Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Yasemin Enthusiasmus
oder wie man es eben so macht

 

Erzählung

 

We lose ourselves in what we read, only to return to ourselves, transformed and part of a more expansive world.”

 

Judith Butler

Yasemin möchte nichts mit neuer Liebe zu tun haben, und mit Friederich kommt es sowieso nicht in Frage. Was sich aber entwickelt, und wie Yasemin und Friederich weiter damit umgehen, erzählt die Geschichte. Ein heißer Sommertag. Heute gab es keinen Kaffee sondern eisgekühlten Orangensaft. Auch wenn die Hitze quälte, schien sie doch fast übermütige Glücksgefühle zu erzeugen. Friederich war gerade von der Uni gekommen, und die beiden juxten und alberten. An so einem Tag war es wirklich ein Genuss, wenn man liegen konnte. Yasemin und Friedrich lachten und scherzten, bis sie sich schließlich doch mal innig umarmen mussten. Sie lösten sich gar nicht wieder, wollten anscheinend das Küssen und das Empfinden des anderen Körpers perpetuieren. Yasemin hatte nur ein dünnes Sommerkleidchen und einen Slip an. Dass der Stoff so dünn und die Beine nicht mit einer Hose bedeckt waren, spielte für Yasemins Empfinden offensichtlich doch eine Rolle. „Zieh das aus.“ forderte sie Friederich auf und meinte sein Oberhemd, das sie schon fast ganz aufgeknüpft hatte. „Du auch.“ reagierte Friederich. Sie zogen sich beide aus, den Slip ließen sie vorerst noch an. Der Point of no Return war längst unbemerkt überschritten. Yasemin hatte die Lippen leicht geöffnet und atmete tief, die Lider hatte sie geschlossen, nur manchmal riss sie die Augen weit auf und starrte dabei Friedrich lächelnd an. „Hau ab!“ stieß Yasemin Friederich lachend zurück. Sie empfand, er würde drängeln. Von der Seite über Friederich gebeugt erklärte sie: „Ich will es doch auch, Friederich, aber nicht so hastig, langsam mit Gefühl und behutsam. Wir wollen es doch möglichst lange genießen. Oder stehst du auf Brutalo Sex?“ Friederich umschlang Yasemin und kugelte sich lachend mit ihr. „Was redest du für einen Unsinn, Yasemin. Wie kannst du nur auf so einen Blödsinn kommen?“ reagierte er. „Friederich, wie sprichst du denn. So redet man nicht bei der Liebe.“ gemahnte Yasemin. „Sondern?“ wollte Friederich wissen. „Bei der Liebe sagt man nur zärtlich, leise einzelne liebevolle Wörter, vielleicht auch zwei.“ meinte Yasemin. „Ah ha, und woher weißt du das? Macht man das eben so, oder steht das im 'How to for Couples in Love'?“ mutmaßte Friederich. Yasemin zog eine krause Mimik. „Wir quasseln schon wieder. Wir können das gar nicht. Wir können nur reden, immer nur reden und reden. Wir sind scharf aufeinander, aber was tun wir? Wir fangen wieder an zu reden.“ erklärte Yasemin missmutig. Ein günstiger Moment, aufzustehen und sich wieder anzuziehen. Yasemin wollte es ja grundsätzlich nicht und prinzipiell nicht und auch heute hatte sie es eigentlich nicht gewollt.

 

 

Yasemin Enthusiasmus Inhalt

Yasemin Enthusiasmus 4

Yasemin wusste nicht so genau 4

Ich kann das nicht 5

Verschenktes Ich 7

Wer bin ich denn? 9

Enthusiastisch leben 10

Die Blume Yasemin neu erwecken 12

Opernbanause 14

Oiseau rebelle 16

Liebesfrquenzen 17

Hast du das öfter? 18

Friederichs Gesicht 21

Adagietto 23

Profunde Liebe 24

Point of no Return 25

Britta 26

Summertime 26

Beziehungsdekonstruktion 28

Friederichs Qualen 30

Trennung von Britta 32

Friederich erkennt seine wirklichen Gefühle nicht 34

Habilitation und Professur 35

Züngelnde Flämmchen 37

 

 

Yasemin Enthusiasmus - Yasemin wusste nicht so genau

„Soll ich dir ein Taxi rufen,oder schaffst du das allein?“ erkundigte sich Yase­min, als sie meinte, dass es langsam Zeit sei. Nur Benny wollte heute nicht nach Hause. „Aber wo willst du denn schlafen?“ fragte Yasemin. „Hier.“ mehr wusste Benny anscheinend nicht. „Hier? Auf der Couch, auf dem Teppich?“ wollte es Yasemin genauer wissen. „Nein, bei dir, in deinem Bett.“ lautete Ben­nys Vorstellung. Yasemin lachte schallend laut auf. „Yasemin, wir kennen uns doch schon so lange. Wir mögen uns gut leiden. Was hast du denn dagegen?“ meinte Benny. „Stimmt, du hast Recht, könnte man gut machen, nicht war, und viele würden es wahrscheinlich auch tun. Aber ich will es nicht, Benny. Warum nicht? Genau weiß ich es nicht, aber dann müsste ich eine andere sein. Möglicherweise ist mein Empfinden und sind meine Einstellungen konservativ, das ist mir aber egal. Auf den Mann für's Leben, mit dem ich dann auch ins Bett ginge, warte ich keinesfalls, aber mehr als gut leiden mögen und sich öfter getroffen haben, muss es doch sein. Sonst hätte ich schon mit vielen ins Bett gehen können, tun ja auch sicher nicht wenige. Aber zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse lieber einen Mann nehmen als seine Finger, so kann ich das nicht empfinden.“ erklärte Yasemin. „Bitte, Yasemin, wie redest du? Ich mag dich wirklich, und ich komme mir nicht vor wie ein x-beliebiger Bekannter.“ Benny darauf. „Wie auch immer, Benny, du hast es gehört. Wenn du heute Nacht Be­dürfnis nach einer Dame hast, bin ich nicht die dafür geeignete Person.“ erklär­te ihm Yasemin.

 

Was sie genau wollte, wusste Yasemin aber auch nicht. Sie studierte bereits im vierten Semester Erziehungswissenschaften. Natürlich hatte sie schon mit Männern geschlafen. Zum ersten mal mit ihrem Freund in der Schule. Kinder seien sie eigentlich, ein substanzloses Teenyschwärmen, wie Yasemin im Laufe der Zeit aufgegangen war. Ändern würde sich das nicht, Yasemin wollte nicht mehr. Mit einem Freund hatte sie sogar zusammengelebt, eineinhalb Semester lang. Ihr über alles geliebter Freund hatte mit einer anderen Frau geschlafen und wollte Yasemin erklären, dass es mit Liebe nichts zu tun habe und eigent­lich gar nichts Besonderes sei. Yasemin wollte das so nicht sehen, sondern sah die große Enttäuschung ihrer Liebe. Aber so genau verstand sie es auch nicht. Sie war eine eher extrovertierte junge Frau, hatte immer viele Freundinnen und Freunde, aber mit Liebe, da wusste sie nicht mehr genau. Sicherheit konn­te es ja letztendlich nicht geben, nur sie hatte auch, vielleicht wegen der Ent­täuschung, noch nie wieder konkrete Anlässe oder Bedürfnisse dafür erkannt. Aber nicht nur bei der Liebe wusste Yasemin es nicht so genau. Sie war ein freundliches Mädchen, war fleißig und hatte immer gute Zensuren in der Schu­le gehabt. Ihre Eltern waren stolz auf sie. Etwas Besonderes, das sie von der Allgemeinheit abhob, gab es allerdings nicht. Sie spielte kein Instrument, war in keinem Sportverein und gestaltete nichts anderweitig Künstlerisches. Sie er­ledigte immer nur das, was in der Schule von ihr erwartet wurde. Etwas, das sie als Hobby bezeichnen könnte, oder das sie mit besonderer Intensität betrieb, gab es auch nicht. Sie verbrachte ihre Tage, wie man so lebt, wie die anderen es auch tun. Vielleicht las sie ein wenig mehr als der Durchschnitt ihrer Mitschülerinnen. Da konnte sie auch schon ihr Interesse definieren. Studieren? Was sollte sie denn studieren? Was willst du denn mal werden? Nie hatte sich Yasemin Gedanken darüber gemacht. Sie hatte den Anforderungen, die sich jeden Tag stellten, immer gut zu entsprechen versucht, aber jetzt musste sie Entscheidungen für ihre Zukunft treffen, und da wusste sie eben nicht so genau. Ein glückliches, goldenes Ziel, auf das sie mit leuchtender Hoffnung zusteuerte, kannte Yasemin nicht. Was sollte man da schon machen? Lehrerin werden, mit den Fächern Deutsch und Geschichte. Ein besonderes Interesse, ihr späteres Leben als Lehrerin zu verbringen, konnte Yasemin bei sich auch nicht ausmachen. Aber sie würde eine gute Lehrerin werden, fleißig, freundlich und bei den Schülerinnen und Schülern beliebt. Unzufrieden war Yasemin keineswegs, auch wenn die Anforderungen im Studium das Lernen in der Schule in allen Bereichen weit übertrafen.

Benny würde auch Lehrer werden, sie hatten mal gemeinsam ein Referat über­nommen und trafen sich auch anschließend hin und wieder. Benny hatte erst im Studium sein großes Interesse für Pädagogik, und hier besonders die früh­kindliche Sozialisation, entdeckt. „Du müsstest eigentlich Psychologie studie­ren.“ hatte Yasemin gemeint, „Da könntest du erfahren, auf welchen Wegen aus Babys erwachsene Mitglieder der Gesellschaft werden.“ Yasemin hörte Benny gern zu, aber die Flamme für eigenes Interesse konnte er bei Yasemin nicht entzünden. Wenn Yasemin nicht mit Freundinnen oder Freunden zusam­men war, las sie in ihrer Freizeit. Sie las auch moderne, neue Literatur, aber lieber waren ihr die Klassiker, die einen ja meistens in ganz andere Welten zu anderen Zeiten entführten. Flaubert und Balzac hatte sie zum Beispiel schon in der Schule verschlungen. Im Moment war sie wieder auf Fontane gestoßen, wunderte sich und staunte und träumte von den kuriosen vergangenen Zeiten. Das Träumen gefiel ihr schon, aber verträumt war sie deshalb keineswegs. Über alles und jedes war sie stets gut informiert. Kannte sich mit den Entwick­lungen im politischen Bereich aus und schaute jeden Abend wenigstens die Ta­gesschau. Sie als lebenslustige, lebendige junge Frau zu bezeichnen, traf schon zu.

 

Ich kann das nicht

Theodor Ballauff? Gehörte der nicht zu den längst Vergessenen, den toten See­len der Pädagogik? Was sollte der denn mit der philosophischen Postmoderne zu tun haben? Ein junger Assistent bot ein Seminar dazu an. Ein kurioses The­ma, vielleicht würde es ja ganz interessant. Es machte sie neugierig, Yasemin wollte es belegen. Offensichtlich hatte Yasemin sich die Ankündigung nicht ge­nau durchgelesen. Sie hatte sogar ein Referat übernommen, aber sie kam sich vor, als ob sie im Urwald stünde. Natürlich meinte sie grob zu wissen, was Postmoderne bedeutete, aber beschäftigt hatte sie sich damit näher noch nie. In allen Bereichen bedeutete es eine Abkehr vom bisherigen philosophischen Denken, aber weder das philosophische Denken der Moderne noch die Philoso­phie der Postmoderne waren ihr im Einzelnen bekannt. Mit philosophischen Fragen hatte sie sich nie tiefer befasst, wusste nur, was sie in der Schule dazu kennen musste. Ich kann das nicht. „Ich werde das Referat zurückgeben.“ nahm sie sich vor.

 

„Yasemin Klatt,“ las er, „sind sie Türkin?“ Yasemin blickte ihn nur straff an, während ihre Lippen und die übrige Mimik ein mokantes Format zeigten. „Oh, ja, Entschuldigung. Wie konnte ich? Yasemin fällt mir nur auf, weil es bei uns kein sehr gebräuchlicher Name ist, in der Türkei hingegen schon.“ meinte Herr Dr. Sander, der Leiter des Seminars. „Trotzdem bin ich keine Türkin, habe keine türkischen Eltern, keine türkischen Großeltern und eine türkische Familie ge­hört noch nicht einmal zu meinen Bekannten. Vielleicht habe ich ja einen heim­lichen Vater, der Türke ist, und meine Mutter sagt nur, sie fände Yasemin als Name so schön. Aber wer will das schon wissen?“ Yasemin darauf. „Ihre Mutter müsste es doch wissen.“ bemerkte Herr Sander. „Ja, aber die sagt es doch nicht.“ Yasemin schon nicht mehr ganz ernst. „Wie dem auch sei, ich finde auch, dass Yasemin ein schöner Name ist. Vielleicht ist das die türkische Be­zeichnung für Jasmin.“ vermutete Herr Sander. „Vielleicht das auch, aber ich glaube eher, es ist persisch und bedeutet Blume.“ kommentierte Yasemin. „Noch schöner. Die Welt ist meistens noch viel schöner, als man es vermuten könnte. Was kann ich für sie tun, Frau Klatt?“ erkundigte sich Herr Sander. „Ich hatte mich für ein Referat gemeldet, aber mir ist etwas dazwischen gekom­men. Ich würde es gerne zurückgeben.“ erklärte Yasemin. „Wollen sie uns ver­lassen?“ fragte Herr Sander. „Nein, es ist etwas anderes. Ach, Quatsch, ich kann das nicht. Ich verstehe das alles gar nicht. Unermessliche neue philoso­phische Welten tun sich da für mich auf. Philosophisch bin ich keinesfalls sehr bewandert.“ erklärte Yasemin. Herr Sander musterte sie. „Aber sie wollten das Seminar doch belegen, haben sich doch dafür interessiert, und jetzt wollen sie sofort das Handtuch werfen?“ Herr Sander verwundert. „Ich habe mich wohl getäuscht, dachte ich könnte etwas lernen, das werde ich sicher auch, aber ich verfüge nicht über die erforderlichen Voraussetzungen.“ erläuterte Yasemin. „Wer zur Uni kommt, hat die erforderlichen Voraussetzungen, sonst bekäme er keinen Studienplatz.“ scherzte Herr Sander und beide lachten. „Ich finde, dass es für eine intelligente Frau kein Problem darstellen dürfte, sich da einzuarbei­ten. Haben sie Angst?“ fragte er. „Nein, wovor soll ich Angst haben? Es ist nur so überwältigend und ich verstehe das alles nicht.“ antwortete Yasemin. „Also ich würde gern mal mit ihnen darüber sprechen. Ich will sie zu nichts überre­den, drängen oder vielleicht sogar zwingen. Mich erstaunt das nur. Oder möch­ten sie lieber nicht?“ erkundigte sich Herr Sander. „Doch, doch, gern, was will ich denn mehr.“ reagierte Yasemin emphatisch und ließ Herrn Sander schmun­zeln. „Kommen sie zu mir am Donnerstag in die Sprechstunde. Oder nein kom­men sie anschließend um 15:30 Uhr ins Büro, dann suchen wir uns einen Raum, da haben wir mehr Zeit.“ Yasemin bedankte sich. So etwas hatte sie an der Uni noch nie erlebt. In der Schule kümmerten sich die Lehrer um einzelne Schüler, wenn sie Probleme hatten, aber an der Uni war man eine Ameise in der amorphen Masse des Studentenvolkes. Was motivierte diesen Sander? War er noch so jung und ehrgeizig und wollte alles besser machen, als er es selbst erfahren hatte? Yasemin würde ja sehen. Vorsichtshalber informierte sie sich vorher noch ein wenig über Lyotard, damit sie nicht als völlig tumbe Nuss er­schiene. Aber wieso die Philosophien Kants und Hegels auf einmal nichts mehr wert sein sollten und er sie als Erzählungen bezeichnete, das konnte sie doch alles nicht verstehen. „Ich bin kein Mensch, der aus philosophischen Erklärun­gen und Gedanken die für sein Leben relevanten Schlussfolgerungen zum Ent­scheiden und Handeln ableitet. Das ist doch auch normal. Wer tut das denn?“ dachte sich Yasemin.

 

Verschenktes Ich

Wovon Herr Sander genau sprechen wollte, wusste Yasemin ja nicht, von Lyo­tard und seinen postmodernen Kollegen sprach er jedenfalls nicht. Auch Kant und Hegel erwähnte er mit keinem Wort. „Geht ihnen das öfter so?“ fragte er Yasemin. „Was meinen sie?“ wollte die es genauer wissen. „Na, ich meine, ob sie schnell bei Dingen und Anforderungen kapitulieren, und ihnen leicht der Gedanke kommt: „Ich kann das nicht. Ich schaff das nicht.“?“ erläuterte Herr Sander. Yasemin lachte. „Dann müsste ich das Studium ja aufgeben, wenn ich ständig meinte, dass ich etwas nicht schaffen würde.“ antwortete sie. „Es hätte ja sein können, dass es mit geringem Selbstvertrauen zusammen hinge. Aber sie werden sich für etwas anderes stärker interessieren als philosophische Fra­gen.“ vermutete Herr Sander. Yasemins Mimik zeigte zwar ein leichtes Grinsen, dass aber eher auf Verlegenheit zu basieren schien, und ihre Augen sagten auch: „Ich wüsste nicht.“ „Na irgendetwas wird ihnen außer Freizeitaktivitäten auch am Studium Spaß machen. Yasemin zeigte wieder ihr ratloses Grinsen, bei dem sie offensichtlich überlegte. „Für's Studium ist doch alles festgelegt, welche Veranstaltungen sie besucht haben müssen, welche Scheine sie brau­chen und wodurch sie die bekommen. Ob es mir Spaß macht, wen soll das denn interessieren?“ erklärte sie schließlich. „Na, sie selbst, Yasemin Klatt, wen denn sonst.“ fuhr Herr Sander auf. „Und was habe ich davon? Bekomme ich dafür bessere Zensuren? Wenn ich ein tolles Buch lese, das macht mir Spaß, aber bei der Klausur kommt es doch nur darauf an, dass ich mich gut vorbereitet habe, und den gestellten Anforderungen entspreche.“ meinte Yase­min dazu. Nachdenklich musterte Herr Sander sie. „Also, sie selbst haben da­mit gar nichts zu tun. Sie persönlich kommen dabei überhaupt nicht vor, spie­len dabei gar keine Rolle. Eine Studiumsmaschine erfüllte die gestellten Anfor­derungen. Ja, empfinden sie das so?“ wollte Herr Sander wissen. Yasemin lach­te anhaltend, wobei sie aber zu überlegen schien. „Vielleicht schon ein bisschen so ähnlich, aber die Maschine das bin doch ich.“ erwiderte sie. „Und dieses Ich, wer ist das? Ist es nicht nur diese Anforderungserfüllungsmaschine. Wenn es sagt, ob ich Spaß daran habe, ob mich etwas interessiert, ist doch unerheblich. Ich würde ihnen gern mal zuschauen, wie bei ihnen die Tage verlaufen.“ erklär­te Herr Sander. Yasemin blies die Luft hörbar durch die Lippen. „Na, ganz nor­mal. Ich könnte es ihnen ja erzählen, aber warum wollen sie das wissen?“ er­kundigte sich Yasemin. „Nichts Besonderes, reicht es ihnen, wenn ich ihnen das hinterher beantworte?“ Herr Sander darauf. „Ganz ausführlich?“ fragte Yasemin noch nach, und Herr Sander nickte nur Zustimmung. Yasemin fand offensicht­lich Gefallen daran, unerträglich detailliert zu erzählen. So würde die Erzählung wahrscheinlich länger dauern als die Handlung selbst. Nachdem sie aus dem Bad gekommen war, erklärte sie: „Dann ziehe ich mir zuerst die Söckchen an. Dass ich den BH anziehe, soll ich das auch erzählen, oder ist das zu erotisch?“ fragte sie. „Nein, aber völlig unerheblich.“ lachte Herr Sander laut. „Sie haben sich also angezogen, und dann?“ Yasemin erzählte vom Frühstück, wie sie zur Uni ging, eine Vorlesung besuchte. Und immer wieder fragte Herr Sander, ob Yasemin sich darauf freue, und Yasemin konnte nur immer wieder die gleiche Reaktion zeigen, ratlose Mimik, manchmal begleitet durch zuckende Schultern. „Noch weiter?“ fragte sie, als sie berichtet hatte, wie sie nach der letzten Übung auf dem Heimweg noch einkaufen gegangen sei. Herr Sander antwortete gar nicht. Er musterte Yasemin, lächelte zwar, aber seine Mimik brachte auch Skeptisches, Bedenkliches zum Ausdruck. „Sie sind eine lebendige, junge Frau, wirken auf mich sehr sympathisch. Bei ihnen hätte ich das gar nicht vermutet.“ ließ sich Herr Sander schließlich vernehmen. „Oh je, was ist denn los? Haben sie eine Krankheit bei mir entdeckt, oder festgestellt, dass Mephisto mich in seiner Gewalt hat?“ wollte Yasemin gespielt erschrocken wissen. „Ja, ja, so wird es sein. Mephisto wird dahinter stecken.“ sinnierte Herr Sander, „Nur die Menschen haben ihm nicht ihre Seele verkauft, sondern ihre Persönlichkeit, ihr eigentliches Selbst. Er nennt sich nicht mehr Mephisto, sondern die Allgemeinheit, das allgemein Übliche, das, was man so denkt und tut. Sie sind ganz normal, Frau Klatt, sehr normal, äußerst normal, nur noch normal.“ „Ich verstehe sie nicht, was meinen sie?“ fragte Yasemin nach. „Als sie geboren wurden, hat eine Blume begonnen ihre Knospen zu öffnen. Nicht irgendein Baby, sondern nur diese Yasemin hat ihre Mutter geliebt. Diese Yasemin hat sich allmählich unsere Sprache zu eigen gemacht, zu ihrer, zu Yasemins Sprache. In vielem ist diese neue Blume Yasemin weitergewachsen, aber nach und nach hat sie immer mehr von der eigentlichen Yasemin abgegeben und immer mehr so gemacht, wie sie es alle eben machen, wie man es so macht. Nicht Yasemin, die gibt es kaum noch, dieses 'man' bestimmt, was Yasemin zu tun und zu lassen hat. Aus der neuen Blume Yasemin ist ein Sandkörnchen am Strand des Teiches der Allgemeinheit geworden. Ihr eigenes Leben hat sie abgegeben.“ erläuterte Herr Sander. Yasemin überlegte und Herr Sander schaute ihr dabei zu. „Die Allgemeinheit, das hört sich so abschätzig nach Bildzeitungsmeinung an, aber das umfasst doch nicht nur Negatives, unsere gesamte Kultur und unser gesamter Lebensstil gehören doch dazu. Das hat auch zwangsläufig jeder Mensch in seiner Entwicklung aufgenommen. Davon frei sein, das geht gar nicht.“ erklärte Yasemin. „Das sehe ich absolut genauso wie sie, Frau Klatt, nur darf sich der Einzelne dem nicht bedenkenlos ausliefern, sich voll von ihm vereinnahmen lassen, dann nehmen die allgemeinen Verhaltensangebote ihm sein eigentliches Sein ab. Er ist den anderen, der Alltäglichkeit des Allgemeinen verpflichtet, das 'Man' bestimmt sein Denken und Handeln.“ erklärte Herr Sander. „Also, was ich tue und mache, bekomme ich von der Yasemin 'Man' gesagt, die wirkliche Yasemin Klatt merkt es gar nicht. Würde die denn alles ganz anders machen? Zum Beispiel bei einem Seminar sagt sie: „Ach, ich habe heute keinen Bock.“ und geht nicht hin. Dann hätte ich aber Angst vor ihr.“ meinte Yasemin und beide lachten. „Das ist gut möglich, denn so hat das'Man' die Verantwortung für ihr Dasein, und darauf können sie sich stets berufen: Das macht man eben so. Wenn sie ihre eigentliche Existenz leben wollen, bedarf es dazu schon mehr Selbstbewusstsein und bestimmt auch manchmal etwas Mut.“ antwortete Herr Sander. „Die eigentliche Yasemin, gibt es die denn noch, oder hat sie alles von sich an die Allgemeinheit abgegeben, ist selbst völlig verschwunden? Und wenn es sie noch gäbe, wie könnte ich sie denn dann wiederentdecken?“ wollte Yasemin wissen. „Ein Mensch verschwindet nie, das bringt auch die Allgemeinheit nicht fertig. Sie können beruhigt sein, Yasemin Klatt gibt es noch. Stellen sie sich vor, ich würde sie kneifen. Sie merken das, ein unangenehm, schmerzhaftes Gefühl, ihr eigenes, wirkliches Gefühl. Yasemins Klatts persönliches Gefühl. Sei haben noch viele andere Gefühle, nur viele kennen sie wahrscheinlich gar nicht mehr. Alles wird dominiert und überwuchert von dem vorherrschenden Gefühl suggerierter Anerkennung und Bestätigung für's Erbringen gestellter und angenommener Anforderungen der Allgemeinheit. Aber zum Beispiel bei unserem Seminar, da hat sich auch die wirkliche Yasemin gezeigt. Es handelt sich nicht um eine Pflichtveranstaltung, sie brauchen den Schein nicht, aus ihrem eigenen Interesse haben sie sich entschieden. Was hatten sie für ein Gefühl dabei?“ Yasemin zeigte wieder verunsichertes Grinsen. Darüber hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. „Schauen sie, bei allem was sie tun und allem woran sie denken, entsteht ein Bild vor ihren inneren Augen, und jedes Bild ist immer auch an ein Gefühl geknüpft. Das sind sie persönlich, ihre wirklichen Gefühle. Sie müssen sie nur zulassen und erkennen können, dann entdecken sie die wirkliche Yasemin wieder.“ erläuterte Herr Sander. Über das Seminar und das Referat hatten sie gar nicht gesprochen, aber was Herr Sander gesagt hatte, musste Yasemin erstmal aufnehmen, verarbeiten, überdenken.

 

Wer bin ich denn?

Kant und Hegels Philosophien sollten nichts wert sein und jetzt auch ihr eige­nes Leben nicht. Wer war dieser Sander denn eigentlich? Was wollte er von ihr? Waren es auch nur Sanders Erzählungen? Nein, nein, Yasemin nahm es schon sehr ernst. Sonderbar, was Herr Sander gesagt hatte, stimmte Yasemin keines­wegs enttäuscht oder gar traurig. Er hatte sie zwar als abhängig von der Allge­meinheit, dem Common Sense verpflichtet, dargestellt, aber er hatte auch eine Hoffnung aufgezeigt, von der Yasemin bislang nie etwas gespürt hatte. Sie merkte aber, wie es sie freudig stimmte. Er hatte ihr das Bild von einer ande­ren Yasemin gezeigt, die in ihr verborgen sei. Unzufrieden war sie mit sich sonst eigentlich nicht gewesen, aber diese andere Yasemin kennen zu lernen, erfüllte sie mit brennender Spannung. Sie konnte gar nicht schlafen, weil sie an tausende Situationen in ihrem Leben dachte, und überprüfte, ob sich die wirkliche Yasemin darin gezeigt haben könne. Mit ihrem Freund, mit der Liebe, war das auch alles so, wie man es gemeinhin so macht. Nachgemachte Liebe, nachgemachte Gefühle? Vielleicht gehörte das auch dazu, aber allein war es das doch nicht. Sie war schon mit ihren wirklichen, eigenen Gefühlen invol­viert. Wie eine Mischung aus beidem kam es ihr vor. Allgemein Übliches ver­bunden mit wirklicher, persönlicher Betroffenheit, nur hatte sie sich darüber damals überhaupt keine Gedanken gemacht und konnte es ja auch gar nicht. Jetzt würde sie es aber äußerst spannend finden, alles zu untersuchen, ob sie es auf Anforderung der Allgemeinheit so mache, oder ob Yasemin Klatt sich darin selbst verwirkliche. Am nächsten Morgen fing sie gleich an, aber es war ungeheuer schwer zu entscheiden. Sie wusste ja auch gar nicht, wer Yasemin Klatt denn eigentlich wirklich war. „Herr Dr. Sander, ich würde mich gern nochmal mit ihnen unterhalten. Mir ist da noch etwas eingefallen. Hätten sie nochmal Zeit?“ fragte Yasemin nach dem nächsten Seminar. „Wieder Donnerstag, wie in der letzten Woche?“ suchte Herr Sander Bestätigung.


Enthusiastisch leben

„Möchten sie einen Kaffee? Sollen wir uns Kaffee machen?“ fragte Herr Sander. „Ja, macht man so, man trinkt immer Kaffee, nicht wahr? Aber ich selbst, ganz persönlich mag Kaffee auch gerne.“ antwortete Yasemin. Herr Sander stutzte kurz, und beide lachten. „Hat sie unser Gespräch von letzter Woche stark be­schäftigt?“ erkundigte sich Herr Sander. „Na klar, ständig, ich komme zu nichts anderem mehr, muss dauernd überprüfen, ob ich das selbst will, oder ob es Ya­semin 'Man' ist, die das von mir verlangt.“ antwortete Yasemin. Sie kamen mit dem Kaffee aus der kleinen Küche und nahmen in zwei Sesseln des Bespre­chungszimmers Platz. „Friederich. Ich finde das ist ein schöner Name. Sie fin­den, dass Yasemin ein schöner Name ist. Wäre es da nicht besser, wenn wir uns bei den Namen, die wir beide schön finden, nennen würden, oder wäre ih­nen das unangenehm, hielten sie das für unbotmäßig. Herr Sander lächelte verdutzt. „Wenn dir nach unbotmäßigem Verhalten ist, Yasemin, gerade dann sollten wir es tun. Aber was ist an Friederich so schön, sonst nennen sie mich immer Freddy?“ erkundigte sich Herr Sander belustigt. „Na, Friederich, Theo­dor, Eberhard, das sind noch richtige Männernamen.“ so Yasemin. Kurze Pause, in der sich beide mit schon gespannten Lippen anblickten, dann prusteten sie los. „Und die anderen?“ wollte Herr Sander wissen. „Heute heißen sie alle Tim und Bill und Eddy und Gerri. Ich bitte dich, was sind das denn für Namen?“ Ya­semin dazu. „Was für welche sind es denn? Ich weiß es nicht.“ scherzte Herr Sander. „Kindergarten, Namen für den Kindergarten sind das.“ erklärte Yase­min, „Ich werde dich immer Friederich nennen.“ „Dir gefallen die Namen bes­ser, bei deren Nennung man schon das Klappern der Rüstung hört.“ vermutete Herr Sander. „Warum denn nicht, ein bisschen Ritterlichkeit kann doch nicht schaden, oder? Aber in der Postmoderne ist so etwas ja komplett obsolet.“ ant­wortete Yasemin. „Du willst jetzt also eine postmoderne Frau werden. Ist das schon die neue, die andere Yasemin, die ich heute erlebe, oder konnte ich sie am letzten Donnerstag nur nicht erkennen?“ fragte sich Herr Sander. „Vielleicht beides. So Nonsenstalk gab es ja am letzten Donnerstag nicht, aber ich bin schon eifrig dabei, alles zu überdenken. Sich bei allem nach seinen wirklichen Gefühlen zu fragen, finde ich ohne alle Abstriche fantastisch. Das wird mich verändern, da bin ich absolut sicher, aber nach innen zu schauen und nach mir selbst, der wirklichen Yasemin, zu suchen, fällt mir nicht nur schwer, ich denke auch, dass es gar nicht möglich ist, die authentische Yasemin zu finden.“ er­klärte Yasemin. Herr Sander sagte nichts, blickte Yasemin nur an. „Deshalb wollte ich mich mit dir treffen, um darüber reden zu können, aber du schweigst.“ gemahnte Yasemin. „Kannst du deine Überlegungen ein wenig er­läutern, warum es nicht möglich ist, sich selbst zu finden?“ bat Herr Sander. „Also ich habe das Gefühl, dass bei mir nichts zusammen passt, alles ist furcht­bar durcheinander, unklar und widerspricht sich nicht selten. Aber ich denke, das hat sich so entwickelt, bei anderen Menschen wird das nicht anders sein. Entscheidend ist aber, wenn du nach dir selbst suchst, ist da nicht eine Statue oder das Bild eines festen Zustandes. Yasemin verändert sich ständig, ihr Selbst ist ein Prozess, der sich jeden Tag ein kleines bisschen entwickelt. Und sogar wenn ich ein Bild von mir selbst generieren könnte, wäre es das, was mein Bewusstsein sagt. Mein Selbstbild wäre es, das mir bewusst ist, aber die wirkliche Yasemin hat die nicht im Unbewussten noch viel mehr verborgen, das sie wirklich ausmacht?“ erläuterte Yasemin. „Ich gebe dir schon Recht. Das Verlangen nach Authentizität ist eine moderne, allgegenwärtige, aber vielleicht auch verlogene Idee. Ich denke auch, dass es die Möglichkeit eines völlig authentischen Lebens, dem eigentlichen Selbst-sein-können, in der Praxis nicht geben kann. Im Bewusstsein wirst du dich selbst nie voll entdecken können. Da sammelt sich immer nur, was du von dir selbst weißt. Unerheblich ist das keinesfalls, aber in deinen wirklichen Gefühlen, darin findest du dich stärker selbst wieder. Es geht nicht darum, rationale Entscheidungen zu missachten, aber du solltest deinen Gefühlen mehr Beachtung schenken, ihnen größere Bedeutung zukommen lassen.“ erklärte Herr Sander dazu. „Sentimentaler werden, oder wie?“ fragte Yasemin schelmisch. „Na klar, nur das sind gerade nicht deine eigenen, wirklichen Gefühle. Nein, gefühlsbetonter leben, sich zum Beispiel von einem Seminar klare Vorstellungen machen, Lust dazu haben, sich engagiert, involviert darauf einlassen, es selbst leben. Kinder tun das noch ganz von selbst, sie sind absolut versunken in ihre Bauklötzchenburg, nehmen sonst nichts mehr wahr. Bei machen Erwachsenen ist das auch selbstverständlich. Die Primaballerina kann nicht beim Tanzen noch daran denken, was sie morgen alles einkaufen muss.“ erläuterte Herr Sander. „Du lebst immer so, Friederich, bist immer eine Primaballerina.“ schlug Yasemin scherzhaft vermutend vor. Die beiden schmunzelten sich zu. Welche Gefühle ihre gegenseitigen Blicke bei Yasemin auslösten, konnte sie selbst nicht genau identifizieren, jedenfalls lagen sie dem Bereich Wohlgefallen nicht fern. „Ich wollte mit dir auch nicht über dein Leben reden, es hat sich zufällig so ergeben. Ich denke schon, dass ich mein Leben an von mir selbst für erstrebenswert erachteten Interessen ausrichte und versuche dabei mein Handeln möglichst enthusiastisch zu gestalten.“ erklärte Herr Sander. „Jetzt auch?“ fragte Yasemin. „Was jetzt auch?“ wollte Herr Sander es erläutert haben. „Na, enthusiastisch, bist du jetzt auch enthusiastisch?“ fragte Yasemin. Darauf gab es keine Antwort, nur einen tiefen Blick mit anschließendem gemeinsamem Lachen. Mehr wollte Yasemin auch gar nicht wissen.


Wieder hatten sie nicht über das Referat gesprochen, aber das war in Yasemins Gefühlshaushalt auch auf einen abseitigen Fensterplatz gerückt. Dieser Friede­rich, was für ein wundervoller Mensch. Benny war nicht nur ein Kindergarten­name, so kamen Yasemin auch die Gespräche mit ihm vor. Keineswegs nur mit Benny, im Grunde sah sie fast alle Gespräche mit ihren Bekannten, im Gegen­satz zu den Gesprächen mit Friederich, wie Smalltalk an. So hatte Yasemin noch nie mit jemandem geredet. Friederich hatte sie lebendig gemacht. Ihr zu einem neuen Leben verholfen? So kam es Yasemin vor. Ihr Vater hatte ihr so etwas nie erzählt, wie sollte er auch. Er war ja selbst ein Sklave der Allgemein­heit. Friederich war Pädagoge, wie viele Kinder könnten von ihm profitieren, nur leider war er nicht in der Schule. Yasemin versuchte sich vorzustellen, dass Friederich ihr Vater wäre, wie ganz anders sie dann wohl ihr Leben gestaltet hätte. Bestimmt hätte er ihr geraten: „Sei widerspenstig, lass dir nichts anschwatzen.“ Welche Wünsche, Träume und Hoffnungen sie dann wohl gehabt hätte? Lehrerin sein wollen, hätte bestimmt nicht dazu gehört. Ob sie auch jeden Tag mit enthusiastischen Empfindungen alles begehen würde. Wenn man selbst total involviert war, konnte man ja nicht mehr von erleben sprechen, man hatte es sich ja zu eigen gemacht. Aber einen Vater, der nur wenige Jahre älter war? So hatte sie Friederich auch keinesfalls empfunden. Freunde wie ihn würde sie gern haben, ihre derzeitigen Bekannten kamen ihr dagegen eher vor wie in die Jahre gekommene Mitschülerinnen und Mitschüler, aber da war sie ja auch selbst Schuld. Forderte Friederich von ihr auch, erwachsener zu sein. Indirekt bestimmt. Wenn sie sich selbst finden und ihr Handeln an ihren wirklichen Interessen orientieren wollte, war sie auch selbst verantwortlich. 'Das-macht-man-eben-so' schied als Verantwortungsträger aus. Ihr Leben sollte ihr gehören, sie sollte planen und entscheiden wie es auszusehen hätte, wie sie es sich wünschte, was sie für wichtig und richtig hielt, nach ihrem eigenen Gewissen und in ihrer eigenen Verantwortung. Das wusste Yasemin doch alles gar nicht. Aber sie würde es entdecken, da war sie sicher, und darauf freute sie sich. Isabella stand vielleicht ein wenig über den anderen Freundinnen. Die Beziehung zu ihr war Yasemin auch am wichtigsten. Wenn, dann könnte sie sich nur mit ihr beraten. Yasemin hatte mal versucht, Betty von ihren neuen Entdeckungen zu erzählen, nur Betty hatte gar kein Ohr dafür. Sie verstand nichts und wollte es offensichtlich auch gar nicht. Das war auch typisch für die Allgemeinheit, alles wurde eingeebnet, geglättet, als ob man es schon längst gekannt hätte, auch wenn man im Grunde nichts von der Ursprünglichkeit verstand. Es konnte nur etwas geben, was der Durchschnittlichkeit angepasst war. Das 'Man' dominierte nicht nur Denken und Handeln, es hatte auch Filter für Wahrnehmung und Verstehen eingebaut.


Die Blume Yasemin neu erwecken

„Einen Kaffee? Hast du Lust auf einen Kaffee? Wir müssten aber in die Cafete­ria.“ fragte Friederich Yasemin im Anschluss an das nächste Seminar. Natürlich hatte sie. Wenn Friederich sich mit ihr unterhalten wollte, gehörte das für Yase­min nicht nur zum gefühlsbetonten, sondern auch zum lustvollen Leben. „Magst du das eigentlich, wenn ich dich Friederich nenne, oder gefällt dir Fred­dy besser?“ fragte Yasemin, als sie mit dem Kaffee Platz genommen hatten. „Nein, nein, von dir höre ich Friederich sehr gern.“ antwortete Friederich. Was sollte das denn heißen? Ganz schnell liefen Yasemin alle Möglichkeiten durch den Kopf, dann scherzte sie: „Bei Friederich hat meine Stimme ein ganz spezi­elles Timbre, nicht war?“ Friederich schmunzelte nur, und seine Augen schenk­ten Yasemin freundliche, vielleicht liebevolle Blicke. Mochte er Yasemin leiden? Musste ja schon. Zweimal hatte er sich mit ihr länger unterhalten, ihr geholfen, sie regelrecht befreit. Bei achtzig Prozent der anderen Studentinnen wäre das auch angezeigt. Yasemin hatte ihm nur gesagt, dass sie das Referat nicht hal­ten könne und er wollte ihr helfen. Zum Referat hatte er nichts gesagt, nur zu ihr persönlich. Sie kannte ihn ja gar nicht, aber ihr Gespräch war von Anfang an offen und vertrauensvoll. Sie hatten sich gegenseitig genau zugehört, hatten gescherzt und gemeinsam gelacht. Friederich musste ihr Freund sein, das hatten die Mächte des Schicksals so verfügt, denn Yasemin wusste ja sonst nichts von ihm. Aber was konnte er denn an einer so grauen Maus wie ihr finden. Ob er in ihr etwas sehen konnte, was Yasemin selbst nicht kannte? Vielleicht war es ja auch nur ein Beispiel für Friederichs enthusiastisches Leben. Das ließ Yasemin sowieso nicht in Ruh. Wenn sie sich vorzustellen versuchte, was sie zu tun hätte, alles würde sie mit großer Leidenschaft und überschwänglicher Begeisterung machen, lachte sie sich schief. Leidenschaft und große Begeisterung, in ihrem Alltag kam so etwas eigentlich gar nicht vor. Ob Friederich das auch gelernt hatte, oder ob Menschen, die ein selbstbestimmtes Leben führten, so etwas automatisch konnten? Gehörte das originär zum wirklichen Menschen und musste schon früh an die Allgemeinheit abgeliefert werden? Aber die ganzen Fußballfans zum Beispiel, die gehörten doch fast ausschließlich zur biedersten Allgemeinheit. Die waren aber enthusiastisch, frenetisch, begeistert. Sie brauchte ja nicht in der nächsten Vorlesung vor Begeisterung zu grölen, aber zu Leidenschaft und Enthusiasmus würde sie zurückfinden, da war sich Yasemin sicher. „Du schreibst an deiner Habilitation, nicht war? Wirst Professor werden.“ erkundigte sich Yasemin. „Das liegt ja nicht allein an mir. Dazu muss ich mich bewerben und einen Ruf bekommen.“ antwortete Friederich. „Dann gehst du fort, bist nicht mehr hier. Das ist schade.“ Yasemin darauf. „Warum ist das schade?“ wollte Friederich genauer wissen. Yasemin antwortete nicht direkt. Eine Welt ganz ohne Friederich, da fehlte ihr Entscheidendes. So sagte sie es aber nicht. „Na, ich finde schon, das du ein ganz Toller bist. Und da ist es doch einfach schade, wenn so jemand nicht mehr da ist.“ erklärte Yasemin zögernd. „Ich finde auch, dass ich ein ganz Toller bin,“ scherzte Friederich, „aber was ist es denn, das du so toll an mir findest?“ Yasemin lachte laut auf. Sie blickte Friederich an, aber ihre Augen sprachen etwas anderes, als was sie dann sagte. „Na, ich finde, was du in den Seminaren und Übungen machst, ist doch klasse, aber ich persönlich bin natürlich begeistert, von dem was du mir zu meiner Lebensweise gesagt hast. Ich bin sehr glücklich darüber und möchte dir ausdrücklich dafür danken.“ Friederich schmunzelte. „Danke.“ sagte er nur. Eine Pause, in der beide vor sich hindachten. „Yasemin,“ druckste Friederich, „ich würde eigentlich gern mal mit dir gemeinsam essen gehen. Ich möchte dich einladen.“ Yasemin lachte. „Das macht man so, nicht wahr?“ suchte sie Bestätigung. Friederichs Mimik wünschte nur fragend nähere Erläuterung. „Ist doch klar, wenn man beabsichtigt die Beziehung zu einer Dame möglicherweise zu intensivieren, lädt man sie zunächst mal zum Essen ein. Das macht man eben so.“ erläuterte Yasemin. Friederich schmunzelte. „Was würdest du denn vorschlagen?“ wollte er lachend von Yasemin wissen. „Friederich, du bist ein netter Mensch. Ja, und ich mag dich schon, aber irgendetwas in Richtung Beziehung? Ich kenne dich doch überhaupt nicht.“ erwiderte Yasemin. „Beziehung? Wir haben schon lange eine Beziehung. Seitdem du mich zum ersten mal angesprochen hast, haben wir eine Beziehung.“ meinte Friederich dazu. „Na klar, zu meinem Kaufmann habe ich auch eine irgendwie geartete Beziehung, aber auf die Idee, mich zum Essen einladen zu wollen, käme der, glaube ich, eher nicht. Wenn du dir vorstellst, dass wir zusammen essen gehen, hast du ein Bild, die Gefühle, die bei dir mit diesem Bild verbunden sind, darüber musst du mich aufklären.“ forderte Yasemin. Friederich lachte nur. „Du hast Recht, Yasemin, ich sollte es dir sagen. Du hast gesagt, du könntest es nicht. Ich wollte dir helfen, warum ist mir nicht bewusst geworden. Bei anderen hätte ich das wahrscheinlich nicht gemacht. Zu sagen, dass du mir in unserem Gespräch immer sympathischer wurdest, ist eine banale Beschreibung. Ich hatte Lust an dir, mir lag persönlich daran, dass du ein selbstbestimmtes Leben führen könntest, die Blume Yasemin neu erwecken würdest. Was da mit mir geschah, und warum es sich so entwickelte, Yasemin, das weiß ich nicht, das kann ich nicht erklären. Seitdem ist es einfach so, dass ich mich freue, dich zu sehen, dass es meine Stimmung hebt, wenn wir miteinander sprechen. So verhält sich das mit meinen Gefühlen für dich.“ erläuterte Friederich und lächelte. „Ich habe ja schon gesagt, das ich dich mag.“ reagierte Yasemin darauf, „Wenn ich an dich denke, habe ich natürlich ein Bild. Vieles betrifft das, was ich mit dir erlebt habe, aber da ist auch immer noch etwas anderes. Ich kenne dich ja gar nicht näher, aber in meinem Bild taucht es auch auf. Visionen, Illusionen von dem, der du sein könntest. Von viel zu positiven Vorurteilen ist es wohl gemalt. Als absolute Idealgestalt tauchst du nicht auf, aber du bist ein anderer Mann. Entsprichst nicht meinem üblichen Männerbild. Mit dem Ritter hat das nichts zu tun. Selbstbewusst bist du schon, aber ich sehe auch Leidenschaft, Verletzbarkeit, Gefühle, die dir viel bedeuten. Ja, was ich sehe, gefällt mir schon, aber das ist ja nur der Geist, den mein Wunsch von dir kreiert.“ „Ein freundlicher Geist, mir gefällt er auch.“ stimmte Friederich lächelnd zu. „Wie dem auch sei, Friederich. Du wirkst auf mich sehr vertrauenserweckend, und wahrscheinlich bist du es auch. Du bist aber doch sicher verheiratet oder hast eine feste Partnerin, und beginnst einfach so mit mir anzubändeln? Ich habe keinen festen Freund und trotz intensivster Selbstfindungsbemühungen, weiß ich überhaupt nicht was ich will, wie ich es mir vorstelle, was ich mir wünschen könnte. Alles ziemlich verworren, verstehst du? Alles durcheinander.“ erklärte Yasemin. Friederichs Mimik nahm ernste Züge an. Er blickte Yasemin an und sagte: „Ja, ich habe eine feste Freundin, aber soweit ich weiß, habe ich nichts davon gesagt, dass ich dich zum Fremdgehen einladen wollte. Auch einen Antrag auf Gründung einer Liebesbeziehung habe ich nicht gestellt. Ich mag dich, Yasemin, mehr nicht, und das ist einfach so.“ Yasemin erschrak leicht, und ihr glückliches Hintergrundgefühl zeichnete sich in ihrem Gesicht jedenfalls nicht mehr ab. „Friederich, du bist böse, aber das ist ungerecht.“ erklärte Yasemin noch, bevor sie sich trennten.


Opernbanause

Heulen hätte sie können, vor Wut heulen. Yasemin machte sich Vorwürfe. Warum musste sie so etwas nur sagen? Dass er eine Freundin haben würde, war ihr doch klar, und die Gedanken zu ihrer möglichen Beziehung, warum musste sie Friederich das denn auf die Nase binden? Jetzt war das Essen passé und Friederich war sauer. Yasemin wollte ja nichts von Friederich, gut leiden mochte sie ihn allerdings schon. Ein Flirt unter zweien, die sich mögen. Nein, das stimmte so nicht. Ein Flirt Getändel war mit Friederich nicht mehr möglich, dazu waren ihre Gespräche schon zu ernsthaft und Wesentliches betreffend ge­wesen. Friederich bedeutete Yasemin schon viel, sie mochte ihn ja auch, aber irgendwelche amourösen Gedanken oder Wünsche waren bei ihr nicht entstan­den. Vielleicht gab es ja derartige verdrängte Impulse im Unbewussten, die sie nur offen nicht zulassen wollte. Wahrscheinlich wollte sie überhaupt nichts in dieser Richtung mit wem auch immer zulassen. Sie wusste zwar nicht, was sie wollte, aber Gedanken daran waren nicht mit glücklichen Hoffnungsgefühlen, sonder eher mit dem unangenehmen Gefühl von Unsicherheit und Zweifel be­legt. Beim nächsten Seminar gab es nur vielsagende aber nicht eindeutig ver­ständliche Blickwechsel, keiner sprach den anderen an. „Verrückt,“ dachte Ya­semin, „er kann doch nicht einfach so tun, als ob er mich nicht mehr kennt. Ich habe ihn doch nicht beleidigt oder etwas Schlechtes über ihn gesagt. Der spinnt ja.“ Enttäuscht? Traurig? Ja, so empfand Yasemin schon. Wenn er auch nicht ihr Liebster war, aber zu spüren, dass jemand, den du schätzt, nichts mehr mit dir zu tun haben will, schmerzt auch ungemein. Beim nächsten Semi­nar kam Friederich vorher auf Yasemin zu. „Was ist eigentlich mit deinem Refe­rat? Wir haben gar nicht mehr darüber gesprochen. Wir streichen es, nicht war?“ meinte er. Warum, wusste sie auch nicht genau, aber Yasemin musste das Wunder, das wieder mit ihr sprach, zunächst mal tief anstarren. „Nein, auf keinen Fall, es ist doch schon fast fertig.“ forderte Yasemin energisch. Sie musste etwas dazu sagen, denn Friederichs erstaunte Mimik verlangte Erklä­rung. „Was meinst du, was ich seit Wochen mache? Wie eine Primaballerina im Tutu der Postmoderne drehe ich mich nur noch um das Referat. Meine erste, wahrgenommene, selbstbestimmte Lebensäußerung. Was kann es für Yasemin Klatt Wichtigeres geben, als damit fertig zu werden? Ich glaube, dass ich mitt­lerweile nicht nur verstehe, sondern dass es mir Spaß macht.“ erläuterte Yase­min. Friederich grinste breit. „Ich könnte dir noch mehr davon erzählen, wenn es dich interessiert, aber dazu müssten wir schon mal wieder miteinander re­den.“ fügte Yasemin hinzu. „Das tun wir doch auch. So kindisch sein passt ja wohl nicht mehr zu uns, oder?“ meinte Friederich dazu. „Ich habe dummes Zeug geredet, entschuldige.“ Yasemin darauf. „Da ist nichts zu entschuldigen, Yasemin. Wir waren nur ein wenig infantil.“ erklärte Friederich. „Das mit dem gemeinsamen Essen ist aber trotzdem vorbei, nicht wahr? Ich finde es schon gemütlich, zusammen zu dinieren, aber du willst doch enthusiastisch leben. Beim Essen? Wie willst du das denn machen?“ fragte Yasemin und lachte. „Fällt dir etwas Besseres mit größerem Enthusiasmuspotential ein?“ wollte Friederich wissen. „Wenn wir essen und gemeinsam reden kann das schon sehr gefühls­betont sein, das wird an uns liegen, aber im Theater oder beim Konzert werden doch die Gefühle viel stärker direkt angesprochen. Vor allem in der Oper, als nächstes steht Carmen auf dem Spielplan. Magst du so etwas? Hättest du Lust, gemeinsam mit mir in die Oper zu gehen?“ fragte Yasemin. „Stehst du auf Opern?“ fragte Friederich. „Ja, nein, eine junge Frau aus der bildungsbürgerli­chen Mittelschicht geht auch in die Oper. Das macht man eben so. Widerwillig bin ich aber keineswegs in die Oper gegangen, klassische Musik und die wun­dervollen Stimmen natürlich gefielen mir schon. Aber es war einfach selbstver­ständlich so. Ich habe schon über vieles in meinem bisherigen Leben nachge­dacht. Du sagst, die Allgemeinheit hätte mich dirigiert, mir kommt es jetzt so vor, dass sich das meiste in meinem Leben fern von mir abgespielt hat. Als ob ich es persönlich gar nicht selbst gelebt hätte. Alles will ich neu leben, mit neu­er Einstellung, anderen Sichtweisen und vielleicht sogar mit Enthusiasmus.“ er­klärte Yasemin. „Vielleicht werde ich ja ein Opernfan, wer weiß? Die Habanera zum Beispiel, finde ich jetzt schon klasse.“ fügte Yasemin hinzu und lachte. „Die Habanera kenne ich natürlich auch, ist ja schon fast Volksmusik, aber sonst bin ich ein ziemlicher Opernbanause. Ich muss und will auch alles neu erleben, und du wirst mir dabei helfen, nicht wahr?“ bat Friederich.


Oiseau rebelle

„Wundervoll siehst du aus in deinem Kleid.“ bemerkte Friederich an der Garde­robe. „Ich mag es nicht. Es passt nicht mehr zu mir. Aber was passt denn zu mir? Ich kann nur vermuten, wer ich bin, und morgen vermute ich eine ganz andere. Meine Mutter hat das Kleid ausgesucht.“ erwiderte Yasemin. Friederich sah das zwar nicht so, aber er schmunzelte nur und fragte: „Hat deine Mutter immer alles bestimmt?“ „Nein, sie hat mich keineswegs okkupiert, aber wenn sie sagt, dass mir das Kleid gut steht, und die Verkäuferin sagt es auch, was willst du da schon machen. Ich liebe meine Mutter über die Maßen, und trotz­dem ist sie letztendlich an allem Schuld. Ich war glücklich, wenn meine Mutter sich über mich freute. Im Prinzip ist das von Anfang an bis heute so geblieben. Sklavenmentalität eben. Aber was will eine Mutter denn auch machen? Soll sie ihrer Tochter sagen: „Widersprich mir, sei widerspenstig, lehn dich auf, sei un­gehorsam?“ und die Tochter befolgt brav die Anweisungen der Mutter?“ über­legte Yasemin und beide lachten. „Mir gefällt das Kleid aber auch. Du wirkst darin richtig...“ Friederich suchte nach dem passenden Wort, „na, sagen wir mal, attraktiv. Du bist eine schöne Frau.“ „Das weiß ich.“ sagte Yasemin aber keineswegs in einem Tonfall, als ob sie sich für ein Kompliment bedanken woll­te, sie sprach scharf und harsch, „Über meinen Hintern und meine Titten kannst du auch noch etwas sagen. Was ist in dich gefahren, Friederich? Hast du einen zu großen Schluck aus der Testosteronflasche genommen? Ich wollte mit dir gemeinsam eine Oper erleben, und bin nicht mit dir zu einer Weibers­how gefahren.“ Friederich war ganz erschrocken. „Oh je, wie kannst du dich anstellen.“ hätte er sagen können, das sagte er aber nicht, sondern: „Entschul­digung, Yasemin, es wird kein Wort mehr zu deinem Erscheinungsbild und dei­nem Äußeren meine Lippen passieren. Meine Wahrnehmung verbieten, kann ich mir aber doch nicht.“ „Dann bist du eben auch ein schöner Mann, da hat deine Wahrnehmung etwas anderes, woran sie sich abarbeiten kann. Sind wir damit quitt und können das Thema beschließen?“ fragte Yasemin. „Es hat das Thema nie gegeben. Das einzige Thema ist die Oper, wie wir sie hören, was wir erleben und was wir uns darüber erzählen,“ antwortete Friederich. Bei der Ha­banera blickten Yasemin und Friederich sich lange mit versonnener, Wonne er­füllter Mimik an. Jeder hätte gesagt, dass die beiden sich gleich küssen wür­den, aber auf diese Gedanken durften Yasemin und Friederich, bei welcher Mi­mik auch immer, nicht kommen. In der Pause standen sich die beiden gegen­über. Nicht wie Sparringspartner, die miteinander kämpfen wollen, sondern als ob es darum ging, den oder die andere zum Tanz um das erlebte Glück heraus­zufordern. Sprache kann wundervolle Worte formulieren, ihre Intonation kann wie Musik wirken, trotzdem gibt es Momente, in denen sie nur stört. Worte können Gefühle beschreiben, aber mit den Augen lassen sie sich direkt ins Zentrum des anderen übertragen. Erstauen, Bewunderung und Stolz über ihre kluge Entscheidung, gemeinsam die Carmen zu erleben, lagen bestimmt auch in ihren anhaltenden Blicken, bis sich die beiden schließlich einfach um den Hals fielen. Dann mussten sich Yasemin und Friederich alles erzählen, was sie gehört, gesehen und erlebt, und was sie dabei empfunden hatten. Vielleicht kann der Enthusiasmus während der Oper selbst nur im Stillen blühen, bei dem Gespräch der beiden entfaltete er jedoch seine volle Pracht. Den oiseau rebelle, den unzähmbaren Vogel Liebe, wirst du umsonst rufen, aber du kannst intensiv suchen und etwas finden, oder etwas finden, ohne es zu suchen. Es gab keine Aktivitäten zu suchen, es bestand nur die Intention, die kurz nach der Pause Yasemin und Friederich gemeinsam ihre Hände finden ließ. Tausend mal hatte Yasemin jemandem die Hand gegeben. Es vermittelt einen Eindruck von kräftigem oder schlaffem Händedruck. Welche banalen Gedanken. Nicht als ob sie etwas berührte, was sie eigentlich nicht anfassen durfte, aber ergreifend, als ob sie noch nie eine andere Hand berührt hätte, empfand es Yasemin schon. Gern hätte sie Friedrichs Hand näher befühlt, aber zur Andacht, die die Oper vermittelte und zur Andacht des Händehaltens selbst, hätte das nicht gepasst. Lächelnd, vielleicht ein wenig stolz über ihren kühnen, emotional einzig richtigen Entschluss, trafen sich ihre Blicke. Vieles kann darin liegen, sich gegenseitig an der Hand zu halten, für Yasemin herrschte das Gefühl vor, nicht nur die Haut von Friederichs Hand an ihrer zu spüren, sie meinte Friedrich insgesamt zu empfinden. Die Haut seiner Hand erschien ihr wie die Haut seiner Seele. Erst zum Schlussapplaus lösten sie ihre Hände wieder. Sie sprachen kaum noch, redeten nur das Notwendigste.


„Der Eine spricht, der Andere schweigt:
es ist der Andere den ich bevorzuge,
er sagte nichts, doch gefällt er mir.“


singt der Oiseau rebelle in der Habanera. Vielleicht dachten sie ja daran, als Yasemin und Friederich nach Hause fuhren. In völliger Ferne konnte sich der unzähmbare Vogel Liebe jedenfalls nicht befinden, denn bei der Verabschie­dung kam es zu einem leidenschaftlichen Kuss zwischen den beiden.


Liebesfrquenzen

Yasemins Herz schwebte in Wonne. Es war wie verliebt, nur konnte das nicht sein. Aber was sollte es denn sonst sein, wenn es sich genauso anfühlt. Viel­leicht gab es ja temporäre Verliebtheitszustände, hatte der Oiseau rebelle nur mal eine Stippvisite gemacht. Nein, nein, Yasemins Gefühle waren jetzt keine anderen als in der Oper. Mit der Liebe wusste sie nicht und wollte eher nicht, aber jetzt hatten sich diese Gefühle ungefragt ihrer bemächtigt. Du kannst sie suchen und findest sie nicht, aber sie können dich auch okkupieren, obwohl du sie gar nicht gerufen hast, rebellisch eben. Eine nähere Beziehung mit Friede­rich weiterzuentwickeln, war völlig ausgeschlossen. Das Erlebnis bei Carmen beeinträchtigten solche Gedanken für Yasemin allerdings nicht. Auch nicht am nächsten Vormittag. Verstehen konnte Yasemin das alles gar nicht, aber was wollte sie auch verstehen? Gefühle verstehen? Und die Gefühle nach einer Per­spektive fragen? Völlig zwecklos. Sie hatte diese wundervolle Erfahrung eben genossen, wiederholen ließe sich da überhaupt nichts. Im Moment verstand sie ja sowieso nichts. Nein, nein, nach den alten Mustern nicht, nur jetzt war das Gegenteil der Fall. Es kam ihr vor, als ob sie jetzt erst zu verstehen beginne. Alles war neu und spannend. Das 'Macht-man-eben-so' hatte absolut ausgedient. In dieser kurzen Zeit hatte sich ihr Lebensstil total verändert. „Es ruht in dir, ist immer verfügbar, du musst es nur erkennen und erwecken.“ hatte Friederich gesagt. Ob ihre Tage enthusiastisch verliefen? Das wusste Yasemin nicht, nur war sie ständig hoch erregt beschäftigt. Sie hatte viel mehr zu leben. Der Nebeldunst der Allgemeinheit hatte wie ein Schleier auf ihren Tagen gelegen und alles eingeebnet und geglättet, kraftlos war ihr Leben verlaufen. Das Erlebnis mit Friederich passte zu ihrer neuen Lebensweise und ihrer neuen Selbstsicht, früher hätte sich so etwas gar nicht ereignen können. Als temporäres Glückserlebnis wollte Yasemin es für sich bewerten und bewahren. Um Liebesgefühle hatte es sich ja eindeutig gehandelt, aber sollte sie etwa alle Theorien über Liebe, Libido und Begierde erforschen, um es sich erklären zu können? Vielleicht entsprach es ja bei ihr nur einem Bedürfnis, das aus Mangel an Zuneigung resultierte. Friederich hatte sich aber doch genauso verhalten. Dass Liebesempfindungen nicht dadurch entstehen, dass man sich besonders gut kennt, wusste Yasemin auch, aber wenn man so wenig von einander wusste? Vielleicht sendete man ja irgendwelche Liebeswellen aus, die der andere empfangen konnte, wenn sie auf der richtigen Frequenz geschickt wurden, oder die Blicke konnten Röntgenstrahlen ähnliche Signale senden, die den anderen durch die Augen direkt ins Herz trafen. Wie dem auch sei, spezielle Sensoren für Liebesgefühle musste es auf jeden Fall geben, sonst wäre das alles zwischen zwei sich so fremden Menschen wie Yasemin und Friederich nicht möglich gewesen.


Hast du das öfter?

Absolut völlig fremde Menschen konnten die beiden für einander aber doch wohl nicht sein. Die Form ihrer Begrüßung glich nicht den unter Fremden be­kannten Usancen kommunikativer Kontaktaufnahme. Eine breite, freundliche Schnute zog Friederich und nickte bedächtig anerkennend dazu. Yasemin machte ebenfalls eine Schnute, die aber nur fast kindliche, leicht diebische Freude symbolisierte, wozu sie noch ihre Augenbrauen anhob und die Lieder fast schloss. Beide verstanden es gut und waren überzeugt, dass sich ihre Schnuten jetzt erst mal zu treffen hätten. Das Referat war fertig. Yasemin hat­te es Friederich zu lesen gegeben, heute musste sie es halten. Nicht nur Frie­derich hatte sie mit dem Referat überzeugt, sie schien auch ihre Zuhörer le­bendig zu machen. Statt der sonst üblichen obligaten Nachfragen, wurde Yase­min richtiggehend bestürmt. Sie hatte nicht als Expertin doziert, sondern war von sich ausgegangen, von ihrer eigenen Unkenntnis und hatte alles ausge­zeichnet verständlich entwickelnd erklärt. Gut, dass sie selbst schon viel weiter war und ein breiteres Spektrum hatte, als es im Referat zur Sprache kam. Wie eine Expertin für die Postmoderne wurde sie, die vor einigen Wochen selbst noch keine Ahnung hatte, von den Kommilitoninnen und Kommilitonen zu allen Bereichen befragt. „Ich würde gern noch mit dir einen Kaffee trinken und mit dir reden, aber ich habe einen ganz dringenden Termin.“ erklärte Friederich. „Ruf doch einfach an, wenn es dir passt, und komm zum Kaffee zu mir. Wo ich wohne, weißt du ja.“ schlug Yasemin vor. Friederich stockte kurz, war aber einverstanden. Einen Kuss zum Abschied gab es aber doch. Das wurde jetzt zum ständigen Ritual unter den beiden Fremden, einen richtigen Kuss zur Begrüßung und zum Abschied.


Yasemin war ständig hoch beschäftigt. Bis tief in die Nacht las sie, allerdings nichts zur Methodik und Didaktik und auch Frau Jenny Treibel musste sich durch Fontane trösten lassen, bis Yasemin mal wieder Zeit für sie hätte. Besu­che von Freundinnen vielen aus, aber Isabella musste sie es doch erzählen, was sich mit ihr zugetragen hatte. „Du bist verknallt, meine Liebe. Gib es zu. Dieser Friederich hat nicht nur dein Denken verändert, er hat sich auch in dei­nem Herzen eingenistet.“ interpretierte es Isabella. „Ja, in der Oper war es, glaube ich, schon so, aber ich denke nicht ständig an ihn, kann die Zeit ohne ihn nicht ertragen und sehne mich danach, dass wir zusammenkommen.“ erwi­derte Yasemin. „Für zwei Stunden verliebt und dann nicht mehr. Wie geht das denn? Das musst du mir mal erklären. Da muss es sich aber um einen sehr flüchtigen Vogel handeln. Vermutest du denn, dass er noch mal wieder kommt?“ spottete Isabella. Die beiden redeten noch weiter darüber. Isabella blieb dabei, dass Yasemin sich in Friederich verliebt hätte. „Ganz Unrecht hatte sie ja nicht, aber wenn, dann war es eine Liebe ohne Perspektive einer Bezie­hung. War sie dann nicht unsinnig und irrational. Eine unerfüllte Liebe? Aber Friederich hatte ja auch diese Empfindungen für sie.“ sinnierte Yasemin.


Es war ja nichts Besonderes, nur verspürte Yasemin einen permanenten Kitzel, als Friederich zu ihr zum Kaffee kam. Sie setzten sich mit dem Kaffee an den kleinen Küchentisch. Friederich begann kurz etwas vom Tage zu erzählen und kam dann auf Yasemins Referat zu sprechen. Die platzte einfach hinein: „Sag mal, Friederich, wenn es mir am liebsten ist, dass ich mich mit dir unterhalte, bist du dann mein Liebster, oder mein Geliebter?“ Friederich hätte sich be­stimmt gerne Gedanken dazu gemacht, aber weil Yasemin schallend lachte, hielt er es auch für einen Scherz und lachte ebenfalls. „Sollen wir uns nicht bei mir auf die Couch setzen? Mit Freundinnen setzen wir uns immer aufs Bett, wenn wir uns unterhalten.“ fragte Yasemin. Auf dem Bett, das gefiel Friederich auch. „Aber nur reden.“ fühlte Yasemin sich noch bemüßigt warnend zu erwäh­nen. Dass es dabei nicht blieb, lag aber hauptsächlich an Yasemin. Ihr kitzeli­ges Hintergrundgefühl vermittelte ihr, dass ihr Zwerchfell sie gern häufig la­chen lassen wollte. Sie unterhielten sich schon ernst, aber Yasemin suchte in allem Anlässe zum Lachen. Bei gemeinsamem Lachen mussten sich Yasemin und Friederich auch öfter um den Hals fallen. Dass es dabei auch zu leiden­schaftlichen Küssen kommen konnte, war nicht auszuschließen. Besonders er­staunt war Friederich über Yasemins Wissen bei der Diskussion im Anschluss an das Referat. „Es hat mich gepackt, Friederich. Ich bin besessen von den neuen Welten, die sich jeden Tag für mich erschließen. Einzelne Wissenschaft­ler faszinieren mich ungemein und ich beschäftige mich noch näher mit ihnen. Vor allem aber hat mich Luce Irigaray auf neue Wege gebracht. Ich wusste zwar, dass Feministinnen sich für die Rechte der Frauen einsetzen, und von Si­mone de Beauvoir hatte ich auch schon mal gehört, aber da war auch schon fast Schluss bei mir. Eine taube Nuss war ich auch beim Feminismus.“ erklärte Yasemin. „Willst du jetzt aktive Feministin werden, das Patriarchat abschaffen?“ erkundigte sich Friederich scherzend. „Das ist doch antiquiert, die Männer abschaffen, darum geht’s.“ Yasemin darauf. Auf Friederichs fragendes Lächeln antwortete Yasemin nicht direkt. „Bei Luce Irigaray habe ich zum ersten mal Depressionen bekommen. Was hätte ich alles machen können, aber alles nur Schrott in meinem bisherigen Leben. Die Allgemeinheit nimmt dir nicht nur dein Selbst, sie verführt dich auch zu einem wertlosen, unnützen Leben. Mit Luce Irigaray hat es nur angefangen, ich bin da schon viel weiter. Du glaubst nicht, wie viele wahnsinnig tolle Frauen es gibt. Unsere bedeutendsten Epistemologen sind heute Frauen. Philosophie hätte ich studieren müssen, das wirklich Spannende. Wie konnte ich nur so einen Schwachsinn wie Lehramt machen. Ich war eben nicht bei mir selbst zu Hause. Als Mann werde ich dich intuitiv längst abgeschafft haben, deshalb kann ich dich wahrscheinlich auch so gut leiden.“ erklärte Yasemin. Friederich lächelte zwar, aber er verstand nichts. Yasemin erklärte es ihm: „Die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ sind reine Konstrukte, sie stellen keine naturgegebenen Absolutheiten dar, sondern sind gesellschaftlich, soziokulturell bedingt. Es gibt keine Geschlechtsidentität, sondern nur die Individualität eines jeden Menschen. Also kannst du auch nicht zu den Männern gehören, selbst wenn du es gerne wolltest. Es gibt sie nicht, die Gruppe der absoluten, naturgegebenen Männer.“ „Und mit der Liebe?“ fragte Friederich, „Gibt es da auch keine Männer und Frauen?“ „Nein, wozu? Das eine Individuum liebt das andere. Das kann zwischen allen geschehen.“ Yasemin darauf. „Ich habe also Liebesempfindungen für das Individuum, das neben mir auf dem Bett sitzt, aber ob es eine Frau ist, das weiß man nicht?“erkundigte sich Friederich. Eine Antwort gab es darauf nicht. Stattdessen grinsten sich zwei Gesichter an, die sich zu einem nicht enden wollenden Kuss vereinigten. „Hast du das denn öfter, Friederich, oder nur, wenn wir zusammen sind?“ wollte Yasemin erfahren. „Ich weiß es doch auch nicht, Yasemin. Bestimmt ist das Wort Liebe auch ein gesellschaftlich produziertes Konstrukt, das es absolut gar nicht gibt. Ich wollte so etwas doch auch nicht. Zuerst war es nur schön, ich fand dich sehr nett, aber du hast dich bei mir eingegraben.“ erklärte sich Friederich zu seinen amourösen Empfindungen. „Daraus wird aber nichts, mein Teuerster, auch wenn ich dich noch so gern möchte. Du hast schon eine Liebe. Deine zweite, eine zusätzliche Geliebte werde ich nicht spielen wollen. Als Zweitfrau oder Kebse bin ich nicht geeignet.“ machte Yasemin deutlich. Friederich sinnierte: „Lass es uns doch so nicht sehen, Yasemin. Wenn wir beide zusammen waren, gab es immer für jeden von uns wundervolle Momente. Sollen wir uns das in Zukunft versagen, weil wir uns mit einer überfüssigen Suche nach der Perspektive quälen?“ Yasemin wollte ja auch auf Friederich nicht verzichten, aber Liebe komplett, in allen Ausprägungsformen würde es nicht geben, nur gemeinsame, glückliche Momente.


Friederichs Gesicht

Wie diese glücklichen Momente aber aussehen sollten, und wie sie konkret zu gestalten wären, das wusste Yasemin auch nicht. Zunächst kam Friederich jetzt öfter mal für einen Moment vorbei. Häufig waren es wirklich nur kurze Momen­te, eine Tasse Kaffee und ein paar Worte. So konnte Yasemin gut schlafen, denn es war ein erfüllter Tag gewesen, man hatte sich gegenseitig gesehen. Zu viel mehr hatte Yasemin auch eigentlich gar keine Zeit. Friederich fragte im­mer, ob sie mal einen Moment Zeit habe? „Ja.“ sagte Yasemin immer, obwohl sie die nie hatte. 'Extempore', außerhalb der geplanten Zeit, traf sie sich im­mer mit Friederich, und so empfand sie es auch. Ihre Zeit war strukturiert, al­les war geplant und organisiert, nur wenn Friederich kam, war alles offen, kal­kulatorisches Denken war abgeschaltet. Es beeinträchtigt zu sehr die Wahrneh­mung der Gefühle. Das hinderte Yasemin aber nicht daran, zu wütenden Ge­fühlsausbrüchen zu kommen. Sie schimpfte auf sich selbst, alle Lehrer, Erzie­hungswissenschaftler und dass Studium insgesamt. „Friederich, ich war blind und taub, konnte nichts sehen, nichts hören und nichts verstehen. Da beginne ich einfach mit etwas, mit dem ich überhaupt nichts zu tun habe, was mich nicht betrifft und was mich nicht berührt. Und im Übrigen ist diese Pflanze Bal­lauff für mich längst ein toter Mann. Von dem will ich nie wieder etwas hören.“ ereiferte sich Yasemin. „Du hast doch das Seminar über ihn belegt, wie passt das zusammen?“ wollte Friederich wissen. „Ja, wenn du geschrieben hättest, was er für einer war, hättest du allein im Seminar gesessen. Kein Mitläufer, ein glühender Nazi war er, hat durch sie seine Posten bekommen und in Reichs­kommissionen gesessen. Ein Geisteswissenschaftler, dazu noch Pädagoge, der die Unmenschlichkeit des Faschismus nicht erkennen kann. Was will der noch erkennen wollen. Der hat mir nichts mehr zu sagen, von so einem will ich kein Wort hören.“ Yasemins Kritik zu Theodor Ballauff. „Heidegger war auch Nazi­freund.“ kommentierte Friederich. „Schlimm genug, nur ist er ja früher schon davon abgerückt. Man hätte allen Nazis nach dem Krieg den Ton abdrehen sol­len. Sie hätten sich unserer Sprache nicht mehr bemächtigen dürfen, niemand brauchte mehr etwas von diesen Menschen zu hören.“ erklärte Yasemin. „Eine phantastische Idee, nur hätten wir dann wirklich die schweigende Mehrheit ge­habt.“ kommentierte Friederich. „Weißt du, Friederich, ich bin nicht der liebe Gott, der reumütigen Sündern vergibt, aber jemand, der mit Feuer und Flam­me den Nazis zujubelt, kann doch nicht hinterher sagen: „Tut mir leid, war ein Fehler.“. Er hat es doch gemacht, dieses Denken und Handeln gehört doch zu ihm, er kann es doch nicht ungeschehen machen. Das ist doch ein Bestandteil seiner Persönlichkeit, seines Wesens.“ argumentierte Yasemin, „Und du ver­schweigst das bei Ballauff einfach.“ Friederich überlegte und meinte: „Du hast Recht, Yasemin. Ich habe es zwar nicht absichtlich verschwiegen, aber ich hät­te es nicht unerwähnt lassen dürfen.“ Yasemin hatte häufig Recht, weil Friede­rich über ihre neuen erkenntnistheoretischen Aussagen nur staunen konnte. Er war aber höchst interessiert und bewunderte Yasemins intellektuellen Kapazitä­ten. „Wieso konnte ich den Ruf nicht hören, das ist es was ich machen muss, dabei finde ich zu mir, jeden Tag und jede Seite in einem Buch, das ich lese.“ beklagte sich Yasemin. „Was willst du tun? Jetzt zu den Philosophen wechseln, dann hast du zwei Jahre verloren, denn anerkennen wird man dir kaum etwas. Aber ganz abgesehen davon studierst du dann ja nicht feministische Philoso­phie. Du wirst dich ganz ordinär mit allem Möglichen beschäftigen müssen.“ gab Friederich zu bedenken. „Das mache ich jetzt doch auch schon. Da findet doch nicht ein Kaffeekränzchen auf einer losgelösten Damenwolke statt. Frie­derich, was hast du für Vorstellungen. Aristoteles, Kant, Nietzsche, Hegel, auf alle bezieht es sich. Judith Butler zum Beispiel hat mit einer Dissertation über Hegel promoviert.“ entgegnete Yasemin. Friederich rieb sich nachdenkend über Mund und Kinn, fuhr sich dann über die Stirn und schob seine Haare zurück. In diesem Moment empfand Yasemin, dass sie dieses Individuum wohl auch lie­ben würde. „Yasemin, wozu brauchst du das Lehramt, wenn du dir sicher bist, dass du sowieso nicht in die Schule willst?“ begann Friederich, „Ich könnte mir vorstellen, dass du deinen Magister machst und anschließend promovierst. Du hast zwar noch deine ganzen erziehungswissenschaftlichen Pflichtveranstaltun­gen, aber bei der Arbeit und der Dissertation hast du doch fast absolute Frei­heit. Du stellst im ersten Satz eine Verbindung zu den Erziehungswissenschaf­ten her, viel mehr brauch es doch nicht zu sein.“ Als sie mit den Gedanken über die Konsequenzen und Möglichkeiten spielten, schwiegen sie. Yasemin schienen ihre Gedanken zu gefallen, zumindest zeigte sie es so in ihrem freu­dig, sonnigen Lächeln, mit dem sie sich auf Friederich zubewegte. Sie um­schlang ihn und drückte so intensiv, als ob sie sich schon entschieden hätte, und sich bei Friederich bedanken wollte. Bei ihrem heftigen Drücken verloren die beiden das Gleichgewicht. Lachend lagen sie nebeneinander auf dem Bett mit ihren Gesichtern direkt voreinander. Ganz nah gesehen hatten sie sich doch immer. Kann man sich näher sein als beim Küssen? Yasemin kam es aber so vor, als ob sie Friederichs Gesicht zum ersten mal bewusste wahrnähme. Sie blickten sich doch ständig an, nur jetzt schien alles wie neu, noch nie so gese­hen. Nicht wie mit einer Lupe sah Yasemin es, sondern viel intensiver nahm sie jede Parzelle wahr. Ganz vertieft hatte sie sich in die Betrachtung von Friede­richs Gesicht. Seine Stirn seine Augenbrauen und Augen. Yasemin touchierte sie sanft mit ihren Fingern, ließ sie zur Wölbung der Augenbrauen gleiten. Fuhr über die vorgereckte Nase zu den Wangen, ließ ihre Fingerkuppen hauchzart über Ober- und Unterlippe gleiten. So hatte Yasemin noch nie ein Gesicht, einen anderen Menschen in seinem Gesicht entdeckt. Wie meditierend hatte sie sich in Friederich vertieft. Jetzt gehörte sein Gesicht Yasemin, sie hatte es in sich aufgenommen. Friederich hatte die Lider geschlossen und es sich mit won­nevoller Mimik gefallen lassen. Als er die Augen wieder öffnete, stoppte Yase­min und wetzte mit ihrer heftig Friedrichs Nase, als ob sie alles wieder auswi­schen, sich aus der Trance erwecken wollte. Dazu passten auch die mehrfa­chen, oberflächlichen Schmatzer, die Friederichs Gesicht überall verpasst be­kam. Ungeschehen machen wollte Yasemin es keinesfalls, nur sich wieder zu­rückholen aus ihrer Ekstase ähnlichen Versunkenheit. „Wir kennen uns ja gar nicht.“ hatte Yasemin gesagt. Viel mehr aus Friederichs Bio kannte sie jetzt auch noch nicht. Alles, was er über sich erzählen müsste, wenn er sich irgend­wo vorstellen würde, davon wusste Yasemin auch so gut wie nichts. Trotzdem, Yasemin war sicher, dass sie noch nie einen Menschen so gut gekannt hatte wie Friederich. Also alles nur Tand und Tingeltangel, was man meint, so unbedingt vordringlich voneinander wissen zu müssen? „Das wäre gut möglich,“ vermute­te Yasemin, „denn für den wirklichen Menschen interessiert sich doch niemand. Wer könnte ihn denn auch schon erkennen? Nur seine Maske mit all ihren Ver­zierungen, Schnörkeln und Arabesken ist in der Welt von Bedeutung.“


Adagietto

In der Philharmonie gab man einen Mahler Abend. „Da müssen wir hin, Friede­rich.“ forderte Yasemin. „Was kennst du von Mahler oder überhaupt nichts?“ erkundigte sie sich. „Ja, aber ganz wenig. 'Ich bin der Welt abhanden gekom­men.' zum Beispiel, das kenne ich.“ antwortete Friederich. Lieder von ihm kommen aber an dem Abend nicht vor, kein Gesang, dafür aber zum Beispiel das Adagietto aus der 5 Sinfonie, das entschädigt für alles, was sonst fehlen könnte.“ erklärte Yasemin. „Was meinst du, Friederich, merkt es die Allgemein­heit eigentlich, wenn ich ihrer Welt abhanden gekommen bin?“ wollte Yasemin wissen. Friederich zeigte durch seine ganze Mimik mit Grinselächeln nur, dass ihm die Frage gefiel, zu einer Antwort veranlasste sie ihn aber deshalb nicht. „Mit der sogenannten Allgemeinheit habe ich mittlerweile schon meine Proble­me, aber das ist ja auch gleichgültig. Ich war verloren gegangen und habe mich wiederentdeckt, du hast es mir ermöglicht. Erst jetzt fange ich an, mich weiterzuentwickeln und Neues zu leben. Ganz anders ist das Leben, das jetzt erst für mich begonnen hat.“ fügte Yasemin an. „Die Allgemeinheit willst du auch abschaffen? Sie wird dir aber Probleme machen, wenn du dich völlig da­neben benimmst.“ meinte Friederich dazu. „Es war nicht die Allgemeinheit, sondern die Verhaltenserwartungen und -ansprüche der Leute in meiner Schicht. Natürlich hast du Gefühle. Du freust dich oder bist traurig, das ist selbstverständlich. Nur die Schwingungen haben sich für ein anständiges Mäd­chen innerhalb eines bestimmten Spektrums zu bewegen. Amplituden, die nach oben oder unten darüber hinausgehen, sind höchst unschicklich, disgus­ting, das tut man nicht. Gefühle ja, aber nur mit gebremstem Schaum. Eigent­lich liebe ich Mahler, besuche seine fünfte Sinfonie, ich freue mich auch. Es war schon ganz nett. Ich gehe nach Hause und stecke es weg. Friederich, wo habe ich gelebt? Warum bin ich nicht vor Freude ausgerastet? Ich könnte und müss­te glücklich sein, aber ich weiß es nicht und darf es nicht merken. Du lebst, aber deine Seele hat tot zu sein.“ erklärte Yasemin. Der Mahler Abend wurde zum musikalischen Liebesabend. Sie hielten sich nicht nur zeitweilig ihre Hän­de, sondern streichelten und betasteten sich auch sonst bei allen Passagen, die Anlass dazu boten. Das Adagietto nahmen beide mit aneinanderliegenden Wangen auf. Yasemin war sicher, so auch zu spüren, wie Friederich es hörte, und was er empfand. „Eine Liebeserklärung ist das, von Mahler für seine Frau Alma.“ wusste Yasemin. Als Friederich sich bei ihr für den wundervollen Abend bedanken wollte, schimpfte sie. „Es war unser Abend, Friederich. Ich habe ihn dir nicht geschenkt. Wenn, dann habe ich dir höchstens etwas ganz anderes geschenkt.“


Profunde Liebe

Dass Yasemin am glücklichsten war, wenn sie Friederich ihre Liebe schenken konnte, hatte sonst niemanden zu interessieren, aber Isabella musste es unbe­dingt erfahren. „Also zwei oder drei mal die Woche für ein, zwei Stunden oder nur bei einem Kaffee Liebesrausch?“ verstand es Isabella und blickte Yasemin skeptisch an. „Du spinnst, Isabella. Liebesrausch, so ein Unfug. Unsere Liebe ist immer gegenwärtig und ein Rausch ist sie nie gewesen.“ Yasemin darauf. „Aber ich bitte dich, wenn ihr euch nur manchmal kurz seht, verliebt spielt und sonst nur voneinander träumen könnt, was ist das denn für eine Liebe? Ich gönne dir dein Glück doch, Yasemin, und möchte dir auch nicht Angst machen, aber du musst es doch mal realistisch sehen.“ meinte Isabella. „Und was ist es, was du realistisch siehst?“ wollte Yasemin wissen. „Na ja, Liebe ist immer wunderschön, aber es ist ein Gefühl, und Gefühle ändern sich. Ich vermute, dass es nicht lange dauern wird, bis es dir kein Hochgefühl mehr bereitet, Friederich zu sehen, sondern du es als ganz normal empfinden wirst.“ erläuterte Isabella. „Dann ist es mit der Liebe vorbei, meinst du. Dann ist der Rausch verklungen. So wird es nicht sein, Isabella. Meine Gefühle für Friederich werde ich nicht wieder vergessen können.“ antwortete Yasemin. „Das wünschen sich alle Paare, aber immer verschwindet die Verliebtheit über kurz oder lang. Warum sollte es bei euch anders sein?“ Isabella dazu. „Das magst du so einschätzen, aber Liebe kann doch durchaus von Dauer sein und muss sich nicht verflüchtigen. Meine Mutter zum Beispiel, ich habe sie immer geliebt, liebe sie heute und weiß, dass ich sie stets lieben werde. Das sind auch Gefühle, aber sie ändern sich nicht permanent.“ entgegnete Yasemin. „Ja, natürlich,“ meinte Isabella, „aber das ist doch eine ganz andere Liebe, sie ist tiefgründig und komplex, sie beruht auf vielfältigen gemeinsamen liebevollen Erfahrungen und umfasst euch beide umfänglich. Sie rekurriert sich nicht aus dem Gefühl amourösen Schwärmens. Wie wollt ihr beide denn eine so tiefgründige Liebe erreichen, wenn ihr nichts gemeinsam macht, nicht zusammen lebt und noch nicht mal miteinander ins Bett geht.“ „Ich gehe mit meiner Mutter auch nicht ins Bett.“ erklärte Yasemin patzig und vielleicht auch ein wenig wütend. „Ich finde, was du sagst mag in seiner Allgemeinheit so zutreffend sein. Natürlich haben Friederich und ich uns fast von Anfang an auf eine unerklärliche weise gemocht, aber zu amourösem Schwärmen ist es nie gekommen. Ich kann gut allein leben und verzehre mich nicht in Sehnsucht nach Friederich. Tiefgründig sollte eine Liebe schon sein, da gebe ich dir Recht. Als ich damals verliebt war, konnte man davon nicht sprechen, aber bei Friederich entwickelte sich die Liebe mit der Tiefgründigkeit unseres gegenseitigen Verstehens. Isabella, mit Friedrich ist das anders, als was die Allgemeinheit so unter verliebt sein versteht. Keinesfalls sind es Gefühle an der Oberfläche, die morgen wieder verschwunden sein können.“ erklärte Yasemin zu ihrer Liebe. Isabella blieb skeptisch. Auch wenn sie mehr verstand, Yasemin zuhörte und sich auf sie einließ, war sie doch in ihrem Denken und Handeln weitgehend der Allgemeinheit verbunden.


Point of no Return

„M, m.“ brummte Yasemin nur ablehnend, als sie Friederichs Hand zurück schob. „Das fühlt sich aber so gut an.“ wusste der nur entschuldigend anzu­merken. „Meine Haut fühlt sich überall gut an, aber du wirst sie nicht überall berühren.“ Yasemin darauf scherzend. Ihr Top war hochgerutscht, sodass bis zur Hose ein Stück von Yasemins Bauch frei war. Friederich hatte seine Hand darauf gelegt, sie gestreichelt und seine Hand weiter nach oben unter das Top gleiten lassen. Das wollte Yasemin nicht. Sie legten sich jetzt immer gleich aufs Bett, auch wenn sie nur einen Kaffee trinken wollten. Das sei am einfachsten und bequemsten, meinten Yasemin und Friederich. „Alles haben wir von den Griechen übernommen, nur dass man beim Diskutieren und Essen liegt, scheinen alle vergessen zu haben. Bei Platons Gastmahl zum Beispiel haben sie alle gelegen.“ bemängelte Yasemin. „Ja, aber nur die Männer.“ wandte Friederich ein. „Und Diotima, die war doch auch dabei.“ wusste Yasemin. „Nein, nein,“ korrigierte Friederich, „von der hat Sokrates ja nur erzählt.“ „Wie dem auch sei, wir werden es übernehmen und in erweiterter Form mit liegenden Frauen fortführen. „Weißt du, Friederich, wir hatten früher zu Hause eine Katze. Die lag ständig in ihrem Körbchen. Manchmal schlief sie auch, aber oft konnte man vermuten, sie würde die warmen Wonnestrahlen der Glückssonne direkt in ihr Gemüt scheinen lassen. Ich habe sie beneidet, mir gewünscht, dass wir Menschen auch so unbeschwert direkt uns glücklich fühlen können sollten. Was die Mieze wirklich empfand, weiß ich zwar nicht, aber so wie meine Einschätzung es sah, so fühle ich mich immer, wenn du bei mir bist.“ erzählte Yasemin. „Und wenn du sie dann gestreichelt hast, kam es zum Wohlfühlhöhepunkt, und sie begann zu schnurren.“ vermutete Friederich. „Genau weiß man das gar nicht, warum Katzen beim Streicheln schnurren.“ Yasemin dazu. „Wenn ich dich streichele, dauert es oft nicht lange, bis du aufspringst und deklamierst: „Nein, nein, ich will das nicht.“ wusste Friederich zu berichten. Yasemin lachte verschmitzt, und nach einem ausführlichen Liebkosungszenario erklärte sie: „Ich hab es doch schon mal gesagt, das ist eine Warnung für mich selbst. Ich empfinde es einfach angenehm, gestreichelt zu werden, auch als Kind schon. Wenn du mich streichelst ist das aber nicht nur allgemein schön. Ich spüre immer, dass es deine Hand ist. Friederichs Hand liegt auf meinem Rücken, streicht mir die Beine hoch und über meinen Po. Es ist nicht nur deine Hand, mir kommt es vor, als ob ich dich ganz spüren würde. Wie viel Stoff dazwischen ist, spielt keine Rolle. Ich spüre es im ganzen Körper bis in die Zehen. Da habe ich Angst, dass es zu einem Punkt kommen könnte, an dem ich nicht mehr stop sagen kann. Verstehst du? Ein Punkt, an dem meine Libido die Herrschaft bei Yasemin übernimmt. Libido? So ein Quatsch, ja oder vielleicht doch. Wenn wir uns drücken streicheln küssen, dann wollen wir uns auch körperlich, nur wenn du mich so streichelst, dann wird das Bedürfnis immer intensiver, dann möchte ich immer mehr von dir. Alles möchte ich dann von dir. Und nur das, sonst sehe ich nichts mehr. Dazu möchte ich es aber nicht kommen lassen.“ erläuterte Yasemin.


Britta

„Ich habe mich mit Britta gestritten. Sie möchte dich kennenlernen.“ erklärte Friederich als er an einem Tag im April Yasemin besuchte. „Nein,“ erklärte Ya­semin strikt, „das wird es nicht geben. Ich habe mit Britta nichts zu tun und will es auch nicht. Sie ist deine Freundin. Ich weiß von ihr nichts und will auch von ihr nichts wissen.“ Friederichs Mimik ließ deutlich erkennen, dass er von Yasemins Reaktion nicht begeistert war. „Sie ist deine Liebe, und was du mit ihr hast, damit habe ich nichts zu tun. Das müsst ihr beide unter euch klären. Wir haben nur unsere schönen Momente.“ verdeutlichte ihm Yasemin. „Ah ja, und was macht die Momente so schön? Dass wir so gut miteinander reden können und dass der Kaffee so gut schmeckt?“ ironisierte Friederich leicht missmutig. Wie das wohl ablief, wenn Friederich und seine Freundin sich stritten, überlegte Yasemin. Ob sie sich richtig beschimpfen würden, so Streit, was man gemeinhin darunter verstand, bei dem jeder immer der Sieger sein wollte? Sie konnte sich ja auch mit Friederich streiten, aber das ganze Spektrum von Herabwürdigungen und Beschimpfungen des anderen lag für sie außerhalb jeder Vorstellungsmöglichkeiten. Ob Friederich so etwas doch konnte und Britta gegenüber praktizierte? Als Junge hatte er so etwas doch bestimmt gelernt. Aber nein, das wollte Yasemin sich nicht vorstellen. Was Britta motivierte, sie kennenlernen zu wollen, hätte Yasemin schon gern mal gewusst. Nein, nein, sie wollte mit all dem nichts zu tun haben. Friederich blickte ratlos. Er hatte sich bestimmt etwas von dem Treffen der beiden erhofft. „Männer können leicht hilflos sein, nicht war?“ sprach ihn Yasemin an. „Ich dachte, es gäbe sie nicht mehr, die Männer.“ bemerkte Friederich kühl. „Stimmt, du hast Recht, aber dieses Individuum, dass man unter unseren derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen in der Regel mit der Bezeichnung Mann belegen würde, scheint sich mit etwas schwer zu tun. Ich würde dir ja gern helfen, nur das kann ich gar nicht. Dieser Bereich deiner Welt ist fern von mir, und ich möchte auch, dass es so bleibt. Ich wollte für uns beide Probleme vermeiden, als ich sagte, Liebe kann es zwischen uns nicht geben, dafür gibt es deine Freundin Britta. Wir wollten nicht über Perspektiven nachdenken, und ich kann mir auch jetzt keine vorstellen, aber verändert hat sich doch wohl einiges. Friederich, es ist einfach so gekommen, ich konnte mich nicht dagegen wehren und habe es auch nie versucht, obwohl ich es ja im Grunde eigentlich nicht wollte. Daraus resultiert unsere verrückte Situation. Wir lieben uns unsterblich, aber nur mit Worten und Küssen, und du hast noch eine Liebe, die für mich völlig im Dunkeln liegt. Wenn sich für dich Probleme daraus ergeben, bist du der einzige, der sie lösen kann und muss. Ich kann dazu nichts sagen, kann dir dabei nicht helfen, ich habe damit nichts zu tun.“ erklärte Yasemin. Versöhnt war Friederich schon. Offensichtlich hatte er Yasemin verstanden, denn die beiden drückten und liebkosten sich ausdauernd. Friederichs Problem war dadurch aber nicht gelöst.


Summertime

Ein heißer Sommertag. Heute gab es keinen Kaffee sondern eisgekühlten Oran­gensaft. Auch wenn die Hitze quälte, schien sie doch fast übermütige Glücks­gefühle zu erzeugen. Friederich war gerade von der Uni gekommen, und die beiden juxten und alberten. An so einem Tag war es wirklich ein Genuss, wenn man liegen konnte. Yasemin und Friedrich lachten und scherzten, bis sie sich schließlich doch mal innig umarmen mussten. Sie lösten sich gar nicht wieder, wollten anscheinend das Küssen und das Empfinden des anderen Körpers per­petuieren. Yasemin hatte nur ein dünnes Sommerkleidchen und einen Slip an. Dass der Stoff so dünn und die Beine nicht mit einer Hose bedeckt waren, spielte für Yasemins Empfinden offensichtlich doch eine Rolle. „Zieh das aus.“ forderte sie Friederich auf und meinte sein Oberhemd, das sie schon fast ganz aufgeknüpft hatte. „Du auch.“ reagierte Friederich. Sie zogen sich beide aus, den Slip ließen sie vorerst noch an. Der Point of no Return war längst unbe­merkt überschritten. Yasemin hatte die Lippen leicht geöffnet und atmete tief, die Lider hatte sie geschlossen, nur manchmal riss sie die Augen weit auf und starrte dabei Friedrich lächelnd an. „Hau ab!“ stieß Yasemin Friederich lachend zurück. Sie empfand, er würde drängeln. Von der Seite über Friederich gebeugt erklärte sie: „Ich will es doch auch, Friederich, aber nicht so hastig, langsam mit Gefühl und behutsam. Wir wollen es doch möglichst lange genießen. Oder stehst du auf Brutalo Sex?“ Friederich umschlang Yasemin und kugelte sich lachend mit ihr. „Was redest du für einen Unsinn, Yasemin. Wie kannst du nur auf so einen Blödsinn kommen?“ reagierte er. „Friederich, wie sprichst du denn. So redet man nicht bei der Liebe.“ gemahnte Yasemin. „Sondern?“ wollte Friederich wissen. „Bei der Liebe sagt man nur zärtlich, leise einzelne liebevolle Wörter, vielleicht auch zwei.“ meinte Yasemin. „Ah ha, und woher weißt du das? Macht man das eben so, oder steht das im 'How to for Couples in Love'?“ mutmaßte Friederich. Yasemin zog eine krause Mimik. „Wir quasseln schon wieder. Wir können das gar nicht. Wir können nur reden, immer nur reden und reden. Wir sind scharf aufeinander, aber was tun wir? Wir fangen wieder an zu reden.“ erklärte Yasemin missmutig. Ein günstiger Moment, aufzustehen und sich wieder anzuziehen. Yasemin wollte es ja grundsätzlich nicht und prinzipiell nicht, und auch heute hatte sie es eigentlich nicht gewollt. Sie stand aber nicht auf, sondern legte sich halb schräg auf Friederich. Ihr linkes Bein hatte sie angewinkelt und über seine Hüfte gelegt und ihre linke Hand hielt sich an Friederichs rechtem Oberarm. Ihren Kopf hatte sie in seiner Schulter vergraben. Weinte Yasemin? Unmöglich wäre es nicht. Nach geraumer Zeit kroch sie ganz auf Friederich. „Du fühlst dich aber auch gut an, ich meine deine Haut und ins gesamt so.“ sagte sie mit einem Lächeln. „Weißt du, früher gab es beim Christkind immer einen Teller mit Süßigkeiten. Was ich am liebsten mochte, habe ich bis zuletzt zurückgelassen. So konnte ich es jeden Tag sehen und mich jeden Tag darauf freuen, wie gut es mir schmecken würde, wenn ich es äße. Mit der Verzögerung wächst die Begierde und die Lust.“ Friederich lachte. „Und wie viele Tage werden wir uns darauf freuen müssen mit der Vorstellung, wie schön es wäre, wenn wir miteinander schliefen?“ wollte er von Yasemin wissen. Schmunzelnd erklärte sie: „Keinen Tag mehr, das andere haben wir alles schon an den vielen Tagen bisher probiert.“ Auch wenn sie sich noch so viel zu erzählen wüssten und der Drang miteinander zu reden noch so stark war, irgendwann übernahm das gegenseitige Empfinden ihrer Körper die Führung und schien ihre Sprachzentren abgeschaltet zu haben. Ob sie Friederich jetzt liebte, daran dachte Yasemin im Moment gar nicht, sie wollte ihn einfach nur, voll und ganz und intensiv. Abgekämpft und völlig verschwitzt lagen sie nebeneinander auf Yasemins Bett. Friederich beugte sich über Yasemin und wollte offensichtlich etwas sagen. „Silence, pas un mot.“ sagte Yasemin leise und legte Friederich einen Finger auf seinen Mund. Orgasmic Bliss? Oder wolle Yasemin nur durch nichts im Nachhall ihrer Gefühle und in ihren Gedanken gestört werden. Nach einiger Zeit erklärte Friederich: „Ich würde jetzt doch gern einen Kaffee trinken.“ Yasemin stand auch auf, drückte und herzte Friederich und sagte: „Ich müsste eigentlich mal zuerst duschen, oder besser nach dem Kaffee, was meinst du?“ Nach allem würde jetzt Friederich befragt. Yasemin kam es vor, als ob er zu einem Teil von ihr geworden sei. Wirkte es sich doch auf das Verhältnis zueinander, auf Liebe und Zuneigung aus, wenn man auch Sex miteinander hatte? Unbedeutend war es keinesfalls, das spürte Yasemin, aber erklären konnte sie es sich nicht. „Ausgesprochen behutsam warst du.“ ironisierte Friederich beim Kaffee. „Na ja, ich brauchte ja auch Entschädigung für die lange Zeit ohne Liebe, aber ich möchte da gar nicht drüber reden. Es waren fantastische Gefühle für uns beide, die wir durch Worte und Analysen nur beschädigen können. Ich möchte den Schatz einfach so bewahren und die Erinnerung daran genießen.“ erklärte Yasemin. Früher wusste Yasemin ja oft nicht so recht, aber jeder Tag ein Sommertag, morgens frühstücken, anschließend zur Uni und nachmittags mit Friederich Liebe machen. Das wäre doch eine Perspektive. Aber auch wenn Yasemin absolut begeistert war, und sie es zweifellos gern wiederholen würde, blieb es ein Versehen. Sie bereute nichts und war glücklich, aber das gehörte nicht zu ihrer Beziehung mit Friederich. Da war sie sich ganz sicher. Nachmittags mit ihr, und abends ging Friederich mit Britta ins Bett. Das kam für Yasemin nicht in Frage, auch wenn es ihr noch so gut gefallen hatte. „Kannst du nicht die Nacht über bleiben?“ fragte Yasemin. „Natürlich würde ich gerne, meine Liebste, dich nie mehr verlassen, immer mit dir im Bett bleiben. Nur es wird Stress geben, und der Ausgang ist nicht abzusehen. Ich weiß nicht, ob es sich dafür lohnt? Wir werden bestimmt mal eine Nacht für uns haben.“ erklärte Friederich. „Das werden wir nicht.“ dachte Yasemin, „Heute wäre es möglich, aber ein anderes mal würde es nicht geben.“ Sie sagte es aber nicht.


Beziehungsdekonstruktion

Als Friederich wieder kam, lagen sie auf Yasemins Bett und schmusten. Friede­rich schien selbstverständlich davon auszugehen, dass sie wieder miteinander schlafen würden. „Nein, Friederich, einmal ist es geschehen, und es war wun­dervoll, aber das ist nicht unsere Beziehung. Ich habe gesagt: „Es wird keine Liebe zwischen uns geben.“, aber das ließ sich nicht verhindern, dass wir Sex miteinander haben, lässt sich aber sehr wohl verhindern. Ich will es nicht und stehe dafür nicht zur Verfügung.“ erklärte Yasemin apodiktisch. Erfreut war Friederich über ihre Worte keinesfalls, aber akzeptieren würde er es wohl müs­sen. Er liebte Yasemin. Mit ihr zusammen zu sein, mit ihr zu diskutieren oder gemeinsam etwas zu unternehmen, das hatte ihn immer glücklich empfinden lassen. Es war zwar wundervoll mit ihr im Bett gewesen, aber daraus bestand seine Liebe nicht. Yasemin hatte es so selbstbewusst verkünden können, aber wenn sie jetzt an Friederich dachte, war immer auch ihr Erlebnis im Bett dabei. Es kam ihr so vor, als ob sie viel öfter an Friederich denken müsste als sonst. Es ging ihr nicht um Sex, aber das Erlebnis im Bett hatte für Yasemin ihre Be­ziehung verändert. Sie würde ihre Beziehung mal genau analysieren und de­konstruieren müssen. Sie sei ein Produkt von gesellschaftlichen, politischen und triebhaften Strukturen und gelte nicht als kreatives Wesen, erklärte die Postmoderne. Dass sie kein Ergebnis der Vorstellungen und Anforderungen ei­ner globalen Allgemeinheit war, sah sie schon so, welche Strukturen aber wie dem Individuum, dem Selbst von Yasemin zu Grunde lagen, war ihr allerdings nicht ganz deutlich. Es mussten auch wohl triebhafte Strukturen sein, die ihr bisher verborgen geblieben waren, aber das lag doch nur an Friederich. Sie hatte doch nicht das allgemeine Bedürfnis, mit einem Mann ins Bett zu wollen. Alles schon mal dagewesen, alles nur wiederbeschriebenes Papier, wie die Post­moderne meinte? Das konnte nicht sein. Absolut kreative Wesen waren sie und Friederich in ihrer Liebe. Natürlich liebten sich andere auch und fickten auch miteinander, aber ihre Liebe war ein genuin schöpferischer Akt, eine absolute Neuschaffung der Liebe, wie sie nur in der Beziehung von Friederich und Yase­min entwickelt werden konnte. Liebesrausch, das hatte Yasemin wirklich nicht gekannt, aber jetzt spürte sie, wie sie sich öfter nach Friederich sehnte, auch wenn sie den Beschluss, nicht mit ihm zu schlafen, strikt beachtete. Friederich hatte sich in ihrer Wahrnehmung verändert.


„Die These, dass es keine absolute theoretische Wahrheit geben kann, schließt das menschliche Erkennen und Forschen, Einsehen und Formulieren von jeder Endgültigkeit aus oder besser: bewahrt sie vor jeder Endgültigkeit und hält sie in Bewegung.“ hatte Ballauff gesagt. Auch wenn Yasemin nichts mehr von ihm wissen wollte, aber das hätte Ausgangspunkt für die Postmoderne sein können. Endgültig war auch in der Beziehung zwischen Yasemin und Friederich nichts. Sie bestand aus immerwährender Bewegung, aus ständigem Austausch, in dem auch all ihre Vorstellungen, Visionen und Gespenster eine Rolle spielten. Sie machten ja nichts gemeinsam, hatte Isabella bemängelt. Natürlich schrie­ben sie nicht gemeinsam eine Arbeit oder erledigten den Haushaltskram zu­sammen, aber sie begegneten sich nicht, wie zwei, die um den Zustand ihrer Liebe wussten. Den gab es nicht. Ihre Liebe entsprach ebenso einem Prozess, wie Yasemin es von ihrem Selbst definiert hatte, sie kam eher einem Fluss gleich, der an keinem Tag, wie am vorhergehenden ist. Yasemin und Friederich schafften ihn immer wieder neu. „Ich liebe dich, Yasemin.“ erklärte Friederich unvermittelt. Yasemin lachte. „Es ist zwar immer schön, es von dir zu hören, Friederich, aber meinst du nicht, dass ich das weiß. Was motiviert dich denn im Moment?“ fragte sie. „Ja, natürlich, aber ich musste es mal ausdrücklich sagen, weil es mir das Wichtigste ist.“ erklärte Friederich. „Hat das etwas mit Britta zu tun?“ wollte Yasemin wissen. „Ach, es quält mich total. Ich liebe Britta, sie ist eine so wundervolle Frau, und sie hat ja nichts verändert. Du verkörperst für mich aber nicht etwas Gewohntes, das ich immer wieder erfahre, du bist für mich das Leben, an dich muss ich immer denken. Es ist unerträglich. Ich liege mit Britta im Bett und denke an uns.“ erklärte Friederich. „Wie willst du das lö­sen? Wie willst du da rauskommen? Brauchst du zwei Frauen? Wünscht du dir etwa eine Menage a Trois?“ fragte Yasemin provokant. „Ich konnte das doch nicht vorhersehen.“ Friederich nur kurz. „Sonst hättest du auch gleich von An­fang an gesagt: „Liebe kann es nicht geben.“ und hättest alles ganz anders ge­macht, nicht wahr?“ vermutete Yasemin ironisch. „Du machst dich über mich lustig, Yasemin, und ich weiß nicht, was ich tun soll.“ erklärte Friederich. „Na, ehrlich sein, zu dir selbst stehen, darauf hören, was deine Gefühle dir sagen und es enthusiastisch leben, was denn sonst? Mir würdest du das jedenfalls ra­ten.“ lautete Yasemins Empfehlung. „Da liegt ja das Problem, meine Gefühle sind eindeutig mehr bei dir, du versprichst mir das Leben, ein enthusiastisches Leben.“ erklärte Friederich leicht scherzend, „Aber ich kann Britta doch nicht sagen: „Ich brauche dich nicht mehr.“ Was zwischen uns ist und gewesen ist, kann ich doch nicht einfach abhaken und beenden. Stell dir vor, du solltest dei­ner Schwester sagen: „Ich liebe dich nicht mehr. Ich liebe jetzt eine andere.“ so ähnlich kommt mir das mit Britta vor. Es ist nichts geschehen, wir haben uns nichts vorzuwerfen, nur du bist eben ständig in mir gegenwärtig.“ erklärte Friederich. „Wie soll ich dir da konkret helfen? Du wirst verstehen, dass ich das gar nicht kann. Platon bezeichnet in seinem Symposion das Streben nach Unsterblichkeit und Ewigkeit als das Wesen des Eros. Ein Streben setzt aber ein Entbehren voraus. Empfindest du denn, dass du etwas entbehren musst?“ fragte Yasemin. „Vielleicht hat es auch etwas mit Ewigkeit und Unsterblichkeit zu tun, woran ich denke, aber was ich entbehre weiß ich genau.“ antwortete Friederich. Yasemins Liebkosungen und Zärtlichkeiten brauchte Friederich heute nicht zu entbehren, aber wie sich alles entwickeln würde, wusste keiner ganz genau.


Friederichs Qualen

Friederichs Worte hatten Yasemin geschmeichelt. Dass er sie liebte, stand für Yasemin ohne jeden Zweifel fest, nur sie hatten es kaum verbalisiert, weil Ya­semin ja offiziell keine Liebe wollte, solange er mit Britta zusammenlebte. Aber in ihrem Verhalten hatten sie sich wenig darum geschert. Wenn Yasemin immer wieder Friedrichs Glücksempfinden erleben konnte, solange sie zusammen wa­ren, empfand sie es als stärksten Liebesbeweis. Sie verspräche Friederich das Leben, so hatte sie es noch nie gehört. Was er da wohl für Visionen hatte. Wenn Yasemin dachte, Friederich käme zu dem Schluss, sich für eine Frau ent­scheiden zu müssen, und er würde sagen: „Ich will mit Britta weiter leben, deshalb ist jetzt für uns Schluss.“ musste sie lachen. Aber Friederich quälte es, er würde nach einer Lösung suchen. Ob er sich von Britta die Erlaubnis holen würde, Yasemin auch lieben zu dürfen? Ob sie zustimmen würde, weil sie Frie­derich sonst ganz verlöre. Das alles konnte Yasemin nicht wissen, aber es war bestimmt nicht das letzte mal, das Friederich davon gesprochen hatte. Friede­rich sprach gar nicht mehr. Er hatte schon eine Woche nichts von sich hören lassen. Gewöhnlich kam er drei oder wenigsten zwei mal in der Woche. Yase­min war besorgt. Dass er überhaupt nichts von sich hören ließ, machte ihr Angst. Sie rief ihn an. Ein Anrufbeantworter, er möge sich, bitte, dringend mel­den, sprach Yasemin darauf. Eine halbe Stunde später tat er es und entschul­digte sich ständig. Er diskutiere permanent mit Britta. „Es ist entsetzlich, Yase­min. Ich habe mir immer vorgemacht, sie wüsste ja alles, aber das war eben nur die triviale Oberfläche, die mich zufriedenstellen sollte. Wir möchten uns gut leiden und tränken ab und zu einen Kaffee miteinander. Was ich für dich empfinde, davon wusste sie natürlich nichts. Sie weint immer. Ich halte das nicht aus. Sie erzählt von ihren Perspektiven und Hoffnungen, und weint und weint. Du hast Recht, ich bin doch kein Mann, zumindest was Britta betrifft.“ erklärte Friederich. „Und was machte ein richtiger Mann?“ wollte Yasemin wis­sen. „Der hätte klare Vorstellungen, würde sie erklären und umzusetzen versu­chen.“ wusste Friederich. „Und du, was machst du?“ fragte Yasemin nach. „Ich höre Britta nur zu und möchte sie verstehen. Alles Glück dieser Welt, würde ich, wenn ich es könnte, ihr schenken, um sie zu entschädigen. Ich hätte ihr gehört, sagt sie, und das sei ja nun definitiv nicht mehr der Fall. Sie meint, dass ihr mein Herz gehört hätte. Es gehört ihr ja immer noch, aber das will sie nicht so sehen und verstehen. Yasemin, ich bin kein Mensch, der so etwas kann. Ich kann nicht mit Gefühlen und Zuneigung handeln. Ich sollte mich auch an der Allgemeinheit orientieren, dann wüsste ich, wie man mit so etwas eben umgeht. Und dann immer diese Enttäuschung, dass sie das von mir niemals erwartet hätte. Es kommt mir manchmal vor, dass ich selbst noch stärker darunter leide als Britta. Ich kann das nicht.“ klagte Friederich. Sie schwiegen. Yasemin wusste auch gar nicht, was sie direkt dazu sagen sollte. „Friederich, wie du erzählst, kommt es mir vor, als ob du auch ein wenig konfus wärest. Willst du nicht doch mal vorbei kommen, ein wenig andere Luft schnappen?“ fragte Yasemin. Friederich kam. „Ah, tut das gut.“ stöhnte er nach dem Begrüßungskuss, „Ein wenig mehr als nur frische Luft, nicht wahr?“ Yasemin strich ihm zärtlich über Stirn und Wangen. Ein Trost für den Armen, aber so gefiel er ihr auch, so hatte sie sich ihn vorgestellt. Frauen gehen meistens stärker in ihrer Leidenschaft auf, für Männer gilt das eher als uncool, sie wahren immer eine gewisse Distanziertheit, können ihre Gefühle handlen. Wenn sich etwas besseres ergibt, entscheiden sie sich eben dafür. Friederich schienen seine Emotionen und Leidenschaften zu überwältigen. Bestimmt war er auch deshalb Pädagoge. Nicht weil es ihm gefiel, seinen Zöglingen den rechten Weg zu weisen, sondern weil er es leidenschaftlich liebte, andere Menschen zu verstehen, sie zu erkennen und ihnen menschlich näher zu kommen. Dass Britta es sich bei Friederich niemals hätte vorstellen könne, war für Yasemin gut nachzuempfinden. „Es ist vorbei, Yasemin. Britta trauert schon. Eine andere Perspektive zeichnet sich ja auch überhaupt nicht ab. Innerlich hat sie mich verloren, es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann wir es offiziell aussprechen.“ erklärte Friederich. „Und für dich, wie ist es für dich, hasst du Britta auch schon verloren?“ fragte Yasemin. „Es ist eine Krux. Selbstverständlich liebst du deine Mutter oder deine Schwester wie bisher, wenn du einen Freund oder eine Freundin hast, aber zwischen Mann und Frau geht das nicht.“ klagte Friederich. „Prinzipiell geht das schon, nur ist das ein weites Feld, das für Britta, dich und mich, wahrscheinlich indiskutabel ist. Ich denke, du wirst es Britta verdeutlichen können, dass du auch weiterhin ein guter Mensch bist und ihr deine Wertschätzung und Zuneigung gehört, selbst wenn deine Liebe primär bei mir ist.“ erklärte Yasemin.


Trennung von Britta

Friederich und Yasemin trafen sich jetzt wieder regelmäßig zum Kaffee und re­deten keineswegs nur über den Stand der Entwicklung zwischen Britta und Friederich. Friederich schien gelöster und konnte auch wieder scherzen. Offen­sichtlich brauchte er Yasemin wirklich zum Leben. Oder er brauchte die Liebe. An deine Liebe zu denken macht wundervolle Gefühle, deine Liebste oder dei­nen Liebsten zu sehen und mit ihm zu reden, potenziert diese Gefühle noch einmal. Es sind keine Gefühle, die du einfach jetzt erfährst, und die morgen ganz anders sein können. Sie beeinflussen dich in deinem Denken, Handeln und gesamten Leben. Nirgendwo sonst erfährst du das, nur die Liebe ist nicht eigennützig, sondern sie ist absichtslos und kennt kein Kalkulieren. Wenn du tiefgründig verliebt bist, stellt sich das Leben für dich anders dar, die Liebe do­miniert dein Empfinden, deine Sichtweisen und deine Entscheidungen, sie ist allgegenwärtig und immer vorhanden. Bestimmt war es für Friederich einfacher und erträglicher, weil Yasemin und er sich wieder trafen und sich gegenseitig austauschten. „Du hast immer gesagt: „Ich weiß nicht so genau.“, jetzt bin ich der Ratlose. Du kannst alles verlieren, was du besitzt. Angenehm ist das sicher nicht, aber bei der Vorstellung merkst du, dass du nicht aus deinen materiellen Gütern und deiner beruflichen Stellung, sondern aus deinen sozialen Beziehungen bestehst. Die Kirche sagt: „Alles ist nichts wert, wenn du die Liebe nicht hast.“ Dem kann ich nur zustimmen, aber davon etwas zu verlieren, bereitet folglich auch die größten Schmerzen. Es wird so kommen, das lässt sich nicht verhindern, sondern nur betrauern.“ erklärte Friederich. „Mir gefällt es, wie du darunter leidest. Ich mag dich sehr dafür.“ sagte Yasemin und lachte, „Früher hätte ich das gar nicht verstanden, aber ich habe mich enorm entwickelt und meine auch ganz viel von dir zu kennen, vielleicht sogar manchmal mehr als du selbst weißt. Du bist in der Tat kein Mann, wie die Männer eben so sind. Dein Umgang mit Liebe, Leidenschaft, Verletzlichkeit entspricht überhaupt nicht dem üblichen Männerbild. „Wie jemand liebt, ist Ausdruck der Größe seines Charakters.“ das hat schon Platon gesagt, und ich bin mittlerweile so weit, dass ich meine, es verstehen zu können.“ erklärte Yasemin.


Es dauerte noch drei Wochen, bis Friederich kam und sagte: „Es ist entschie­den.“ Yasemin merkte, wie sie plötzlich erschrak. Jetzt kam sie sich wieder als die Ratlose vor. Sie konnte nicht nur damit rechnen, es war ja sicher, dass es sich so entwickeln würde. Nur an die Konsequenzen hatte sie keinen Gedanken verschwendet. Die Regelungen in ihrer Beziehung mit Friederich hatten sich so entwickelt, und Yasemin war im Prinzip glücklich damit, auch wenn sie sich manchmal nach Friederich sehnte. Jetzt hatten sich die grundlegenden Bedin­gungen völlig verändert, und ob sie sich die möglichen Konsequenzen wün­schen würde, wusste sie gar nicht. „Jetzt sind wir völlig frei, können gemein­sam tun und lassen was wir wollen, und ich kann mich gar nicht freuen.“ mein­te Friederich erstaunt. „Du brauchst es mir nicht zu erklären. Ich kann dich sehr gut verstehen.“ reagierte Yasemin. „Ich werde mir jetzt eine neue Woh­nung suchen müssen. Ich bin ja das Enfant terrible. Unsinn, Britta hat es für sich auch überlegt, nur sie kann unsere jetzige Wohnung auch allein finanzie­ren, ich kann das nicht.“ erklärte Friederich. „Wie, die Studienrätin Britta ver­dient mehr als du?“ Yasemin erstaunt. „Ja, grauenhaft, nicht wahr?Der akade­mische Nachwuchs nagt am Hungertuch.“ Friederich darauf, und er erklärte es Yasemin. „Ich habe schon mal überlegt, ob wir beide uns nicht eine gemeinsa­me Wohnung suchen sollten.“ meinte Friederich. „Nein!“ entfuhr es Yasemin strikt, „Oh, Entschuldigung für den Tonfall. Ich werde dir erläutern was ich mei­ne. Friederich, du weißt, wie ich mich freue, wenn wir zusammen sind, und dass ich oft Verlangen nach dir habe, wenn du nicht bei mir sein kannst. Nur ich liebe dich viel zu sehr. Wenn du immer bei mir wärst, käme ich zu nichts mehr, würde immer nur noch bei dir auf dem Schoß sitzen, und dabei habe ich doch so schrecklich viel zu tun.“ scherzte Yasemin, aber Friederich verstand nicht. „Du musst akzeptieren, dass ich mein eigenes Leben brauche. Die Blume Yasemin ist gerade angefangen neu zu wachsen, sie muss ihre Knospen noch entfalten und sich entwickeln, und das muss ich selbst, ganz allein machen. Wenn wir ständig zusammen wären, würde ich in unserer Gemeinsamkeit un­tergehen, das befürchte ich.“ „Das käme doch darauf an, wie wir unser Zusam­menleben gestalten würden. Ich kann das nicht so sehen, dass ein eigenstän­diges Leben nicht möglich sein soll, nur weil man zusammen in der gleichen Wohnung lebt. In allen WGs ist das auch so.“ erwiderte Friedrich. „Ich möchte auch nicht mit dir zusammen in einer WG leben. Wenn ich auch nicht bei dir auf dem Schoß sitzen würde, aber eine gewisse Art von Abhängigkeit und Ver­pflichtung lässt sich bei Liebe gar nicht vermeiden. Ich fühle mich in einer eige­nen Wohnung freier, auch wenn ich mich dir verbunden und verpflichtet sehe.“ erklärte Yasemin. Dass Überzeugungsversuche bei Yasemin zwecklos sei könn­ten, hatte Friederich gleich bei der Art und Weise ihres 'Nein' vermutet. „Wir müssen ja nicht zusammen leben, aber es gibt doch nicht wenige, die das tun und keinen Schaden daran nehmen. Ich denke, möglich müsste es durchaus sein.“ meinte Friederich. „Ha, keinen Schaden daran nehmen. Ich möchte doch auch gern so oft wie möglich mit dir zusammen sein, das steht doch gar nicht in Frage, Friederich. Nur bis jetzt haben wir es immer als unsere glücklichsten Momente angesehen, wenn wir zusammen sein konnten. Es war etwas ganz Besonderes. Wir haben uns immer darauf gefreut, unsere stärksten Gefühle er­lebt. Wenn du immer anwesend bist, wird das nicht mehr so sein. Du raubst mir meine Sehnsucht, machst sie gegenstandslos, bist ja immer zu haben. Ge­nau wie das andere auch, wie mein Herd, mein Kühlschrank, mein Schreib­tisch, bist selbstverständlich immer da und wirst selbst zu etwas Selbstver­ständlichem. Davor habe ich Angst. Ich möchte, dass unsere Liebe immer et­was Besonderes bleibt.“ erklärte Yasemin. „Das muss doch nicht so sein. Es liegt doch an uns, wie wir mit unserer Beziehung umgehen.“ erwiderte Friede­rich. „Ich gebe dir schon Recht, es muss nicht zwangsläufig so sein, aber frag mal die Verliebten zehn oder zwanzig Jahre später, fast immer ist es so gelau­fen. Ich habe Angst, mich auf diesen Weg zu begeben, auf den Weg, auf dem die Liebe langsam zerbröselt und versickert.“ sah es Yasemin. „Wir werden also jeder eine eigen Wohnung haben. Es gibt ja keinerlei Zwang oder Verpflich­tung, es nicht so machen zu dürfen, aber reden würde ich mit dir schon gern nochmal, über Eigenständigkeit und die zerbröselnde Liebe.“ wünschte Friede­rich.


Friederich erkennt seine wirklichen Gefühle nicht

Nein, bei Yasemin bleiben sollte Friederich heute nicht. Liebe machen als Trost für den noch ziemlich aufgewühlten Friederich, das wollte Yasemin nicht. Er solle für sich selbst erst mal alles klarer sehen, Abstand gewinnen, zu einem neuen Rhythmus finden, dann bereite es ihr auch wieder Lust, an so etwas zu denken. Friederich hatte sehr schnell eine neue, kleine Wohnung gefunden, aber treffen wollten sich Yasemin und er dort nicht. Auch wenn sie um einiges größer war als Yasemins Appartement, aber sie hatte mit ihrer Liebe nichts zu tun. Die hatte ihr zu Hause und ihre Heimat in Yasemins Räumen. Viel mehr Zeit als früher hatte Yasemin ja jetzt auch nicht zur Verfügung, oder sie hätte ihre persönlichen Studien reduzieren müssen. Das wollte sie aber auf keinen Fall. Für ihre persönliche Entwicklung sei es unverzichtbar. Zehn verlorene Jah­re habe sie nachzuholen, sagte sie. Nur diese Jahre, wie Yasemin sie jetzt nachholte, würden wohl die meisten Frauen verloren haben. Über Fragen femi­nistischer Philosophie, könnte sie auch mit Isabella nicht reden. Die von ihr verehrten, neuen Lieblinge waren gewiss nur in gebildeten Intellektuellenkreisen oder unter Philosophen bekannt. Dafür gab es Unmengen an geistig völlig bedeutungslosen, populistischen Halbgöttern, die in der Allgemeinheit jede und jeder kannte. Friederich war trotz allem immer häufiger bei Yasemin. Er brachte sich auch Arbeit mit und bedeckte den kleinen Küchentisch und den Fußboden mit seinen Unterlagen. Warum es für ihn angenehmer war, als bei sich an seinem Schreibtisch, konnte Yasemin gut nachempfinden. Alle Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten können nicht das Gefühl überbieten, nicht allein, sondern bei der Liebsten zu sein. Das konnte Yasemin ja auch nicht leugnen, dass es herrlich war, wenn sie etwas Aufregendes gelesen hatte, direkt in die Küche gehen und Friederich davon berichten konnte. Einfach nur jederzeit mit jemandem reden zu können, und wenn das zudem noch der Liebste war, kam es ihr göttlich vor. Ob Yasemin doch nicht für's Alleinsein geschaffen war. Mag sein, aber an ihren Einstellungen änderte das nichts. Dadurch, dass Friederich immer mehr Zeit bei Yasemin verbrachte, blieb in der Praxis vom Alleinleben nicht allzu viel, und die Räume für Yasemins Sehnsucht wurden immer schmaler. Wie Yasemin erkennen sollte, ob Friederich Abstand gewonnen und zu einem neuen Rhythmus gefunden hätte, das wusste sie nicht so genau, aber Gedanken machte sie sich darüber auch nicht. So wie die Liebe eigenmächtig ihr Empfinden, Denken und Handeln dirigiert hatte, schien es jetzt die Faktizität der neuen Bedingungen zu sein, die in der Lage war, verkündete rationale Beschlüsse außer Kraft setzen zu können. Was sollte Yasemin hindern? Warum sollte sie das abbrechen, was ihr äußerst gut gefiel, wenn es die Barriere vor dem Point of no Return nicht mehr gab. Wenn sie nicht an der Uni oder sonst außerhalb zu tun hatten, lebten sie im Prinzip tagsüber zusammen, und es dauerte nicht lange, bis sie auch die Nächte gemeinsam verbrachten. Auch wenn sie keinen Sex miteinander hatten, war es schlicht wundervoll, seinen Liebsten ständig im Bett gegenwärtig zu haben. „Sag mal, Friederich, kannst du deine wirklichen Gefühle eigentlich erkennen, oder nimmst du sie gar nicht richtig wahr?“ wollte Yasemin von Friedrich, der sich schief lachte, wissen. „Gibt es eine begründete Basis für deine Zweifel, dann nenn sie mir.“ forderte er. „Na klar. Kann es größeres Glück geben, als wenn wir zwei warm aneinander gekuschelt gemeinsam im Bett sind. Aber du liegst nur still dabei. Wo ist da die große Leidenschaft und überschwängliche Begeisterung? Keine Spur von Enthusiasmus.“ erläuterte Yasemin. Jetzt mussten sie beide lachen und sich zuerst mal umschlingen. „Du hast völlig Recht, Yasemin. Unmöglich ist das. Aber was schlägst du vor? Was könnten wir tun, um es zu ändern, um unsere wirklichen Gefühle deutlich zum Ausdruck zu bringen?“ wollte Friederich lachend wissen. Yasemin machte einen krausen Mund und überlegte: „Tanzen vielleicht.“ Damit traf sie nicht Friederichs Bedürfnislage. „Wie wär's mit vor Glück ausgelassenem Balgen?“ erkundigte sich Yasemin. Das taten sie zwar auch nicht, aber ihre albernen Gespräche ließen sie viel lachen, und führten dazu, dass sie ihre Körper die gemeinsamen Glücksgefühle ebenfalls auf ihre spezielle Art sehr enthusiastisch ausleben ließen. Wenn man Sigmund Freud und Wilhelm Reich glaubte, bedeute Yasemins Lust am Sex mit Friederich eine Intensivierung libidinöser Bedürfnisse oder eine Ausweitung ihrer orgiastischen Kompetenz, aber so sah und empfand Yasemin es überhaupt nicht. Sie nahm es wahr als Höchstmaß körperlichen Ausagierens des Glücks ihre Gemeinsamkeit. Die glücklich gemeinsam erlebten intimen Erfahrungen, sah sie als zusätzliches Band in der Tiefe ihrer Beziehung.


Habilitation und Professur

Friederich hatte sich zu einem heavy-duty-worker entwickelt. Absolut hochin­tensiv war er meistens in seine Habilitationsschrift vertieft. Yasemin durfte ihn nicht stören und ihn aus seiner Trance wecken. Die Arbeit war ins Endstadium gekommen. Friederich überlegte, sie von einem Bekannten lesen zu lassen, be­vor er sie abgab. „Ach was, kannst du sie nicht lesen, ich bin überzeugt, du wirst sie viel kritischer sehen.“ bat er Yasemin. „Mag sein, nur in wissenschaft­lichem Arbeiten bin ich nicht besonders versiert. Vielleicht könnte ich schon mal einen Zitierfehler übersehen. Aber ich werde sie gern lesen.“ erklärte Yase­min. Vor allem hoffte sie auch, für sich selbst viel daraus zu lernen. Die Habili­tation wurde angenommen, und das Kolloquium war bei ihnen, wenn man kei­ne ausgesprochenen Feinde hatte, eine simple Übung. Eine extra Vorlesung brauchte Friederich auch nicht mehr zu halten, da ihm seine Lehrveranstaltun­gen angerechnet wurden. Hier schien man die Habilitation, wie bei vielen ande­ren Wissenschaftlern auch, eher für ein antiquiertes Verfahren zu halten. Jetzt würde sich Friederich überall bewerben, von Regensburg bis Konstanz und von Kiel bis Rostock. Selbstverständlich war, dass man ihn annahm, wenn man einen Ruf auf eine Professur bekommen sollte. Und Yasemin? Würde sie ein­fach Friederich folgen, gleichgültig wohin? In Rostock sterben, weil sie Friede­rich nachgelaufen war. Früher hätte Yasemin alles getan, was man von ihr er­wartete, aber heute würde ihr so etwas als unerträgliche Abhängigkeitsbekun­dung erscheinen. Nur Friederich würde ja auch nicht nach Rostock gehen, weil er es sich wünschte, es wäre ja eine Konsequenz, die sich aus seinem Leben und seiner Arbeit zwangsläufig ergeben würde. Damit stand er aber nicht al­lein, das war ihre gemeinsame Sache. Yasemin würde Friederich nicht folgen, sondern sie würden gemeinsam nach Rostock gehen und gemeinsam vielleicht dort untergehen. Nur Friederich ging nirgendwo hin. „Es ist menschenunwür­dig,“ schimpfte Friederich, „längst steht es vorher fest, wer den Ruf bekommen soll, und sie lassen dich Affen jedes mal vorsingen, weil die Stelle ja offen aus­geschrieben ist. Mir fehlen auch die Connections. Ich habe nur immer fleißig getan, was getan werden musste.“ „Vielleicht, aber wenn, dann hast du es doch mit Enthusiasmus getan.“ wand Yasemin ein, und sie konnten wieder la­chen. Trotzdem musste sich Friederich überall bewerben, sonst gab es eben keine Chance. Die Professur in Göttingen war doch längst versprochen, aber Friederich musste natürlich hin. Er bekäme es selbstverständlich schriftlich mit­geteilt, aber nach einer Beratung erklärte man ihm, dass man sich für ihn ent­schieden hätte. Er war ganz sprachlos, konnte es gar nicht fassen und fragte nach dem Grund. Er habe eben überzeugt, sagte ihm der Professor nur. Yase­min war schon ganz verrückt, als sie es am Telefon von Friederich erfuhr. Sie lud sich den alten Chanson „Göttingen“ von Barbara aus dem Internet runter, und holte Blumen und Kuchen, um Friederich zu empfangen. „Ich glaube, ich bin genauso froh wie du.“ erklärte Yasemin mit fast weinerlicher Stimme, „Ei­gentlich kenne ich Göttingen gar nicht, aber ich bin so glücklich. Ich weiß nur, dass es eine alte Universitätsstadt ist und dass es dort auch sonst noch viel Wissenschaft gibt. Von den Göttinger Sieben, zu denen auch meine geliebten Brüder Grimm gehörten, weiß ich auch noch.“ Friederich konnte Yasemins Wissen noch um bekannte Wissenschaftler ergänzen. „Ich habe ein schönes Bild und bin einfach nur glücklich für uns beide. Wir werden uns in Göttingen gut aufgehoben fühlen, da bin ich sicher. „If it makes you happy, it can't be that bad.“. Oder siehst du das anders?“ fragte Yasemin. „Na klar, das sehe ich auch so, aber letztendlich wird es immer noch an uns liegen, ob wir dort glücklich werden.“ meinte Friederich dazu. „Ja, natürlich. Vielleicht lernst du eine Frau kennen, die für dich noch mehr das Leben verkörpert als ich.“ Yasemin sarkastisch. „Yasemin,“ fuhr Friederich böse auf, „wie redest du? Warum tust du das.?“ „Entschuldigung für den Tonfall. Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes sagen. Hier hat sich das Leben zwischen uns beiden selbstverständlich immer neu entwickelt. Aber demnächst wirst du deinen Job haben, und ich habe auch zu tun. Wir werden jeder unseren Alltag leben und um den Zustand unserer Liebe wissen, so wie du um den Zustand deiner Liebe zu Britta wusstest. Du nennst es zwar immer noch Liebe, aber so geht Liebe nicht, so kann Liebe nicht gehen. Wir ziehen nach Göttingen und nehmen unsere Liebe mit. Das geht nicht, das heißt nichts. Aus meiner Kindheit und Jugend kenne ich kein enthusiastisches Leben. Du brauchtest nur alles ordentlich erledigt haben, dann konntest du zufrieden sein, hattest nichts zu befürchten. So eine Einstellung bringt jeder Liebe zwangsläufig den Tod. Davor habe ich immer Angst, dass auch der Lebensalltag einen Liebesalltag aufkommen lässt. Den kann es nicht geben. Liebe ist das was du tust, wie du lebst, wie du dich austauscht. Liebe kann nur lebendig sein oder sie stirbt. Liebe muss zwangsläufig immer enthusiastisch sein, denn bei welchen Gefühlen willst du mehr Leidenschaft und Begeisterung empfinden, als wenn du geliebt wirst und Liebe geben kannst.“ erläuterte Yasemin. „Du meinst, es sei zwangsläufige Voraussetzung, dass wir auch in Göttingen ein enthusiastisches Leben führen müssen, weil es sonst, selbst in Göttingen, den Tod bedeuten könnte. Wahrscheinlich bist du Schuld daran, dass ich den Ruf bekomme. Natürlich musst du auch immer einen Satz zur Wissenschaftstheorie sagen, aber es ist außergewöhnlich lange über Philosophie gesprochen worden. Es ergab sich eine regelrechte Diskussion und ich war bestimmt manchem überlegen. Das war sehr ungewöhnlich und hat mich bestimmt in einem besonderen Licht erscheinen lassen. Das lag ja an unseren Gesprächen, sonst hätte ich mich dabei nicht so gut ausgekannt.“ erklärte Friederich. „Ist auch über die Postmoderne gesprochen worden?“ fragte Yasemin. „Ja, aber da wusste ich ja auch von mir aus einiges, aber erkenntnistheoretische Fragen und feministische Philosophie waren für die Teilnehmer des Auswahlverfahrens wohl auch böhmische Dörfer.“ erläuterte Friederich. „Darauf müssen wir aber tanzen, Friederich, auf Göttingen müssen wir doch tanzen.“ forderte Yasemin. Vielleicht hätten sie besser einen wilden Rock gewählt, um ihr Glück ausgelassen austoben zu können, aber bei „Göttingen“ von Barbara mussten sie natürlich zum träumen und schmusen kommen. So ausdauernd körperlich nah, wie an diesem Nachmittag und diesem Abend, waren Yasemin und Friederich sich wohl noch nie gewesen.


Züngelnde Flämmchen

Natürlich würden sie in Göttingen nicht zwei getrennte Wohnungen haben, son­dern zusammen leben. Faktisch machten sie das ja jetzt auch schon. Als ein erlebtes Märchen würde Yasemin es bezeichnen. Für Yasemin waren alle Erzäh­lungen, Romane und Dramen Märchen. Sie hörte zwar die Beschreibungen, aber nachempfinden, miterleben konnte sie es nicht, niemand konnte es. Eine Möglichkeit, sich in vergangene Zeiten einzufühlen, gab es nicht. Deshalb wa­ren ihr zum Beispiel die Brüder Karamasow genau so nah oder fern wie Dorn­röschen und Aschenputtel. Aber alle Geschichten sagten auch etwas Grund­sätzliches zum Menschen, was unabhängig war von der Zeit, der Kultur und der Politik. Wenn sie das nicht taten, waren sie wertlos und gingen auch bald unter, aber das immerwährende Menschliche ist es, dass uns die Dramen der Grie­chen von vor zweitausend Jahren in ihrer furiosen Welt und ebenso die Mär­chen als interessant erscheinen lässt. Was sagen die Bremer Stadtmusikanten allen missachteten Menschen, für die es keinerlei Anerkennung mehr gibt, auf eine lustige Art denn anders als: „Gemeinsam im Kampf seid ihr stark.“ Das hatte Yasemin früher schon erkannt, es war ihr heimlicher Schatz beim Lesen, der es für sie interessant machte. Jetzt hatte Friederich sie dazu gebracht, das wirklich Menschliche in ihr selbst erkennen zu wollen und wahrnehmen zu kön­nen. Der Zusammenhang und Rahmen, in dem sich das ereignete, kam Yase­min nicht selten weniger unwahrscheinlich vor als die Historie in manchem Märchen. Erklären konnte sie sich das aus ihrer früheren Sicht sowieso alles nicht. Zum ersten mal erfuhr sie tiefe Liebe, obwohl sie sich eigentlich gar nicht darauf einlassen wollte. Sie überlegte: „Wann hatte die Liebe denn ei­gentlich begonnen? Als sie sich in der Oper die Hände gaben? Das hätten sie gar nicht getan, wenn die Liebe nicht schon längst dagewesen wäre. Bei ihm eingegraben habe sie sich, hatte Friederich gesagt, waren das schon die ersten Schritte? Oder war da auch bei ihr selbst schon vorher etwas. Du kannst die Liebe ruhig verleugnen wollen, sie ist es, die für sich allein entscheidet. Ganz nett gefunden? Das könnte sie von Friederich auch sagen, aber das ist genauso banal, als zu sagen, man habe in sympathisch gefunden. Darüber befinde man beim ersten Blick, aber es ist eine so schwafelige, nichtssagende Bezeichnung.“ Yasemin meinte, man empfinde eher eine Art von Temperatur in seinem Ge­genüber. Und bei Friederich, wie war es da? Hatte er in ihr gleich glühende Hit­ze erzeugt? Absoluter Quatsch, aber züngelnde Flämmchen, die sich prickelnd und kitzlig anfühlten waren es schon. So war es fast vom ersten Wort an. Bei Friederich dachte sie nicht daran, nach Distanz zu suchen, für Yasemin machte er grundsätzlich Lust auf mehr. Wie hoch die Temperaturen sind, die ein Kon­takt mit ihm jetzt auslösen, weiß Yasemin gar nicht, aber die Lust auf mehr von Friederich ist heute noch genauso vorhanden, wie bei der ersten Begeg­nung. Sie ist unstillbar und kann nie abschließend befriedigt werden.

 

“Love is not a state, a feeling, a disposition, but an exchange, uneven, fraught with history, with ghosts, with longings that are more or less legible to those who try to see one another with their own faulty vision.”

Judih Butler

 

 

FIN

 

 

 

We lose ourselves in what we read, only to return to ourselves, transformed and part of a more expansive world.”

 

Judith Butler

 

Yasemin möchte nichts mit neuer Liebe zu tun haben, und mit Friederich kommt es sowieso nicht in Frage. Was sich aber entwickelt, und wie Yasemin und Friederich weiter damit umgehen, erzählt die Geschichte. Ein heißer Sommertag. Heute gab es keinen Kaffee sondern eisgekühlten Orangensaft. Auch wenn die Hitze quälte, schien sie doch fast übermütige Glücksgefühle zu erzeugen. Friederich war gerade von der Uni gekommen, und die beiden juxten und alberten. An so einem Tag war es wirklich ein Genuss, wenn man liegen konnte. Yasemin und Friedrich lachten und scherzten, bis sie sich schließlich doch mal innig umarmen mussten. Sie lösten sich gar nicht wieder, wollten anscheinend das Küssen und das Empfinden des anderen Körpers perpetuieren. Yasemin hatte nur ein dünnes Sommerkleidchen und einen Slip an. Dass der Stoff so dünn und die Beine nicht mit einer Hose bedeckt waren, spielte für Yasemins Empfinden offensichtlich doch eine Rolle. „Zieh das aus.“ forderte sie Friederich auf und meinte sein Oberhemd, das sie schon fast ganz aufgeknüpft hatte. „Du auch.“ reagierte Friederich. Sie zogen sich beide aus, den Slip ließen sie vorerst noch an. Der Point of no Return war längst unbemerkt überschritten. Yasemin hatte die Lippen leicht geöffnet und atmete tief, die Lider hatte sie geschlossen, nur manchmal riss sie die Augen weit auf und starrte dabei Friedrich lächelnd an. „Hau ab!“ stieß Yasemin Friederich lachend zurück. Sie empfand, er würde drängeln. Von der Seite über Friederich gebeugt erklärte sie: „Ich will es doch auch, Friederich, aber nicht so hastig, langsam mit Gefühl und behutsam. Wir wollen es doch möglichst lange genießen. Oder stehst du auf Brutalo Sex?“ Friederich umschlang Yasemin und kugelte sich lachend mit ihr. „Was redest du für einen Unsinn, Yasemin. Wie kannst du nur auf so einen Blödsinn kommen?“ reagierte er. „Friederich, wie sprichst du denn. So redet man nicht bei der Liebe.“ gemahnte Yasemin. „Sondern?“ wollte Friederich wissen. „Bei der Liebe sagt man nur zärtlich, leise einzelne liebevolle Wörter, vielleicht auch zwei.“ meinte Yasemin. „Ah ha, und woher weißt du das? Macht man das eben so, oder steht das im 'How to for Couples in Love'?“ mutmaßte Friederich. Yasemin zog eine krause Mimik. „Wir quasseln schon wieder. Wir können das gar nicht. Wir können nur reden, immer nur reden und reden. Wir sind scharf aufeinander, aber was tun wir? Wir fangen wieder an zu reden.“ erklärte Yasemin missmutig. Ein günstiger Moment, aufzustehen und sich wieder anzuziehen. Yasemin wollte es ja grundsätzlich nicht und prinzipiell nicht und auch heute hatte sie es eigentlich nicht gewollt.

 

Yasemin Enthusiasmus – Seite 36 von 36

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.02.2014

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