Cover

Introduction und Inhalt

 

 

Carmen Sevilla

 

 

Viviane
Keine Liebesbeziehung mit Max

 

 

Erzählung

 

 

Deshalb also behaupte ich, dass jedermann den Eros ehren muss und ehre selbst seine Kunst und übe sie vor allen und empfehle sie den anderen und preise jetzt und immer die Macht und Tüchtigkeit des Eros, so sehr ich dies vermag.“

 

Sokrates in Platons Symposion. Rede der Diotima

 

Umgezogen in eine fremde Stadt war Viviane, weil ihr Vater einen Ruf als Professor bekommen hatte. Was Viviane in ihrem neuen Leben rief, war vorher nicht denkbar und schon gar nicht vorauszusehen.
Ungewöhnlich warme Tage im April, die Sonne schenkte ihre kräftigsten Strahlen und vergoldete die Gemüter der Menschen. Viviane hatte heute ausgesprochen gute Laune, spürte Lust zu scherzen und übermütigen Streichen. „Max ich wollte dich mal was fragen. Wenn ich etwas dazu lese, worüber wir gesprochen haben oder sprechen wollen, denke ich an dich. Ist ja klar. Aber ich denke auch an dich, wenn ich aus der Schule komme, dass ich gleich zu dir gehen werde. Sogar in der Schule denke ich an dich, dass ich dich heute Nachmittag besuchen gehe. Selbst bei den Hausaufgaben, fällt mir plötzlich ein: „Was Max jetzt wohl macht? Ob er etwas liest, ob er Musik hört, oder ob Lia ihm etwas gegeben hat, das er reparieren soll.“ Abends im Bett erinnere ich mich an unser Gespräch und reminisziere, was wir gesagt haben. Selbst beim Abendbrot muss ich an dich denken. Frage mich, was es bei euch zu essen gibt. Reibeplätzchen? Ob du sie wohl mit Quark oder mit Apfelmus isst. Immer muss ich an dich denken. Ist das noch normal? Oder habe ich eine psychische Macke, was meinst du?“ wollte Viviane erfahren und hatte es geschafft, völlig ernst dabei zu bleiben. Max zog einen ganz breiten Grinsemund, sodass er dicke Backen bekam. Ihre Blicke sagten sich aber gegenseitig, dass beide genau wussten, worum es eigentlich ging.

 

 

 

 

Viviane - Inhalt

 

Viviane 3

Max und Lia, die Nachbarn 3

Teezeremonie und freier Wille 8

Amore pur beim Essenkochen 12

Intensive Forschungen 13

Große Oper 14

Zauberflöte und Maienduft 17

Zeichen, Wörter, Alltag 18

Keine Liebesbeziehung 22

Schmerzliche Trennung 23

Gute Freundinnen 25

Max liebt keine anderen Frauen 26

Weihnachtsüberraschung 28

Nachbarschaftswahn 30

Platonische Liebe? 32

Abitur 34

Weltreise 36

Viviane, was willst du? 38

Vivianes neue Heimat 39

Max, geh nicht weg! 41

Was willst du machen? 44

 

 

Viviane - Max und Lia, die Nachbarn

„Was willst du machen?“ Einerseits hatte Viviane ja gar keine Wahl. Sollte sie sagen: „Nein, ich will hier bleiben, ein Apartment nehmen, weiter hier zur Schule gehen, bei meinen Freundinnen bleiben.“ Mit siebzehn Jahren? Vielleicht hätte sie ihre Eltern ja dazu bringen können, aber ganz allein, sich selbst um alles kümmern müssen? Immer ganz allein ohne Mutter, Vater und Marcel, ih­ren Bruder? Lukrativ schien das auch nicht gerade. Es hatte ja auch nicht nur negative Aspekte, wie sie demnächst wohnen würden. Nicht mehr direkt in der Stadt, das war herb, aber andererseits ein eigenes Haus. Im Vorort, fast auf dem Dorf, nicht weit von Bauern, Wald und Wiesen, ob Viviane das mögen würde? Über all das hatten ihre Eltern gar nicht diskutiert. Dass der Vater den Ruf auf die Professorenstelle annahm, war selbstverständlich. Ebenso selbst­verständlich war es, dass der Herr Professor in einer Wohngegend wohnen musste, in der auch andere arrivierte Leute ihr Domizil hatten. Und das Haus? Auch selbstverständlich, wegziehen würden Klamts hier nicht wieder.

 

„Mama, weißt du schon das Neueste?“ platzte Viviane los, als sie aus der Schu­le nach Hause kam. „Thomas will auch umziehen. Er sei ja fast achtzehn, und da würden seine Eltern das bestimmt erlauben. Nein, nein, nein, das will ich nicht. Der spinnt doch wohl.“ echauffierte sich Viviane. Wenn man die Augen der Mutter betrachtete, schien sie nicht zu wissen, was sie dazu sagen sollte, sprach aber schließlich doch. „Ich dachte, ihr liebt euch.“ bemerkte sie nur kurz. „Habe ich das jemals gesagt? Liebe ist ein dummes Wort. Ja, ich mag Thomas schon, wir haben schon Spaß, und er ist auch lustig, aber bei allem was du tust und woran du denkst, zeigen sich dir immer Bilder vor deinen in­neren Augen. Du hast gesagt, es können nur die Bilder sein, die schon in dei­nem Kopf sind. Das sehe ich anders. Dann könnte ein Maler irgendwann nichts mehr malen, weil er alle seine Bilder schon gemalt hätte. Die Bilder in deinem Kopf sind nur wie eine Palette, mit der du jederzeit immer wieder neue Bilder in anderen Farben gestalten kannst. Thomas ist gewiss ein sehr lieber Mensch, dazu animiert er mich allerdings überhaupt nicht. Das Bild unserer Beziehung ist fertig, es beschreibt einen Zustand. Visionen und Geister, das Verlangen nach neuem, weiterem Austausch fehlen. Ich spüre keine Perspektive und auch kein Bedürfnis danach.“ erklärte sich Viviane. „Du meinst also, Thomas ist ein netter Junge, aber du kannst keine Perspektive für euch erkennen?“ schloss die Mutter. „Perspektive? Hat es die jemals gegeben. Was ist das denn überhaupt. Soll ich mich etwa gleich fragen, ob ich den später mal heiraten will oder so et­was? Es war falsch. Ich habe gesagt, die Menschen seien menschenfeindlich, weil ihnen nichts wichtiger sei, als auf die Distanz zu ihren Mitmenschen zu achten. Du wolltest mir klar machen, welche Vorteile es auch hätte. Heute sehe ich es fast wie du. Mit Thomas bin ich einfach in etwas hineingeschlittert. Unbeabsichtigt sind wir uns immer näher gekommen, und jetzt kann ich es selbst nicht mehr ertragen, ihm weh tun zu müssen. Das wird mir nie mehr passieren. Auf Distanz werde ich in Zukunft immer achten.“ Viviane dazu. Die Mutter und Viviane berieten noch länger darüber. Viviane wollte Thomas erklären, dass sie zwar keinesfalls den Kontakt verlieren möchte, aber hier allein leben, dann wäre Viviane für alles bei Thomas zuständig. Für sie werde durch den Umzug alles neu, sie müsse ein neues Leben in einer neuen Welt beginnen. Das werde gewiss schwer, aber darauf freue sie sich auch. Dass sie ihre Familie und sich selbst mitnähme, sei schon genug aus ihrer alten Welt.

 

„Nein, das mache ich nicht. Ich bin kein Hordenmensch.“ lautete Vivianes Ver­dikt. „Warum kannst du das nicht einfach akzeptieren? Das ist meine Sicht, und die ist berechtigt. Warum willst du mich dazu bewegen, das zu tun, was du möchtest? Deine hehren Worte, dass ich jetzt erwachsen sei, alles nur Wind. Immer wieder weißt du, was für das Kind am besten wäre und machst dir mei­ne Gedanken.“ beschwerte sich Viviane, als ihre Mutter versuchte, sie zu über­reden, sich doch gemeinsam bei den Nachbarn vorzustellen. Jetzt wollte Marcel auch nicht mehr mit. Er war zwar zwei Jahre jünger als Viviane, aber er musste auch schon manchmal Mann üben und die große Klappe ausprobieren.

 

Beim Nachbarn öffnete der Mann die Tür. „Ah, sie sind die Tochter ...“ weiter kam er nicht, weil Viviane ihn unterbrach. „Nein, ich bin es persönlich, ganz al­lein, ohne meine Eltern.“ stoppte sie ihn. „Ja, natürlich, Entschuldigung.“ er­klärte er und bat Viviane lächelnd hinein. „Benninghoff, das werden sie ja schon auf dem Klingelschild gelesen haben. Ich bin der Maximilian oder Max Benninghoff.“ stellte sich der Nachbar vor. „Und ich bin Viviane Klamt, aber Vi­viane das reicht.“ erklärte Viviane. „Nein, das geht aber nicht. Sie sind eine er­wachsene Frau.“ konstatierte Herr Benninghoff und meinte nach einer Bedenk­pause: „Wenn, dann auf Gegenseitigkeit. Wir sind ja schließlich direkte Nach­barn, oder? Dann wäre ich also für dich der Max.“ „Und ich Viviane, siebzehn Jahr, blondes Haar. Genau das, worauf alte Männer scharf sind.“ ergänzte Vi­viane. Max bekam sich gar nicht wieder ein vor Lachen. „Ja, ich denke schon, dass derartige Triebimpulse meines Es vorhanden sein müssten. Ich habe sie wahrscheinlich nur unbewusst als unerwünscht abgewehrt. Denn weißt du, wir sind ein gebildetes Haus, in dem distinguiertes Benehmen vorherrscht und in dem ein elaborierter Code für unsere Diskurse selbstverständlich ist.“ äußerte sich Max dann. „Er hätte das ja total ernst meinen können,“ dachte Viviane, „dann wäre er ein Idiot.“ Aber die Satire war für sie bei Max, obwohl sie doch überhaupt nichts von ihm wusste, unverkennbar. „Alle Triebimpulse abgewehrt, keine zugelassen?“ erkundigte sich Viviane schon grinsend. „Doch schon, ich würde sie eher als temporäre Gelüste bezeichnen.“ antwortete Max. „Deine Frau?“ vermutete Viviane. „Nein, Schokoladenpudding zum Beispiel.“ wider­sprach Max und Viviane musste schrecklich lachen. „Lia, nun komm doch mal. Wir haben Besuch.“ rief Max erneut seine Frau. „Ah, das ist ja schön. Sie sind ...“ „Das ist Viviane persönlich und nicht etwa die Tochter vom Nachbarn.“ fiel Max seiner Frau ins Wort, als sie kam und Viviane begrüßen wollte. „Oh je, ja natürlich. Beinahe hätte ich mich verplappert. Wie konnte ich?“ reagierte Frau Benninghoff, aber keineswegs ernst. „Viviane hat mich schon verführt.“ erklärte Max. „Hey, du Blöder.“ warf Viviane nur kurz kommentierend ein. „Das scheint ja schnell funktioniert zu haben, wenn ihr euch schon duzt.“ beurteilte es Frau Benninghoff. „Ja, sie hat verdrängte Triebimpulse bei mir entdeckt, aber deshalb duzen wir uns nicht. Bei direkten Nachbarn passt 'du' einfach besser als Frau Klamt und Herr Benninghoff, meinten wir.“ erläuterte Max. „Na klar, das finde ich auch.“ sah es Frau Benninghoff, „Dann bin ich die Lia, Kurzform von Liabett, und das ist die Babyaussprache für Elisabeth. So heiße ich offiziell, im Dienst, draußen und bei Behörden, für alle mit denen ich mich duze, bin ich Lia.“ Viviane und Lia gaben sich die Hand, nannten den Namen der jeweils anderen und lachten. „Trinkst du einen Kaffee? Sicher am liebsten Kola, aber die haben wir gar nicht im Haus. Sag mal was du gern möchtest.“ forderte Lia Viviane auf. Viviane zögerte und meinte dann: „Kaffee trinke ich auch wohl, aber sonst trinke ich meistens Tee. Den musst du aber auf keinen Fall für mich extra zubereiten.“ „Doch, doch, Max, du trinkst doch auch gern mal einen Tee und ich sowieso. Dann machen wir jetzt mal Teatime anstatt des ewigen Kaffeeschlürfens.“ Lia darauf. „Max, du bist doch pensioniert, haben meine Eltern gesagt. Was machst du denn da eigentlich den ganzen Tag, wenn du jetzt überhaupt nicht mehr zum Dienst brauchst?“ erkundigte sich Viviane, während Lia den Tee zubereitete. Max lachte wieder erst mal, wie fast immer, wenn Viviane etwas gesagt hatte. Die empfand sich aber keineswegs als ausgelacht. Es gefiel ihr, Max lachen zu erleben, es steckte sie an, und sie lachte mit. „Na ja, ich meine, du hast doch jetzt statt früher jeden Tag acht Stunden Urlaub. Da musst du doch irgendetwas machen.“ fügte Viviane erläuternd hinzu. „Der Ruhestand dient dazu, dass der Beamte sich jetzt in Ruhe von den Strapazen und Mühen der früheren Jahre erholen kann, also jeden Tag acht Stunden erholen. Nein, absoluter Quatsch. Lia meint ja, ich hätte beim Übergang in den Ruhestand eine neue berufliche Qualifikation erhalten.“ erklärte Max. „Und was ist dein neuer Beruf?“ wollte Viviane wissen. „Sie behandelt mich, als ob ich mit der Urkunde der Pensionierung gleichzeitig eine Qualifikationsbescheinigung als Heimwerker erhalten hätte. Plötzlich soll ich alles reparieren können, wahrscheinlich weil ich ein Mann bin. Ein ganz antiquiertes Männerbild wird sie haben.“ erläuterte Max. „Da müsstet ihr aber mal dran arbeiten.“ wusste Viviane dazu, und wieder lachte Max sich schief. „Viviane, ich sehe es so, dass du eine Liebe, die schon sehr lang anhält, in drei Zeitalter unterteilen kannst. Im Frühmittelalter der Liebe empfindest du alles wundervoll und bezaubernd, was du von deiner Liebsten wahrnimmst. Im Mittelalter lernst du sie als normalen Menschen sehen, mit allen möglichen Besonderheiten und Ungewöhnlichkeiten, und im Hochmittelalter fängst du an, diese Spezialitäten und Absonderlichkeiten zu lieben. Es stört dich nicht mehr, im Gegenteil, es gefällt dir.“ erklärte Max. Viviane blickte Max an. Mit ihm zu lachen, fand sie köstlich, aber auch, wenn er ernst sprach, beobachte sie ihn automatisch sehr genau. Die Mundwinkel ihrer Oberlippe hatten sich leicht nach oben gewölbt, Viviane überlegte mit freundlich, skeptischer Mimik. „Die Liebe ist so oder so oder so, kannst du das überhaupt sagen? Bist das nicht du, der von dir erzählt und etwas dazu sagt, wie er seine Beziehung sieht?“ vermutete Viviane. Lia brachte den Tee.

 

„Viviane, der Name gefällt mir. Du kannst ihn auch englisch oder sogar deutsch aussprechen, aber das wirst du nicht mögen. Von Elisabeth gibt es tausend Kurz- und Kosenamen, aber Viviane? Wie nennen sie dich denn in der Schule, 'Vivi'?“ fragte Lia. „Nein, Esche.“ Viviane kurz. Während Max wieder lachte, fragte Lia: „Wieso das?“ „Niemand weiß das, außer vielleicht den Göttern. Ir­gendwann in der ersten Klasse auf der Penne hat es begonnen. Wer mich als erster warum so genannt hat, weiß keiner. Vielleicht weil ich immer schon ziemlich groß und schlank war, vielleicht ist es auch eine Spezialform für Ische. Ich denke eher, dass man es als lautmalerisch passend für mich empfand.“ er­klärte Viviane. „Nennen sie dich zu Hause denn auch Esche?“ erkundigte sich Lia. „Gott bewahre, mein Bruder weiß zwar, dass ich in der Schule so genannt werde, aber das wäre ein Sakrileg für ihn, seine heiß geliebte Viviane Esche zu nennen.“ antwortete Viviane. „Dein Bruder mag dich sehr?“ vermutete Lia. „Ja, natürlich, wir uns beide. Wir sind miteinander verwachsen. Mir hatte es wohl sehr gefallen, wie meine Mutter den kleinen liebkoste und zärtlich zu ihm war, und ich habe es ihr nachgemacht. Meinem Bruder hat es auch wohl sehr gefal­len. Das war unsere Basis, die wir immer weiter fortgeführt haben. Für meinen Bruder bin ich absolut der wichtigste Mensch auf der Welt. Wenn meine Mutter etwas kritisiert oder meckert, fühlt er sich beurteilt und will sich verteidigen. Wenn er merkt, dass ich seine Worte oder sein Verhalten nicht in Ordnung fin­de, schaltet er um auf Wonneempfinden und strahlt milde. Ich bin für ihn je­mand, dem es unmöglich ist, ihn zu beurteilen oder etwas an ihm als schlecht zu empfinden. Ich wohne eben in seinem Herzen, kann es nur erwärmen oder von innen streicheln.“ erläuterte Viviane. „Und bei dir? Ist das für dich auch so?“ wollte Lia wissen. „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Wir haben nicht nur die gleichen Gene, als wir ganz klein waren und unsere Gehirne sich noch ent­wickelten, ist die Liebe für den anderen mit eingewachsen. Wir sind uns also auch körperlich verbunden. Eine tiefere Liebe als zwischen uns beiden ist für mich unvorstellbar.“ erläuterte es Viviane. „Dann wirst du deinen Bruder wohl heiraten müssen.“ vermutete Max und lachte. „Das wird sich bestimmt nicht vermeiden lassen.“ reagierte Viviane und lachte ebenfalls. „Und deinen Freund, liebst du den auch so abgöttisch?“ wollte Lia wissen. „Mein Freund? Nein, nein, einen Freund habe ich nicht.“ erklärte Viviane mit kurzem Stocken. „Viviane, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Du bist doch eine kluge, lebenslustige, aufgeweckte junge Frau. Die Jungs müssten sich doch um dich reißen.“ meinte Lia zur allgemeinen Erheiterung. „Ja, im Gegensatz zu Lia. Die ist absolut ver­schlafen.“ wusste Max. Das musste er jedoch näher erläutern. „Wenn wir den Wecker auf eine halbe Stunde früher stellen würden, damit wir morgens im Bett noch ein wenig zärtlich sein könnten, völlig zwecklos, Lia würde immer so­fort einschlafen. Wir können nur gemeinsam aufstehen, dann beginnt sie beim Frühstück allmählich wach zu werden.“ stellte Max es dar. „Na, ist doch klar, dein Körper braucht eine gewisse Zeit, damit er sich umstellen kann. Das ge­schieht nicht dadurch, dass du die Augen aufmachst.“ Lia dazu. „Wenn du also deine Augen aufmachst, können sie noch gar nicht erkennen, dass es sich um deinen Liebsten handelt?“ wollte sich Viviane vergewissern. „Erkennen viel­leicht schon, aber es interessiert sie nicht.“ Lia dazu.

 

„Ich werde jetzt mal wieder gehen.“ erklärte Viviane. „Bleib doch noch, Vivia­ne. Es ist nett mit dir. Oder hast du etwas vor und möchtest gern gehen?“ rea­gierte Lia. „Nein, ich wollte mich ja nur kurz vorstellen, und jetzt bin ich schon so lange hier. Bei Strucks haben sie mich sofort wieder rausgeworfen. Nein so nicht direkt. Frau Struck war nur ungeheuer beschäftigt. Musste ihr Eingekauftes auspacken. Ich kam mir vor, als ob ich störte. Meine Eltern hatten einen Kaffee bekommen, aber die Tochter, das Kind? So etwas Unbedeutendes. Da bin ich natürlich sofort wieder gegangen.“ berichtete Viviane. Die Augen und die Mimik mit der Lia und Max sich anblickten, mussten in etwa sagen: „Diese Struck, wie kann man nur?“ „Bei uns bist du nie unbedeutend, und wir freuen uns, wenn du kommst. Max ist ja immer zu Hause, und wenn du ihn schon verführt hast, wird er sich bestimmt jedes mal über einen Besuch von dir freuen. Vor allem bekommt er dann öfter mal Tee statt Kaffee, das ist ja viel gesünder.“ erklärte Lia. „Ja, danke, ich werde bestimmt wiederkommen. Mir hat es auch absolut gefallen bei euch. Ich denke wir werden sehr gute Nachbarn sein, das wünsche ich mir.“ Viviane darauf. Zur Verabschiedung umarmten sie sich schon, als ob sie nicht nur Nachbarn, sondern Freunde wären.

 

Was war das? Viviane schien wie benommen. In welcher Welt war sie gewesen. Ein kleines Routineereignis war geplant. Dem neuen Nachbarn mal kurz 'Guten Tag' sagen. Zu Hause legte sie sich auf's Bett, wollte verstehen, was sie so be­wegte. Natürlich war da der Unterschied. Frau Struck war bei ihr zur Persona non grata avanciert, lebenslang. Eine Frau, die sich so verhielt, konnte keinen guten Menschen in sich bergen. Aber unterschiedlich wären doch alle. Max hat­te sie aber nicht nur zur erwachsenen Frau bestimmt, sondern mit keinem Wort und keiner Verhaltensäußerung war sie wie ein Kind oder eine Jugendliche behandelt worden, auch von Lia nicht. Sie hätte zehn, zwanzig oder dreißig Jahre älter sein können, nichts wäre anders gewesen. Das kam sonst nicht vor, und Viviane hatte es noch nie erlebt. Ein wundervolles Gefühl, selbstverständ­lich wie eine ebenbürtige, gleichaltrige Frau behandelt zu werden. Anders woll­te sie es in Zukunft nicht mehr hinnehmen, auch wenn man es als Macke einer Pubertierenden belächeln würde. Unerwartetes Glück, aber hinzu kam noch et­was anderes, vielleicht für ihr augenblickliches Empfinden Bedeutsameres. Fast sofort war Max kein fremder Mann mehr. Du kannst sagen: „Ich teile deine An­sicht.“, ein Signal der Verbundenheit, aber welch schwache Flamme ist es, wenn du gemeinsam mit dem anderen Lachen kannst? Das hatten sie von An­fang an gekonnt. Sie hatten viel gelacht, wie unter vertrauten Freunden, dabei waren sie sich völlig fremd, hatten sich noch nie vorher gesehen. Viviane mochte ihren Vater, sie liebte und bewunderte ihn, auch wenn sie manchmal Lust hatte, ihn mit beißenden Scherzen zu ärgern. Sie hatte bei ihrem Vater alle Freiheiten, niemals hatte er etwas an ihr kritisiert, trotzdem war er immer der Vater, der Ältere, der Klügere, der Überlegene. Niemals sagte er so etwas, aber er brachte es in seinem Verhalten zum Ausdruck, identifizierte sich mit seiner Vaterrolle. Bei ihren Scherzen schmunzelte er sanft. „Ich habe verstan­den, amüsant.“ sollte es wohl heißen. Eine Lizenz zum Urteilen schien der Va­terrolle immanent. Anders konnte er sich Viviane gegenüber nicht verhalten. Max plagten keine Rollenvorgaben, sich als Vater oder weisen älteren Mann zu geben. Auch wenn er viel älter war als ihr Vater, wirkte er für Viviane eher wie der Junge aus dem Nachbarhaus. Wenn Hierarchien fehlen, spielt das Alter vielleicht gar keine Rolle mehr, dachte Viviane. Bestimmt auch gerade für sie selbst nicht. Sie war nicht jung oder alt, sie war einfach wie ein ganz normaler Mensch behandelt worden. Max und Lia hatten ihr Anerkennung geschenkt, ihr gezeigt, dass man sie mochte, einfach so, nur weil sie die Viviane war. Sie meinte, das sei es, was jedem Menschen am meisten gebe und ihn emotional am stärksten bewege.

 

Teezeremonie und freier Wille

Auch an den folgenden Tagen musste sie öfter an Max und Lia denken. Zu Hau­se hatte sie nur gesagt, Benninghoffs seien sehr nette Leute. Viviane kam es vor, als ob sie zu Fremden gegangen und sofort bei Freunden angekommen wäre. Distanz, so ein dummes Wort. Wirkliche Menschen lieben es nach Ver­bundenheit zu suchen und haben kein Interesse, Distanz zu wahren. Viviane würde gern wieder Lia und Max besuchen, aber warum? Einen Grund gab es nicht. „Hallo, Max! Ich wollte mal fragen, ob du jetzt einen Tee brauchst.“ er­klärte Viviane lächelnd bei der Begrüßung, und weiter, „Ich habe nach einem Grund gesucht, warum ich euch besuchen müsste, aber mir ist keiner eingefal­len.“ „Na, hör mal, dass ich mich freue, wenn du mich besuchen kommst, ist das nicht Grund genug?“ Max dazu. „Oh ja, das hab' ich nicht bedacht. Ein gu­ter Grund, der stärkste überhaupt ist das. Und ich vergesse so etwas. Ich muss noch viel lernen, gehe ja auch noch zur Schule, aber da lernt man so etwas nicht.“ scherzte Viviane. „Es gibt eben Dinge, die kannst du nur bei den Nach­barn lernen.“ Max darauf. Viviane sorgte dafür, dass es heißes Wasser gab, während sich Max um Teekanne, Tassen und den Tee kümmerte. „Ist glaube ich nichts Besonderes, der Tee, aber wenn „two leaves and a bud“ draufsteht, muss er ja schon ganz ordentlich sein.“ kommentierte Max. „Ist das englischer Tee?“ erkundigte sich Viviane. „Nein, nur die Engländer haben ja über Indien die ganze Teewelt kategorisiert und ihre Nomenklatur als weltweiten Standard verbreitet. Dabei trinken sie selbst heute nur noch den Müll aus Teebeuteln. Die chinesischen und japanischen Teekulturen sind doch wesentlich älter als die englische. Der englische König hat noch Anfang des siebzehnten Jahrhunderts seiner Frau, die eine Tasse Tee wünschte, erklärt: „We don't drink tea in Eng­land. But maybe some ale will do“. Danach hat erst die englische Teeeinfuhr und -kultur begonnen. Während die Chinesen und Japaner ja schon immer Tee tranken. Bei den Japanern ist es doch ein fast religiöses Ritual, und sie verfü­gen bestimmt über spezielle Geschmackspapillen für Tee, wenn sie die feinen möglichen Unterschiede, die bei der Teezeremonie auftreten können, schme­cken wollen. Vom Teeismus spricht man in Japan, der das ganze Leben betrifft und vor allem Einfachheit und Schlichtheit vermittelt. In Kunst und Architektur hat sich das besonders ausgewirkt.“ immer weiter erzählte Max vom Tee, alles was er wusste, und das schien endlos dauern zu können. Sie waren mit dem Tee in Max Zimmer gegangen und saßen sich am Schreibtisch gegenüber. Vi­vianes Lippen formten ein erstauntes Lächeln und ihre Augen beobachten Max freundlich gespannt. „Was ist?“ stockte Max plötzlich seinen Redefluss. Irgen­detwas musste ihm aufgefallen sein. Entweder hatte er gemerkt, dass es sich nicht mehr um ein Gespräch handelte, oder Vivianes Blick hatte ihn irritiert. „Nichts ist, Max. Es ist nur ein wenig lustig. Ich schau dir gern zu, wenn du er­zählst. Eine Oper habe ich erlebt, die Oper 'Max' nur bei dem Libretto konnte ich gar nicht richtig zuhören.“ erklärte Viviane. „Ach je, Entschuldigung, ja na­türlich. Ich bin eben ein Mann.“ erklärte es Max. Viviane lachte, aber ihre Au­gen forderten nähere Erläuterung. „Na ja, das ist eben meine Sozialisation, und was da in dir steckt, bekommst du nie wieder weg.“ erklärte Max. „Ah ha, und danach ist es so, dass Männer gerne reden. Ich dachte, der Mann spricht ein klares Wort und das muss reichen. Endlos quasseln, das wollen doch die Weiber.“ legte Viviane ihre Vorstellungen zur unterschiedlichen Sozialisation von Mann und Frau dar. Wie ernst es ihnen war, sah man daran, dass beide lachten. „Vielleicht hast du ja Recht, aber erzählen muss der Mann doch schon. Wie soll sein Gegenüber denn sonst von seinen Heldentaten und raffinierten Winkelzügen erfahren?“ meinte Max. „Und beim Tee, wo war da das Heldenhaf­te, das Heroische?“ erkundigte sich Viviane. Max lachte. „Dem Mann geht es doch darum, allgemein mit seinem Wissen und Können zu imponieren.“ meinte er. „Und die Frau, womit imponiert die?“ fragte Viviane. Max antwortete fra­gend und grinste dabei: „Durch Anmut und Schönheit?“ „Den geilen Arsch und die großen Titten hast du noch vergessen. Max, du spinnst doch.“ reagierte Vi­viane, „Dass die Sozialisation von Männern und Frauen spezifisch unterschied­lich ist, streite ich ja gar nicht ab, und auch nicht, dass die meisten Frauen und Männer ihre jeweiligen Rollenvorgaben akzeptieren und den Erwartungen, die die Allgemeinheit an eine Frau oder einen Mann stellen, zu entsprechen versu­chen. Aber du bist doch als Individuum nicht ohnmächtig an deine Sozialisation und die Verarbeitung der in deiner Geschichte gemachten Erfahrungen gefes­selt. Du entscheidest doch jetzt, was du tun und sagen willst, und wenn dir et­was an dir nicht gefällt, hast du doch die Möglichkeit, es zu ändern. Natürlich hat deine Geschichte ihre Auswirkungen auf dein Handeln und Verhalten, aber du bist ihr doch nicht sklavisch ausgeliefert.“ „Viviane, du kannst beruhigt sein, ich empfinde mich keineswegs als Sklave meiner selbst, ich denke nur wir müssten es ein wenig umfassender sehen. Du sagst, 'Ich kann entscheiden, et­was zu ändern.' Da gehst du von deinem Bewusstsein aus. Es bildet aber nur einen ganz kleinen Teil von dir. An den Entscheidungen und Ausführungen dei­nes Handelns ist immer der gesamte Mensch Viviane beteiligt. Diese Aufteilung des Menschen in Körper, Seele , Geist ist störend, falsch und widernatürlich. Dein Bewusstsein hat entschieden, dass du nach der Teetasse greifen willst. Ein kleiner, unbedeutender Moment. In dir läuft aber eine Vielzahl von Prozes­sen ab, die tausend größere und kleinere Muskeln zu einem haargenauen Zu­sammenspiel organisieren, das exakt funktioniert, von dem dein Bewusstsein nichts erfährt. Und die Idee, nach der Teetasse greifen zu wollen, woher kam die? Dein Bewusstsein kann nur nach kausalen Zusammenhängen rationale Er­klärungen zu liefern versuchen. Die kennt deine Biologie aber nicht. Das sind von Menschen erdachte logische Muster, um die du dich in deiner Gesamtheit als Viviane aber nicht scherst. Was du tust und wie du handelst, ist ein Ergeb­nis des gesamten Menschen und keinesfalls nur deines Bewusstseins.“ erläu­terte Max. Noch starrte Viviane Max erstaunt an, dann fuhr sie auf: „Nein, nein, Max, das stimmt nicht, das ist nicht wahr. Deine Vorstellung vom Men­schen als Einheit gefällt mir sehr. Das möchte ich auch so sehen, aber da muss ich noch viel nachdenken. Wir sind eben gewohnt, es anders zu sehen, der Körper ist krank, oder die Psyche ist krank, bei dem gesamten Menschen ist et­was nicht im Gleichgewicht. Aber das andere kann ich überhaupt nicht unter­stützen. Das hört sich für mich so an, als ob deine Entscheidungen und dein Handeln ein Elaborat des Programms der biochemischen Maschine Max wären. Mich gibt es selbst, ganz persönlich. Wenn ich glücklich bin, mich freue, traurig bin, wenn ich liebe, dann bin ich das wirklich, der Mensch Viviane ganz direkt, und das will ich auch sein. Das sind nicht nur irgendwelche Illusionen und mein Bewusstsein ist mir auch von ernsthafter Bedeutung und spielt nicht nur ein kausales Kasperletheater. Max, es gibt mich wirklich echt, ich lebe und entscheide und für dich ist es genauso, das weiß ich. Das macht doch das Schöne an uns aus.“ Viviane blickte nach ihrer engagierten Erklärung Max erwartungsvoll an, als ob sie Bestätigung erwarte. Der blickte erstaunt, aber ein leichter Anflug von Glücksempfinden, war auch darin zu erkennen, das konnte er nicht verbergen. Nach einer Pause sagte Max plötzlich: „Viviane, magst du mir deine Hand geben?“ und hielt seine Rechte vor sich über den Schreibtisch. Viviane legte ihre feine, zartgliedrige Hand hinein, und Max bedeckte sie mit seiner anderen Hand, als ob er ein kostbares Gut schütze. Viviane stand halb auf, beugte sich vor und gab einen Kuss darauf. Mit breit gezogenen Lippen lächelnd, blickten sich die beiden in die Augen. Offensichtlich verstanden sie, was da geschehen war. Kausal rationale Erklärungen des Bewusstseins konnte es dafür nicht geben. Fast automatisch hatte es sich ereignet, als ob es so geschehen müsse, dabei hatte es beide doch höchst individuell persönlich ergriffen. Einen offiziellen Namen gab es nicht, man könnte das Szenario von Max und Viviane am ehesten im Bereich spezieller Verbrüderungsgesten ansiedeln. Vielleicht wollten sie sich auch nur versichern, dass ihre Verbundenheit durch unterschiedliche Auffassungen keinesfalls beeinträchtigt werden könne. Eigentlich hätte Max sagen müssen: „Viviane, ich mag dich.“, aber das durften nur seine Augen erklären. „Zuletzt haben ja die Neurowissenschaftler für Aufsehen gesorgt, aber Schopenhauer hat schon gesagt: ‚Der Mensch kann tun was er will; er kann aber nicht wollen was er will.', und Nietzsche, den ich sehr schätze, hat sich ebenfalls schon über den freien Willen lustig gemacht. „Wahn ist mir das, was ihr Willen heißt, es gibt keinen Willen.“ hat er verkündet. Ich werde mich nochmal damit beschäftigen müssen.“ erklärte Max. „Schau mal Max, mir kam der Gedanke, dass ich euch gern besuchen würde. Nein, so einen Unsinn mache ich nicht, dachte ich. Warum eigentlich nicht, Max und Lia werden mir schon offen sagen, wenn sie beschäftigt sind. Aber ist es denn nicht albern, einfach zu jemandem hinzugehen und zu sagen: „So, da bin ich.“ So ging das hin und her, ich hätte mich so oder anders entscheiden können, hätte auch auf dem Weg hierher noch wieder umkehren können. Mit freier Entscheidung sollte das nichts zu tun haben? Vorher stand es schon fest, dass ich zu euch kommen würde? Das kann nicht sein, Max, das kann und will ich nicht glauben.“ reagierte Viviane. „Ich freue mich doch, meine Liebe, dass du es mit deinem freien Willen so entschieden hast, sonst wäre vielleicht etwas ganz anderes dabei herausgekommen.“ meinte Max dazu, und beide lachten.


Lia war aus der Kanzlei gekommen. Wie selbstverständlich gab es eine Umar­mung mit Begrüßungskuss. „Lia, hast du einen freien Willen?“ platzte Viviane sofort los. Lia schmunzelte, sinnierte und erklärte: „Ich hätte ihn haben kön­nen, so einen schönen freien Willen, aber Max hat ihn mir geraubt. Das ist das erste, dein freier Wille, was dir die Liebe raubt. Schau mal, ich möchte gern Apfeltörtchen, aber ich weiß, dass Max Pflaumenküchlein besser schmecken. Was backe ich? Pflaumenküchlein natürlich. Wo bin ich denn da noch selbst? Wo sind meine Entscheidungsspielräume? Es gibt sie nicht. Freier Wille? Dass ich da nicht lache.“ Max sollte etwas zu diesem Dilemma erklären. „Stellt sich das für dich auch so dar, Max? Und wie gehst du denn damit um?“ wollte Viviane mit schelmischem Grinsen wissen. „Blanker Unsinn, absoluter Schwachsinn ist das doch.“ konstatierte Max vorausschickend bevor er sich näher darauf einließ, „Viviane, Liebe lebt davon, dass sie sich an selbstlosem Geben und Schenken erfreut, sie möchte immer mehr und kann gar nicht genug geben, bis zum freien Willen, vielleicht auch das. Geraubt! In der Liebe wird doch nichts geraubt, außer dem kleinen Herzelein vielleicht.“ Max lachte, und Lia fragte: „Viviane, hast du keine Lust, zum Abendbrot zu bleiben. Uns würde es jedenfalls sehr freuen, nicht wahr, Max?“ „Was gibt es denn bei euch zu essen?“ erkundigte sich Viviane und ließ alle lachen. „Nur die delikatesten Köstlichkeiten werden bei uns serviert.“ reagierte Lia, „Nein, Quatsch, wir machen nichts, nur so Kleinigkeiten wie Pfannkuchen, Reibeplätzchen, ja schon mal gibt es auch Fischfilet oder Bratkartoffeln. Für Leckeres gehen wir raus. Es kann auch schon mal sein, dass wir am Wochenende Kochlust bekommen.“ „Ja, Bratkartoffeln, die sind doch lecker, Bratkartoffeln mit Spiegelei mag ich absolut gern. Ich muss aber eben zu Hause anrufen.“ erklärte Viviane. Nachdem sie telefoniert hatte, meinte Viviane: „Max, du darfst das nicht falsch verstehen. Dass du so viel vom Tee erzählt hast, empfand ich kein bisschen als unangenehm. Ich schau dir sehr gern zu, dabei zeigt sich mir vieles von dir, von dem du gar nicht sprichst. Ich mache das sonst nicht, habe noch nie jemanden beim Sprechen so intensiv beobachtet, aber bei dir geschieht es fast automatisch. Warum? Ich weiß es nicht, aber es ist ungemein spannend, die Assoziationen zu erleben, die sich mir von dir beim Reden zeigen.“ „Und was erkennst du von mir?“ erkundigte sich Max. Viviane lachte auf. „Oh, Max, das kann ich doch nicht verraten. Aber auf jeden Fall … Ach, lassen wir das.“ reagierte Viviane. „Max, du hast ungemein viele Bücher. Wenn du so viel über Tee weißt, wirst du sicher auch Bücher über Tee haben.“ Max machte krause Lippen und schüttelte den Kopf. „Ich habe sonst in der Behörde immer Tee getrunken. Der Kaffee aus den Filtermaschinen ätzt einem ja im Laufe der Zeit die Magenschleimhaut weg.“ erklärte Max. „Und woher weißt du dann so viel über Tee? Ich habe überhaupt keine Ahnung, merke nur, ob mir der Tee gut schmeckt oder nicht, und sonst weiß ich nur, was jeder so weiß.“ fragte Viviane. „Ich weiß auch nicht, woher meine Kenntnisse über Tee stammen. Werden sich im Laufe der Jahre so angesammelt haben. Bestimmt werde ich auch mal etwas gelesen haben. Doch, Viviane, ich habe doch ein Buch über Tee.“ fiel Max plötzlich ein. Er stand auf und ging zum Bücherregal. Viviane erhob sich ebenfalls und kam mit. „Aber es ist ein Bilderbuch.“ sagte Max, als er das Buch aus dem Regal nahm. „Fotographien einer japanischen Teezeremonie. Mir gefällt diese japanische Ästhetik.“ Er schlug das Buch auf und zeigte es Viviane. Alte Hände hätten braune Flecken und das Fettgewebe unter der Haut verschwinde, so dass die Haut wie ein zu großer Anzug um das Knochengerüst der Hand hing, dachte Viviane. Dass es keine prallen Kinderhände waren, die die Seiten umblätterten, war natürlich deutlich, aber Max Hände waren feingliedrig, schön und ganz normal. Am liebsten hätte Viviane die Hand nochmal geküsst, aber das ging nicht, und Streicheln das ging erst recht nicht. Statt dessen blickte sie Max zustimmend an und erklärte: „Ich mag sie auch sehr, die japanische Ästhetik. Sie ist so schlicht und feingliedrig, sie wirkt so elegant und edel.“ Die beiden schmunzelten sich zu. „So möchte ich als Frau später auch mal wirken.“ erklärte Viviane. Max stutzte und musste lachen. „Und jetzt?“ fragte er, „Jetzt bist du keine Frau und wirkst nicht schlicht, feingliedrig, elegant und edel?“ „Ach, Max, das siehst du doch. Jetzt bin ich eher ein zauseliges Zottelweib.“ antwortete Viviane. Max lachte sich wieder schief. „Ja, ich denke schon, dass dein Erscheinungsbild die widerspenstige junge Frau symbolisiert, zeigt, dass sie Renitenza hat und nicht affirmativ sich allem Vorgegebenen anschließt. Dass ist auch ganz wichtig, denke ich, aber das bist du nicht im Kern. Die wirkliche Viviane ist eine ganz andere, so viel habe ich, glaube ich, auch schon von dir erkannt.“ meinte Max dazu. „Und was hast du von mir erkannt? Stehen dir nicht nur deine eigenen Bilder zur Verfügung, lassen deine Augen dich nicht nur sehen, was deine eigenen Assoziationen sind, was du längst kennst? Also etwas in mir erkannt, dass sich in deinem Repertoire befindet, etwas in dir erweckt aber in mir nichts erkannt?“ vermutete Viviane. „Ich gebe dir ja Recht, dass es im Grunde nicht anders sein kann. Trotzdem meine ich auch etwas Unbekanntes gesehen zu haben.“ erklärte Max dazu. „Dass ich im Grunde meines Herzens ein biederes, braves Mädchen bin, das hast du gesehen, nicht wahr?“ schlug Viviane vor, sodass beide lachten. „Ach, Viviane, das war schon gleich zu Anfang vorbei. Als du erklärtest, dass ich auf dich scharf sein müsste, war das Programm mit der biederen, gewöhnlichen jungen Frau wie per Knopfdruck abgeschaltet. So etwas sagt man nicht, das gehört sich nicht. Du warst sofort eine andere, die mich interessierte, von der ich mehr hören und erleben wollte. Ja, ich habe mich fast vom ersten Moment an über dich gefreut.“ erklärte Max.


Amore pur beim Essenkochen

Sie gingen zu Lia in die Küche, aber die war noch gar nicht da. Dabei sein musste sie aber schon. Nur gemeinsam konnte die Abendbrotzubereitung ge­lingen. „Bei uns zu Hause gibt’s Abends immer 'Big Dinner'.“ verkündete Vivia­ne, „Nein, es wird nur richtig gekocht, weil wir dann alle zusammen sind. Oft kochen meine Mutter und mein Vater gemeinsam. Das ist noch viel besser als das Essen selbst.“ Das wollten Max und Lia erklärt haben. „Ich weiß ja nicht, was die beiden im Bett machen, aber wenn sie zusammen kochen, ist das Amore pur. Ich glaube beim Kochen ist eine ganz spezielle Kommunikations­ebene möglich. Da sind sie völlig frei von allen Ansprüchen und Erwartungen, geben sich total selbst und suhlen sich kommunikativ in dem Glücksempfinden der Beziehung zu ihrem Geliebten. Meine Mutter ist eigentlich total fit im Ko­chen, aber bei ihren gemeinsamen Aktivitäten merkst du nichts davon. Etwas besser zu können oder besser wissen zu wollen? Wie grässlich und störend. Gegenseitiges Befragen und gemeinsames Klären ist das Ziel. Beim Abendes­sen sind sie meistens ruhig und beschaulich. Dann ist das Liebesszenario been­det. Bestimmt haben sie einen kommunikativen Orgasmus gehabt. Was meinst du Lia?“ erkundigte sich Viviane. Aber Lia und Max mussten erst mal lachen. „Na, wir unterhalten uns auch manchmal sehr intensiv und es kann schon zu erregten Diskursen kommen, aber zum Höhepunkt? Oder hast du das schon mal erlebt Max?“ fragte Lia. „Ich selbst noch nicht, aber ich stelle es mir so vor, dass das gesamte limbische System und das Sprachzentrum sich beim Kommunizieren so erregen, dass es irgendwann zu krampfartigen Reaktionen führt. Die Menschen beginnen dann zu stottern.“ sah es Max. „Gestottert haben meine Eltern beim Essen kochen aber noch nie.“ konnte Viviane noch nüchtern, trocken erklären, bevor alle in der schon lange heiter gespannten Atmosphäre losplatzten. Die Stimmung blieb lustig albern, auch als Max und Lia nicht entscheiden konnten, welcher Wein warum besser zu Bratkartoffeln passe. Ob sie oft unterschiedlicher Auffassungen wären, erkundigte sich Viviane auch nicht ganz ernst. „Ich denke, es ist doch ganz normal, das man eine andere Ansicht vertritt als der andere. Stört dich das denn?“ fragte Lia. „Nein, keineswegs, ich bin es gewohnt mit unterschiedlichen Vorstellungen zu leben und dann meine eigene durchzusetzen.“ erklärte Viviane. „Ja, bist du so eine dominante Frau?“ wollte Lia wissen. „Nein, aber die Harmoniesüchtigen haben doch einen Schaden, trauen sich nicht, die eigene Meinung zu sagen, weil sie meinen, es würde den anderen verletzen. Das ist doch idiotisch. Wenn ich eine Hose kaufen will, und mir gefällt die mit dem breiten Gürtel und den dicken Nieten besser, während meine Mutter die mit den Blümchen-Applikationen so nett findet, werde ich doch nicht in der Blümchenhose rumlaufen, weil ich meine, sonst meine Mutter zu enttäuschen. Wenn ich von etwas überzeugt bin, versuche ich es auch zu realisieren. Was denn sonst?“ erklärte Viviane. „Das sehe ich auch in dir.“ kommentierte Max noch. „Ich weiß gar nicht, wie lange ich hier auf dem Lande Ausgang habe. In der Stadt hat meine Mutter immer besorgt gemahnt, ich solle es nicht zu spät werden lassen. Heute Abend hat sie mir nichts gesagt. Da wird sie bestimmt gleich kommen und mich heim holen, wenn's zu spät wird.“ scherzte Viviane und wollte damit ihren Aufbruch ankündigen.


Intensive Forschungen

Eine Woche war vergangen, als Viviane wieder zu Benninghoffs kam. Max be­grüßte sie gar nicht. „Wo warst du? Was war los?“ empfing er die erstaunte Vi­viane. Zu Strucks würde sie niemals gehen, und Max durfte sie nicht eine Wo­che allein lassen, fragte sich Viviane. „Max, ich freue mich, dich zu sehen, willst du das nicht auch zu mir sagen?“ stoppte Viviane ihn. „Natürlich,“ erklär­te Max vor der Begrüßung. „Ich habe mich nur gewundert, dass du nichts von dir hören ließest. Habe überlegt, ob dir in der letzten Woche etwas missfallen haben könnte.“ „Max, ich hatte keine Zeit. Die Schule fordert mittlerweile schon einiges, und dann musste ich doch forschen.“ erklärte Viviane. Max woll­te grinsend nähere Erläuterungen. „Ich weiß jetzt alles über den freien Willen. Nein, Unsinn, das geht ja gar nicht. Seit der Antike haben schon Menschen dazu geforscht, Bücher geschrieben und Vorlesungen gehalten und das in un­terschiedlichen Wissenschaften, aber ich habe einen strukturellen Überblick, und glaube, dass ich jetzt einiges weiß.“ verdeutlichte Viviane. Sie gingen Tee kochen und unterhielten sich dabei weiter. „Dass nichts zusammenhanglos ge­schieht, sehe ich auch so, außer bei den Englein vielleicht, aber trotzdem bin ich davon überzeugt, dass es auch einen freien Willen gibt. Eine Kompatibilistin wäre ich somit. Als Libertarierin sehe ich mich keineswegs.“ erklärte Viviane ihre Position. Max starrte sie an. Lächelnd staunte er, als ob er etwas nicht fassen könnte. „Ich habe mich ja auch noch mal mit allen möglichen Quellen beschäftigt, und es ist nicht zu fassen, ohne ein Wort untereinander zu wechseln, sind wir beide letztendlich zu der gleichen Ansicht gelangt. Es wird doch so etwas wie Telepathie geben müssen.“ vermutete Max. Spontan mussten sich die beiden in der Küche einfach umarmen. Bestimmt wollten sie dem gedanklichen Gleichklang auch körperlichen Ausdruck verleihen. In Max Zimmer beim Tee erklärten sie in einem gemeinsamen Referat in Diskursform, zu welchen Erkenntnissen sie wodurch über den freien Willen in der letzten Woche gelangt waren. Max und Viviane ergänzten und unterstützten sich gegenseitig. „Übrigens, Max, die Diskussion über die Einheit von Körper, Seele, Geist existiert auch in der abendländischen Kultur schon seit der Antike, nur die christliche Religion hat durch ihre Doktrin letztlich jede Diskussion dazu überflüssig gemacht. Aber auch zum Bewusstsein, zu dem, was du von dir selbst weißt, zu deinem Selbstbewusstsein, habe ich Spannendes gesehen. Da müssen wir uns auch noch mal näher drüber unterhalten. Fast hauptsächlich philosophische Fragen, in der Schule besteht der Philosophieunterricht im Wesentlichen nur aus Philosophiegeschichte. Du erfährst, wer Thales von Milet und Sokrates waren und natürlich auch etwas zu ihrem Denken, aber es lässt dich unberührt. Dabei ist doch unser Alltag voll von philosophisch offenen Fragestellungen, nur der Common Sense hat sich irgendwelche, meist Theologie affine Ansichten zu eigen gemacht, und alle sehen es so, ohne auf die Idee zu kommen, es mal zu hinterfragen.“ erklärte Viviane. „Kant hat es aber als logischen Zirkelschluss bezeichnet, sich über das Bewusstsein seiner selbst Gedanken machen zu wollen.“ bemerkte Max. „Ich denke, wir sollten uns trotzdem mal tiefer darauf einlassen, zumal du ja auch bestimmte Vorstellungen zum Bewusstsein hattest.“ erwiderte Viviane. Damit sie sich nicht wieder kontaktlos vermissen würden, falls die Nachforschungen zu lange andauern sollten, tauschten sie ihre Handynummern aus.


Große Oper

Viviane kam jetzt immer öfter zu Benninghoffs. Zum Abendbrot blieb sie nur sehr selten, da das gemeinsame Essen bei ihnen zu Hause auch einen leicht sakrosankten Anflug hatte. Es versinnbildlichte die von allen unwidersprochen geliebte Verbundenheit der Familie, und bedeutete weniger gemeinsame Nah­rungsaufnahme als soziale Gemeinschaftspflege. Es dauerte nicht lange, bis Vi­viane jeden Tag wenigstens mal kurz eben für eine Tasse Tee reinschaute. Meistens traf sie nur Max, da Lia noch nicht zurück war. Keineswegs redeten Max und Viviane nur über kontrovers diskutierte philosophische Ansichten, auch wenn es sich dabei um die anregendsten und beliebtesten Gespräche handelte. Alles konnte Thema sein. Sehr häufig unterhielten sie sich über Musik. Am lustigsten war es, wenn sie über ein Album in den Charts sprachen mit einer Band, von der Max überhaupt keine und Viviane nur minimalste Ah­nung hatte. Meistens sprachen sie aber über klassische Musik. Viviane liebte Violinkonzerte, aber Liszt und Chopin gehörten auch zu ihren Favoriten. Zur Zeit beschäftigte sie sich mit Satie und fand es ungemein spannend, zumal ihr Vater überhaupt keine Ahnung davon hatte. Durch ihren Vater war bei ihr die Liebe zur klassischen Musik geweckt worden. Er sah seine freie Zeit als alternative Welt zu seinem beruflichen Alltag, und da liebte er es, Musik zu hören, zu lesen, sich mit den Kindern zu beschäftigen und mit seiner Frau glücklich zu sein. Der Hochgenuss beim Musik hören stellte sich für Vivianes Vater erst dann ein, wenn eine Frau zum Schmusen an seiner Seite war. Seine Frau hörte aber auch gern mit ihm gemeinsam. Früher hatte er oft Viviane auf dem Schoß gehabt, sie hatten ihre Eindrücke ausgetauscht, Fragen gestellt, beantwortet und sich Hinweise gegeben. Vertrauensvolle, intime Momente waren das für Viviane gewesen, die sie immer in goldiger Erinnerung halten würde. „Von Opern habe ich gar keine Ahnung.“ erklärte Viviane Max, „Zwei habe ich erst gesehen, als Kind 'Hänsel und Gretel' von Humperding und, ja eigentlich auch als Kind, 'Zar und Zimmermann' von Lortzing. Die fand ich lustig. Einiges davon werde ich nie mehr vergessen. Zum Beispiel die Melodie vom Holzschuhtanz wird immer gegenwärtig bleiben und das 'Oh, Sancta Justitia' auch. 'Lebe wohl mein flandrisch Mädchen' ist das nicht süß?“ fragte Viviane und begann es zu singen. „Wir haben ein Abo für die Oper. Als nächste wird „La Cenerentola“ von Gioachino Rossini gegeben. Hättest du Lust auf so etwas. Es ist noch einige Zeit hin und es sind bestimmt noch viele Plätze frei. Nur müssten wir uns dann am besten jetzt schon kümmern, damit auch alles klappt.“ erklärte Max. Als Lia kam, wurde es weiter diskutiert. „Aber ich habe ja nur mein dunkelblaues Kostüm, pfui, pfui, für sogenannte festliche Anlässe. Damit kann ich nicht in die Oper gehen.“ erklärte Viviane. „Nimmst ein Kleid von mir.“ erklärte Lia. Man lachte, aber Lia meinte: „Das ist doch kein Problem. Ich kenne eine Schneiderin, die passt es dir an, und wird es auch noch ein bisschen flotter für dich machen.“ Mode Design stand bei der Schneiderin auf dem Firmenschild. Das Kleid blieb geschlossen, bekam aber einen dicken Wulst vor den Hals, der sich über die Schultern am tiefen Rückenausschnitt verjüngte. Das Kleid wurde zwar auch enger gemacht, aber im Grunde wurde es zu einem völlig anderen Kleid ummodelliert. Eine filigrane Brosche kam noch auf die rechte Brustseite und für's linke Ohr wurde alles ausprobiert, was Lia besaß. Indisch sei das Gehänge, für das sie sich schließlich entschieden, erklärte Lia. Selbstverständlich musste Viviane zum Frisör. Die Haare sollten schon zottelig bleiben, aber nicht so platt am Kopf liegen, raffinierter und ein wenig glänzen, vor allem musste das linke Ohr natürlich frei sein. Eine Kleinigkeit, dachte Viviane, die sie aber trotzdem ihr gesamtes Taschengeld kostete. Im Foyer wagte sie sich kaum zu bewegen. Sie stand nur da und glänzte. „Sagt doch, dass ich die Schönste bin.“ hätte sie sagen müssen, aber Lia und Max sagten es ihr schon durch ihre Blicke, ohne dass ein Wort gewechselt werden musste. Nicht das Geschehen auf der Bühne, nicht die schönen Stimmen, nicht die Musik und auch nicht ihr schönes Kleid waren es, die Viviane in einen rauschähnlichen Zustand versetzten, es war das Ensemble aller glanzvollen neuen Erfahrungen, die zusammenspielten und Viviane ein ekstatisches Erlebnis verschafften. Manchmal musste sie nach Max oder Lias Hand greifen, weil so viel Glück in einem Körper allein gar nicht zu verarbeiten war. In der Pause schon fiel sie Lia und dann auch Max glückstrunken um den Hals und bedankte sich immer wieder. Beim Abschied zu Hause wollte es so scheinen, dass Lia Vivianes Freude glücklicher gemacht hatte als die Oper selbst. Weihnachten wollten sie wieder gemeinsam in die Oper.


„Ach, ganz gut.“ hatte sie nur gesagt, als ihre Mutter Viviane fragte, wie's denn in der Oper gewesen sei. Im Allgemeinen hatte sich ihre Mutter das Fragen schon abgewöhnt, denn Viviane erzählte nichts von Max und Lia. Meistens be­kam ihre Mutter nur banale Allgemeinplätze zu hören, Antworten, die sich auch selbst hätte geben können. Vielleicht sah Viviane ihre Beziehung zu Max und Lia als ihr persönliches Eigentum an, bei dem sie Angst hatte, etwas abzuge­ben oder zu verlieren, wenn sie davon erzählte, vielleicht hielt sie es auch für ihre eigene, persönliche Welt, in die sie keine Fremden eindringen lassen woll­te, jedenfalls hütete sie es fast wie ein Geheimnis. Drei Tage später kam ihre Mutter nochmal auf die Oper zu sprechen. „Was für ein Kleid hast du denn an­gehabt? Warst du in deinem blauen Kostüm in der Oper?“ fragte sie. Jetzt ein­fach platt lügen und „Ja“ sagen, das mochte Viviane nicht, und außerdem wür­de bestimmt etwas dahinterstecken, wenn ihre Mutter so dezidierte Informatio­nen wünschte. Viviane gab keine Antwort, sondern der Blick für ihre Mutter be­deutete eher: „Was geht dich das an?“. „Heike (eine Bekannte der Mutter) hat dich in der Oper gesehen. Du seist die junge Königstochter persönlich gewe­sen, hat sie gesagt, und sie hat dich beschrieben.“ erklärte Vivianes Mutter. „Von Lia war das Kleid.“ erklärte Viviane knapp und meinte die Diskussion da­mit beenden zu können. „Von Frau Benninghoff?“ fragte ihre Mutter erstaunt, „das geht doch gar nicht.“ „Es ist passend gemacht worden.“ Vivianne knapp. „Und Frau Benninghoff hat es bezahlt. Das geht aber nicht. Sag mir, was es ge­kostet hat, dann gebe ich dir das Geld für Frau Benninghoff.“ erklärte die Mut­ter. Viviane hatte gar nicht wissen wollen, was die Änderung gekostet hatte, aber bestimmt so viel, dass sie sich in einem normalen Geschäft ein neues, na­türlich nicht so ein tolles, Kleid dafür hätte kaufen können. „Ich weiß nicht, was es gekostet hat, ich kann's dir nicht sagen.“ antwortete Viviane. „Das geht aber nicht. Dann werde ich mal mit Frau Benninghoff reden.“ erklärte Vivianes Mutter. „Mutter!“ fuhr Viviane drohend auf. Sonst sagte sie immer Mama, „Du wirst zu Lia gehen und mit ihr über mich und mein Verhalten beraten. Willst mit ihr klären, wie das mit meinem Kleid für die Oper zu laufen hätte. Auf wel­chen Wegen befindest du dich? Untersteh dich! Lia und Max sind meine Freun­de, und was uns drei betrifft, bestimmen nur Lia, Max und ich ausschließlich und ganz allein. Sonst hat niemand etwas dazu zu sagen und sich einzumi­schen und du am allerwenigsten.“ erteilte Viviane eine warnende Belehrung. „Und den Frisör haben wahrscheinlich auch Benninghoffs bezahlt.“ vermutete Vivians Mutter nach einer längeren Schweigepause. „Nein, den hast du bezahlt mit dem gesamten Taschengeld deiner Tochter.“ antwortete Viviane. Im Grunde war es ja nett, dass Viviane sich mit den Nachbarn so gut verstand, aber nur Glücksgefühle löste es bei ihrer Mutter doch nicht aus. „Mir kommt es vor, als ob du eigentlich schon manchmal mehr die Tochter von Benninghoffs als von uns wärst.“ erklärte Vivianes Mutter. „Ha,“ fuhr Viviane auf, „genau das Gegen­teil ist der Fall. Hier bin ich die Tochter von dir und Papa und werde es voraus­sichtlich immer bleiben. Bei Max und Lia bin ich keine Tochter. Die wissen gar nicht wie so etwas mit Tochter geht. Da bin ich einfach nur eine ganz normale Frau, eine Frau, die ihre Freundin ist. Keine Tochter, keine Sklavin, keine Herr­scherin, schlicht ein wirklicher Mensch genau wie Max und Lia selbst.“ Sie re­deten nicht weiter darüber, aber einige Tage später bekam Viviane neues Ta­schengeld mit der Bemerkung, wenn sie wieder mal zum Frisör müsse, solle sie vorher Bescheid sagen.


Zauberflöte und Maienduft

Das musste sie schon Weihnachten, denn Weihnachten gab's immer die Zau­berflöte von Mozart. Jetzt war es ziemlich voll. Familien mit Kindern, alle schie­nen Weihnachten in die Zauberflöte zu müssen. Die gediegene Opernatmo­sphäre wurde durch den Trubel gestört und die schöne Viviane wahrscheinlich kaum wahrgenommen. Viviane kannte Beethovens Variationen und liebte sie. Beethoven liebte sie sowieso über die Maßen, besonders sein Violinkonzert aber mehr noch die Kreutzersonate. Sie schwärmte Max und Lia davon vor. „Ich habe eine DVD mit Martha Argerich und Gideon Kremer. Die müsst ihr euch unbedingt anschauen.“, und Viviane begann sie zu erzählen. „Sag etwas Viviane.“ forderte Max sie in der Pause auf, „“Zauberflöte“ oder „La Cenerento­la“, was gefällt dir besser?“ „“Zauberflöte“ ist ja schon fast Volksmusik.“ be­gann Viviane, „Du kannst natürlich darüber diskutieren, ob dir Mozarts oder Rossinis Musik besser gefällt, aber das ist völlig unerheblich, darum geht es nicht. „La Cenerentola“ war ein einmaliges Erlebnis, das du nicht wiederholen kannst. Diesen Eindruck kannst du niemals reproduzieren. Es ist, als ob dir für einen Moment die Türen des Himmels geöffnet worden wären. Du kannst ein­mal kurz einen Blick hineinwerfen und dann nie wieder. Die Erfahrung von „La Cenerentola“ wird durch nichts zu überbieten sein.“ „Ein Erweckungserlebnis sozusagen, als ob du eine Erscheinung gehabt hättest.“ kommentierte Max. „Ja, die heilige La Cenerentola ist mir erschienen. „Viviane“ hat sie gesagt, „vergiss nie, dass dies dein wundervollstes Opernerlebnis war und es für dein ganzes Leben bleiben wird. Ich werde dich dafür reichlich mit Glücksgefühlen beschenken.““ erklärte Viviane dazu und ließ alle schmunzeln. Mit dem Opern­besuch war die Regelung für die Weihnachtstage getroffen. Nach der Oper ging man essen, und anschließend war es angeblich schon so spät, dass Viviane bei Max und Lia schlafen musste. Es ging aber um das gemeinsame Frühstück am zweiten Weihnachtstag und Viviane war schon gespannt darauf, zu erleben, wie Lia beim Frühstück langsam wach wurde. Sie selbst war aber die Verschlafene. Als Lia sie um halb zehn weckte, fragte sie schlaftrunken: „Ist Max auch schon auf?“ „Ja, meine Liebste, soll er dich auch nochmal wecken kommen?“ scherzte Lia. „Ach, du Schreck, wer soll das denn alles essen?“ staunte Viviane, als sie den prächtigen, prall voll gedeckten Tisch für den Brunch im Esszimmer sah. „Weißt du, Viviane, es ist auch ein Symbol, das versinnbildlichen soll, dass man in der harten, unfruchtbaren Zeit nach Weihnachten, in der dunklen und kalten Zeit nicht zu darben braucht, immer einen reichhaltig gedeckten, gefüllten Tisch haben wird und nicht zu befürchten braucht, Hungers sterben zu müs­sen.“ witzelte Max. Es waren noch einige Handgriffe zu erledigen, bevor man gemeinsam Platz nahm. „Ha a ha ha ha ha ha, ...“ Viviane trällerte die bekann­te Koloratur aus der Arie der Königin der Nacht in ihrer Stimmlage und kräch­zender Morgenstimme nach, mit „Die Königin der Nacht ist jetzt erwacht.“ schloss sie. „Die Königin der Nacht wird sicher einige Hexereien gehext haben, damit wir drei uns kennenlernen konnten.“ vermutete Lia am Tisch, „Das muss das Fatum doch so gewollt haben, einfacher Zufall des Schicksals kann es doch nicht sein, oder was meinst du Max?“ Max liebte die Fragen, die eigentlich gar keine waren, und Viviane war Weltmeisterin darin, solche Fragen zu formulieren, aber zu direkten Antworten sah er sich dadurch keineswegs veranlasst. Meistens grinste er zunächst mal. „Als ob es Mai wäre, so kommt es mir immer vor, wenn du hier bist, Viviane. Das Szenenbild ist voller sprießendem, frischem, sanftem Grün und die Wiese ist voller Blumen, die ihre Blüten in allen bunten Farben leuchten lassen.“ schwärmte Lia. „Ich mache das aber nicht, kann das gar nicht allein, bin kein Maienkind.“ erwiderte Viviane, „ich denke, es liegt an dir und Max und mir gemeinsam. Wenn liebe Freunde zusammenkommen, ist das nicht immer wie Frühling? Kann nicht jedes Wort, das aus dem Munde des oder der anderen kommt, wie eine Knospe sein, die sich dir öffnet und wundervolles offenbart. Du weißt das, erhoffst es und wartest darauf. Unsere Verbundenheit und Zuneigung untereinander wird jedem von uns viel stärkere Glücksempfindungen vermitteln als der schönste Maienduft. Und das Gefühl ist sofort präsent, wenn wir uns nur sehen, es bleibt im Hintergrund ständig vorhanden bei allem was wir tun und wie wir miteinander umgehen.“ Max sagte nichts, er blickte nur Viviane an und lächelte. Seine ganze Mimik sagte aber, dass er Viviane am liebsten körperlich geantwortet, ihr Gesicht befühlt und ihre Wange gestreichelt hätte. Ob Viviane es deuten konnte? Musste sie wohl, denn ihr sanfter, mild freundlicher Blick sagte: „Danke, ich habe verstanden, sehr lieb von dir.“


Zeichen, Wörter, Alltag

Ums Verstehen ging's zur Zeit in den Diskussionen zwischen Max und Viviane. „Wir meinen, dass wir uns gut verstehen, ich glaube aber, dass wir uns in Wirk­lichkeit gar nicht verstehen können.“ hatte Viviane behauptet, und Max wollte natürlich eine Erklärung. „Schau mal, wenn jemand von uns 'Baum' sagt, mei­nen wir beide an das gleiche zu denken. Das stimmt aber überhaupt nicht. Was ich empfunden habe und welche Vorstellungen ich hatte, als ich zum ersten mal das Wort 'Baum' hörte, weiß ich nicht mehr, aber es wird die Grundlage für meine weiteren Erfahrungen mit dem Wort 'Baum' gewesen sein. Immer ist in meiner Geschichte etwas anderes zum Wort Baum hinzugekommen, das ich er­lebt und ich erfahren habe. Daraus formt sich heute mein Bild, wenn ich 'Baum' höre. Es ist mein Wort 'Baum', mein Baum, der sich mir zeigt. Genauso kann es bei dir nicht gewesen sein. Deine Assoziationen beim Wort 'Baum' ent­stammen deiner Geschichte. Es klingt zwar gleich, wenn wir Baum sagen, aber du redest nicht von meinem und ich nicht von deinem Baum. Im Grunde hat das Wort für jeden von uns eine andere Bedeutung, wir hören nur das gleiche, aber verstehen jeder etwas völlig anderes.“ erläuterte Viviane. Max lachte. „Wenn wir also aus dem Fenster schauen, und ich frage, wo der Baum ist, wer­den wir beide auf etwas anderes zeigen? Nein, Viviane, so ist das nicht. Wir beide verstehen uns schon, auch wenn wir unterschiedliche historische Erfah­rungen mit Bäumen haben.“ erklärte Max und begründete es. Aber damit gab sich Viviane nicht zufrieden, es erschien ihr zu banal und oberflächlich. Ober­flächlich, so erschien ihr auch das gesamte Lernen in der Schule. Sie hatte Max mal erklärt: „Es soll so aussehen, als ob du dir immer weiteres, zusätzliches Wissen aneignest, aber primär lernst du, oberflächlich zu sein, dich mit pauschalen, sinnfälligen Erklärungen zufrieden zu geben. Tieferes Eindringen und Hinterfragen kommt nicht vor und ist unerwünscht. So ein Trottel, der an der Oberfläche lebt, ist später für alles gut zu verwenden.“ Genau das war in den Gesprächen zwischen Max und Viviane völlig anders. Nur mit dem Verstehen der Wörter hatten sie Felder eröffnet, deren Umfang und Reichhaltigkeit sie vorher gar nicht ermessen konnten. Eigentlich hätte Viviane keine Zeit mehr gehabt, zur Schule zu gehen. Vorlesungen und Seminare zur Semantik und Semiotik wären viel dringlicher gewesen. Natürlich wussten sie längst, dass die Bezeichnung 'Wort' wissenschaftlich obsolet war, es gefiel ihnen aber besser von Wörtern zu sprechen als von Lexemen oder Zeichen. „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Max und Viviane, denn Max und Viviane, so hießen ihre Wörter.“ wusste Viviane zur Erheiterung beizutragen.


„Max, mir ist noch etwas ganz anderes zu unseren Wörtern eingefallen. Ich meine oft, von dir verstehe ich jedes Wort. Wenn du ein Wort aus dem großen Teich der allen zur Verfügung stehenden Wörter heraus nimmst, um es zu ge­brauchen, wird es zu deinem Wort. Es gehört nicht mehr zur allgemeinen Wortsuppe. Du gibst ihm deinen Klang, betonst es mit deiner Stimme, verleihst ihm deine Melodie. Wie du das Wort verstehst, was es dir bedeutet, wie du es auffasst und was es mit dir macht, bringst du nicht nur dadurch zum Ausdruck, wie du es laut werden lässt, sondern vermittelst es auch durch deine Mimik und vielleicht auch deine Gestik oder sogar deinen gesamten Körper. Ich schaue und höre dir genau zu, meine zu erkennen was das Wort dir bedeutet, wie es dich betrifft. Meine Assoziationen geben mir eine Vorstellung, und ich meine, dich genau zu verstehen. Wusch! Ich wische alles weg. Ich habe nichts verstanden von dir, alles nur meine Assoziationen, meine Bilder, meine Klänge, alles was längst in meinem Kopf war, von dir nichts dabei. Allein stimmt es so aber auch nicht. Wenn du das Wort nicht benutzt, nicht so angewendet hättest, wie du es getan hast, hätte es zur Zusammenfügung meines Bildes, zur Kom­position meiner Klänge gar nicht kommen können. Du hast das initiiert, hast das Bild kreiert, die Sinfonie komponiert mit meinen Klänge und meinen Asso­ziationen. Du hast nicht nur das Wort angewendet und ich habe es zu begreifen versucht. Wir haben etwas Neues geschaffen, das Wort, das wir kommuniziert haben, gehört dir und mir. Unser gemeinsames neues Produkt. Das tun wir im­mer und immer und immer wieder, gemeinsam etwas Neues schaffen, das nur uns beiden gehört. Ist das nicht wunderschön? Hast du das schon gewusst, Max?“ erklärte Viviane und beschloss es mit einer sonnig, seligen Mimik. Max starrte sie nicht an, er musterte Viviane nur intensiv. Am liebsten wäre er auf­gestanden, hätte sie umarmt und geküsst, und er wusste, dass Viviane sich gefreut hätte, aber Max musste es sich verbieten, dieses Bedürfnis überhaupt zu spüren. Stattdessen versuchte er zu scherzen. „Ist dir nicht klar, dass ich so gut wie alles weiß, Viviane? Außer dem, was du mir erklärst, das ist für mich immer völlig neu. Aber es ist wunderschön, was du gesagt hast. Ich möchte kein Härchen davon verändern oder verlegen. Wir werden immer versuchen, es zu bedenken, wenn wir miteinander reden. Das wird unseren Gesprächen eine freudig glänzende Patina verleihen.“ schlug Max vor. „Eine weitere,“ korrigierte Viviane und Max nickte Zustimmung. Woraus aber die erste, oder mehrere freudig glänzende Patinas ihrer Gespräche bestanden, wusste niemand. „Wenn zwei Menschen hier miteinander sprechen, nehmen sie es war, als ob sie gegenseitig verbal Informationen ausgetauscht hätten, die sie sich auch aufgeschrieben auf Zetteln hätten überreichen können. Als Austausch von textualen Informationen sehen sie es. Voll daneben ist das.“ konstatierte Max, „Der Inhalt, den sie sich vermitteln, bildet nur dreißig Prozent der Informationen. Das andere, die Mimik, Gestik, den Klang der Stimme und so weiter nehmen sie auch wahr, orientieren vielleicht auch ihre Einschätzung und Bewertung daran, aber das läuft alles unbewusst. Roland Barthes, der französische Philosoph, wir sprachen schon über ihn, war in Japan und hat festgestellt, dass sich die Menschen dort völlig anders unterhalten. Die Europäer hätten eine hysterisch, narzisstische Persönlichkeit, bei ihren Gesprächen hätten sie die Intention, sich im anderen zu spiegeln. Den großen Teeconnaisseur solltest du in mir erkennen, erinnerst du dich noch? Dieser Narzissmus sei den Japanern völlig fremd. Ihnen gehe es darum, den Gesprächspartner möglichst voll aufzunehmen. Darin bestehe das Zentrale des Gesprächs. Der andere sei spannend und interessant. So könne sich ein Gespräch aus banalem Anlass schon mal sehr lange hinziehen.“ berichtete Max. „Und was meinst du, unterhalten wir uns eher wie die narzisstischen Deutschen oder mehr japanisch.“ wollte Viviane schon mit schelmischen Augen wissen. „Vivian!“ fuhr Max auf, „Wie hättest du das sagen können, was du gesagt hast. Fast von Anfang an haben wir uns bei unseren Unterhaltungen intensiv beobachtet. Nein, du hast angefangen, hast gesagt, wie spannend es sei, mich beim Gespräch genau zu betrachten. Du hast auch gesagt, dass es ungewöhnlich für dich sei, und du es im Alltag nicht machtest.“ „Ja, im Alltag.“ stöhnte Viviane auf. „Da muss alles nur funktionieren. Morgens, wenn ich aufstehe, fängt es schon an. Da muss ich darauf achten, rechtzeitig zur Schule zu kommen. Es geht immer so weiter. Alles muss so laufen, wie man es von dir verlangt, muss funktionieren, wie es erwartet wird. Wie in einer Fabrik, in der es darauf ankommt, dass alles reibungslos klappt. Du, der Mensch Viviane, kommt da gar nicht vor, ist nicht nur überflüssig, sondern würde eher stören. So machen es alle, vollziehen ihre gewohnten Alltagsroutinen in allen Situationen. Ich komme von der Schule nach Hause, sage „Hi, Marcel. Hi, Mama.“ mache mir einen Tee und verziehe mich in mein Zimmer. Hallo! Was mache ich denn da. Treffe meinen Bruder, meine Mutter, die mir das Liebste sind, was ich habe, und begrüße sie wie Plunder aus dem Alltagsmüll. Das bin ich doch nicht. Meine wirklichen Gefühle, meine Freude, meine Liebsten wiederzusehen, nehme ich gar nicht wahr. Eine Angestellte aus der technologiesierten Alltagsfirma mit gleichem Namen wie meinem muss es sein, aber ich, die wirkliche Viviane, ist eine andere und will eine andere sein. Stell dir vor, ich käme zu euch, würde kurz: „Hi, Max.“ sagen und in die Küche gehen, um Tee zu kochen. Du würdest lachen und es für ein verrücktes Schauspiel halten. Max, das ist der Unterschied, die Alltagsfirma hat hier Zutrittsverbot. Hier leben Max und Lia und ich ihr wirkliches Leben. Die Viviane aus dem Alltag bin ich nicht mehr. Das macht ein absolut gutes Gefühl, fast Hochstimmung mit absoluter Vigilanz und voller Konzentration. So fühlt sich wirkliches Leben an. Das lässt uns den Mai und die Frühlingsgefühle empfinden, wirkliches, gefühlsbetontes Leben, sich selbst leben und nicht Vorgaben, Erwartungen und Alltagsroutinen erfüllen müssen. Aber das gibt es eben nur, wenn wir zusammen sind. Draußen kannst du nichts ändern. Da hat dich der Alltag voll im Griff und weigert sich, seine Krallen zu öffnen.“ Es gab Situationen, in denen es Max für angebrachter hielt, zu schweigen. Jetzt etwa Tips zu geben, wie man am Alltag vielleicht doch etwas ändern könnte, wie grässlich. Nach einer Pause der Stille meinte Max: „Viviane, du wirst bestimmt mal einen Freund finden, der das genauso sieht wie du. Anders wäre es ja auch gar nicht möglich. Und dann macht ihr beide alles ganz anders.“ Viviane zog ihre Lippen ganz breit. Grinsen? Es trug vornehmlich mokante, abfällige und überhebliche Züge. Nein, strafend blickte sie nicht, das konnte Viviane bei Max nicht, aber sie fixierte ihn stark prüfend. Max verstand wohl etwas. Kleinlaut entschuldigend, wie mit eingezogenem Schwanz erklärte er in lapidarem Tonfall: „Na ja, ich meine ja nur.“ Viviane konnte sich in Diskursen argumentativ heftig mit Max streiten, aber persönlich war eher das Gegenteil der Fall. Da kam es manchmal sogar zu diesen seltsamen Anwandlungen, die Vivianes Charakter eigentlich wesensfremd waren. Nichts war ihr mehr zuwider als Liebliches, Nettes, Süßliches, aber bei Max waren solche Empfindungen schon mal einfach plötzlich da. Schon immer war das so. Bei seiner Tee-Eloge hatte sie gedacht: „Wie süß.“ „Nein, nicht wie süß, nur ganz nett. Nein, auch nicht nett, ganz natürlich ist es, sonst nichts.“ Viviane wollte diese Empfindungen vor sich selbst nicht wahrhaben, hätte sie am liebsten nachträglich gelöscht, aber es tauchte einfach auf, dies Bedürfnis, Max mit Worten wie Zuckerwatte zu füttern. Eine Erklärung konnte Viviane dafür nicht finden. Ebenso gab es da noch etwas, das ihr unerklärlich war. Wenn sie sich mit Max unterhielt, war da so etwas, das sie als Kitzel bezeichnete, weil sie meinte, es auch körperlich in der Bauchgegend zu spüren. Mit Lachen oder Lustigsein hatte das aber nichts zu tun. Wie ein Reiz war es, der die Spannung auf den zu erwartenden Austausch steigerte. Immer war es da, wenn sie mit Max sprach. Vielleicht war es ja die Spannung auf das immer neue Bild, nein nicht ein Bild, sondern den Prozess des Gestaltens und der Spannung auf die neu zu verwendenden Farben und Impressionen, denn fertig wurde das Bild nie und sollte es ja auch nicht. Und wenn es einfach nur daran läge, dass Max ein Mann wäre, aber ihr Vater war ja auch ein Mann und ihr Bruder war ganz dringend damit beschäftigt, einer zu werden. Sie unterhielt sich gern und lange mit beiden, aber von diesem Kitzel hatte sie noch nie etwas gespürt, ganz zu schweigen von diesen kitschig-sentimentalen Anwandlungen.


Keine Liebesbeziehung

Ungewöhnlich warme Tage im April, die Sonne schenkte ihre kräftigsten Strah­len und vergoldete die Gemüter der Menschen. Viviane hatte heute ausgespro­chen gute Laune, spürte Lust zu scherzen und übermütigen Streichen. „Max ich wollte dich mal was fragen. Wenn ich etwas dazu lese, worüber wir gesprochen haben oder sprechen wollen, denke ich an dich. Ist ja klar. Aber ich denke auch an dich, wenn ich aus der Schule komme, dass ich gleich zu dir gehen werde. Sogar in der Schule denke ich an dich, dass ich dich heute Nachmittag besu­chen gehe. Selbst bei den Hausaufgaben, fällt mir plötzlich ein: „Was Max jetzt wohl macht? Ob er etwas liest, ob er Musik hört, oder ob Lia ihm etwas gegeben hat, das er reparieren soll.“ Abends im Bett erinnere ich mich an unser Gespräch und reminisziere, was wir gesagt haben. Selbst beim Abendbrot muss ich an dich denken. Frage mich, was es bei euch zu essen gibt. Reibeplätzchen? Ob du sie wohl mit Quark oder mit Apfelmus isst. Immer muss ich an dich denken. Ist das noch normal? Oder habe ich eine psychische Macke, was meinst du?“ wollte Viviane erfahren und hatte es geschafft, völlig ernst dabei zu bleiben. Max zog einen ganz breiten Grinsemund, sodass er dicke Backen bekam. Ihre Blicke sagten sich aber gegenseitig, dass beide genau wussten, worum es eigentlich ging. „Viviane, ich denke auch öfter an dich und freue mich ebenso, wenn wir uns treffen. Das ist schön und eigentlich doch schon sehr viel, wollen wir's nicht dabei bewenden lassen?“ sagte Max schließlich. Ein mokantes Lächeln bewirkten Max Worte in Vivianes Mimik. „Du freust dich also, wenn ich komme. Wie schön. Aber mehr ist da nicht? Was mehr da ist, darf es nicht geben. Und weil es nicht sein darf, empfindest du es auch nicht und nimmst es gar nicht wahr. So spielt sich das also bei dir ab. Max, das soll ich dir glauben?“ lautete Vivianes Reaktion. Mit offenem Mund holte Max tief Luft und blies sie wieder aus. „Viviane, natürlich mag ich dich sehr, allzu sehr mag ich dich, das weißt du, und das spürst du. Es freut mich sehr zu hören, dass du ähnlich geartete Empfindungen für mich haben musst. Das ist wundervoll für uns beide. Lass es uns genießen. Was kann schöner sein. Eine Liebesbeziehung kann und wird es aber nicht geben. Das musst du doch verstehen, Viviane.“ appellierte Max. Viviane sinnierte: „Also wir wissen beide, was wir für einander empfinden. Das ist wundervoll, aber eine Liebesbeziehung kann es nicht geben.“ Sie stockte kurz und meinte dann: „Liebesbeziehung? Was für ein Scheißwort. Wozu brauchen wir das? Überhaupt nicht brauchen wir beide so ein dämliches Wort.“ Sie schlugen die Hände verschränkt ineinander. Wozu das? Jedenfalls sah es aus, als ob sie gerade eine Kuh verkauft hätten. Sie drückten fest zu. „Mein Nicht-Geliebter.“ erklärte Viviane mit schelmischem Grinsen, als sich ihre Hände wieder lösten. An ihrem Verhalten und ihrem Umgang miteinander änderte sich durch diese förmliche gegenseitige Zuneigungsbekundung ohne Liebesbeziehung nichts. Warum hätte auch? Sie hatten sich ja nur gegenseitig verbalisiert, was jeder längst wusste und gespürt hatte. Wenn Viviane wusste, dass Max Liebesgefühle für sie hegte und Max sicher war, dass Viviane Empfindungen von Liebe für ihn trug, was brauchte es da mehr, um glücklich zu sein. Der Gebrauch des Wortes 'Liebesbeziehung' jedenfalls bewirkt keinerlei Produktionssteigerung der entsprechenden Glücksgefühle verursachenden Neurotransmitter.


Schmerzliche Trennung

Nein, nicht das. Viviane hatte gar nicht daran gedacht, weil sie im letzten Som­mer ja auch nicht dort waren. Reine Geldverschwendung sei es, hatte Viviane schon öfter darüber geschimpft. Ihre Mutter hatte damals, als sie noch in einer Etagenwohnung lebten, Träume vom glücklichen Familienurlaub auf einer Fin­ca, einem eigenen Landhaus in Mallorca gehabt. Selbstverständlich war Viviane immer mitgefahren. Es gefiel ihr ja auch, ohne irgendwelche Verpflichtungen mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Bruder zusammen zu sein. Aber Mal­lorca gefiel ihr nicht. Es gab nichts, was sie direkt gestört hätte, nur es interes­sierte sie nicht, nicht die Landeskunde, nicht die Geschichte, nicht die Natur und Palma erst recht nicht. „Was geht mich Mallorca an? Was habe ich damit zu tun? Genauso gut könnte ich mich für eine Insel der Andamanen oder Niko­baren interessieren.“ meinte Viviane. So hatte sie es auch immer strickt prakti­ziert. Sie las viel oder beschäftigte sich anderweitig, aber an irgendwelchen Ex­kursionen hatte sie prinzipiell nie teilgenommen. Als reine Zeitverschwendung und unerträglich sah sie es jetzt an. Zweieinhalb Wochen Max nicht sehen zu können, und dafür Zeit vertrödeln auf Mallorca. Sie wollte nicht mit, würde hier bleiben. Man konnte sie doch nicht dazu zwingen. Wenn sie einen Freund ge­habt hätte, mit dem sie etwas anderes unternommen hätte, wäre es sicher völ­lig unproblematisch gewesen, aber einfach so lieber allein im Haus bleiben, das hieß für ihre Mutter: „Du hast kein Interesse an uns. Wir bedeuten dir nichts mehr.“ Schlimmeres konnte es nicht geben. Davor hatte sie höllische Angst, dass durch mögliche Wirren in der Pubertät es dazu käme, dass sie sich verlie­ren würden, ihre Beziehung verwässerte, sie sich gegenseitig nichts mehr be­deuteten. Sollte Viviane ihrer Mutter klar machen, dass sie sie liebte wie eh und je, aber trotzdem hierbleiben wolle. Aber warum? Dass sie wegen Max hierbleiben wolle, sollte sie das erzählen? Unsinn, sie war alt genug, um selbst zu entscheiden, aber dann sah sie ihre Mutter, die schon beim Frühstück dach­te: „Wie schade, dass Viviane jetzt nicht auch hier ist.“ Viviane quälte sich, eine Entscheidung zu finden. Max riet ihr, doch noch einmal mitzufahren. Sie würden die zweieinhalb Wochen schon überleben. Ganz fest umarmen wollten sie sich, sodass sie es zweieinhalb Wochen immer spüren könnten. Viviane hat­te sich breitbeinig vor Max auf seinen Schoß gesetzt, und Max erklärte, dass er es schon aushalten werde: „Schön ist das allerdings nicht. Dich heute nicht ge­sehen, heute kein Wort von dir gehört, und ich weiß, dass ich dich auch mor­gen und übermorgen nicht erleben werde. Glückliche Tage werden es nicht sein, eher krause, verknitterte, da bin ich mir schon sicher.“ Ob Max den Trä­nen nahe war, wenn er sich die Empfindungen dieser vivianelosen Zeit vorzu­stellen versuchte, konnte man nicht ausmachen, und ob es im Bereich ihrer sentimentalen Anwandlungen lag, was Viviane fühlte, wusste sie auch nicht ge­nau. Ganz langsam strich sie Max behutsam über seine linke Wange und be­gann leise und sanft zu singen. Ganz nahe vor seinem Gesicht sang sie und hielt Max Kopf dabei mit beiden Händen:


„Wein doch nicht, lieb Gesicht,
wisch die Tränen ab!
Und denk an mich und an die schöne Zeit,
bis ich dich wieder ha- ha- hab.
Und denk an mich und an die schöne Zeit,
bis ich dich wieder hab.“


Einen kurzen Blick mit lachender Mimik gab es noch, große Augen, die wuss­ten, dass sich jetzt ihre Lippen treffen mussten. Sie lösten sich erstaunt, schel­misch grinsend blickten sie sich an, als ob ihre Augen prahlten: „Gewonnen!“ Das unbeabsichtigte, nicht geplante Wagnis war erfolgreich gelungen. Lange hatten sie nicht Zeit, denn Max und Vivianes Mund brauchten einander wieder dringend, und jetzt nicht mehr nur auf Probe. Ein tolles Zeugnis oder ein neuer Computer können große Freude bereiten, was Max und Viviane in diesem Moment empfanden, stand aber in überhaupt keinem Verhältnis zu derartigen Freuden. Sie hatten sich zum ersten mal geküsst, das konnte man so lapidar sagen, aber Vivianes und auch Maxs Gefühle schienen sich im Zenit zu befinden. Voller Wärme, Liebe und Übermut, versuchten sie, sich zärtlich streichelnd und betastend ihr Hochgefühl auszuleben. „Max, weißt du, für wann wir das eigentlich geplant hatten?“ wollte Viviane wissen. Max lachte. „Wollten wir das nicht nur in den Wolken tun. Aber so ganz schlecht war es hier im Sessel doch auch nicht, oder?“ antwortete er. „Meinst du, es wird für zweieinhalb Wochen reichen? Wir können es ja nochmal vertiefen, bevor ich gleich gehe. Ich werde an jedem Tag in Mallorca morgens, wenn ich wach werde, es so empfinden, als ob du mich wach geküsst hättest, und abends im Bett werde ich träumen, bei nicht endenden Küssen langsam in den Schlaf hinüber zu gleiten. Könnte da sonst noch etwas zwischen Abend und Morgen von Bedeutung sein? Ich denke kaum.“ plante Viviane den Urlaub. „Sonderbar,“ staunte Max verwundert, „wir wissen, was wir für einander empfinden, und es lässt uns glücklich sein, aber diese Erfahrung öffnet zusätzliche Gefühlsbereiche, die uns unsere Nähe körperlich spüren lassen. Nicht nur an meinen Lippen, überall empfinde ich dich direkt an mir.“


„Hast du einen Freund?“ hatte Vivianes Mutter schon vermutet. Deshalb verzog Viviane sich in ihr Zimmer, wenn Max jeden zweiten Tag anrief. Als ob sie jetzt erst, nachdem sie sich auch geküsst hatten, richtig verliebt seien, Lust daran bekommen hätten, miteinander neckische Spielchen zu treiben. Max wollte im­mer von Viviane etwas vorgesungen bekommen. „Singen, am Telefon, Max, ich bitte dich. Das geht nur, wenn ich dir dabei in die Augen schauen kann.“ lehnte Viviane es ab. Schließlich sang sie ihm aber doch die erste Strophe von Beethovens 'Zärtlicher Liebe' vor:


„Ich liebe dich, so wie du mich,
Am Abend und am Morgen,
Noch war kein Tag, wo du und ich
Nicht teilten unsre Sorgen.“


Selbstverständlich würde Viviane es zu Hause sagen, dass Max und sie sich liebten, aber ebenso selbstverständlich würden damit umfangreiche Diskussio­nen verbunden sein, und darauf hatte Viviane überhaupt keine Lust. Ihre El­tern würden die Klischees, Ansichten und Bewertungen, die man allgemein hin so hatte, wenn eine junge Frau einen älteren Mann liebt, internalisiert haben. Entsprechende Fragen waren zu erwarten, auf die Viviane zu antworten hätte. Vielfältig waren die simpel sinnfälligen, psychologischen Erklärungen, was sich da abspiele, wenn eine junge Frau einen älteren Mann liebte. „Verdammt!“ durchfuhr es Viviane, „So ein Schrott und Müll. Ich liebe keinen älteren Mann, ich liebe Max. Ob er Methusalem ist oder zwei Klassen unter mir, ob er blaue oder grüne Hosen trägt, ob seine Söckchen gelb und seine Haare blau gefärbt sind, was interessiert mich das, das alles liebe ich nicht. Ich liebe nur Max, den Menschen Max. Warum das allerdings so ist, dazu können die in kausalen Denkzusammenhängenden schlussfolgernden Windungen meines Bewusstseins keine Erklärungen und Begründungen ausfindig machen.“ In der Quanten­physik geht man mehr von Zufällen als kausalen Begründungen aus. Sollte das bei sonstigen Lebensvorgängen, die man nicht rational, kausal erklären kann, ebenso der Fall sein? Könnten prinzipiell alle Frauen und Männer sich lieben, und nur der Zufall hatte es gewollt, dass es Max und Viviane erwischt hatte? So wollte es Viviane aber doch lieber nicht sehen. Da musste schon etwas an Max sein, das ihre Visionen und Geister in Wallung versetzte. Sie konnte alles aufzählen, was ihr an Max gut gefiel, nur das machte es nicht aus. Die Men­schen würden nicht nur über einen Selbsterhaltungstrieb und einen Ge­schlechtstrieb verfügen, wenn es etwas gebe, das deutlich triebhafte Züge auf­weise, dann sei es die Liebe. Wie Freud letztlich alles aus der Libido, also dem Sexualtrieb erklärt hatte, war ja recht einleuchtend, aber Vivianes Liebe zu Max, alles nur Sublimierung? Das konnte nicht sein. Sie hätte fünf Tage hun­gern können, kein Problem, aber fünf Tage einfach nichts von Max zu hören, hätte psychisches Chaos bei ihr ausgelöst. Die Menschen müssten über einen Liebestrieb verfügen, davon war Viviane fest überzeugt. Vielleicht sei er als Höchstform eines Sozialtriebs sogar der stärkste Trieb, viel stärker als der Se­xualtrieb, das spürte Viviane doch selbst.


Gute Freundinnen

Nicht nur, weil Max jetzt öfter Tee trank, freute sich Lia darüber, dass er und Viviane sich so gut verstanden. Zwei besonders gute Freundinnen hatte Lia, sie kannten sich schon seit vielen Jahren, mochten sich sehr gern und hatten ein absolut vertrauensvolles Verhältnis untereinander. Erst jetzt wurde Lia be­wusst, dass doch eine gewisse Distanz zwischen ihnen existierte. Mit Viviane, die sie ja erst relativ kurz kannte, verhielt sich das anders. Viviane gehörte dazu, war sozusagen Mitglied der Familie, aber selbst die beste Freundin blieb doch immer in gewisser weise eine fremde Frau. „Lia, genetisch ist das be­dingt.“ erklärte Viviane lapidar zu diesem Phänomen. Sie lachten, aber das wollte Lia doch näher erläutert haben. „Ja, schau mal, in der Evolution haben nicht nur die Menschen sich durchgesetzt, die am stärksten waren und am flei­ßigsten Nachkommen produziert haben, sondern auch diejenigen, die sich am besten vor Gefahren schützen konnten und das ist bei uns heute nicht anders.“ erklärte Viviane. „Und was hat das mit meinen Freundinnen zu tun?“ wollte Lia wissen. „Das bezieht sich nicht nur auf deine Freundinnen, auf alles mit dem du zu tun hast. Was du nicht kennst, könnte Gefahren in sich bergen, und das magst du überhaupt nicht, weil es dir Angst macht. In allem suchst du iterativ immer wieder das, was du längst kennst. Es vermittelt dir Sicherheit, Bestäti­gung und Anerkennung deiner selbst. Bei Freunden und engen sozialen Kon­takten, trifft das ganz besonders zu. Du suchst dir diejenigen aus, von denen du meinst, dass sie dir am ähnlichsten wären, bei anderen scheint dir größere Distanz angebracht.“ verdeutlichte Viviane. „Und wir beide sind uns besonders ähnlich.“ vermutete Lia skeptisch. „Nein, gerade nicht.“ widersprach Viviane. „Dieses Bedürfnis nach Sicherheit und Bekanntem der Menschen ist heute völ­lig unangebracht. Welchen Vorteil soll es haben, wenn du nur Musik hören willst, die du in etwa schon kennst? In der Natur ist das überhaupt nicht so, da zieht sich das Gegensätzliche an. Die Erde wäre schon längst zerbröselt oder zerflossen, wenn es nicht die entgegengesetzten Kräfte von Nordpol und Süd­pol gäbe. Wir müssten uns darauf einstellen, dass das Neue, das Unbekannte eigentlich spannend ist und große Anziehungskraft ausübt, aber wir wollen im­mer nur das sehen, hören und erleben, was wir längst kennen und gewohnt sind. Das ist risikolos und sicher, aber eigentlich langweilig, nicht wahr?“ „Zwi­schen uns ist es aber doch keineswegs langweilig.“ widersprach Lia. „Weil wir eben anders sind, Lia.“ scherzte Viviane, „Nein, wir leben anders, wenn wir zu­sammen sind. Ich bin nicht mehr die, die morgens zur Schule geht, Max ist nicht der, wie er früher in der Behörde war, und du hast deine Einstellung und Haltung aus der Kanzlei oder bei Gericht abgelegt. Wir sind keine Objekte der Alltagsroutine mehr. Wir versuchen unser wirkliches Menschsein zu leben. Wir suchen nicht nach Gleichheit und Bekanntem. Wir können erkennen, dass wir alle höchst unterschiedlich sind. Akzeptieren es nicht nur, sondern finden uns ungemein spannend, jeder hat Lust auf den anderen, die Maienlust, du ver­stehst?“ scherzte Viviane. Sie lachten. Zu sagen, Lia möchte Viviane gern lei­den, war nicht korrekt. Sie liebte sie, was sie bei ihren Freundinnen eher so nicht sagen würde.


Max liebt keine anderen Frauen

Dass Max Viviane auch liebte, konnte Lia nicht verborgen bleiben. Nur mal kurz sanft das Händchen touchieren machte Viviane bei Lia allerdings eher selten. Natürlich ließen sie auch die Augen sprechen, wenn Lia und Viviane sich unter­hielten, aber für Max hatten Vivianes Blicke oft Informationen, die Lia nicht be­kam. Max sprach es an. Natürlich hatte Lia etwas vermutet, aber sie war sich nicht ganz sicher. Das war Max ja selbst nicht. Er hatte es so lange vor sich selbst zu leugnen versucht, bis es nicht mehr möglich war, sich selbst etwas vorzumachen. „Einfach glücklich bin ich nicht, Max. Das Gefühl, „Wie schön, dass wir uns jetzt alle drei lieben.“, will sich so nicht einstellen. Es verwirrt mich und ich habe darüber gegrübelt, was es für mich und uns beide bedeutet. Selbstverständlich glaube ich dir, Max, alles so wie du es erzählt hast. Nur alles so bleiben, wie es jetzt ist und wie du es unbedingt möchtest, wird es wohl eher nicht.“ erklärte Lia. Sie unterhielten sich fast das ganze Wochenende dar­über. „Bedeutet Liebe nicht vor allem auch, dass dein Liebster die Einzigartig­keit deiner Existenz anerkennt, du für ihn das Wichtigste und die Einzige bist? Wie soll ich das empfinden, wenn es für dich auch bei anderen Frauen zutreffen kann?“ fragte sich Lia. „Lia!“ fuhr Max erbost auf, „Ich liebe keine anderen Frauen. Viviane ist es, zu der sich eine wundervolle Beziehung entwickelt hat, die mit unserer Liebe nichts zu tun hat. Ich liebe Viviane nicht wie dich, nur es gibt kein anderes Wort, mit dem man die Beziehung zwischen mir und Viviane sonst benennen könnte.“ „Wenn es denn so ist, sollten wir nicht versuchen für uns alle drei das Beste daraus zu machen und besonders darauf achten, dass wir niemals einem anderen wehtun?“ lautete die Conclusio, die Lia schließlich aus der Diskussion zog. Als Viviane aus Mallorca zurück war, unterhielt Lia sich nur noch mit ihr über die Beziehung zwischen Viviane und Max. Aber bald schon kehrte sich die Situation um. Viviane wollte von Lia alles über die Liebe, theoretisch und praktisch detailliert, erfahren. „Ich habe doch überhaupt keine Ahnung, Lia. Ich war noch nie verliebt. Einen Freund habe ich zwar schon ge­habt, ja, ja, aber das war, wie man eben so einen Freund hat, wie sie alle einen Freund haben, mit dem man geht. Das hatte mit Liebe nichts zu tun, aber meinen Bruder und meinen Vater die liebe ich schon sehr. Warum kann ich Max nicht wie meinen Bruder lieben? So ist es aber nicht.“ stellte es Viviane dar und erwartete zu allem und jedem von Lia Erklärungen und Deutungen, weil Viviane für sich beschlossen hatte, dass Lia die Erfahrene sei. „Viviane, was soll ich dir denn sagen? Ich glaube, du kennst dich besser aus als ich. Es gibt Millionen von Büchern, in denen alle etwas zur Liebe gesagt haben, in wissenschaftlichen Untersuchungen, in Romanen, in Dramen, Gedichten und Opern. Zum großen Teil ist es ja sehr gut, hervorragend oder bezaubernd, nur zu deiner Liebe steht da nirgendwo etwas drin. Deine Liebe ist nur das, was du persönlich empfindest, welche Gefühle du hast, wie du sie lebst. Wenn du Liebe in Filmen gesehen oder in Büchern gelesen hast, und es auch so machen willst, ist es nicht deine Liebe. Nachgemachte Gefühle sind es dann, dass triffst du auch anderswo häufig, aber es ist übel, und zu dir passt es doch erst recht nicht.“ erklärte Lia. „Platon lässt Diotima ja auch alle Liebe aus dem Eros erklären, aber ich habe noch mit keinem Mann ins Bett gewollt, nicht mit meinem Vater, nicht meinem Bruder, ebenso wenig mit meinem Freund und auch mit Max nicht. Bestimmt habe ich einen ganz großen Charakter, denn die Art, wie man liebe, sei Ausdruck der Größe des Charakters, hat Platon auch gesagt, siehst du doch auch so, Lia, nicht wahr?“ suchte Viviane im gemeinsamen Lachen Bestätigung. „Hast du die Diotima gelesen?“ erkundigte sich Lia. „Ja, natürlich, alles habe ich gelesen. Nein, Quatsch, dafür würde ein Menschenalter gar nicht ausreichen. Ich wusste doch gar nicht wie mir war, und was da mit mir geschah. Da hatte ich doch ein ganz dringendes, absolutes Klärungsbedürfnis“ antwortete Viviane. „Und jetzt weißt du, was mit dir ist? Erzähl es mir auch, ich bin gespannt.“ Lia darauf. „Lia ich kann dir leider nur banal Allgemeines sagen, was sie alle wissen. Max ist ein Gedankenwurm, der mich nicht in Ruhe lässt. Ich warte darauf, ihn zu sehen, und wenn wir beieinander sind, bin ich glücklich. Was da in mir arbeitet, weiß ich doch selbst nicht. Ich wüsste es allzu gern, aber die Gesellen in meinem Unbewussten scheinen einem Geheimbund anzugehören, nichts erfahre ich, nichts lassen sie raus, ich bekomme nur immer meine Gefühle vermittelt.“ erklärte Viviane. „Nach Diotima müsste ich in meinem Alter eigentlich scharf auf die kleinen hübschen Jungs sein, nur leider kann ich davon überhaupt nix spüren. Ich habe bestimmt in einem Sprungverfahren sofort zur höchsten Erkenntnisstufe für Liebende gefunden und in Max das Urschöne an sich erkannt.“ „Ins gesamt ist das aber doch ein sehr intelligentes System, das Platon Diotima vor über 2000 Jahren hat erklären lassen, oder siehst du das nicht so?“ wollte Lia wissen. „Schon, das sehe ich auch so. Alle erklären es aus dem Geschlechtstrieb, aus der erotischen Anziehungskraft. Mag ja sein, dass Liebe zwischen Mann und Frau davon nicht frei sein kann, aber wenn man alles Handeln aus dem Geschlechtstrieb, also der Libido erklärt, muss man Liebe natürlich auch darunter subsumieren.“ Viviane skeptisch. „Aber Freud haben wir doch unser säkularisiertes Menschenbild, das nicht mehr auf Gottes Wohlgefallen und Strafen basiert, zu verdanken.“ erwiderte Lia. „Ja schon, aber wir haben ihm auch zu verdanken, dass ein Beschäftigter, der in der Firma einen psychischen Breakdown erlebt, zum Therapeuten geht. Der versucht herauszufinden, wo in der Psyche des Beschäftigten die Probleme liegen. Der Arbeiter ist völlig o. k., die Firma ist das Problem. Ich bitte dich, was ist denn schlimmer, wenn ich sage: „Es war eine Strafe Gottes.“ oder wenn ich erkläre: „Du, mit deiner Psyche, bist das Problem.“?“ Viviane darauf. „Und wie sind die Liebe, ihre Fragen und ihre Probleme deiner Meinung nach zu erklären?“ wollte Lia von Viviane erfahren. Viviane lachte auf. „Ach, Lia, das weiß ich doch auch nicht. Ich habe nur die Vision, dass mal ein anderes Bild entwickelt werden wird, in dem die Lust der Menschen auf erfreuliche Kommunikation einen anderen Stellenwert bekommt, dass es so ähnlich wie ein eigener Trieb angesehen wird. Schau mal, als erstes hat das Baby Hunger und als zweites lernt es lächeln, wenn es seine Mutter sieht, also mit ihr kommuniziert. Ob und wie dann später auch der Geschlechtstrieb mit hineinspielt, ist eine andere Angelegenheit. Meine Vision, welche Visionen hast du denn?“ wollte Viviane lachend von Lia wissen.


Weihnachtsüberraschung

Keine Vision war es mehr, sondern realisierter Wunsch, dass Viviane jetzt re­gelmäßig am Donnerstag zum Abendbrot bei Max und Lia blieb. Keine Kaprio­len, alles musste auch am Donnerstagabend einfach bleiben. Zu Hause half sie ebenfalls schon mal beim Kochen, aber hier konnte es so dringende Gespräche nicht geben, als dass nicht alle drei zusammen das Abendbrot zubereitet hät­ten. Lustig wurde es schon oft, es machte einfach Spaß, aber zu Lovetalk, wie zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater, kam es zwischen Lia, Viviane und Max eher nicht. Es sei ihr für später als Studentin wichtig, routiniert einfache Ge­richte zubereiten zu können. Deshalb gab es auch öfter Pastavariationen und 'Reis mit Scheiß' wie Viviane es nannte. Eine Risotto ähnliche Reiszubereitung, bei der sie alles Mögliche nach Wunsch zufügen konnten. Zu Hause gab es auch Wein zum Abendbrot, aber da erhielten sie und jetzt auch ihr Bruder ein Schlückchen, damit sie mal nippen konnten. Viviane interessierte der Wein oft gar nicht, zum Genuss gehörte er jedenfalls nicht dazu. Bei Lia und Max berei­cherten Vivianes Weinexpertisen die Tischgespräche erheblich. Ihre Beziehung zum Wein hatte sich in diesem Zusammenhang offensichtlich strukturell funda­mental verändert. „Ich werde später bestimmt mal Säuferin.“ hatte Viviane geulkt. „Aber dieser Barolo ist, glaube ich, extra für den Reis mit Fleisch und Zwiebeln geboren. Er erzählt dir sein Leben in deinem Mund, lässt dich Ge­schichten sehen und bietet dir seine Freundschaft an. Zu sagen, er schmeckt nach Brombeere oder Vanille oder Ähnlichem, wie platt, wie oberflächlich und langweilig. Die Dégustateurs sollten den Geschichten lauschen, die ihnen der Wein erzählt. Ich bin überzeugt, dass jeder ein eigenes Leben hat.“ erklärte Vi­viane, die den Wein neu entdeckt zu haben schien. „Einmal in der Woche ein Glas, da kann doch nichts passieren?“ fragte sie fast ängstlich, denn nichts war ihr so zuwider, wie die Jungen in der Schule, die mit ihren Saufexzessen prahl­ten. Viviane prahlte Heiligabend beim Essen am Tisch mit ihrem Geschenk, dass sie in diesem Jahr erhalten habe. „Es ist extrem wertvoll, absolut köstlich, das größtmögliche überhaupt. Ihr werdet es wahrscheinlich nicht so sehen, aber das macht ja nichts. Es ist ja mein Geschenk, und da kommt es doch nur darauf an, wie ich mich darüber freue.“ erklärte Viviane und machte eine lange Pause, in der alle Augen gespannt auf ihre Erläuterung warteten, „Ich habe mich Verliebt. Meinen Liebhaber, den Mann kennt ihr auch. Es ist Max, unser Nachbar.“ Und wieder schwieg Viviane. Offensichtlich gefiel es ihr, das Entsetzen in den Gesichtern entstehen zu sehen. Zwar hatte keiner den Mund aufgesperrt, innerlich mussten aber alle so empfinden. Das konnte weder die Mimik von Marcel, ihrem Vater und die ihrer Mutter erst recht nicht verbergen. Nach geraumer Zeit hob ihre Mutter an: „Herr Benninghoff, du hast dich also in Herrn Benninghoff verliebt? Und wie ist das bei ihm? Hat er sich auch in dich verliebt?“ „Ja, Mutter, Herr Benninghoff hat mich verführt. Ich bin ja noch so jung und unerfahren. Mama, du hast 'nen Kall. Ich liebe keinen Herrn Benninghoff, ich liebe Max und Max liebt mich. Wie sprichst du denn von dem Liebsten deiner Tochter?“ reagierte Viviane. Für sie gab es keinen Hauch von Zweifel an ihrer Beziehung zu Max mehr und jeder Rest von Scham, dies allen gegenüber offen zu vertreten, hatte sich in nichts aufgelöst. All die möglichen Einwände brachte ihre Mutter vor. „Mama, weißt du denn gar nicht, wie das mit der Liebe ist? Wenn Papa nicht Professor sondern einfacher Landarzt wäre, würdest du ihn nicht lieben? Alles Kleider sind das doch nur, nach denen du gefragt hast, sind es bei Papa denn etwa die Äußerlichkeiten, weshalb du ihn liebst? Warum sollen sie dann bei meiner Liebe entscheidend sein?“ fragte Viviane. „Aber, Mama, das weiß man doch nie, was bei der Liebe entscheidend ist, und wenn du sagst: „Es sind Vaters schöne, braune Augen.“, dann lügst du. Vielleicht erinnert mich Max ja an die liebevollen, glücklichen Momente in unserer Kindheit mit dir, Marcel, und er verspricht mir, sie als Erwachsene mit neuen Farben blühend wieder zu beleben, was weiß ich?“ machte Viviane den Versuch einer Deutung. Marcel lachte sich krumm. „Und warum hast du dich dann nicht gleich in mich persönlich verliebt?“ fragte er juxend, „Aber warum hast du denn nie etwas gesagt?“ erkundigte er sich doch sehr ernsthaft, fast ein wenig beleidigt. „Marcel, wir haben das auch so gesehen. Es darf nicht sein und kann nicht sein. Nur darum schert die Liebe sich nicht, und irgendwann wird es irrsinnig, sich selbst weiter zu belügen.“ antworte ihm Viviane. Marcel stand auf, ging zu Viviane und umarmte sie. Das war seine abschließende Erklärung zu der qualvollen Diskussion am Heiligabend. „Mama, du tust mir weh. Sitzt hier mit einer Totensonntagsmine. Grämst du dich darüber, dass deine Tochter glücklich ist und sich freut? Willst du nicht einmal versuchen, daran zu denken, was es für mich bedeutet?“ beschwerte sich Viviane. Ihre Mutter dachte nach. „Viviane, du hast Recht. Mein Glück war es immer, zu wissen, dass du glücklich bist. Das wird sich auch in Zukunft niemals ändern können. Was hat mich nur bewegt, dies für einen kurzen Moment vergessen zu können?“ erklärte sie, nahm Vivianes Hand und drückte sie kräftig. Ihr Vater hatte sich an der gesamten Diskussion nicht beteiligt. Stumm und mit äußerst skeptischen Mundwinkeln hatte er das Gespräch verfolgt. Jetzt sagte er: „Viviane, es tut mir leid, aber wenn du mit sehr nonkonformem Verhalten konfrontiert wirst, treten die Einwände des Üblichen, des allgemein Gewohnten besonders stark auf. Sie halten dich davon ab, das Wesentliche und Wirkliche zu erkennen, und wollen dich dazu verleiten, direkt nach ihren Vorstellungen zu beurteilen und zu bewerten. Mich hat es zunächst auch so erwischt. Ich hätte dazu sofort alles sagen können. Aber jetzt sehe ich dich und deine Gefühle, und das ist für mich auch das Entscheidende.“


Nachbarschaftswahn

Gewiss hatte jeder noch seine persönlichen Vorstellungen und Gedanken, aber offiziell hatten sich alle einen Ruck gegeben, akzeptiert, dass es Vivianes Ange­legenheit sei, und sie allein über ihr Glück zu befinden hätte. Unabhängig da­von war sie mittlerweile achtzehn geworden und konnte sowieso entscheiden, wie sie beliebte. Nur hatten derartige Gesichtspunkte vorher auch keine Rolle gespielt. „Was soll das?“ hatte sie argumentiert, „Der Tag bevor ich achtzehn bin, wird anders sein, als der Tag an dem ich achtzehn werde. Und der Tag dar­auf wird auch wieder anders sein, anders sein, wie jeder Tag anders ist, als der vorhergehende. Nur an dem Tag, an dem ich achtzehn werde, wird nichts da­von zu spüren sein, dass ich soeben volljährig, geschäftsfähig oder strafmündig geworden bin. Formalia, Äußerlichkeiten, alles Kokolores von dem ich selbst nichts spüre.“ Viviane hatte es abgelehnt, ihren achtzehnten Geburtstag zu fei­ern. Max hatte sie erklärt, ein Trauertag sei das für sie. Mit siebzehn hätte sie ihn noch verführen können, die Chance sei jetzt dahin. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis die beiden in heftigste Diskussionen über den Sinn und Unsinn von Riten, Zeremonien und Festtagen verwickelt waren. Lia konnte es gar nicht nachvollziehen, dass es Max und Viviane am besten zu gefallen schien, wenn sie mit Verve ihre unterschiedlichen Ansichten darstellen konnten. Harmonie­süchtig war sie keineswegs, aber ihr lag der Austausch in freundlichem Ge­spräch mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten zu entwickeln, näher. Sie war es ja auch gewohnt, strickt, hart und konsequent ihre Position bei Gericht zu vertre­ten, aber doch nicht mit emotionaler Emphase. Das wäre der übelste Fauxpas gewesen. Coolness, als wenn es sie persönlich überhaupt nicht tangiere, laute­te die Standard Verhaltensusance. Die wirkliche Lia war das nicht, die lebte zu Hause mit Max und Viviane. Die andere kannte Viviane überhaupt nicht. Das Schlimmste für Viviane war aber nicht ihr fortgeschrittenes Alter, sondern was ihre Mutter im Schilde führte. „Max und Lia, das ist mein Land. Wenn du es be­setzen willst, bedeutet das Krieg.“ verkündete Viviane kategorisch drohend. Ein bisschen wusste Frau Klamt, was darunter zu verstehen war. Viviane war här­ter und unerbittlicher. Letzen Endes war immer sie es, die nachgegeben und eingelenkt hatte. Vivianes Mutter hatte erklärt, dass sie nicht länger bereit sei, dieses perverse Spiel mitzuspielen. Frau Klamt war eine eher extrovertierte Frau, sie war offen, freundlich und kontaktfreudig. In dieser neuen Stadt hatte sie bereits eine ganze Reihe von Bekannten, obwohl sie nicht arbeiten und nur selten aus ging. „Das ist doch nicht normal. Zu freundlichen Nachbarn hat man gute Kontakte, besucht sich zum Kaffee und hilft sich gegenseitig. Benning­hoffs dürfen wir aber gar nicht kennen, weil man befürchten muss, dass es dich stören könnte. Ich muss deine Ansicht immer respektieren, aber du be­stimmst, wie mein Verhältnis zu unsern Nachbarn sein darf. Eine Terroristin bist du.“ hatte Vivianes Mutter sich vorwurfsvoll beschwert. „Meine Mutter hat Stromausfall.“ erboste sich Viviane bei Max und Lia, „Was soll dieser plötzliche Nachbarschaftswahn. Soll sie zu Frau Struck gehen und mit der Kaffeekränz­chen machen. Wenn sie einmal in der Woche zum Kaffee hierher kommt, kom­me ich nicht mehr.“ Vivianes Verhalten belustigte mehr, als dass man sie ernst nahm. „Viviane, das ist doch kein Problem.“ bot Max eine Lösung an, „Wir wer­den ihr ein wenig Strychnin in den Kaffee geben, sie anschließend im Garten verscharren und in Zukunft wird sie nicht mehr sehr häufig kommen wollen.“ Viviane lachte, und Lia meinte: „Das wird nicht funktionieren, mein Lieber.“ Max Augen wollten detailliertere Informationen dazu haben, warum sein exzellenter Plan nicht realisierbar sein sollte. „Sie wird deinen Kaffee nicht trinken. Milch und Zucker schmecken eben im Kaffee außerordentlich viel besser als Strychnin.“, wusste Lia aus ihrer langen Rechtspraxis, auch wenn sie selbst noch nicht mit einem Mordfall beschäftigt war. „Aber ganz unrecht hat deine Mutter doch nicht, das wirst du ihr doch zugestehen müssen.“ bemerkte Lia. „Aber darum geht es doch gar nicht. Das hätte sie doch von Beginn an machen können. Wer hat sie je daran gehindert. Von mir hat sie kein Wort gehört. Es geht ihr doch ausschließlich um mich. Sie soll mich in Ruhe lassen, ich bin nicht mehr ihre Verfügungsmasse. Ich fange doch auch nicht an, bei ihren Freundinnen rum zu wühlen, und mir mit ihnen über sie das Maul zu zerreißen. Die ganze Zeit war es in Ordnung, wie es war. Woher kommt jetzt plötzlich ihr Interesse. Sie ist neugierig, möchte genauer mitbekommen, was sich zwischen mir und euch abspielt, kann es nicht ertragen, dass sie nicht weiß, was ihr verliebtes Töchterchen macht. Blanker Voyeurismus ist das, sonst nichts und das bei ihrer eigenen Tochter.“ reagierte Viviane fast in Rage. Max wollte es anscheinend durch Scherzen aufzulockern versuchen: „Vielleicht sucht sie ja auch nur einen Liebhaber, und wenn ihre Tochter den schon gut findet, könnte er ihr da nicht vielleicht auch gefallen?“ „Aber wovor hast du denn Angst? Was wird sie denn von uns über dich erfahren? Wenn, dann doch höchstens Lobgesänge und Preisungen, wie sie sie selbst noch gar nicht erkennen konnte.“ meinte Lia. „Gar nichts wir sie von uns zu Viviane erfahren. Wir werden es klar ablehnen, mit ihr über Viviane zu sprechen, da soll sie Viviane selbst fragen. Über den Garten können wir reden.“ erklärte Max fest und trutzig. „Na, verwehren können wir es ihr ja nicht, wenn sie unbedingt kommen möchte, aber Lust kann ich dazu auch überhaupt nicht verspüren.“ sinnierte Lia. „Wir werden ihr sagen, dass wir zur Tochter der Nachbarin ausgezeichnete Beziehungen hätten. Das sei die intensivst mögliche Form der Nachbarschaftspflege, zusätzlicher Kaffeegespräche bedürfe es da nicht.“ schlug Max scherzend vor. „Ich habe eine Idee, was meint ihr dazu?“ hub Lia an, „Jämmerlich ist das doch, wie wir fast ängstlich darüber denken, was da mit uns geschehen könnte. Uns gehört die Nachbarschaft, wir nehmen die Situation in die Hand, wir bestimmen was geschieht. Zunächst laden wir deine Eltern zum gemeinsamen Opernbesuch ein.“ Zustimmen mochte da direkt keiner. „Eigentlich ganz toll, „Die lustigen Weiber von Windsor“ von Otto Nicolai gibt es. Die Handlung selbst ist eine alte Kamelle, aber die Inszenierung ist klasse. Sie persifliert das und verdeutlicht, dass es nicht um die unzeitgemäßen amourösen Spielchen, sondern um die Oper selbst geht.“ gab Max nähere Erläuterungen. „Ist das denn nicht etwas von Shakespeare?“ erkundigte sich Viviane. „Im Grunde schon, aber die Opern haben ja immer ihr eigenes Libretto. Wie nahe das an Shakespeare selbst ist, weiß ich nicht. Das Original kenne ich nicht, nur die Späße von Falstaff und seinen Damen sind bei Nicolai sehr zeitgemäß und heute eigentlich überholt.“ erklärte Max. „Das alles wird meine Mutter nicht interessieren. Sie wird mit dir, Lia, unbedingt über das Kleid reden müssen. Ich komm da nicht mit.“ wand Viviane ein. „Viviane, herrje!“ fuhr Lia auf, „Du wirst doch wohl frau und stark genug sein, ihr das vorher wirksam zu untersagen. Ein 'Opera Robe Interdict' wirst du erlassen mit zu erwartenden Sanktionen für den Fall der Zuwiderhandlung.“ „Ja, zum Beispiel einen Tag in die Besenkammer sperren.“ überlegte Viviane lachend. „Wodurch du deine Mutter am besten ärgern kannst, wirst du doch gut wissen, da bin ich mir fast sicher.“ bemerkte Lia dazu. Frau Klamt war nicht nur einverstanden, sondern hatte geschworen, das Kleid mit keinem Wort zu erwähnen. Sie sah es ja auch zum ersten mal, als sie sich im Foyer trafen. Viviane musste sich drehen, um aus jeder Perspektive betrachtet werden zu können, aber wie wundervoll sie das Kleid fände, traute sich ihre Mutter nicht zu sagen. Sie ging einen Schritt zurück, betrachtete Viviane nochmal aus der Gesamtperspektive, lächelte leicht beseelt und kam auf sie zu. Mit den Worten: „Meine liebe, süße Casta Diva.“ umschlang sie Viviane, und Tränen der Freude waren ihren Augen nicht fern. Nicht nur ihre Mutter auch ihren Vater beglückte der gemeinsame Opernbesuch. Kaffeekränzchen? So etwas Banales, wer redete da jetzt noch von? Für Viviane waren das Momente, in denen sie meinte, die Liebe ihrer Eltern direkt spüren zu können. Beim Einschlafen träumte Viviane davon, wenn sie alles liebe. Eigentlich sollte das ganze Leben nur aus Liebe bestehen. Das sei es, was die Menschen wirklich brauchten und wollten. Beim Nachdenken darüber, wie das in allen Bereichen zu realisieren sei, schlief sie ein.


Platonische Liebe?

Für einen großen Sprung in der Entwicklung ihrer Liebe hielten es Max und Vi­viane schon, dass sie sich jetzt auch küssen konnten, nur machten sie wenig Gebrauch davon. Zur Begrüßung oder zum Abschied konnte es auch schon mal leidenschaftlicher werden, aber sonst blieb es dabei, dass sich ihre Augen ge­genseitig mehr zu sagen hatten als ihre Lippen. Gelegentlich gab es aber schon Momente, in denen der Erkenntnisdrang vom Drang zum Austausch von Zärt­lichkeiten besiegt wurde. Eng aneinander saßen sie dann auf der Couch oder Viviane setzte sich vor Max auf seinen Schoß, so kamen sie sich am nächsten. Dann streichelten sie sich und sagten mit sanfter Stimme liebe Worte oder Neckisches. Ein Bedürfnis danach hätte Viviane sicherlich unter ihren uner­wünschten sentimentalen Anwandlungen subsumiert, jetzt schien ihr das gele­gentliche Verlangen aber absolut normal. Max streichelte Vivianes Schulter. Vi­viane legte ihre Hand auf die von Max und führte sie langsam tiefer, bis auf ihre Brust. „Das gehört auch zu mir. Wenn du mich hier streichelst, das gefällt mir auch. Wenn deine Hände immer angestrengt meine Brüste umfahren und unbedingt jede Berührung vermeiden wollen, das ist widernatürlich, und gefällt mir gar nicht. Lass es sein, Max!“ kritisierte Viviane Max Streichelverhalten. „Ich möchte es trotzdem nicht.“ erklärte Max knapp. „Ah, der alte Mann ist scharf auf das junge Mädchen und fasst ihr so gern an die Titten. Das findest du total widerlich, nicht wahr? Ist das denn bei dir so? Bist du plötzlich der alte Mann und ich das Mädchen, möchtest mir gern an die Titten fassen, vielleicht auch noch an den Hintern grabschen, ja? Max, was ist los?“ forderte Viviane engagiert Klärung. „Viviane, sprich, bitte, nicht so. Auch wenn ich weiß, dass du nicht so denkst, klingt es unangenehm. Niemals haben irgendwelche sexu­ellen Gesichtspunkte unsere Liebe beeinflusst. Bislang war sie rein platonisch, küssen darf man sich dabei allerdings nicht, oder? Nur wenn ich deine Brüste streichele, kannst du doch nicht behaupten, dass es frei wäre von erotischen Implikationen. Der Beginn einer Entwicklung könnte es sein, die ich nicht gern möchte. Du willst doch auch, dass es so bleibt, wie es jetzt ist, nicht wahr?“ erwartete Max Bestätigung. „Ich weiß nicht, Max. Mir kommen manchmal Zweifel, wenn wir unsere Beziehung so interpretieren. Wir sind nicht frei von den Bildern, Klischees und Ansichten der Allgemeinheit. Frei schwebende Bewertungen gibt es nicht. Wir möchten es so sehen, wie wir es interpretieren. Ich denke, dass wir dabei einiges ausblenden. Wir haben auch gesagt, es kann nicht sein, dass wir uns lieben, und lagen damit voll daneben. Wenn wir heute sagen, unsere Beziehung hat mit Erotik nichts zu tun, würde ich das mittlerweile auch stark bezweifeln.“ äußerte sich Viviane dazu. „Und woran willst du das erkennen?“ wollte Max wissen. „Sokrates hat schon gesagt, dass Eros auf dem philosophischen Erkenntnisweg der beste Helfer des Menschen sei. Wie sollten wir ohne seine Hilfe wohl zu unseren tiefgreifenden Erkenntnissen gekommen sein. Bestimmt war er immer präsent, wir wollten ihn nur nicht sehen.“ scherzte Viviane, „Aber im Ernst, ganz schön blind müssen wir schon sein. Wir küssen uns, lieben es, uns im Gesicht, am Hals und an den Händen zu streicheln. Mit Erotik soll das alles nichts zu tun haben? Allein schon die Sehnsucht und das Verlangen nacheinander, ich liebe meinen Bruder auch, aber da kommt so etwas nicht vor. Wir sollten uns nicht belügen und das Erotische unserer Beziehung leugnen, erkennen und leben sollten wir es. So sieht es auch Sokrates, man sollte Eros und die Erotik ehren und sich auf diesem Gebiet üben.“ forderte Viviane. Ihre sogenannten sentimentalen Allüren hatte Viviane mittlerweile aus dem Katalog ihrer Verhaltensbewertungen gestrichen. Die coole Frau war leidenschaftslos, unsentimental und demonstrierte affektiert ihre Distanziertheit, bloß keine Gefühle zulassen und zeigen. Die meisten konnten es ja auch gar nicht. Plunder, Schablonen, inhaltsloses Schauspiel war das. Natürlich wollte Viviane sich nicht in nachgespielten Gefühlen inhaltsleer suhlen. Das wäre in der Tat sentimentaler Kitsch, aber Liebe, was war das denn anders als ihre wirklichen Gefühle. Ihre Leidenschaft, ihre Bedürftigkeit zu verbergen, das sollte cool sein? Nein, ihre lustbetonte Wirklichkeit war cool, und dazu stand Viviane und würde sich nicht den alltäglichen Bewertungsmustern unterordnen und vorschreiben lassen, wie eine junge, coole Lady zu wirken habe. Überall entdeckte sie ihre wirklichen Gefühle, wollte sie erkennen und leben können. Sie wollte sie nicht mehr von den gewohnten Alltagsroutinen verschütten lassen. „Max, wir packen unser Gedächtnis voll mit immer zusätzlichem Wissen und weiteren Informationen als ob es eine endlose Festplatte wäre.“ hatte Viviane erklärt, „Nur unser Gedächtnis kümmert sich nicht um unsere Intentionen. Die neuesten Mathe-Formeln interessieren es kaum. Sie kommen schnell auf die schiefe Ebene des Unbedeutenden mit der starken Gefahr in den Abgrund des Vergessens zu rutschen. Das meiste, was du nie vergessen wirst, ist aber etwas, das du gar nicht zum Behalten gelernt hast. Von all unseren Begegnungen, werde ich kaum eine je vergessen können. Unser erstes Aufeinandertreffen wird mir lebenslänglich fast im Wortlaut präsent bleiben. Wie sollte ich von „La Cenerentola“ solange ich lebe, jemals etwas vergessen können. Nicht das, von dem man ihm sagt, dass es wichtig sei, interessiert unser Gedächtnis, unsere Gefühle, es ist absolut scharf auf unsere Gefühle. Kein Wunder, dass die Methoden des Lernens in der Schule so katastrophal ineffektiv sind.“ „Du meinst, die Emotionen hätten beim Menschen ein viel stärkeres Gewicht als sein rationales Denken, und man müsste ihnen wesentlich größere Beachtung schenken?“ hatte es Max verstanden. „Beides, Max, du darfst es nicht alternativ sehen. Nur dominiert bei den meisten Menschen heute, nach ihrem Bewusstseins zu leben und zu handeln. Ihre Gefühle spielen oft gar keinen Rolle mehr, beziehungsweise kennen sie ihre wirklichen Gefühle nicht einmal. Ich kann zum Beispiel die Gefühle meines erotischen Drangs auch nicht recht erkennen, oder meinst du, dass es uns gelungen sei, ihm direkt die rechte philosophische Lenkung zu geben?“ fragte Viviane mit grinsendem Mund und schelmischen Augen. Max musterte sie kurz lächelnd. Sie umschlangen sich, drückten intensiv und hielten sich so lange, dass es auch als Vorrat für Wochen hätte reichen können.


Abitur

Das musste es auch, denn Viviane hatte nicht selten beim Abschied eine Träne im Auge. Eigentlich unvorstellbar, beim Abschied nach Mallorca hatte sie doch nicht etwa geheult. Nie weinte Viviane. Sie konnte sich nicht an Kindertage er­innern, an denen sie geweint hatte. Sie war von klein an die Ältere, Vernünfti­gere gewesen. Eine für Mädchen recht ungewöhnliche Sozialisation hatte das zur Folge. Die Nüchternheit und Härte in ihrem Auftreten, waren keineswegs gespielt, um sich cool zu geben. Nur mit Marcel, ihrem Bruder, da war alles ganz anders. Weich und lieblich sah die Welt dann aus. Absolute Kompensation für das Mädchen, dass sonst taff und strikt sein wollte. Mit Max und ihrer Lie­be? War das nicht heute eine Welt, in der sie auch diese beiden Lebensformen, jetzt aber gleichzeitig leben konnte? Nicht weil der Abschied für so lange war, und auch nicht, weil es ihr das Herz erweichte, Max gleich nicht mehr sehen zu können, kamen ihr schon mal die Tränen. So wie es jetzt lief, konnte Viviane es nicht ertragen. Die gewohnten, längeren und ausführlichen Gespräche gab es nicht mehr. Sie konnte nicht mehr über Themen nachforsch, um dann mit Max darüber zu diskutieren. Das gewohnte gemeinsame Leben, wie sie es liebte, war zerrüttet. Keineswegs hatten sie sich etwa gestritten oder Dergleichen, Vi­viane hatte einfach keine Zeit mehr. Eine gemeinsame Tasse Tee, mehr war nicht drin. Das Abitur stand vor der Tür, und Viviane paukte nur noch. Schlech­te Abi-Noten, das wollte sie auf keinen Fall riskieren. „Viviane, es hat doch ein absehbares Ende, es wird doch bald vorbei sein.“ versucht Max sie immer wie­der zu trösten. Recht hatte er, und Viviane wusste es ja selbst, nur das Wissen war nicht stark genug, die augenblicklichen, wehmütigen Bedürfnisgefühle zu vertreiben. Fragte man Viviane nach einem Freund, sagte sie nur, ja, sie habe einen, und Max hieße er. Alles andere sei privat. Nicht etwa weil sie sich nicht traute, sie wollte sich nur die überflüssigen Diskussionen ersparen. Zur Fète der Abiturientinnen und Abiturienten untereinander, ohne Lehrer oder Eltern wollte sie Max aber mitbringen. Der sträubte sich. Immer wieder erfand er eine neue Begründung, wenn Viviane ihm die soeben genannte widerlegt hatte. „Max, du willst doch nicht, dass ich dein Verhalten analysiere. Unsere Liebe ist mir mein Wichtigstes, ich stehe nicht nur dazu, ich bin stolz darauf und freue mich darüber, möchte es gerne allen zeigen. Ist das bei dir ganz anders? Das kann ich nicht glauben, aber das Gespenst vom alten Mann und dem jungen Mädchen, völlig verschwunden ist es bei dir wohl noch nicht.“ erklärte Viviane und Max zeigte sich einverstanden. Viviane machte auf der Fète keine langen Worte. „Das ist Max, mein Freund. Wir lieben uns.“ gab sie bei der Vorstellung nur eine äußerst knappe Erläuterung. Die jungen Männer schien das nicht zu berühren. Sie hatten Wichtigeres zu tun, mussten dafür sorgen, dass man Spaß hatte, denn man wollte ja schließlich seine Freude über das bestandene Abitur zelebrieren. Bei mehreren der jungen Frauen war das aber völlig anders. „Ich kann mir das für mich überhaupt nicht vorstellen. Vielleicht ist mein Freund ja der ideale Mann, aber wenn nicht, könnte ich doch niemals bei so großem Altersunterschied mit jemandem anbändeln und amouröse Gefühle entwickeln.“ erklärte Silke, die wissen wollte, wie das bei Viviane und Max möglich war. „Wenn du dir einen alten Mann suchen willst, damit du dich in ihn verlieben kannst, wird das auch wohl kaum etwas werden können. Viviane wollte sich auch nicht in einen alten Mann verlieben und ich erst recht nicht in eine junge Frau. Gar nicht wollten wir uns verlieben. Aber wenn zwei Menschen etwas zu spüren meinen, ist die Liebe ja meistens schon längst da, auch wenn beide es gar nicht wollen. Das spielt aber keine Rolle. Die Liebe hört nicht auf dich, lässt sich von deinem Bewusstsein nichts vorschreiben, sie übernimmt die Herrschaft über dich, beherrscht deine Augen, deine Ohren und deine Wünsche. Liebe macht eine hässliche Frau zur schönsten der Welt. Dein Alter? Für den Pass und deinen Arzt ist es wichtig, aber Liebe kennt die Kategorie Alter nicht. Liebe interessiert nur die tiefe, innerste Persönlichkeit des anderen Menschen und nicht sein Kleid.“ erklärte Max. Silke überlegte, dann fragte sie mit schelmischen Augen, aber doch ernst: „Meinst du nicht, wenn eine Frau ständig das falsche Kleid trägt, dass auf Dauer die Liebe doch Schaden nehmen könnte?“ Sie scherzten, kamen über die Mutterliebe und andere Liebeskapriolen auch zu der Frage: „Was meinst du, wenn eine Frau einem Mann immer sagt was er zu tun hat, geschieht das aus Liebe, oder ist da schon jeder Rest von Liebe verschwunden?“ wollte Silke wissen. „Ich weiß es nicht. Kommt das nicht auf den Einzelfall an? Aber meinst du nicht auch, dass die Anzahl der Männer sehr groß sein könnte, die sich freuen, wenn sie sich ihren eigenen Kopf nicht zerbrechen müssen?“ meinte Max dazu. Silke schmunzelte. „Max, ich mag dich auch.“ sagte sie, „Viviane kann ich sehr gut verstehen.“ Und Max bekam ein Küsschen. Wenn die Unterhaltung mit den anderen Frauen auch nicht so ähnlich verlief, aber alle waren ernsthaft interessiert, dieses für sie außergewöhnliche Phänomen, besser verstehen zu können. Max fragte sich, ob nicht nur Viviane, sondern Frauen generell eher in der Lage seien, die Schönheit im allgemeinsten und umfassendsten Sinne, die vollkommene und unwandelbare Schönheit schlechthin, die allen Erscheinungsformen des Schönen letztlich als deren Quelle zugrunde liegt, wahrzunehmen und erkennen zu können.


Weltreise

Was Viviane erkennen wollte und erkennen konnte, war ihrer Mutter nicht im­mer eindeutig klar. Es ist nicht bekannt, dass der Biss in die Frucht vom Baum der Erkenntnis unseren beiden Urahnen zu außergewöhnlichen neuen Erkenntnissen verholfen hätte. Infiziert muss der Apfel gewesen sein mit einem Virus, der genetische Veränderungen bewirkte. Immer noch wird es so weiter vererbt und kann nichts anderes als die Erbsünde selbst bedeuten. Nicht mit großartigen Erkenntnissen sondern mit unbändiger, völlig unstrukturierter Neugier werden die Menschen geboren. Dass man etwas nicht weiß, reicht als Grund aus, es wissen zu wollen. An Myriarden unsinniger Rätsel versuchen die Menschen ständig ihre Neugier zu befriedigen. Besondere Gier erzeugt das, was neu ist, in ist oder hip ist. Alles müssen sie wissen. Offensichtlich hatte Viviane einen Erbschaden. Dieses Gen schien ihr zu fehlen. „Aber das muss man doch kennen, das muss man doch wissen.“ für Viviane waren solche Äußerungen kein Funke, der ihre Neugier entflammen konnte. „Warum muss ich das kennen, muss ich das wissen? Was habe ich davon?“ fragte sie. Viviane hatte massives Interesse daran, erstaunliche, bisher unberücksichtigte und neue Wahrheiten zu erkennen, indem sie Alltägliches, Selbstverständliches hinterfragte. Jetzt war es zu einer grundsätzlichen Wesensart von ihr geworden, aber angefangen hatte es als kleines Kind bei der Omi. Ihre Großmutter hielt Viviane für eine bessere Mutter. Benennen konnte sie es damals noch nicht, aber das persönliche Verhältnis war dadurch, dass es keine Erziehungsintentionen, keine Verhaltensvorschriften und -kritiken gab, überaus spannungsfrei und herzlich. Omi erging sich in der Liebe zu Viviane, und da bedarf es eben keiner Erziehungs- und Zuchtinstrumentarien. Über Omi konnte Viviane nur staunen, sie fragte nach allem und jedem und wollte es begründet erläutert haben. „Du musst mir alles von dir erzählen, ich will alles von dir wissen,“ hatte Viviane gefordert, „dann kann ich genauso denken wie du und brauche nach nichts mehr zu fragen.“ Sessionen zur Biografie der Großmutter waren die Folge, wobei sie aber nicht nur Geschichten aus ihrem Leben erzählte, sondern Viviane immer völlig erstaunt war und alles genau erläutert und begründet haben wollte, bis Omi sagte, da müsse sie selbst erst nachlesen. Die Befragungen der Großmutter liefen aber nicht spitz auf einen Punkt zu, sondern nahmen uferlose Weiten an. Fragen aus Politik, Wirtschaft, Sozialem und Philosophie wurden berührt, und Viviane hatte sich schon in frühen Jahren eine umfangreiche Allgemeinbildung ausgehend vom Leben ihrer Großmutter verschafft. Das unspezifische, strukturlose Neugier um der Neugier Willen sie nicht tangierte, ist nur verständlich. Vivianes Eltern hatten sich während des Studiums kennengelernt. Beide waren Mediziner. In biologischen, medizinischen bis hin zu biochemischen Zusammenhängen verfügten sie gewiss über umfangreiches Wissen, und Viviane bewunderte sie, vor allem ihren Vater, dafür. Auf politische, soziale und philosophische Bereiche ließ sich davon allerdings direkt nur äußerst wenig übertragen. Das hatte zur Folge, dass Viviane schon als Kind in Diskussionen um diese Bereiche ihrer Mutter nicht selten überlegen war. Die Farben in Frau Klamts Bild von der älteren und klügeren Viviane verstärkten sich jedes mal aufs neue, und Viviane gefiel sich in dieser Anerkennung vermittelnden Rolle. Ihr Staunen über die wirklichen Zusammenhänge, die sich bei kritischem Hinterfragen der als Selbstverständlichkeiten bezeichneten Meinungen in Politik, Wirtschaft, Sozialem und Philosophie auftaten, stellte ein Wesensmerkmal ihrer Persönlichkeit dar und hatte sich unabhängig von der Befragung ihrer Omi verselbständigt und weiter entwickelt. Es ließ Viviane nicht in Ruh, auch wenn sie wusste, dass sie es doch nie genau erfahren würde, immer wieder suchte sie nach dem Kern ihrer Liebe zu Max. Affinitäten in der Liebe zu ihrem Bruder meinte sie schon erkennen zu können, aber gewiss übte auch die Art der Beziehung zu ihrer Großmutter nicht einen unwesentlichen Einfluss darauf aus. Es musste doch ausschließlich Viviane sein, das was sie erlebt und erfahren hatte, aus dem ihre Liebe und ifr Verlangen nach Max kulminierte. Frei davon, den anderen zu bewerten und zu beurteilen, so hatte sie ihre Großmutter erlebt, so erlebten ihr Bruder und sie sich, und so erlebte sie Max. War das vielleicht eine Grundbedingung tiefer, liebender Beziehungen? Viviane sah und wünschte es so, nur sie wusste ebenso, dass dies in weitesten Bereichen des Umgangs der Menschen miteinander, überhaupt nicht der Fall war, auch dann nicht, wenn man sich sagte, dass man sich liebe.


Ihre Mutter war sicher, Viviane zu lieben, und es war auch ohne Zweifel so. Aber zu bewerten, zu urteilen und einzuschätzen schien eben untrennbarer Be­standteil der Mutterrolle zu sein. Sie wusste, worüber sich Viviane als Ge­schenk zum Abitur freuen müsse. Anders könne es gar nicht sein, jede und je­der würden sich riesig darüber freuen, aber darüber brauchte sie überhaupt nicht nachzudenken, intuitive Sicherheit herrschte da. „Aber nur zu zweit.“ lau­tete Vivianes erste spontane Reaktion. Ihre Mutter schien tatsächlich nachzu­denken, aber Viviane ließ sie nicht zu Ergebnissen kommen. „Mama, ich kenne die Pyramiden schon. In einer tollen Doku im Fernsehen habe ich tausendmal mehr erfahren, als wenn ich selbst daneben stehen würde. Auch von Machu Picchu habe ich alles gesehen. Warum soll ich selbst zwischen den Ruinen her­umlaufen und viel Geld dafür bezahlen. Mein Bedarf an Sightseeings wird durch die Medien total abgedeckt. Wenn mich eine Familie aus dem Cantal oder der Normandie einladen würde, vierzehn Tage gemeinsam mit ihnen zu leben, das fände ich total spannend. Nicht die Bauwerke, Mama, Menschen sind die grö­ßeren Weltwunder, auch wenn es so viele von ihnen gibt.“ erklärte Viviane als ihre Mutter sie darüber informierte, dass sie als Geschenk zum Abitur eine Weltreise bekommen solle. „Es gibt ganz Wichtiges und Dringendes, das mich brennend interessiert, nur ergibt sich dafür keine Klärung, wenn ich zum Kai­serpalast nach Peking fliege.“ fügte Viviane ergänzend hinzu. „Ich habe gehört, was du gesagt hast und akzeptiere es auch, aber verstehen werde ich dich, glaube ich, nie.“ kommentierte ihre Mutter Vivianes Entscheidung. „Hast du es denn versucht mich zu verstehen? Wolltest du mich denn verstehen? Nein, dann hättest du fragen müssen. Du hast aber nicht gefragt. Du wusstest, dass ich mich freuen würde. Du wusstest, wie ich denken würde. Hast mit meinem Kopf gedacht, schon wieder und immer noch versucht mich zu okkupieren, mich zu einem Teil von dir zu machen. Mama, erst wenn du es schaffst, so et­was bleiben zu lassen, habe ich auch eine Chance, für dich wirklich erwachsen zu werden. Max würde das niemals tun. Wirkliche Liebe setzt vor allem voraus, dass du mich immer als jemand anders respektierst und achtest.“ verdeutlichte Viviane.


Viviane, was willst du?

„Das war das einzige Auto, bei dem man zum Einsteigen den Hut nicht abzu­setzen brauchte.“ erklärte Max beim Betrachten ihrer Fotoalben zum ersten Auto ihrer Familie. „Selbstverständlich trugen alle Männer einen Hut, heute ist es nur noch ein extravagantes, modisches Accessoire.“ bemerkte Max. „Ja, bei Frauen doch genauso. Zum Pferderennen sind sie auch heute noch Pflicht, aber sonst?“ wusste Viviane dazu. „Es ist absolut erstaunlich, Jahrhunderte lang war es unvorstellbar, ohne Kopfbedeckung das Haus zu verlassen. Jetzt ist es ein­fach so ohne Begründung in kürzester Zeit verschwunden. Niemand fragt: „Warum?“. Ob die Menschen mit Hut andere waren? Ob die gesellschaftlichen Verhältnisse so waren, dass man sie nur mit Hut ertragen konnte? Keiner weiß es.“ konstatierte Max scherzend. „Die Grünen mit ihren alles umwälzenden Kräften werden es bewirkt haben.“ lautete Vivianes sarkastische Erklärung. „Es ist wirklich erstaunlich, meine Omi und du ja auch, ihr habt den größten Teil eures Lebens zu Zeiten des Kalten Krieges verbracht. Unfassbar war es für mich, als ich von den Zuständen und Lebensbedingungen erfuhr. Jetzt ist es so, als ob nie etwas Besonderes gewesen wäre.“ staunte Viviane. „Tempora mu­tantur, nos et mutamur in illis.“ „Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns in ihnen." das wusste schon Ovid.“ ergänzte Max mit einem Sprichwort. „Also du meinst, dass es eben nun mal so Schicksal ist, dass sich alles total ändern kann und wir uns genauso? Unsere Liebe könnte also morgen Schnee von ges­tern sein, und übermorgen hätten wir sie vergessen?“ wollte Viviane provokativ von Max wissen. „Bestimmt wird es so kommen. Du musst es dir nur ganz in­tensiv wünschen, dann hat deine Prophezeiung eine Chance, Erfüllung zu fin­den. Viviane, was willst du?“ fragte sich Max. Das wusste Viviane gar nicht ganz genau. Sie wusste nur, dass sie Max wollte, mehr von Max, und dieses Bedürfnis war besonders stark, wenn sie über ihre Kindheit redeten und sich die alten Bilder anschauten. Ob sie sich dann besonders nah waren? Ob dann die Kommunikationsebene auch eine andere war, sich das liebevolle Anschauen der Kinderbilder auch die Empfindungen für die oder den anderen noch einmal liebevoll verstärkte?


Vivianes neue Heimat

„Wenn du nicht mehr hier bist, ziehe ich auch aus. Dann ist das nicht mehr meine Familie.“ deklamierte Vivianes Bruder Marcel. Sie hatten zwar über sein Verdikt gescherzt, aber einfach war es für alle nicht. Auch ihr Vater und ihre Mutter sowieso, hatten ihr unablässig die Vorzüge erläutert, die es hätte, zu Hause wohnen zu bleiben. Leicht viel es Viviane ja selbst nicht, aber der Drang, ein eigenständiges, selbständiges Leben zu führen dominierte alles. Am schlimmsten war es, dass sie mit einem Appartement in der Stadt nicht mehr kurz mal eben zu Max und Lia rüber konnte. Aber selbst damit würde sie leben können. Nur die eigenständige Frau Klamt, die sie für Max und Lia war, würde sie zu Hause nie werden können. Das war ihr äußerst deutlich geworden und Viviane sah es als eine ihrer wichtigsten Erkenntnisse an, die sich seit dem Le­ben in dieser neuen Stadt für sie entwickelt hatten. Selbst wenn man ihrem Vater und ihrer Mutter die Rollenvorgaben als Eltern austreiben könnte, die Rolle als Tochter und Schwester war ihr ja auch selbst immanent. Marcel und ihre Mutter unterstützten Viviane eifrig dabei, ihr schmales neues Zuhause wohnlich zu gestalten. Das Semester hatte noch nicht begonnen, und die meiste Zeit verbrachte Viviane trotz eigenem Appartement noch zu Hause. Max sollte und wollte sie in ihrem neuem Anwesen besuchen kommen. Nein, nicht, als ob sie sich nach langer Verbannung wiederträfen, aber die Spannung und der Kitzel waren kaum geringer, als Viviane dem davorstehenden Max die Tür öffnete. Voller Übermut mussten sie sich zunächst Grimassen zeigen, bevor sie sich zur Begrüßung umarmen konnten. Drinnen verhielt es sich nicht viel anders. In einer Pose, als ob sie am liebsten mit Max gerauft hätte, fragte Viviane fast verwegen: „Und jetzt, was machen wir jetzt?“ „Tee trinken?“ reagierte Max ebenso komisch. Als ob es gar nicht wirklich sein könne, dass Max bei Viviane zu Besuch war. Eine surreale Welt musste es sein, die hier zelebriert wurde, die unbändiges Glück bewirkte und nur übermütige Handlungsweisen erlaubte. Woran lag das nur, sie sahen sich doch ständig, aber diese Behausung mit Viviane darin, das war Viviane ganz allein direkt persönlich, und zu der war Max gekommen. Das hatte es noch nie gegeben. Sie standen voreinander, hielten sich an den Hüften und ließen ihre Augen das übermütige Glück direkt ins Herz des anderen transportieren. Viviane schob Max ein wenig näher zur Couch, warf ihn sanft darauf und legte sich auf ihn. Sie redeten weiter Albernheiten, plötzlich richtete Viviane sich auf, setzte sich auf Max und kitzelte ihn. Max lachte, aber nicht weil Viviane ihn kitzelte, sondern über Vivianes Veranstaltung und ihr krampfhaftes Bemühen. „Komm, Viviane,“ zog Max sie zu sich runter und nahm ihre Hände, „deine Hände können doch viel Schöneres tun.“ und Max küsste dabei ihre Hände. „Streicheln, meinst du, nicht war?“ vermutete Viviane und touchierte dabei sanft eine Wange von Max. „Wenn du die Haut kaum berührst, dann elektrisiert es am meisten. Warum tun wir das so gerne? Ist das Liebe?“ wollte Viviane wissen. „Ja, bestimmt, wir sind uns so wertvoll wie kostbare Edelsteine, und den größten Diamanten wagst du auch nur ganz vorsichtig zu touchieren.“ wusste Max. „Ja, ist das so? Der größte ist der Wertvollste? Ich dachte auf den Schliff käme es an, aber das ist bestimmt nur bei Menschen so. Ein Diamant möchte ich auch gar nicht sein. Bunte Edelsteine gefallen mir viel besser. Ein Rubin? Könnte ich ein Rubin sein? Würde das zu mir passen, was meinst du?“ erkundigte sich Viviane. „Ja, wunderbar, die tiefrote Glut in deinem Herzen würde es symbolisieren.“ lautete Max Ansicht. „Und du, möchtest du ein blauer Lapislazuli sein? Würde dir das gefallen. Die ägyptischen Königinnen und Könige waren voll verziert damit. Willst du mein Pharao Max Ramses sein?“ fragte Viviane und lachte. Max ebenso, und er antwortete nur: „Ja, ich will.“ Ernst und normal konnte die Atmosphäre offensichtlich nicht wieder werden. „Oh, Max! Wenn wir immer zusammen lebten, würden wir bestimmt wieder zu Kindern werden, aber im Moment bin ich einfach glücklich und freue mich richtig wie ein Kind. Trotzdem, oder gerade deshalb empfanden sich Viviane und Max als außergewöhnlich nah und vertraut. „Max, ich trau mich gar nicht. Ich komme mir blöd dabei vor, aber sagen muss ich es dir doch. Ich finde dich wunderschön, Max. Wenn ich an dich denke, freue ich mich, aber stärker wird die Freude noch dadurch, dass ich auch dein Gesicht, deine Hände sehe. Verrückt, nicht wahr?“ erklärte Viviane zögerlich. „Die Liebe, was sonst, Viviane? Die Liebe lässt dich die Schönheit erkennen.“ antwortete Max. „Du meinst also, du bist grundsätzlich ein sehr schöner Mann, aber ich kann das erst erkennen, seitdem ich dich liebe.“ vermutete Viviane schelmisch. „Viviane, warum redest du so? Du weißt, dass es nichts mit einem schönen Mann zu tun hat, sondern dass es um die Schönheit des Menschen geht, die sich dir in der Liebe eröffnet und für dich erkenntlich wird, vielleicht auch erst in der Liebe so entsteht.“ reagierte Max darauf. „Liebende Menschen erkennen also gegenseitig die Schönheit im anderen, die vollkommene und unwandelbare Schönheit schlechthin. Das glaube ich auch, aber trotzdem, persönlich fasziniert es mich doch ungemein.“ sinnierte Viviane. „Ich kann und will es aber auch gar nicht sehen, was alle zu sehen meinen, ich sehe dich nur genauso jung und verrückt, wie mich selbst.“ erklärte Viviane. „You can't be old and wise if your not young and crazy.“ Max darauf, und beide lachten. „Ich war nicht immer so Max. Vielleicht wäre ich es gern gewesen. Ich weiß es nicht. Sonst war ich viel vernünftiger und berechnender, habe immer an die Perspektive gedacht. Unsere Liebe hat mich vor allem frei und sicher werden lassen. Das ist nicht nur erleichternd, sondern hebt auch die Grundstimmung deiner Gefühlslage insgesamt. Ich bin durch unsere Liebe zu einer anderen geworden, zu einer Frau, die mir selbst wesentlich besser gefällt, auf die ich selbst Lust habe.“ erklärte Viviane. „Also völlig bar jeder Vernunft sollte Liebe doch nicht sein, aber berechnen und Perspektiven planen? Wo sind denn meine Perspektiven? Bekomme ich Alzheimer, einen Schlaganfall, Diabetes oder nicht? Soll ich perspektivisch meine Beerdigung planen. Viviane, ich lebe und will jetzt leben, darum geht es mir. Mein herrliches Leben jeden Tag genießen, und die Tage keinesfalls mit Grübeln über unwägbare, mögliche Perspektiven verderben. Das bin ich nicht, so kann ich, und so will ich nicht sein. Berechnen und Liebe ist sowieso ein Widerspruch in sich. Das weißt du doch selbst am besten. Du hast ja gefordert, dass die Grünen, wenn sie etwas Vernünftiges tun wollten, sich primär dafür einsetzen sollten, dass das Prinzip der Liebe, die Freude am uneigennützigen Geben, auch auf andere Lebensbereiche übertragen würde, und das allgegenwärtige, berechnende Kalkulieren ablösen und ersetzen sollte.“ ergänzte Max. Sie lagen aufeinander und berührten sich öfter mit ihren Nasenspitzen. „Max, ich habe noch nie mit einem Jungen oder Mann geschlafen. Ob ich das so direkt schon mal gesagt habe, kann ich gar nicht sagen, aber, ich denke, du wirst es wissen.“ begann Viviane. „Frau Klamt ist also noch eine Jungfrau.“ versuchte Max zu scherzen. „Lass das Max. Ich mag so etwas nicht und das Wort erst Recht nicht. Als die Mädels stolz von ihrem ersten mal erzählten, hielt ich sie für bekloppt. Warum musste ich wissen, wie das ist? Was hatte ich davon? Ich hatte gedacht, das Bedürfnis danach, miteinander zu schlafen, müsse aus der Liebe erwachsen. Ganz schön dämlich, nicht wahr? Die Lust zu ficken, das ist der Geschlechtstrieb, aber Liebe ist eine soziale Angelegenheit. Nur jetzt bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob das nicht doch vielleicht möglich sein könnte.“ Max schmunzelte. „Na klar, natürlich kannst du deinen Geschlechtstrieb befriedigen, ohne dass es etwas mit Liebe zu tun hat. Vielleicht ist das sogar die häufigste Form, aber deshalb sind Liebe und Sex doch keine Antipoden. Sie liegen ganz dicht beieinander, arbeiten hervorragend zusammen, unterstützen sich gegenseitig und können gemeinsam wundervolle Erlebnisqualitäten bewirken.“ Max Kommentar zu Sex und Liebe. „Ja, du bist ein erfahrener Mann, Max. Ich habe von all dem überhaupt keine Ahnung.“ Viviane darauf. Völlig ernst war das alles nicht. „Viviane, hör auf, sag es richtig. Du hättest Lust dazu, dass wir gemeinsam ins Bett gingen. Meinst du ich nicht genauso, aber ich bin ein entsetzlicher Angsthase. Noch nie ist mir das aufgefallen, aber jetzt lässt es sich nicht leugnen.“ erklärte Max. „Max du machst dir Gedanken, dass es negative Konsequenzen für eure Beziehung haben könnte. Das ist doch total berechtigt. Du weißt, dass ich ebenso keine Beeinträchtigung des Verhältnisses zwischen dir und Lia möchte. Das sind doch völlig berechtigte Überlegungen. Du bist kein Angsthase. Damit hat das nichts zu tun.“ meinte Viviane dazu. Das gemeinsame Verstehen musste durch Küsse und andere Zärtlichkeiten körperlich bestärkt werden. „Wir werden es heute nicht tun, Max, wir werden es morgen nicht tun, und wir werden es übermorgen nicht tun. Aber irgendwann wird es dazu kommen, dass der Drang danach so stark sein wird, dass er alles dominiert. Nur noch das Verlangen im Vordergrund steht, und alle Einwände nebensächlich werden. Da bin ich mir absolut sicher, Max, dass es sich so entwickeln wird.“ sah es Viviane.


Max, geh nicht weg!

Vom ersten Tag des Studienbeginns an sah sich Viviane voll ausgelastet. Dass sie Philosophie studierte, galt ihr als selbstverständlich, aber ein bisschen Angst hatte sie schon. Sich mit der griechischen Philosophie recht gut auszu­kennen, bildete gewiss eine hervorragende Grundlage, denn letztendlich ging unser gesamtes Denken ja davon aus, aber bei Fichte, Hegel, Kant und Schlei­ermacher vermutete Viviane auch große Lücken. Arbeiten würde sie schon müssen. Nicht wenige warfen ja nach einigen Semestern das Handtuch. Sie würde sich schon allein auf Philosophie konzentrieren müssen. Ausschließlich erfreut war sie darüber aber nicht. An politischen, sozialen und wirtschaftlichen Themenbereichen hatte sie seit den Tagen mit ihrer Omi immer großes Interes­se gehabt. Und natürlich galt sie seit Beginn der Pubertät zu Hause als Oberfe­ministin, besonders in den Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, aber gerade darin erhoffte sich Viviane viel Unterstützung und Erkenntnisgewinn durch die Philosophie. Das gemeinsame Abendbrot mit Max und Lia am Donnerstagabend war und blieb fixer Termin. Einmal in der Woche ging sie nach Hause, um An­gelegenheiten zu regeln, sich mit ihren Lieben zu treffen und blieb auch zum Abendessen. Jetzt kam Max häufig Viviane besuchen, das war mit dem Auto bequemer, aber einfach mal zufällig vorbeischauen, das ging nicht mehr. Sie mussten immer Termine vereinbaren, wann Viviane Zeit hatte. Während seiner Dienstzeit hatte Max sich keineswegs primär mit Verwaltungsrecht beschäftigt, obwohl das Gegenstand seiner beruflichen Tätigkeit war. Das Zentrum seines Interesses lag auch nicht direkt bei der Philosophie. Eigentlich liebte er mehr die 'Schönen Künste', war von da aus aber zur Kulturphilosophie gelangt. Sein Wissen darüber und seine Kenntnisse in diesem Bereich ergänzten sich ideal mit Vivianes Forschungs- und Erkenntnisdrang. Sie liebten sich eben nicht nur, sondern passten auch ausgezeichnet zueinander. Für Viviane war es hervorra­gend. Sie sprach nicht nur mit einem interessierten Zuhörer, wenn sie von ih­ren neuesten philosophischen Erlebnissen berichtete, sondern Max half ihr, wo er nur konnte. Vom Heimwerker zum Philosophiestudiumassistenten war er avanciert. Trotz allem Stress empfand sich Viviane glücklicher und beschwingter denn je. Sie wusste noch von all den vielen Nachteilen, die sie keineswegs begrüßt hatte, aber eine wichtige Rolle spielten sie in Vivianes Leben jetzt nicht mehr. Ihr Leben verlief nach einem anderen Konzept, das ganze Environment hatte sich verändert, und Viviane empfand, dass ihr selbst alles so viel besser entspräche. Mit Max und Kommilitoninnen, die sie bereits kennengelernt hatte, war es schon zu lustigen Szenen gekommen. Max, das war ihr Anker, der absolute Bezugspunkt in ihrem neuen Leben. Viviane nahm es so wahr, als ob ihr Max jeden Tag mehr bedeuten würde. Trotz aller Arbeit waren amouröse Interludien von Zeit zu Zeit unverzichtbar. Heute hatte es ich besonders leidenschaftlich entwickelt. „Max, geh nicht weg!“ hatte Viviane halblaut, aber doch eindringlich, während gegenseitiger liebkosender Zuneigungsbekundungen gebeten. Gesagt hatte Max nichts, nur tief geatmet. Die beiden intensivierten ihre körperbezogenen Liebesaktivitäten. „Komm mit.“ sagte Viviane nur, als sie sich gegenseitig schon halb ausgezogen hatten. Viviane war aufgestanden und zog Max mit zum Bett. Max telefonierte kurz mit Lia, und teilte ihr mit, dass es später werden könnte. Später, das war am nächsten Morgen um halb zehn, auch wenn Viviane erklärt hatte, dass sie gedenke, nie wieder aufzustehen. Schuldgefühle plagten Max nicht, nur wie er es Lia verständlich und schonend erklären könne, darüber machte er sich schon Gedanken. Was war denn eigentlich geschehen? Sie liebten sich vorher und sie liebten sich jetzt. Max hatte Viviane doch genauso geliebt, bevor sie miteinander im Bett waren, oder hatte sich doch etwas verändert. Sex sollte ihre Liebe verändert haben? Nicht Sex. Wenn sie sich streichelten oder küssten, waren das ja ebenso körperliche Liebesbezeugungen, zaghafte, verhaltene. Jetzt hatten sie aber die Körper von Max und Viviane gegenseitig anders erfahren. Ihre Liebe, das war die Lust am gegenseitigen Austausch und die war jetzt durch die Lust am intimen körperlichen Austausch ergänzt, überhöht oder vielleicht sogar vervollkommnet worden. Das gemeinsame Erleben glücklicher intimer Momente schaffte eine zusätzliche Ebene der Verbundenheit. Es habe sich einfach so bis zu einem Punkt entwickelt, an dem sie nicht mehr zurück gekonnt hätten, so ähnlich wollte Max es erklären. Lia zeigte keine akute Enttäuschung oder Missstimmung. Sie sprach ruhig und nüchtern mit Max. Hörte ihm zu und meinte dann: „Ich müsste doch naiv sein, wenn ich nicht damit rechnen würde, dass es irgendwann dazu käme. Du möchtest immer gern naiv sein und glauben, dass es nicht geschehen würde und du es verhindern könntest. Viviane hättest du fragen sollen, die hätte es dir prophezeit. Ob sie gebildeter in Fragen von Liebe und Eros ist als du, weiß ich nicht, aber realistischer ist sie auf jeden Fall. Es wird sich nicht ändern lassen, selbst wenn ich es wollte, aber solche Tage sind unerträglich. Das passt nicht zu uns, das sind wir nicht gewohnt, das tut mir weh. Ich komme nach Hause, niemand ist da. Es gibt kein gemeinsames Abendbrot, im Bett bist du natürlich auch nicht, und auch beim Frühstück am anderen Morgen bin ich allein. Das du auch mit Viviane ins Bett gehst, werde ich akzeptieren, aber diese kaputten Tage, ertrage ich nicht. Dann ist das nicht mehr unser Zuhause.“ Als Viviane am Donnerstag kam, umarmten sich Lia und Viviane endlos. Als Rivalinnen oder Dergleichen schienen sich die beiden keinesfalls zu sehen, eher als Verbündete, aber gegen wen? Gegen Max oder eher gegen das trübe Leben ohne Liebe oder schlicht nur als zwei Frauen gemeinsam in Liebe? „Ich glaube, ich kann Platon mit seinem Eros und Freud mit seiner Libido jetzt ein wenig verstehen, das Drängen, das alles bewirkt. Es gibt ja eine ganze Reihe Lebewesen, die nur leben, bis sie den Bedürfnissen ihres Geschlechtstriebes entsprochen haben. Anschließend sterben sie. Also nur sich fortpflanzen als einziger Sinn des Lebens. Da haben die Menschen aber doch ganz schön viel draus gemacht. Das muss man schon bewundern, denke ich.“ erklärte Viviane zu Eros und Libido. „Das sehe ich nicht so.“ widersprach Max, „Anerkennen ist doch eine Frage deiner Bewertung. Hältst du denn etwa auch die Lust am Kriegführen, an grässlicher Folter und sonstigen Verbrechen für bewundernswerte Projekte menschlicher Libido?“ „Ja stimmt, da müsste Platon seine Diotima noch um einiges ergänzen. Aber nein, dafür war Eros doch nicht zuständig. Für das andere hatten die Griechen ja jeweils zuständige eigene Götter. Eros war doch nur für das wundervolle Drängen der Liebe in Verbindung mit Erkenntnis des Schönen und Guten verantwortlich. Gut, das Platon zu den Philosophen gehört und nicht Freud.“ sinnierte Viviane. „Aber in der neueren Philosophie wirst du es nicht einfach haben, wenn du dich nicht auch bei Freud auskennst.“ lautete Max Ansicht. Wenn es Max und Viviane demnächst wieder gemeinsam ins Bett drängte, wollte Max nicht mehr einfach bei Viviane bleiben und sich bei Lia abmelden. Viviane bekam bei Max und Lia ein Zimmer eingerichtet, in dem sie auch arbeiten konnte, und in dem sich ein großes Bett befand. Nicht Max war fort, wenn Lia nach Hause kam, sondern Viviane war auch noch anwesend. So waren sie nicht nur beim Abendbrot sondern auch noch beim Frühstück am nächsten Morgen zu dritt, und für Lia war die Liebe zwischen Max und Viviane nicht mehr mit Erlebnissen von Einsamkeit und beschädigtem Zuhause verbunden. Dass sie sich mit Viviane die Liebe von Max teilen müsse, so empfand Lia es nie. Woran es genau lag, konnte sie gar nicht bestimmen. Lia akzeptierte es ja, dass Max manchmal mit Viviane schlief. Allein im Bett war sie doch früher auch öfter gewesen, aber glücklich machte es sie nicht, wenn Max nicht da war, weil er mit Viviane schlief. Eifersüchtig konnte Lia Viviane gegenüber nicht sein, meinte sie, sie liebe sie ja auch. Vielleicht hatte es mit Viviane direkt ja auch nichts zu tun, sondern es war ein tiefsitzendes Eifersuchts-Verlust-Gefühl, das sich schon im frühesten Kindesalter entwickelt. Wenn man befürchtet, dass die Zuwendung und Liebe nicht mehr ausschließlich einem selbst gilt, empfindet man es als unangenehm. Lia störte Max und Viviane nicht, wie es kleine Kinder tun, wenn sich die Mutter anderen zuwendet oder mit ihnen telefoniert. Gewiss hatte Viviane das Schöne in schönen Handlungen bei Max erkannt und ebenso das Wahrnehmen der Schönheit von Erkenntnissen erfahren, warum sollte Lia ihr nicht auch den Genuss der Schönheit intimer Momente gewähren? Unglücklich war Lia keineswegs. Sie meinte, es liege in ihrer Sozialisation, dass sie einiges störe, aber sie werde sich daran gewöhnen.


Was willst du machen?

Von sich aus wäre Viviane niemals umgezogen. Es drängte sie nichts fort aus ihrer alten Umgebung. Aber was willst du machen? Was willst du machen, wenn dir deine neuen Nachbarn so wundervoll gefallen. Was willst du machen, wenn Max suchtähnliche Zustände nach gegenseitigem Austausch in dir weckt, wenn du zum ersten mal zu spüren meinst, was Liebe zu einem Mann bedeu­ten kann? Was willst du da schon machen, außer dir selbst und deiner Gefühle sicher zu sein. Da hast du keine Wahl. Nach besseren und glücklicheren Tagen verspürte Viviane nie sehnsuchtsvolles Hoffen. Mit den politischen Verhältnis­sen war sie zwar völlig unzufrieden, aber sie hoffte nicht auf bessere Zeiten. Alle Menschen sehnten sich nach Glück und Liebe, aber in allem politischen Handeln spielte das keine Rolle. Der Mensch bildete nicht das Zentrum der Ak­tivitäten in der Welt. Das hatte Viviane schon in frühen Jahren erkannt. Wie viele hatten das nicht schon vor ihr beklagt, aber alle Versuche, dies zu än­dern, waren gescheitert oder sogar im Desaster geendet. Keineswegs hielt Vi­viane es für unwichtig und bedeutungslos sich darüber Gedanken zu machen und sich zu informieren, hinter das alltägliche Meinen zu blicken, aber sie hatte eine neue Ebene entdeckt. Natürlich war sie immer eine eigene Person, hatte ein eigenes Ego, doch es schien ihr, als ob sie sich seit dem Umzug mehr und mehr selbst entdeckt, trotz allem mehr und mehr eine eigenständige Persön­lichkeit entwickelt hätte. Hoffnung auf zukünftiges Glück? Wozu? Viviane hoffte stets und in allem auf eine glückliche Entwicklung, hier und jetzt. Sie trug dazu bei, indem sie sich selbst, ihren Wünschen und ihren Gefühlen vertraute und sie zu leben versuchte. Auf ihre 'Innere Stimme' wie es Schiller formuliert hatte, hörte sie:

 

„Und was die innere Stimme spricht,
das täuscht die hoffende Seele nicht.“

 

Natürlich müsste das Prinzip der Liebe auch auf andere Bereiche ausgedehnt werden. Eine Hoffnung von Viviane stellte das schon dar, aber glücklich machte es nur, das Prinzip der Liebe persönlich, begehrend und schenkend mit Max im­mer wieder neu zu erleben, mit ihm Eros und die Erotik zu ehren und sich auf diesem Gebiet zu üben, weil er auch, wie Sokrates meint, auf dem philosophi­schen Erkenntnisweg der beste Helfer sei.

 

 

FIN

 

 

 

Deshalb also behaupte ich, dass jedermann den Eros ehren muss und ehre selbst seine Kunst und übe sie vor allen und empfehle sie den anderen und preise jetzt und immer die Macht und Tüchtigkeit des Eros, so sehr ich dies vermag.“

 

Sokrates in Platons Symposion. Rede der Diotima

 

Umgezogen in eine fremde Stadt war Viviane, weil ihr Vater einen Ruf als Professor bekommen hatte. Was Viviane in ihrem neuen Leben rief, war vorher nicht denkbar und schon gar nicht vorauszusehen.
Ungewöhnlich warme Tage im April, die Sonne schenkte ihre kräftigsten Strahlen und vergoldete die Gemüter der Menschen. Viviane hatte heute ausgesprochen gute Laune, spürte Lust zu scherzen und übermütigen Streichen. „Max ich wollte dich mal was fragen. Wenn ich etwas dazu lese, worüber wir gesprochen haben oder sprechen wollen, denke ich an dich. Ist ja klar. Aber ich denke auch an dich, wenn ich aus der Schule komme, dass ich gleich zu dir gehen werde. Sogar in der Schule denke ich an dich, dass ich dich heute Nachmittag besuchen gehe. Selbst bei den Hausaufgaben, fällt mir plötzlich ein: „Was Max jetzt wohl macht? Ob er etwas liest, ob er Musik hört, oder ob Lia ihm etwas gegeben hat, das er reparieren soll.“ Abends im Bett erinnere ich mich an unser Gespräch und reminisziere, was wir gesagt haben. Selbst beim Abendbrot muss ich an dich denken. Frage mich, was es bei euch zu essen gibt. Reibeplätzchen? Ob du sie wohl mit Quark oder mit Apfelmus isst. Immer muss ich an dich denken. Ist das noch normal? Oder habe ich eine psychische Macke, was meinst du?“ wollte Viviane erfahren und hatte es geschafft, völlig ernst dabei zu bleiben. Max zog einen ganz breiten Grinsemund, sodass er dicke Backen bekam. Ihre Blicke sagten sich aber gegenseitig, dass beide genau wussten, worum es eigentlich ging.

 

Viviane – Seite 41 von 41

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.01.2014

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