dich sofort heiraten.“ verkündete Gerry. Für einen ganz kurzen Moment war ich schockiert, wusste nicht was ich gehört hatte, dann platzte ich lachend los. Ernst konnte es jetzt nicht mehr werden. „Ich weiß zwar nicht, was allgemein vorher so geklärt und geregelt sein müsste, aber bist du nicht auch der Ansicht, dass es doch ein wenig sehr plötzlich ist für einen Heiratsantrag?“ wollte ich von Gerry wissen. Ich musste immer lachen beim Sprechen. „Quatsch, Lenny, ich will dich doch nicht heiraten. Ich meine nur, dass du ein guter Mensch bist. Und das spürt man doch sofort irgendwie.“ reagierte Gerry. „Ein guter Mensch, das bist du, Gerry. Dir macht es Freude, anderen zu helfen. Ich bin kein guter Mensch. Ich helfe niemandem. Na ja, schon auch, aber ich spende nichts zu Weihnachten und bei Katastrophen. Ich mag die guten Menschen nicht, ich halte sie für dumm, blöd und verlogen.“ war meine Ansicht. Gerry musste wieder überlegen und sagte dann: „Ich meine doch etwas anderes. Ob du den Armen gibst und spendest, daran habe ich gar nicht gedacht. So einfach als Mensch wirkst du total klasse auf mich. Wenn du jemandem nicht trauen kannst, wenn er verlogen und hinterhältig ist, dann hast du ein Gespür dafür, bei den ersten Worten, und du versuchst Distanz zu wahren. Bei dir war das absolute Gegenteil der Fall. Du wirktest direkt, ehrlich und offen. Beim ersten Kontakt spürst du, dass du der vertrauen könntest, und das fühlt sich gut an. Selbst bei meinen Freunden ist das nicht immer eindeutig so. Das sind die guten Menschen, in deren Gesellschaft man sich gut fühlt.“ erläuterte Gerry dazu. „Das hört sich schön an, Gerry. Du bist auch ein guter Mensch. Vielleicht erkennen sich gute Menschen untereinander, selbst beim Orangenauflesen.“ kommentierte ich.


Einkauf im Ambulatorium

Wir lächelten uns an. Jetzt verstanden wir uns aber wirklich. Bestimmt hätte Gerry mir gern einen Kuss gegeben. So widersprüchlich wie bei ihm alles war, das passte in meinem Kopf nicht zusammen. Bestimmt wusste er nicht, warum ich die Gutmenschen für dumm und verlogen hielt, aber ich würde es ihm nicht erklären, süß fand ich ihn auch so, zumal er mich ja heiraten wollte. „Müssten wir uns nicht mal allmählich aufmachen, wenn wir noch einkaufen wollen?“ meinte Gerry. „Ich werde mir doch Orangen kaufen. Eine Zitruspresse gibt es bestimmt in der Haushaltswarenabteilung.“ hatte Gerry sich entschlossen. „Und wenn nicht, wirst du sie nachher im Internet Online-Orangenpressen-Shop ordern.“ schlug ich vor. „'Wenn alle es tun, muss es doch gut sein.' wäre eine falsche Begründung, aber wenn du es tust, kann es doch nicht schlecht sein, dass ist aber ein triftiges Argument, oder?“ wollte Gerry sich lachend ver­gewissern. „Genauso ist es, Gerry, ich tue grundsätzlich nichts Schlechtes und Falsches, das wäre mir wesensfremd.“ bestätigte ich ihn. Ein wundersames Empfinden, gemeinsam nebeneinander durch die Gänge zu rollen. Wir schritten kommentierend und beratend zwischen den Regalen mit Kaffee, Käse und Ge­würzen als ob sie die Säulen eines Ambulatoriums bildeten. Ein völlig anderes Einkaufsgefühl, ein gemeinsamer Spaziergang, bei dem man auch mal das eine oder andere in den Einkaufswagen legte. Entscheidend waren aber die Ge­spräche, über das, was wir passierten. Wann war ich eigentlich zuletzt gemein­sam mit jemand anderem einkaufen, noch nie, glaube ich. Eine völlig andere Atmosphäre, das schnelle Zusammensuchen benötigter Waren kam gar nicht auf. Eine Unterhaltung, bei der Gerry erfuhr, dass ich mir nie Wurst kaufen würde und mir erklärt wurde, warum Gerry ausgerechnet dieses Olivenöl be­vorzugte. „Nächste Woche wieder gemeinsam einkaufen?“ fragte Gerry nur knapp. Oh, es folterte mich. Es war ja alles ganz nett gewesen, unsere Gesprä­che und auch das Einkaufen, aber ich wollte doch keinen regelmäßigen Date mit diesem Gerry. Es würde ihm sehr viel bedeuten, und unangenehm war es mir ja keineswegs. Ich war erst mal einverstanden, für die Zukunft, das würde ich mir noch überlegen müssen.


Bea

Gab es denn sonst etwas, das ich nicht verstehen konnte? Na klar, es ist immer eine Frage wie du Verstehen interpretierst. „Meinen Bruder verstehe ich abso­lut.“ würde ich sagen, und trotzdem bleibt er immer noch ein anderer, von dem ich niemals alles verstehen kann. Aber darum ging es doch bei Gerry gar nicht. Es war eher ein simples Theaterstück, in dem ich mitspielte aber nichts ver­stand, ein Märchen, von dem ich die Handlung erlebte, aber den dahinter lie­genden Sinn nicht erkennen konnte. Ein Kuriosum, es war nett gewesen, aber ergab keinen Sinn. Ich würde es beenden, und nicht noch weiter hinausschlep­pen. Als Bea mich besuchte, musste ich ihr natürlich erzählen, was mir zuge­stoßen war. Beim Zuhören zog sie einen breiten Grinsemund und ihre Augen lachten. „Hast dich verliebt, meine Teuerste.“ interpretierte sie es. „Ach, Bea, was redest du? So ein Unsinn. Ich habe mit Gerry nichts zu tun, rein gar nichts.“ wies ich ihre Vermutung zurück. „Du hast es nicht gesagt, aber wie du von ihm sprichst, musst du ihn schon sehr mögen.“ beharrte Bea. „Ja, ganz nett ist er schon. Das streite ich ja gar nicht ab, aber ich bitte dich, er ist ein 08/15 Mainstreamtyp. Worüber sollte ich mich denn da mit ihm unterhalten?“ entgegnete ich. Beas Grinsen hatte einen schelmisch, zweifelnden Beiklang. „Du hast doch gerade erzählt, ihr hättet schon zweimal länger miteinander ge­sprochen.“ Bea darauf. „Na ja, einfach so platt stimmt das auch nicht. Da ist schon etwas, was nicht zu dem Alltagsmenschen, der so denkt und handelt wie man es eben so tut, passt, aber trotzdem, auch wenn er ganz nett ist, hat das doch keine Perspektive.“ erklärte ich. Bea meinte: „Das weißt du doch auch, Lenny, dass Gefühle sich herzlich wenig um Perspektiven, rationale Begründungen und Gebote und Verbote kümmern. Halt mich weiter darüber auf dem Laufenden, wie es Gerry geht.“ Ziemlich frech die Hexe. Nein, nein, nein, von Gerry würde es in Zukunft nichts zu erzählen geben.


Ob ich mit Bea oder Patricia zusammen war, das machte schon ein anderes Ge­fühl, aber für beide galt, das ich eine wohlige Grundstimmung empfand, viel­leicht ein wenig so, wie du dich als Kind zu Hause in der Familie fühlst. Als er­wachsener, selbständiger Mensch brauchst du das alles nicht mehr, aber zu­sammen mit Bea oder Pat war ich zu Hause. Wenn mein Bruder und ich uns trafen, war es völlig anders, zu Hause war das nicht, auf dem Peak waren wir beide. Mit Bea oder Pat gab es in der Regel ernsthafte Gespräche, wenn wir aber selten mal alle drei zusammen kamen, war da auch von wohligem Zuhau­se nichts zu spüren. Es glich eher einem Hof für verrückte Hühner, ständig gab es etwas zu lachen, und das spielte sich jedes mal so ab. Formuliert hat es kei­ne, dass und warum es etwas ganz Besonderes wäre, wenn wir drei Hexen zu­sammen träfen. Aber spüren mussten wir es doch, und zwar jede von uns in ähnlicher weise.


Dazu reicht meine Zeit nicht

Und bei Gerry, was spürte ich da? Nein, zu Hause fühlte ich mich auf keinen Fall. Aber es war schon eine leicht freudige Grundstimmung. Als ob ich immer einen gewissen Kitzel spürte, auch wenn wir uns völlig ernsthaft unterhielten. Gerry machte so eine kleine Lust. Vielleicht könnte ich analysieren warum, aber es einfach zu erleben, war angenehmer. So war es heute nicht. Ich hatte mir lange hin und her überlegt, wie ich es ihm sagen sollte, und auch wann ich es ihm sagen würde. Ihm einfach zu erklären, dies sei das letzte mal gewesen, wenn er nach dem nächsten gemeinsamen Einkauf fragte, das war mir zu dumm und zu unhöflich. Ich erklärte es ihm gleich. „Es hat mir gut gefallen, Gerry, wie wir uns unterhalten haben und auch wie wir gemeinsam eingekauft haben. Na klar, Unsinniges gab's auch, aber das machte es ja nur lustig. Im Grunde haben wir doch sehr Ernsthaftes besprochen. Nur ist das alles wie eine zusätzliche l'art pour l'art Angelegenheit, es hat im Grunde keine Bedeutung für mich. Ich habe sehr viel zu tun, und deshalb kann ich mir das in Zukunft nicht mehr leisten.“ erklärte ich. Die Atmosphäre stimmte nicht. Es war nicht wie sonst zwischen uns. Ich hatte gelogen, und Gerry spürte es. Er schwieg und schaute mit einer nicht freundlichen, bedenklichen Mimik vor sich hin. Ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte. „Lenny, Lenny,“ stöhnte Gerry auf, „warum sagst du nicht, wie's wirklich ist?“ Ich holte tief Luft und erklärte: „Ich habe Angst, du könntest es vielleicht missverstehen. Schau mal, wenn wir uns jeden Freitag treffen, im Café diskutieren und gemeinsam einkaufen gehen, dann ist das nicht einfach ein Ritual, das wir jede Woche wiederholen. Wir sind nicht wie zwei Züge, die sich immer zum gleichen Zeitpunkt treffen. Wir sind Menschen, die kommunizieren, die sich untereinander austauschen, und da gibt es keinen festen Zustand. Wenn wir uns jede Woche freitags treffen, ist das keine Begebenheit, die wir nur immer wiederholen, sondern wir gestalten einen Prozess, der sich entwickelt. Wohin? Das wissen wir beide nicht. Ich möchte nur nicht blind in etwas hineinschlittern, von dem ich gar nicht weiß, was es bedeuten soll.“ Gerry dachte wieder lange nach, glauben würde er mir schon, aber freundliche Gesichtspunkte schien er dem, was ich gesagt hatte, nicht abgewinnen zu können. „Wenn du nicht möchtest, dass wir auch weiter­hin noch gemeinsam einkaufen gehen, werden wir das natürlich nicht tun. Ich bin auch voll mit deiner Ansicht einverstanden, dass es sich um einen Prozess kommunikativen Austausches handelt, aber wir sind doch selbst dabei. Wir können es doch sagen, wenn es Entwicklungen geben sollte, die uns nicht ge­fallen.“ meinte Gerry. „Das mag schon sein, aber ich möchte mich nicht so in­tensiv damit befassen. Dazu reicht meine Zeit nun wirklich nicht. Ich bin in der Tat sehr stark beschäftigt.“ erklärte ich. Es war Gerry wohl eindeutig klar, dass ich nicht mehr wollte. Normalerweise hätte er doch nachgefragt, womit ich denn beschäftigt sei, aber heute wollte er es nicht wissen. Gar nichts wollte er wissen. Es kam überhaupt kein Gespräch auf. Was sollte man auch sagen? Zwanghaft irgendein Thema anschneiden wäre wie reden übers Wetter gewe­sen. Wir gingen zwar gemeinsam einkaufen, aber ehe wie ein Ehepaar, das sich gestritten hatte und nur das Notwendigste miteinander redete. Furchtbar die­ser Gerry. Was machte denn diese Stimmung? Waren wir traurig, enttäuscht? Waren wir mit Unheilvollem konfrontiert worden? Glücklich machte es mich ja auch nicht, obwohl ich doch hätte froh sein müssen, es geschafft zu haben.


Idiotische Teenyträume

Bea sagte nichts, ihre Mimik teilte jedoch nicht meinen Stolz, mit dem ich ihr kühn berichtete, dass sie jetzt von Gerry nichts mehr hören werde. In ein paar Tagen würde ich es vergessen haben, ich hatte nämlich zur Zeit wirklich viel zu tun. Vergessen? Was wollte ich denn vergessen? Was war da denn gewesen? Mich quälte Sabrinas Dissertation. Wie oft hatte ich mit ihr gesprochen? Warum musste ausgerechnet sie ihre Wissenschaftlichkeit unter Beweis stellen wollen. Es hatte ihr doch nicht verborgen bleiben können, welche Schwierigkeiten es ihr bereitete. Ich bin doch ein Gutmensch, bei armen Mädchen, Quatsch, Frau­en natürlich, habe ich immer Mitleid, nur ich helfe ihnen dadurch gar nicht. Sa­brina spielte immer, als ob sie alles verstehen würde, dabei verstand sie nichts. Sie verbaute sich selbst den Weg. Sabrina war quer, nicht zur herrschenden Meinung, sondern zu sich selbst, bei ihr harmonierte nichts. Da war Gerry total anders. Er konnte offen seine Ansicht darlegen und war froh, wenn man ihn korrigierte. War das nicht auch ein Zeichen für einen guten Menschen. Wenn er auch nicht selten diese Mainstreamaufassungen kundtat, Brüche waren bei ihm nicht auszumachen. Ein harmonischer Mensch war er bestimmt. Die Brüche existierten in meinem Kopf, weil ich es nicht ertragen konnte, dass ein so net­ter, liebevoller, verständiger Mensch diese biederen, trivialen Ansichten von sich gab. Womit du dich am intensivsten beschäftigt hast, das lässt dich auch im Folgenden nicht sofort los. Ich hatte fast den ganzen Nachmittag Sabrinas Dissertation gelesen. Mein Bauch war auch beteiligt, ich musste mich dabei vor Magenkrämpfen hüten. Eine Sendung im arte TV wollte ich mir anschauen, konnte mich aber gar nicht konzentrieren. Nicht weil ich immer an Sabrina denken musste, es ließ mich nicht in Ruhe, wie es Gerry wohl ging. Einfach sa­gen: „Na, dann ist es eben so.“, das konnte er mit Sicherheit nicht. Auch wenn nichts in der Richtung denkbar und niemals ein Wort dazu gesagt worden war, aber dass er mich sehr gut leiden mochte, dessen bin ich mir absolut sicher. Was er zu mir gesagt hatte, weshalb mich jeder eigentlich sofort heiraten müsste, da beschrieb er sich selbst, oder zumindest sein Wunschselbstbild. Menschlich gesehen war er schon absolut klasse und unter den mir bekannten Männern eine Ausnahme. Aber wie konnte das nur sein, wenn er in anderen Bereichen die simpelsten Klischees übernahm, warum dann nicht bei den gängigen Rollenerwartungen für Männer. Ob er vielleicht fromm war und alles aus religiöser Perspektive sah. Nein, nein, das konnte nicht sein, dann hätte vieles anders klingen müssen. Wieso dachte ich überhaupt über diesen Gerry nach. Ich hätte ihn ja alles fragen können und mit Sicherheit ehrliche Antworten bekommen, aber ich wollte ja nichts mehr mit ihm zu tun haben. Ich war jeden Tag in ernsthafte und wichtige Diskussionen und Debatten vertieft, musste meine Veranstaltungen halten, unser Projekt betreuen und natürlich lesen, lesen, lesen. Nur abends, wenn ich mich entspannen wollte oder im Bett mein neues Buch las, kam immer irgendwann eine Assoziation zu Gerry. Wenn da stand: „Frau Ziegler lachte als Gerd sie ansprach.“ hörte ich Gerry lachen. So wundervoll würde Frau Ziegler gewiss nicht lachen können. Ich war verrückt. Was sollte das? Sahen so meine Wolkenkuckucksheimbilder von einem Mann aus? Ich dachte, ich hätte so etwas gar nicht, könnte mir so etwas gar nicht ausmalen. Geträumt hatte ich jedenfalls noch nie von einem Mann. Aber ich bin mir auch nicht sicher, irgendwelche typisch männlichen Attitüden tauchten in meinen Vorstellungen von Gerry ja gar nicht auf. Seine Persönlichkeit, das Menschliche an ihm, sein Charakter, wenn man so will, war es, was mich immer wieder an ihn denken ließ. Nein, Gerry war ganz anders als mein Bruder, aber wenn es Rankinglisten für Menschlichkeit gäbe, würden mein Bruder und Gerry sie anführen, auch wenn Gerry irgendeinen Stuss erzählte, den er gestern in der Bildzeitung gelesen haben könnte. Ich wollte das nicht mehr, es verflachte ja auch nicht von selbst. Meine idiotischen Teenyträume wurden eher umfänglicher und intensiver. Woran konnte dieser Schwachsinn nur liegen. Wo fehlte mir denn was, das ich offensichtlich in Verbindung mit Gerry empfinden musste. Wie konnten sich meine Gedanken nur so kindischem Verhalten zuwenden? Dass Gerry mir Zuneigung und Anerkennung geschenkt hatte, die mir sonst fehlten? Dass er der einzige war, der mich wirklich verstand? Lass mich noch mehr so verrückte Gründe finden, dann kann ich wenigstens lachen. Jetzt musste ich es mir doch mal vorsagen, ich war eine gestandene, erwachsene, gebildete und arrivierte Frau, die mit diesem Kinderkram, dieser Schwärmerei für einen wildfremden Mann nichts zu tun haben will. Aber auch der coolsten Madame wird es wahrscheinlich nicht schlecht in den Ohren klingen, wenn ihr jemand sagt, sie sei einzig und ihr Mann müsste der glücklichste Mensch der Welt sein, selbst wenn es Gerry war, der es sagte. Trotzdem wollte ich diese Gedanken an Gerry los werden und wusste nicht wie. Es war ja auch pervers, ich kam doch immer darauf, weil es mir gefiel in diesem Moment an Gerry zu denken, obwohl es mich andererseits quälte. Wenn sich das nicht besserte, würde ich noch irgendwann zum Therapeuten müssen. Welche verschlungenen Wege und verdrängten Sehnsüchte meines Unbewussten dann wohl ans Tageslicht kämen. Mir etwas bewusst vorzustellen, was Gerry eventuell in mir ansprechen könnte, dazu fiel mir nichts ein. Dass meine Libido auf den Mann Gerry scharf war, konnte es wohl kaum sein. Gern hätte ich Träume gehabt, nur bei Dirk und Emo hielten sich meine Traumwelten absolut verschlossen. „Dann ist es eben so.“ hatte ich kapitulierend für mich beschlossen. Ich hatte jetzt den zusätzlichen Spleen, öfter mal von einem lieben Menschen zu träumen. Gerry lag sogar neben mir im Bett, aber doch nur reden, was denn sonst?


Entzugssymptome

Semesterferien, nach meinem Schockerlebnis vom letzten mal, blieb ich jetzt lieber zu Hause. Ich traute mir nicht. Auf welche verrückten Ideen ich diesmal wohl kommen würde. Wundervolle, interessante und informative Literatur zu Indien würde es geben. Auf Sudhir Kakars „Die Seele der anderen“ war ich schon gespannt neugierig. Schließlich wurde auch die Liebe bei ihm nicht ver­gessen. Auf einmal interessierte mich so etwas. Ich hatte mich schon mehrfach mit Bedingungen das Zusammenlebens von Frauen und Männern befasst, nur stellte es sich mir jetzt nicht viel anders dar, als ob ich über die Organisation von Fahrplänen gearbeitet hätte. Ich sah nicht plötzlich alles neu, nur es hatte sich bei mir ein anderes Feeling entwickelt, mein Blick hatte sich erweitert, er sah und spürte etwas, das ihm bislang verborgen geblieben war. Für einen großen Urlaub hatte ich sowieso keine Zeit. Es war noch sehr viel nachzuberei­ten, und die Planungen für's nächste Semester befanden sich erst in der Grün­dungsphase. Außerdem wollte ich über unser Projekt ein Buch veröffentlichen. Freizeit gab es ich nicht mehr als im Semester auch, nur konnte ich jetzt ein wenig flexibler disponieren. Ich hatte die Milch genommen und mich nach dem Jogurt gebückt. Gerry war es, der vor mir stand, als ich mich aufrichtete. Die Milch flog in den Wagen. Ein kurzer intensiver Blick und wir fielen uns um den Hals. Keine Begrüßung mit flüchtigen Küsschen, wir legten unsere Wangen an­einander. Linke Wange an rechte Wange, dann wurde gewechselt und nochmal wie vorher. Warum sollten wir uns irgendwann wieder lösen? Sieben Jahre ver­schollen gewesen, im Arbeitslager in Sibirien, obwohl wir doch die ganze Zeit im gleichen Stadtteil gelebt hatten, und ich mich schon gewundert hatte, warum ich Gerry nicht mal träfe. Zwischendurch haben wir uns immer kurz an­gestarrt, gelächelt und wieder unsere Wangen aneinander gelegt. Worte waren dazu absolut überflüssig. Dass sowohl Gerry als auch ich Entzugserscheinun­gen gehabt hatten, war doch evident. Berührt hatten wir uns vorher außer dem formalen Begrüßungsküsschen ja noch nie. „Café?“ fragte Gerry nur. Er wollte es wohl nicht durch lange Reden hinauszögern. Wir hätten uns doch jede Wo­che treffen können, aber jetzt machte es ein Gefühl, als ob es uns endlich ge­lungen sei, obwohl man es uns über Jahre trotz brennender Sehnsucht verbo­ten hätte. Wir saßen gegenüber, sahen gegenseitig unsere Mimik leuchten und freuten uns einfach nur. Gerry konnte wie ein Kind lachen, und ich konnte mich wie ein Kind freuen. Einer taffen, routinierten, gebildeten Frau, für die ich mich schon hielt, konnte so etwas doch alles nicht passieren. Als überheblich und di­stanziert sah ich mich nicht, na ja distanziert vielleicht doch schon mal, aber so? Ein Spielchen war es gewesen um die Orangen und Gerrys Ansichten und jetzt? Dass es bei mir zur Leidenschaft geworden war, passte gar nicht in mei­ne Vorstellungen von mir selbst. Was für eine Leidenschaft war es denn über­haupt? Was wollte ich denn, was sollte denn geschehen? Ich musste nur immer an Gerry denken, und jetzt freute ich mich wie eine Schneekönigin, ihn wieder­zusehen.


Labialen Kontaktaufnahme

„Ich bin natürlich, wie du wahrscheinlich auch, außerordentlich glücklich, dass wir uns begegnet sind. Sehr oft habe ich an dich gedacht und auch viel nach­gedacht. Du siehst sehr gut aus, zumindest finde ich deine Gesichtszüge wun­dervoll. Das Aussehen ruft ja auch Assoziationen in dir wach, mit denen du aber völlig daneben liegen kannst. Ich habe mich gefragt, ob dein Aussehen nicht in mir übertriebene Vorstellungen geweckt hat, die eher meinem Wunsch­bild entsprachen. Aber es ist ja nicht nur das Aussehen, was du sagst, und wie du sprichst, bewerte ich ja ebenso nach meinen Bildern und Mustern. Ich den­ke, dass du vielleicht viel gewöhnlicher bist, als ich es mir nach meinen Ein­drücken und Interpretationen gewünscht habe.“ erklärte Gerry. „Also doch kei­ne Madonna, sondern eine ganz normale Frau. Das ist auch gut so, Gerry, für dich selbst und für mich ebenso.“ kommentierte ich. „Nein, es geht schon um Ernsthafteres. Du wolltest nicht in die Entwicklung eines gegenseitigen Austau­sches hineinschlittern. Wohin führt es denn, wenn der gegenseitige Austausch sich entwickelt. Die Beziehung verändert sich, das weiß du doch auch, und das wolltest du auf keinen Fall. Dass ich ein netter Mann bin, das kann man leicht sagen, aber zu mehr darf es nicht kommen, dafür bin ich dir nicht gut genug. Lendice, jeder kann mich einen Idioten schimpfen, behaupten, dass ich nichts tauge, mich aus Leibeskräften desavouieren, dass wird mich alles relativ kalt lassen, aber wenn du sagst, dass ich dir nicht gut genug bin, dann tut mir das sehr weh, außerordentlich weh.“ erklärte Gerry mit fast weinerlicher Stimme, und gewiss waren die Tränen seinen Augen nicht sehr fern. „Gerry, komm mal rüber zu mir. Setz dich neben mich. So ist das nicht, so ist das alles nicht.“ er­klärte ich, während sich Gerry neben mir auf die Couch setzte, ich seinen Kopf umschlang und ihn zu meiner Schulter zog. Den armen Gerry trösten, mütterli­che Gefühle, bestimmt kamen die jetzt auch noch. „Ich war mir sicher, so könnten sie vielleicht alle denken, aber nicht du. So hehre Worte kannst du über Liebe sagen, aber für dich selbst ist entscheidend, dass sie sich auch dei­nem Niveau adäquat abspielt.“ wusste Gerry noch zu beklagen. „Hör auf, Ger­ry! Ich kann es nicht hören, wenn du so einen Quatsch redest.“ fauchte ich ihn an. „Du hast schon Recht, ich befürchtete, dass es sich ins Amouröse entwi­ckeln könnte, und das wollte ich nicht. Grundsätzlich nicht, mit dir hatte das nichts zu tun. Ich habe auch mal daran gedacht, wie es sich denn wohl verhiel­te, wenn wir beide befreundet wären. Große Chancen für eine längere Dauer der Beziehung sah ich nicht. Gerry, unsere allgemeinen Bildungshorizonte sind doch total verschieden. Das weißt du auch und wirst es nicht abstreiten. Wie sollte das denn funktionieren? Es gäbe noch viele weitere Bedenken, die mit dir persönlich nichts zu tun haben. Ich brauche gar keinen Mann, wüsste gar nicht, warum ich einen haben sollte, und mit der Liebe, da weiß ich nur, wie das bei meinen Freundinnen und meinem Bruder ist. Ja, ja, sie befinden sich in mei­nem Herzen, wenn man so will. Was hätte denn ein fremder Mann darin zu su­chen? Also, da würde ich allenfalls einen superreichen, milliardenschweren Ty­coon mit umfänglicher Intellektualität und allerhöchstem Bildungsniveau rein­lassen. Gerry, 'du bist mir nicht gut genug', wie kannst du nur so einen Mist von mir vermuten? Ich musste auch oft an dich denken und habe mich natür­lich gefragt: „Warum?“ Nachgedacht habe ich über dich, mich gefragt ob etwas Besonderes an dir ist, dich mit anderen Männern verglichen, die ich kenne. An­ders bist du schon, nur bist du der, der mir von allen absolut am besten ge­fällt.“ erklärte ich. Gerry reckte seinen Kopf hoch. Direkt vor meinem befand sich sein Gesicht. Aufgefressen hätte der Mann mit diesem Blick mich am liebs­ten, ganz verspeist. Auf meine Unterlippe verwies ich mit dem Zeigefinger als möglichen Ort zur gegenseitigen, labialen Kontaktaufnahme. Bestimmt hatte ich rote Wänglein bekommen. Was hatten wir nur gemacht. Nein, wir schämten uns nicht, waren eher schelmisch stolz auf unseren kühnen Streich. Ganz zag­haft hatte es zwar begonnen, aber dann wurde aus dem fremden Mann, den ich heute wiedergetroffen hatte, mein Gerry, der jeden Abend zu mir kam. Gaga Land, der unbekannte Mann und die unbekannte Frau küssen sich, und sie ist so ergriffen, wie noch nie zuvor. „Was ist denn, Gerry? Sind wir jetzt ver­liebt?“ wollte ich wissen. Gerry wusste es auch nicht, meinte aber, dass ein Kuss nicht zwangsläufig Verliebtsein impliziere oder zur Folge habe. „Aber so? Dann hättest du mal nicht so leidenschaftlich sein sollen. Geht das denn über­haupt, dass ein Mann und eine Frau erklären, sie würden sich lieben, obwohl sie sich überhaupt nicht kennen? Du weißt von mir, dass ich gern frischen Orangensaft trinke und ich weiß von dir, dass du an deiner Dissertation schreibst. Sonst wissen wir nichts voneinander, absolut nix. Wir werden unser Bild lieben, das wir in den anderen hineinprojizieren.“ vermutete ich. „Das wür­de dann bedeuten, dass ich gar nicht dich, sondern mein Bild von dir geküsst hätte. Ich bin mir aber sicher, dass ich dich ganz persönlich selbst sehr intensiv gespürt habe.“ entgegnete Gerry. „Und wie hat die böse Frau geschmeckt, ge­nauso gut wie die Madonna?“ wollte ich wissen. „Ach, Lenny, das bist und warst du beides nicht. Allerdings, überhöht habe ich das Bild von dir schon und dabei meistens vergessen, dass du ja auch ein ganz normaler Mensch bist. Weißt du, wenn jemand dir allein durch seine Anwesenheit ein so gutes Gefühl bereiten kann, meinst du nicht auch, dass da etwas Göttliches im Spiel sein muss?“ erkundigte sich Gerry und lachte. „Absolut, das hast du total richtig ge­sehen. Du sagst zwar Lenny, aber du unterhältst dich mit Lakshmi, der indi­schen Göttin. Kennst du, nicht wahr? Die hat so viele Arme, weil sie sich um so viele Dinge kümmern muss, um das Glücks, die Liebe, die Gesundheit, die Schönheit

und noch einiges mehr. Ob ich mich auch um all das kümmern muss? Was meinst du? Ich muss mich noch um ganz andere Dinge kümmern, aber mit Ar­men kann ich da nicht viel anfangen, Köpfe brauchte ich dazu. Vielleicht bin ich doch eher Saraswati die Herrin über Künste und Wissenschaften, das würde besser zu mir passen. Aber am besten würde mir ja Māyā gefallen, sie ist die Weltenmutter und Göttin der Illusion. Kannst du in mir nicht auch etwas Müt­terliches erkennen? Ob es sich nicht um eine Illusion handelt, was wir erleben, fragen wir uns doch gewiss beide.“ klärte ich Gerry auf. Der wollte nur wissen, ob ich Hinduistin sei. „Nein, nein, ich brauche die Hilfe aller Göttinnen und Göt­ter dieser Welt, denn ich selbst kann nicht erkennen, wo ich mich befinde. Je­den Tag bei allem, was ich tue, meine ich überlegt und sinnvoll zu handeln, nur in unserer Begegnung, wo soll denn da der Sinn liegen? Trotzdem handele ich. „Keine Kontrolle über die Sinne zu haben, ist wie Segeln in einem steuerlosen Schiff, das zwangsläufig beim allerersten Kontakt mit einem Felsen in Stücke zerbricht.“ sagt Gandhi. Habe ich denn etwa Kontrolle über meine Sinne?“ zweifelte ich. „Kontrolle, das heißt doch Macht ausüben, sie in der Gewalt haben. Meinst du nicht auch, über sich selbst müsste es so etwas wie Herrschaft geben, auch wenn du sie sonst überall strickt ablehnst? Vielleicht bist du gar keine indische Göttin, sondern ein Maharadscha und das Fürstentum, das du beherrscht heißt Lenny, du selbst.“ schlug Gerry vor. „Wenn schon, dann Maharani. Aber ich würde mit Milde herrsche. Na ja, vielleicht kann bei dir selbst auch schon mal Strenge erforderlich sein.“ meinte ich dazu. „Aber bevor du deine Sinne wieder unter Kontrolle hast, Maharani von Lendice, kann ich dich schon mal beruhigen. Es ist Auroras Meer, das Meer der Morgensonne, auf dem wir segeln. Es ist glatte See, und Felsen gibt es dort nicht, aber woher der aufkommende Wind bläst, und in welche Richtung er uns treibt, das weiß niemand von uns beiden.“ klärte mich Gerry auf. „Bei Herrscherinnen und Herrschern existiert in der Regel ein starker Zwang, das Herrschaftsgebiet zu erweitern und den Machtbereich auszudehnen. Kannst du denn schon etwas davon spüren, dass die Maharani von Lendice versucht, ihre Herrschaftseinflüsse auch auf dich auszuüben?“ erkundigte ich mich. „Natürlich, aber es sind wundervolle Herrschaftsformen, wie wir sie uns für alle Menschen wünschen sollten. Die bestehenden Herrschaftsformen durch sie zu ersetzen, könnte unser Traum oder unsere Lebensaufgabe werden.“ schlug Gerry vor. Die Maharani von Lendice hatte aber bei weitem nicht alles unter Kontrolle.


Ernste Besprechung

„Gerry, meinst du nicht auch, wir müssten uns mal ernsthaft unterhalten? Aber vielleicht ist auch dort, wo im Kopf das Ernsthafte wohnt, nichts von unserem Treiben und was mit uns geschieht, vorhanden.“ zweifelte ich. „Ist das nicht ernsthaft, wie wir miteinander reden?“ meinte Gerry. „In gewisser weise si­cherlich, aber ich komme mir auch leicht high, ein bisschen übergeschnappt vor. Die Freude macht das nüchterne, rationale Überlegen schwer. Weißt du, ich möchte unbedingt ein wenig mehr verstehen, was mit mir geschieht. Was wir tun ist kurios, unverständlich und ergibt keinen Sinn. Das spielt aber über­haupt keine Rolle, es geschieht einfach mit mir. Ich kann mir doch meine Ge­danken nicht verbieten. Was soll ich denn machen, wenn du immer darin auf­tauchst?“ begründete ich. „Es wird einfach so sein, dass du deinen Traummann in mir erkennst.“ vermutete Gerry. „Dass ist doch Quatsch. Ich kenne über­haupt nichts von dir, und einen Traummann gibt es nicht. Ich träume nicht von Männern.“ erwiderte ich. „Wo und wann sollten wir uns zu einer ernsten Be­sprechung treffen? Was schlägst du vor? Hier im Café?“ wollte Gerry wissen. „Wir können uns schon am Freitag zu dieser Uhrzeit treffen, aber hier im Café fänd' ich nicht so gut.“ meinte ich und überlegte, welcher Raum denn wohl in Frage käme. „Ach, weißt du was, Gerry, komm doch einfach zu mir in meinen Ashram. Dann haben wir auch Kaffee, und wenn du Orangen mitbringst, kön­nen wir sie auspressen und ihren köstlichen Saft genießen.“ schlug ich vor. „Ashram, muss man da nicht immer Hare-Krishna singen? Warst du auch in Indien bei diesem Bhagwan?“ erkundigte sich Gerry. „Siehst du, hier kann man nicht ernsthaft reden, sonst würdest du nicht so einen Blödsinn quatschen. Ashram bedeutet „Ort der Anstrengung“. Im Hinduismus meint man damit, sich konzentrieren, meditieren, es ist ein Ort der Kontemplation. Das geschieht bei mir im Arbeitszimmer seltener, aber anstrengen muss ich mich da meistens schon und konzentrieren sowieso.“ erläuterte ich. Wir tauschten unsere Adressen und vorsichtshalber auch die Telefonnummern aus. „Ahlers, Lendice Ahlers steht auf dem Klingelschild, falls du es vergessen haben solltest. Demnächst werde ich es ändern. Ich muss es ja selbst auch wissen, dass in diesem Haus die Maharani von Lendice wohnt.“ erklärte ich. Gerry sagte nichts und schmunzelte nur. Und zum Abschied wieder die flüchtigen Wangenküsschen, wie üblich. Statt dieses Ritual zu vollziehen, stockten wir umarmt und blickten uns kurz fragend an. Offensichtlich gefiel es uns beiden anders, mit richtigem Kuss am besten.


War das nicht ein Anarchist?

Abends träumte ich dumme Gans vom Küssen. Natürlich hatten Emo und ich uns auch geküsst. Nur damals wäre ich sicherlich nicht auf die Idee gekom­men, davon zu träumen. Bestimmt gibt es unendlich viele Variationen beim Küssen, aber das Entscheidende ist, was dein Kopf damit macht. Das ist ein­deutig so. Die Leidenschaft liegt nicht an deinen Lippen, sondern in deinem Ge­hirn. Es fühlt sich nicht schlecht an für die Lippen, wenn er jemand ist, den du magst, aber wenn die dir selbst verborgene Sehnsucht, deinen abendlichen Teddybär küssen zu dürfen, in Erfüllung geht, spürst du den Kuss bis in die Ze­hen. Trotzdem konnte ich mir auf alles keinen Reim machen. Mein Bauch ließ mich handeln, wünschen und empfinden, wie es meine Vernunft für das mir bekannte Persönlichkeitsbild ablehnen müsste. Ich war nicht unüberlegt in et­was hineingeschlittert, es hatte sich einfach meiner bemächtigt, ohne dass ich den geringsten Einfluss darauf nehmen konnte. Gerry hatte eine ganze Tasche voll Orangen mitgebracht. „Du hast gesehen, ich habe extra noch ein Schild mit 'Maharani von Lendice', Herrscherin über sich selbst, angebracht. Da stand ja nur 'Ahlers', noch von meinen Eltern. Das wusste ich gar nicht mehr. So weiß die Postbotin auch Bescheid, wenn ich mal Post bekomme.“ erklärte ich. Gerry lachte. „Natürlich, aber wer wird dir denn schreiben? Du selbst, oder werden die Vasallen aus deinem Ego dich demnächst schriftlich per Post informieren. Also bei mir geschieht das noch mündlich oder by Air, da spart man die hohen Portokosten.“ berichtete Gerry. „Und wer ist es. von dem du deine Infos er­hältst? Der Herrscher von Gerry, der Maharadscha Gerry Conrads? Nein, ich vermute, es wird der Großmogul von Conrads, genannt 'Gerry' sein. Ist es so?“ stellte ich mir vor. Gerry schmunzelte nur beiläufig, denn seine Hauptbeschäfti­gung schien momentan im Staunen zu liegen. „Wissenschaftlerin bist du oder? Literaturkritikerin, dann hättest du auch so viele Bücher. Indien, schau mal da, alles Indien. Hast du beruflich mit Indien zu tun? Oder du warst doch mal Hin­duistin?“ wollte Gerry wissen. „Nein, mit Indien, dabei handelt es sich nur um einen Tick, vielleicht so ähnlich wie mit dem Orangensaft. Ich werd' es dir mal erzählen. Schau mal her.“ sagte ich und führte Gerry zu dem Bereich, wo sich die soziologische Literatur befand. Was fiel ihm ins Auge? „Kropotkin, Peter Kropotkin, war das nicht ein Anarchist?“ fragte er, weil das antike Buch nicht zu übersehen war. „Lies mal den Titel, es müsste für dich äußerst spannend sein. Er macht sich nämlich tiefere Gedanken über die gegenseitige Hilfe von Menschen. Er meint, dass gegenseitiges Helfen nicht nur den Menschen Freude macht, sondern dass es sich dabei um einen Faktor der Evolution handelt, genauso wie der von Darwin entwickelte 'Kampf ums Dasein'. Du musst es unbedingt lesen. Nur ausleihen kann ich es dir nicht. Ich traue mich selbst kaum, es anzufassen. Es ist mein antiquarisches Heiligtum, ein Geschenk meiner Eltern.“ erklärte ich. „'Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt' bekommt man das denn heute noch?“ erkundigte sich Gerry. „Mein Süßer, wo lebst du. Dass deine Universität eine Bibliothek hat, ist dir wahrscheinlich bislang verborgen geblieben, aber du kannst es auch bestimmt kaufen. Es ist sozusagen ein Standartwerk.“ 'des Anarchismus' ließ ich weg. Irgendwann würde er schon drauf kommen. „Mit unserem Zusammenleben befasst sich die ganze Literatur an dieser Wand. Alles zur Soziologie, ich bin Soziologin.“ erklärte ich. „Bei uns an der Uni?“ fragte Gerry. Ich nickte. „Als Professorin, oder was?“ erkundigte er sich weiter. „Ich hatte vermutet, du wärst eine höhere Businessfrau, aber geglaubt habe ich's doch nicht. Irgendwie passte das nicht.“ erklärte Gerry, und wollte sich möglichst gelassen zeigen. „Da passt Professorin schon besser, aber ganz stimmig ist das auch nicht.“ urteilte Gerry, was ich natürlich näher erklärt haben wollte.


Ich denke, also bin ich.

„Dass du eine gebildete, ernste, fleißige Frau in deinem Alltag bist, das habe ich mir schon gedacht, aber da ist auch etwas anderes, Du bist ...“ Gerry stockte. „Du musst es schon sagen, Gerry. Sag nicht wieder eine interessante Person. Das hört sich gar nicht gut an.“ ermahnte ich. „Wenn du etwas schmeckst, dann kannst du es auch beschreiben, aber der Zuhörer wird nie­mals deinen Geschmack empfinden. So ähnlich ist es bei dir auch. Ich kann gar nicht sagen so oder so bist du. Wenn du kommst, wenn du in meiner Welt auf­tauchst, dann geschieht etwas mit mir. Gab's da in der Bibel nicht auch so et­was? Wenn Jesus dazu kam, veränderten sich alle.“ bemühte sich Gerry zu er­läutern. „Da kann ich nur hoffen, dass es bei mir nicht anders ist. Wenn ich den Raum betrete, haben die Anwesenden gefälligst ihr sündiges, lasterhaftes Tagwerk sofort zu beenden.“ kommentierte ich. „Wenn wir zusammenkommen, werden die Pforten der Bereiche des Ernsthaften direkt verriegelt. Das kommt noch hinzu.“ meinte Gerry darauf. „Was redest du, Gerry, haben wir nicht schon über manches sehr ernsthaft gesprochen?“ widersprach ich, „Nur du willst mir offensichtlich nicht verraten, wer ich für dich bin.“ „Ich sag ja, es ist kein Bild, kein permanenter Zustand. Wenn wir uns treffen, geht für mich ein inneres Licht an. Alles erscheint mir leuchtender, ich fühle mich lebendiger, habe Lust, mich mit dir zu beschäftigen, mich mit dir auszutauschen. Ein wun­dervoll motivierender, beglückender Drang. So etwas kenne ich nicht und habe es noch nie erlebt.“ erläuterte Gerry. Ich war ganz erstaunt über mich. Als was könnte er mich denn sehen? Ob ich über etwas verfügte, von dem ich selbst nichts wusste? Ob mir doch magische Kräfte zur Verfügung standen, ich Māyās Tochter war und bei anderen Illusionen erzeugen konnte? Na, für trottelig und verschlafen hielt ich mich ja auch nicht, aber bei anderen das Leben erwecken, in ihnen ein Licht anzünden, diese Fähigkeiten kannte ich bislang von mir noch gar nicht. Ich glaube schon, dass Patricia mich gut leiden mag, aber so etwas wie Gerry würde sie bestimmt nicht empfinden. Vielleicht kennt sie mich doch noch nicht tief genug. Gerry sollte mich da besser kennen? „Ich bin gewiss die, die du in mir siehst, aber da muss auch etwas in dir sein, dass dich den Wunsch verspüren lässt, mich so zu sehen und so zu erleben, mich für so einzigartig zu halten. Eigentlich sagt man dazu, dass es Liebe ist, wenn man das für den anderen empfindet. Es würde dich selbst glücklich machen, wenn du mich glücklich machen könntest? Und Verlangen danach, mich zu sehen, spürst du auch bestimmt, nicht wahr? Dann muss es Liebe sein, dann bist du in mich verliebt, Gerry.“ analysierte ich. Gerry lachte dazu. „Und du, Lenny, bist du auch in mich verliebt?“ fragte er. „Ich weiß es doch nicht. Ich war noch nie in einen Mann verliebt. Meine Beziehungen bislang das war, wie man es so macht, alles falsch. Wie du es ja auch kennst. Mit Liebe hatte das nichts zu tun. Zum Glück habe ich nicht versucht, es mir einzureden. Und mit dir? Ich kenne dich doch gar nicht. Es gibt Millionen Männer, die ich nicht kenne, aber nur an dich muss ich immer denken. Du hast einen Schlüssel zu meinen Gedanken. Kommst einfach, wann du willst. Ich selbst habe da gar nichts geplant, beabsichtigt oder beschlossen. Die Herrschaft über mich selbst habe ich nicht mehr. Die Maharani von Lendice hat sich nicht mehr in der Gewalt. Aber wer ist es dann, der bestimmen kann, was meine Gedanken beherrscht?“ versuchte ich mich zu erklären. „Es wird die andere Lenny sein, die auch da ist. Du würdest sie am liebsten gar nicht zu Wort kommen lassen, hast beschlossen, dass sie nicht zu dir passt, würdest sie am liebsten vertreiben. Aber sie ist wundervoll, und stark ist sie auch. Einfach leugnen lässt sie sich nicht, und im Moment ist sie wahrscheinlich sogar die Siegerin im Kampf unter den beiden Lennys.“ erklärte es Gerry. „Du meinst, ich müsste sie akzeptieren, annehmen, dass sie zu mir gehört, müsste ihr sagen: „Lenny, es ist schon ganz in Ordnung, dass du immer an Gerry denken musst. Viel Freude damit.“ meinst du so etwa?“ hatte ich Gerry verstanden. Gerry lachte. „Dass ich immer in deinen Gedanken bin, tut mir ungemein gut und ist schon ein sehr starkes Zeichen, aber meinst du denn erkennen zu können, ob ich auch schon in deinem Herzen angekommen bin?“ erkundigte sich Gerry. „Ach, Gerry, Herz und Bauch und Seele das sind doch alles nur romanisierende Bezeichnungen für Lokalitäten, an denen angeblich das eine oder andere angesiedelt sein soll. Nichts befindet sich anderswo als im Kopf, wo auch die übrigen Gedanken sind. René Descartes hat gesagt:“„cogito ergo sum“ ,„ich denke, also bin ich“. Kant hat später klar gemacht, dass es sich dabei um einen Trugschluss handelt. Wenn ich sage: „Ich denke an Gerry, also bin ich verleibt.“, wer wird es sein, der mir klar macht, dass es sich dabei auch um einen Trugschluss handelt?“ wollte ich wissen, aber Gerry lachte nur. „Da wird dich niemand widerlegen können. Descartes benutzte nur seine Gedanken, da konnte man eben auch zu anderen Schlussfolgerungen gelangen, aber du benutzt deine Gefühle, und die wehren sich renitent gegen jegliche rationalen Beeinflussungsversuche.“ vermutete Gerry. „Du meinst also, gedanklich sei das gar nicht zu fassen, was sich zwischen uns abspielt, alles nur Gefühl?“ verstand ich Gerry. „Natürlich kannst du es beschreiben, nur du sagst immer: „Ich versteh das nicht. Ich versteh das alles nicht.“, obwohl es dir als Soziologin doch nicht schwer fallen dürfte, es zu erklären und zu begreifen.“ meinte Gerry. „Ganz schön miserabel für eine Soziologin, nicht wahr? Nur was sich bislang zwischen uns abgespielt hat, ist aus soziologischer Sicht eine Lappalie, zu der du nicht mal eine halbe Seite gebrauchtest, um es aufzuschreiben.


Deine Casta Diva möchte ich nicht sein

Nur wenn du meinst, es sei alles Gefühl, dann werden wir bei unserem Verhält­nis vornehmlich auf den Bahnen des Limbische System miteinander verkehren. Unser Cortex bleibt relativ verschont, alles nur Psycho. Aber im limbischen System agieren ja vornehmlich die Triebe. Sag mal, Gerry, möchtest du auch, dass wir Sex miteinander haben? Ich meine, ob du gern mit mir ficken möch­test?“ wollte ich wissen. Gerry lachte sich tot und bekam sich gar nicht wieder ein. „Lenny, du sagst ja, dass wir durchaus vernünftig miteinander reden kön­nen, aber die ernsthafte Frau Professor Dr. Ahlers muss sich dann doch sehr zurückhalten. Die andere dominiert wohl meistens, und sie hat Lust an Albern­heiten, Quatsch und lustigen Späßen. Dann gefällst du dir doch auch so, oder?“ fragte Gerry. „Ja, aber nur, wenn du dabei bist. Ob das auch ein Symptom des Liebessyndroms ist?“ vermutete ich. Gerry kam zu mir, und bat mich, aufzuste­hen, weil er das Bedürfnis hatte, meine Erklärung, vielleicht auch unsere ge­samte Unterhaltung, zunächst mal durch intensive Umarmung und einen lei­denschaftlichen Kuss bestätigen zu müssen. Warum bestätigten wir unser Ge­sprochenes nicht öfter so? Etwas mit einer Unterschrift zu besiegeln, wie grässlich, banal und gefühllos. „Aber du musst schon antworten. In einer Be­ziehung zwischen Mann und Frau, zumal wenn sie annehmen sich zu lieben, ist das ja nicht unbedeutend.“ „Na, beim ersten Anblick bist du mir natürlich pri­mär als Frau aufgefallen. Aber das ist ja bei allen so. Früher hat man gesagt, die Männer dächten nur ans Ficken, bis sich herausstellte, dass Frauen Männer beim ersten Blick genauso als potentielle Geschlechtspartner taxieren.“ begann Gerry. „Wie, ich soll dich beim ersten Blick als potentiellen Geschlechtspartner bewertet haben? Das wüsste ich aber.“ protestierte ich. „Ja, eben nicht. Das läuft völlig unbewusst ab.“ Gerry dazu. „Dann ist es ja auch total bedeutungs­los, wenn mir nichts davon bekannt wird.“ schätzte ich. „Keinesfalls, du orien­tierst dich unbewusst in deinem weiteren Verhalten und deinem Sympathie­empfinden daran.“ wusste Gerry. „Du meinst also, dass ich dich gut leiden mag, gründet darauf, weil ich dich beim ersten Blick als möglichen Ge­schlechtspartner positiv bewertet hätte?“ schlussfolgerte ich. Ich wollte gar nicht darüber reden, aber ich hatte das Gespräch ja selbst darauf gebracht. „Eigentlich kann das nicht sein, Gerry. Ich hatte nämlich damit Schluss ge­macht und war froh, dass meine Libido offensichtlich auch eingesehen hatte, dass ich so etwas nicht mehr brauchte. Aber wenn ich an dich denke, wünsche ich mir schon, dass du mich auch als Frau begehrst. Das passt ja eigentlich nicht, und bei unseren Küssen empfinde ich auch etwas anderes als nur taktile Freude an den Lippen. Wie kann das sein? Vielleicht wohnt noch eine weitere Lendice in mir, die gegen das Verbot der offiziellen Lenny heimlich libidinöse Empfindungen pflegt? Ob noch mehr Personen in mir wohnen, die ich nicht kenne und nicht kennen will? Was meinst du. Wird das bei jedem so sein? Wohnt in dir auch ein Gerry, der gern Samstags grölend und Bier saufend vorm Fernseher sitzen und Fußball schauen würde, dem du aber Auftrittsverbot erteilt hast?“ erkundigte ich mich. Nachdem Gerry ausgelacht hatte, meinte er: „Ich glaube, eher nicht und wenn, dann würde ich ihn rausschmeißen und ihm die Aufenthaltsgenehmigung entziehen. Jede und jeder kann natürlich Triebimpulse verdrängen, nur zu viele sollten es nicht sein. Es stört die psychische Harmonie und kann dich massiv krank werden lassen.“ „Du meinst, ich sollte meine sexuellen Bedürfnisse aus gesundheitlichen Gründen lieber frei ausleben, aber ich habe ja gar keine.“ entgegnete ich. „Ich habe auch keine, zumindest in Bezug auf dich nicht. Im Anfangsmoment war das schon da, aber dann hat sich unsere Beziehung in die Wolken verlagert und ich habe an so etwas im Zusammenhang mit dir einfach nicht mehr gedacht.“ erklärte Gerry. „Das heißt, du hast das Irdische, Triviale, Fleischliche schlicht vergessen? Auch wenn ich gar nicht weiß, wie sich das entwickeln soll, aber deine Casta Diva, deine keusche Göttin, möchte ich nicht sein. Dass du mich begehrst, ist das nicht auch ein Part des Liebessyndroms?“ gab ich zu bedenken. Gerry staunte und schien offensichtlich verwundert. Er stutzte kurz. „Ich gehe aber nicht sofort mit dir ins Bett. Das kann ich nicht, und das will ich nicht.“ verkündete Gerry emphatisch, erschrocken. „Um Himmels willen, Gerry, wie kannst du so etwas denken. Wir gehen uns jetzt erstmal die Orangen auspressen. Mag die Liebe auch in Gesprächen erkenntlich werden und wachsen, im gemeinsamen Handeln vertieft sie sich, auch mit Orangensaft.“ schlug ich vor.


„Ein Feigling ist unfähig Liebe zu zeigen, es ist das Vorrecht derTapferen.“ Gandhi

Es hatte in der Tat nicht zu übersehende Affinitäten zum gemeinsamen Einkau­fen. Ich stellte mir anderes vor, und kam zu der Überzeugung, das alles Han­deln sich auf einer neuen Qualitätsebene ereignen muss, wenn du es gemein­sam mit deinem Liebsten machst, anstatt dabei allein zu sein. Das würden wir machen, in unserer knapp bemessenen Freizeit würden wir so viel wie möglich etwas gemeinsam tun. Reden natürlich auch. Wir hatten ja im Gespräch fest­gestellt, dass ich wohl verliebt sein müsse, in einen Mann, den ich erst noch kennenzulernen hatte. Aber ein anderes Wort zur Beschreibung des Gesche­hens und Zustandes, in dem wir uns befanden, wäre falsch gewesen. Und der Gipfel war, dass ich es auch noch für mich akzeptiert hatte und mich sogar dar­über freute. Jetzt gehörte ich nicht mehr zu den Feiglingen. Hätte die Weissa­gerin in ihrer Kugel gesehen, ich würde mich verlieben, ich hätte sie ausge­lacht. Eine nüchterne, ernsthaft denkende Frau war ich, die mit derart kitschi­gen Sentimentalitäten nichts zu tun haben wollte. Natürlich kannte ich die große Bedeutung von Liebe in Literatur, Kunst und Geschichte, aber ich persön­lich brauchte dieses verklärte, süßliche Gesäusel nicht mehr. Aber so war es ja auch nicht, mit runtergefallenen Orangen hatte es begonnen, nur ich kannte die Liebe nicht und ich kannte mich selbst nicht. Mein Persönlichkeitsideal war wohl ziemlich daneben. Es zwang mir eine Gestalt auf, die vieles in mir ver­deckte und mich nicht erkennen ließ. Mein Persönlichkeitsbild taugte nicht viel, weil es nicht die wirkliche, vollständige Lendice abbildete. Eine tapfere Frau war ich erst jetzt geworden. Ich hatte die Lenny, die liebt, Liebe sucht, sie empfangen und geben will, akzeptiert und in meine Persönlichkeit integriert. Die unterschiedlichen Lennys hatten ihre Disharmonien begraben und schienen mich im Gleichklang zu dirigieren. Ein immerwährendes leichtes Hochgefühl verursachte diese Harmonie in meinem gesamten Gefühlshaushalt, selbst wenn Gerry nicht anwesend war.

 

Dass Menschen Herrschaft über andere Menschen ausüben durften, müsste ei­gentlich als Verstoß gegen die Würde des Menschen verboten und bestraft wer­den. Dass Gerry ebenfalls Herrschaft und Gewalt ablehnen würde, stand für mich absolut fest, nur war er in der Diskussion darüber noch völlig unerfahren. Er würde es sehr schnell verstehen, dass meine Vorstellungen von Anarchis­mus mit Gewalt nichts zu tun hatten, zumal Gandhi sich auch als Anarchist be­zeichnet hatte. Mir war sogar zum Teil die Herrschaft über mich selbst abhan­den gekommen. Eine andere, befreundete Kraft hatte mich nicht unwesentlich in ihrer Gewalt. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich der Macht der Liebe zu beugen. Erklären kannst du das niemals, wenn selbst alle Wissenschaftler darüber rätseln, was Bewusstsein denn überhaupt ist, wie willst du denn ver­stehen, wie die Gefühle für deinen Liebsten in deinem Bewusstsein zustande kommen.

 

FIN

 

 

 

Where there is love there is life.”

 

Mahatma Gandhi

 

Depressive Wut hatte mich im Griff. Warum tat ich das? Zeitvertreib, reine Zeitverschwendung. Was wollte ich hier. Ich befand mich da, wo der Pfeffer wächst, an Indiens Malabarküste. Was habe ich mit Indien zu tun? Lenny, die eigentlich Lendice hieß, war Soziologieprofessorin, und hatte seit frühester Kindheit ein Faible für Indien und für Orangen. Dass sie auch anderes beachtenswert finden konnte, wusste sie gar nicht. Sogar für Gerry interessierte sie sich, obwohl sie es doch eigentlich nicht wollte. Wütend war sie auf Gerry keinesfalls, auch wenn sie nicht wusste, warum sie das tat. „Nur wenn du meinst, es sei alles Gefühl, dann werden wir bei unserem Verhältnis vornehmlich auf den Bahnen unserer Limbischen Systeme miteinander verkehren. Unser Cortex bleibt relativ verschont, alles nur Psycho. Aber im limbischen System agieren ja vornehmlich die Triebe. Sag mal, Gerry, möchtest du auch, dass wir Sex miteinander haben? Ich meine, ob du gern mit mir ficken möchtest?“ wollte ich wissen. Gerry lachte sich tot und bekam sich gar nicht wieder ein. „Lenny, du sagst ja, dass wir durchaus vernünftig miteinander reden können, aber die ernsthafte Frau Professor Dr. Ahlers muss sich dann doch sehr zurückhalten. Die andere dominiert wohl meistens, und sie hat Lust an Albernheiten, Quatsch und lustigen Späßen. Dann gefällst du dir doch auch so, oder?“ fragte Gerry. „Ja, aber nur, wenn du dabei bist. Ob das auch ein Symptom des Liebessyndroms ist?“ vermutete ich. „Aber du musst schon antworten. In einer Beziehung zwischen Mann und Frau, zumal wenn sie annehmen sich zu lieben, ist das ja nicht unbedeutend.“ „Na, beim ersten Anblick bist du mir natürlich primär als Frau aufgefallen. Aber das ist ja bei allen so.“ erklärte Gerry. Was Lendice, genannt Lenny, und Gerry sonst noch alles zu klären und sich zu erklären hatten, weiß die Geschichte.

 

 

Maharani von Lendice – Seite 28 von 28

 

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Tag der Veröffentlichung: 21.03.2014

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