Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Fischessen aus Liebe
Lebenslange Rätsel

 

Erzählung

 

 

 

Tant qu'il y a de la vie, il y a de l'espoir.

 

Grischa ist Student und Susanna, die Aushilfskellnerin, studiert ebenfalls. Grischa sitzt mit ihrer Professorin an einem Tisch im Restaurant. Die Frau Professor findet er aufregend, aber was sie erzählt, lässt Grischa nicht mehr los. Die Professorin bekam noch einen Wein. „Essen sie gerne Fisch? Wieso?“ fragte mich Frau Enkler. „Das weiß ich auch nicht. Ich habe schon alles nachgeforscht in meiner Kindheit, meine Eltern und Verwandten befragt, ob irgendwo Affinitäten zur Fischereiwirtschaft oder zum Meer zu erkennen wären, vielleicht hätte ja mein Großvater einen Angelschein gehabt oder seine Ferien auf einem Forellenhof verbracht, aber nichts, nirgend­wo. Warum ich gerne Fisch esse, wird mir lebenslang ein Rätsel bleiben.“ er­klärte ich und wollte Frau Enklers Mimik dabei betrachten. Ich glaube, sie schi­en wegen meines unlösbaren Problems ein wenig mitzufühlen. „Das ist alles absoluter Nonsens, was ich ihnen erzählt habe, ich kenne den wahren Grund sehr genau, nur wenn ich ihn genannt hätte wären sie eventuell pikiert gewe­sen oder hätten sich düpiert gefühlt.“ erklärte ich. „Sagen sie's trotzdem. Ich werde tapfer sein, aber ich will es hören.“ forderte mich Frau Enkler auf. Unse­re Augen lachten sich an, und ich glaube, sie hatte doch erotische Ausstrah­lung, jedenfalls hätte ich sie am liebsten geküsst. „Nein, also gut. Es ist simpel, schlicht und naiv. Ich esse gerne Fisch, weil er mir gut schmeckt. Das ist alles, ohne irgendwelche Geschichten, und das war schon immer so. Mir reicht die Erklärung, warum sollte ich mehr wissen wollen?“, verkündete ich zögerlich. Frau Enkler lachte. „Na klar, was für eine dumme Frage. Das wird bei allem so sein, das man gerne isst, und ein Histörchen gibt’s dazu sicher nur höchst sel­ten.

 

Neue Hoffnung mit der Vamp Professorin - Inhalt

 

Neue Hoffnung mit der Vamp Professorin 3

Susanna 3

Waschtag 3

Die Studienabbrecherin 5

Die erotische Frau 7

Grillféte 8

Revanchieren 9

Einsamkeit 11

Urmund 13

Grischa kann nicht lieben 14

Rose und Grischa 15

Verwirrte Oper 16

Die Lust am Leben 17

Der Engel in dir 19

Liebe ist Hoffnung 20

Kündigung 22

Erste Liebe versus Neuer Frühling 24

Kopulierende Seelen 25

Innere Stimme 26

 

 

Fischessen aus Liebe - Susanna

„Nein, Susanna, ich kann das nicht und will das nicht.“, erklärte ich. Susanna war die Bedienung im Restaurant. Aushilfsbedienung, aber in Wirklichkeit war sie die Chefin. Das sagte niemand, aber die Menschen im Restaurant verhielten sich so, als ob sie es wäre. Dominant wirkte Susanna in keiner weise. Sie ver­körperte eher das Gegenteil. Nein, mütterlich umsorgend war sie nicht, sie wirkte sehr natürlich, freundlich, strahlte Offenheit aus und man erkannte, dass man zu ihr Vertrauen haben könne. Sie verkörperte nicht das Andere, das Fremde, das Restaurant. Die Gäste fühlten sich mit ihr im Bunde, Mittlerin war sie zwischen ihnen und dem Restaurant. Keineswegs kamen die Gäste wegen Susanna, sondern wegen der hervorragenden Gerichte, die der Koch zu zau­bern verstand. Ich war der einzige, der offensichtlich wegen Susanna kam. Noch nie hatte ich so oft Fisch gebraucht. Jetzt hielt ich es manchmal keine Woche ohne aus.

 

Waschtag

Bei nichts kennen sich die Leute aus. Ständig müssen sie sich erst kundig ma­chen, aber warum sich ihre Stimmungslage, ihr Hintergrundgefühl heute oder gerade jetzt auf diesem Level befindet, das wissen sie immer genau. Weil sie heute irgendwo bei Glück gehabt, an etwas Schönes oder Unangenehmes ge­dacht haben oder Ähnliches. Vor allem aber ist für den einen die Höhe des Luftdrucks verantwortlich, für die andere, dass er zu niedrig ist. Was sie wohl alle erzählt haben, weshalb sie sich nach dem Joggen oder Fitness Training so wohl fühlten? Es käme daher, dass sie stolz auf ihre Leistungen seien, haben sie bestimmt erklärt, bis man herausfand, dass es allein an der Produktion be­stimmter Neurotransmitter im Gehirn lag. Die sind immer verantwortlich. Du kannst es noch so toll finden, dass du bald Geburtstag feiern darfst, wenn die sogenannten Glückshormone fehlen, bist du trotzdem depressiv. Als depressiv empfand ich mich noch nie, aber meine Produktion von Dopamin, Serotonin und den anderen Gesellen schien doch gewissen Tagesschwankungen zu unter­liegen. Auf Hochtouren lief sie keineswegs immer. Hochstimmung und sich als high empfinden kannte ich zwar, entsprach aber keineswegs jeden Tag meiner durchgängigen Gefühlslage. Ich glaube auch nicht, dass ich es mir gewünscht hätte. An meiner Stimmung hatte ich noch nie etwas auszusetzen. Sie erschien mir einfach normal, so normal, dass ich mir nie Gedanken darüber machte. Heute war bei mir Waschtag. Alltag würden die meisten sagen, aber das Wort mochte ich nicht, es war ein Unwort. Einen Tag, der wie alle Tage ist, gibt es nicht, jeder Tag kann nur anders sein als jeder sonst. Waschtag bezeichnete die Struktur des Tages. Als es noch keine Waschmaschinen gab, musste alles mit der Hand gewaschen werden. Das dauerte einen ganzen Tag und war harte Arbeit. Selbstverständlich musste die schmutzige Wäsche gewaschen werden, nur Lust und freudige Ereignisse waren diesem Tag fremd. Man erwartete sie auch gar nicht. Tun, was getan werden muss, das waren meine Waschtage, und die Emotionen köchelten dabei auf Sparflamme. Ob ich die Flamme ein wenig aufdrehen wollte, oder ob es aus Selbstmitleid geschah, weshalb ich auf die Idee kam, essen zu gehen? Essen gehen bedeutete für mich, Fisch essen im Restaurant Sonnenberg. Billig war das nicht, aber hier schien der Koch ein besonderes Faible für Fisch zu haben. Dagegen empfand ich in anderen Restaurants beim Fisch immer starke Affinitäten zum Bratfisch auf der Kirmes. Die Zubereitung von Fisch schien bei den meisten Köchen mit tauben Stellen in den Fingerspitzen zu erfolgen. Vielleicht wäre es im Sterne Restaurant ja genauso gut gewesen, nur da war's nochmal doppelt so teuer. Das Restaurant war groß und verfügte über mehrere Räume. Heute natürlich kein Tisch mehr frei. Unbeholfen und ratlos musste ich wohl schauen, als ich wieder im ersten Raum stand. „Kann ich ihnen helfen?“ fragte die Bedienung, die an mir vorbei kam. „Ich glaube nicht.“ gab ich knapp zur Antwort, aber die Bedienung gab sich nicht zufrieden. „Suchen sie jemanden?“ fragte sie weiter. „Ja, einen freien Tisch, aber der ist ja nicht da.“ antwortete ich. Die Bedienung schmunzelte und meinte: „Sie kommen ja so selten, da hätten sie besser reservieren sollen. Müssen sie denn unbedingt einen Tisch für sich alleine haben? Freie Plätze gibt es ja noch genug. Fragen sie doch mal. Nein, den Herrn dort lieber nicht, aber die Frau Professor würde sich bestimmt über Gesellschaft freuen.“ Anscheinend kannte die junge Frau alle Gäste, die hier verkehrten. Ich hatte sie auch schon öfter gesehen, aber dass sie wusste, ich käme nur selten, war bei der Vielzahl der Gäste schon allerhand. Grinsend blickte sie mich an. Sie schien mich zu mustern, hatte erkannt, dass es mir nicht besonders liegen würde, die Professorin zu fragen und entschieden, dass sie es für mich mache. „Frau Professor, der junge Mann wollte mal fragen, und so weiter … .“ „Dann soll er das mal tun.“ meinte die grinsend. „Was?“ wollte ich wissen. „Na, mich fragen. Quatsch, selbstverständlich, nehmen sie Platz.“ erklärte die Professorin, und weiter an die Bedienung gerichtet, „Susanna, lassen sie das mit dem Frau Professor doch weg. Frau Enkler, das reicht völlig.“ Die Bedienung schaute ein wenig verdutzt, aber ihre Mimik verriet auch, dass es sie freute. „Danke,“ sagte sie und jetzt ganz betont, „Frau Enkler.“, worauf beide lachten und die Bedienung der Professorin eine Hand auf die Schulter legte. Sonderbar, aber die Professorin wirkte auch sonderbar, nein nicht sonderbar, erotisch wirkte ihr Gesichtsausdruck. Erotisch? Was sollte das denn eigentlich heißen? Sexuell erregend? Ach wo. Aber Eros das war doch der Gott für's Körperliche. Allerdings: „Puh, ist das aber erotisch.“ hatte ich noch nie gedacht, wenn meine Freundin und ich zusammen geschlafen hatten, und sie hatte so etwas auch nie gesagt. Hatte erotisch mit Sex also nichts zu tun? Aber die Sex Läden nannten sich doch auch Erotik Shop. Und was war mit der Erotik Bar? Ich war noch nie in einer, und ich glaube auch nicht, dass Frau Professor Enkler dort verkehrte. Im Grunde wusste ich gar nicht, was das Wort, das ich bei Frau Enklers Aussehen gedacht hatte, wirklich bedeutete. Wahrscheinlich würde es mir bis an mein Lebensende ein Rätsel bleiben, was bei erotisch sein wirklich gemeint sein könnte. Dann hatte Frau Professor Enkler eben keine erotische Ausstrahlung, aber ungewöhnlich sah sie schon aus. Was störte mich das? Aber der Anblick ihres Gesichtes ließ mich nicht in Ruh. Eigentlich passte alles nicht zueinander. Einerseits wirkte sie mondän aber gleichzeitig auch in gewisser weise, wie von der Straße. Glamouröse Grandezza konnte man vermuten, das lag mehr um ihre Augen, aber auch die frech und laut streitende Schnauze, darauf verwies eher die Mimik um ihren Mund. Frau Enkler war eine sehr freundliche Frau, aber wenn sie dich anblickte, zogst du automatisch den Schwanz ein, weil dir sofort klar war: „Sie ist die Alpha Wölfin.“. „Kommen sie öfter zum Essen her? Sie scheinen sich ja mit der Bedienung gut zu verstehen.“ interessierte mich. „Ja schon, aber Susanna ist meine Studentin. Nein, nicht meine, wie rede ich? Sie studiert Soziologie und ich habe dort meinen Lehrstuhl.“, erläuterte die Professorin. Dass sie Seminare halten und in Vorlesungen dozieren konnte, würde ich Frau Enkler schon zutrauen, aber wie eine Intellektuelle wirkte sie nicht. Ihr Gesicht verkörperte eher das volle, abwechslungsreiche Leben in einer bunten, vielgestaltigen Welt als endloses Lesen, Studieren und Philosophieren. Vielleicht war das Soziologiestudium noch bunt und lebhaft, wenn es sowieso keine Berufsaussichten gab. Unsinn, das war es nie gewesen. Unsere bedeutendsten Werke zu zeitgeschichtlichen Themen stammten in der Vergangenheit und auch jetzt noch von Soziologen. Vielleicht hätte ich mich selbst mal ein wenig mehr mit dem Sozialen, den Beziehung der Menschen untereinander befassen sollen. Wenn du jemanden erblickst, machst du in Sekundenbruchteilen eine Momentaufnahme von ihm beziehungsweise ihr, ein Polaroidfoto, das du sofort in den großen Katalog deiner vorhandenen Klischees über menschliche Charaktere und Verhaltensweisen einordnest. Du weißt beim ersten Blick, ob und auf welche Weise dir dein Gegenüber sympathisch oder dir unangenehm ist und auch die Geschlechterrolle ist von dominanter Bedeutung. Vielleicht war es ja das, was ich bei Frau Enkler als erotisch gesehen hatte, dass ich sie als Frau interessant fand. Bei ihr war auch die Momentaufnahme noch nicht fertig und abgeheftet, sie befand sich noch in meinem Studio. Es kam mir vor, als ob ich mir gar kein abschließendes Bild von ihr machen könnte. Ihre Augen waren intensiv geschminkt. Ob anderswo auch noch Krems, Rouge und Puder oder Dergleichen aufgetragen waren, konnte ich nicht erkennen. Ihre Lippen hatten jedenfalls keinen Stift gesehen. Sie waren Natur pur, wie die unbehandelten Ufer eines Gebirgsbaches. Ihre relativ zotteligen, schwarzen Haare wirkten zwar burschikos, waren aber eindeutig gestylt und nicht Natur. Im Grunde passte alles nicht zusammen, trotzdem sah ich eine gewisse Harmonie. Ein Bild das meine Augen nicht kannten, dessen Harmonie einen neuen Klang verkörperte, für den ich kein Schubfach in meinem System hatte. Immer wieder und immer aufs Neue wollte ich ihr Gesicht erfassen. Ich sah ja auch sich mit ihrer Mimik ständig verändernde neue Elemente und Variationen. Ob Frau Enkler eine interessante Gesprächspartnerin sein würde, wusste ich noch nicht, aber ihr Anblick kam für mich einer Forschungsreise durch meine Assoziationswelten gleich.


Die Studienabbrecherin

Die Bedienung kam, ich sollte bestellen. „Wir haben heute Bodenseefelchen. Ich weiß nicht, ob sie die schon mal gegessen haben? Gibt's ja schließlich nur selten. Probieren würde ich die schon mal, also ich finde die sehr lecker oder wie gewohnt den Loup de mer.“ empfahl sie mir. Daran konnte sich die Bedie­nung, Susanna, also auch erinnern. Die Professorin bekam noch einen Wein. „Essen sie gerne Fisch? Wieso?“ fragte mich Frau Enkler. „Das weiß ich auch nicht. Ich habe schon alles nachgeforscht in meiner Kindheit, meine Eltern und Verwandten befragt, ob irgendwo Affinitäten zur Fischereiwirtschaft oder zum Meer zu erkennen wären, vielleicht hätte ja mein Großvater einen Angelschein gehabt oder seine Ferien auf einem Forellenhof verbracht, aber nichts, nirgend­wo. Warum ich gerne Fisch esse, wird mir lebenslang ein Rätsel bleiben.“ er­klärte ich und wollte Frau Enklers Mimik dabei betrachten. Ich glaube, sie schi­en wegen meines unlösbaren Problems ein wenig mitzufühlen. „Das ist alles absoluter Nonsens, was ich ihnen erzählt habe, ich kenne den wahren Grund sehr genau, nur wenn ich ihn genannt hätte wären sie eventuell pikiert gewe­sen oder hätten sich düpiert gefühlt.“ erklärte ich. „Sagen sie's trotzdem. Ich werde tapfer sein, aber ich will es hören.“ forderte mich Frau Enkler auf. Unse­re Augen lachten sich an, und ich glaube, sie hatte doch erotische Ausstrah­lung, jedenfalls hätte ich sie am liebsten geküsst. „Nein, also gut. Es ist simpel, schlicht und naiv. Ich esse gerne Fisch, weil er mir gut schmeckt. Das ist alles, ohne irgendwelche Geschichten, und das war schon immer so. Mir reicht die Erklärung, warum sollte ich mehr wissen wollen?“, verkündete ich zögerlich. Frau Enkler lachte. „Na klar, was für eine dumme Frage. Das wird bei allem so sein, das man gerne isst, und ein Histörchen gibt’s dazu sicher nur höchst sel­ten. Sie sollten Psychologie studieren, dann könnten sie ihr Unbewusstes erfor­schen, da gibt’s bestimmt etwas zu dem Fisch. Sie sind doch auch Student, nicht wahr?“ erkundigte sie sich. „Wie erkennen sie das denn? Die Patienten im Krankenhaus sagen immer: „Herr Doktor“ zu mir.“, antwortete ich. „Medizin studieren sie also. Wie sind sie denn dazu gekommen?“, wollte Frau Enkler wissen. Wir redeten ja nichts Lustiges, aber es herrschte eine Untergrundstim­mung, als ob das Zwerchfell auf Beschäftigung warte. „Das weiß ich auch nicht, wird mir mir wahrscheinlich auch lebenslang ein Rätsel bleiben. Doch, ich weiß es wohl. Ich habe mich in der Schule und darüber hinaus stark für Biologie, Biochemie und besonders Humanbiochemie interessiert. Onkel Doktor in der eigenen Praxis wollte ich nie werden und werde es auch mit Sicherheit nicht, aber die Praktika müssen sie natürlich genauso absolvieren, gleichgültig welche Perspektive ihnen vorschwebt.“ erläuterte ich. „Sie haben begüterte Eltern, nicht wahr, wenn sie es sich leisten können, hier essen zu gehen. Susanna muss hier arbeiten.“ fragte Frau Enkler. „Nein, 'begütert' ist ein falsches Wort. Ihnen geht’s nicht schlecht, sonst esse ich auch in der Mensa, nur manchmal brauch ich eben unbedingt meinen Fisch. Ich bekomme auch nicht einfach Geld, wenn ich es gern möchte.“ reagierte ich. „Susanna hat nur das BAföG. Sie wollte sich etwas dazu verdienen und hatte gedacht, abends Bedienung zu machen. Aber es gab nur Möglichkeiten, bei denen sie für wenig Geld abends den Männern ihr Bier bringen musste. Sie hat einen Lehrgang gemacht und hier die Aushilfsstelle bekommen. Nur das dehnt sich offensichtlich immer wei­ter aus. Sie traut sich nicht 'nein' zu sagen und das Geld ist ja auch nicht zu verachten.“ wusste Frau Enkler. Entweder blickte Frau Enkler doch erotisch, oder sie war mir hypersympatisch, oder sie weckte unbekannte Visionen in mir. „Dass sie Susanna als Bedienung schätzen, kann ich mir gut vorstellen. Ich denke, dass die Gäste sich darüber freuen, von Susanna bedient zu werden. Was will man mehr?“ meinte ich zu Susanna. „Susanna scheint es auch wohl zu sehr zu freuen.“ meinte Frau Enkler mit einem ernsten, bedenklichen Gesichtsausdruck. „Was heißt das?“ wollte ich es genauer wissen. Frau Enkler holte tief Luft und erklärte: „Ich darf ihnen das, glaube ich, gar nicht sagen. Aber wenn sie schon im Krankenhaus gearbeitet haben, gilt für sie auch sicher die ärztliche Schweigepflicht.“ sie grinste wieder so wundervoll dabei, „Ich denke, Susanna wird irgendwann das Studium abbrechen. Sie wollte es schon, hat mir aber versprochen, vorläufig weiter zu machen.“ „Wie kommt sie denn dazu? Wissen sie das?“ wollte ich erfahren. „Nein, letztendlich weiß ich es wahrscheinlich nicht. Was Susanna erzählt ist hirnverbrannt. Schwachsinn, den sie selbst nicht glauben kann. Mit immer neuen Vokabeln drückt sie den gleichen Unfug aus. Es muss etwas sein, das rational nicht erklärbar ist oder das sie nicht nennen will. Sie sei ein Arbeiterkind, und da gehe man nach dem Abitur zur Bank oder in die Verwaltung, aber nicht zur Uni. So etwas Ähnliches erzählt mir eine angehende Soziologin im fünften Semester. Können sie das verstehen? Susanna ist keineswegs simpel strukturiert und weiß mit Sicherheit, was ich und sie selbst von ihrem dummen Gerede halten.“ verriet Frau Enkler. Dass Studentinnen und Studenten ihr Studium abbrechen, hörte man ja ständig und war nichts Ungewöhnliches, aber dass Susanna, die Bedienung, ihr Studium abbrechen wollte, empfand ich als äußerst schade, entsetzlich, ungeheuerlich. Warum plante sie so etwas, warum wollte sie nicht weiter studieren und ihr Studium zu Ende bringen? Ich unterhielt mich noch mit Frau Enkler über die Studienbedingungen und mutmaßte mit ihr, woran es wirklich liegen könne. Als sie den Fisch brachte, musste ich die Bedienung wohl sonderbar angeglotzt haben. Sie erkundigte sich, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei, und ob ich irgendwelche Wünsche hätte. „Ja, ja!“ hätte ich schreien müssen, „Hör nicht auf zu studieren! Mach nicht so einen Unsinn!“. Solche Gedanken hatte ich. Warum? Darüber machte ich mir im Moment keine Gedanken.


Die erotische Frau

Männliche Gene habe sie bestimmt, vermutete Frau Enkler. Sie esse gerne Fleisch. Nach einer riesigen amerikanischen Studie würden Männer Fleisch be­vorzugen, während Frauen lieber Gemüse äßen. Bestimmt stecke das aus der Jäger- und Sammler-Zeit noch in den Genen, aber sie bestelle das Steak ja im­mer bien cuit, da sei es auch schon fast Gemüse. Ich musste noch etwas über verschiedene Fische und warum ich welche bevorzugte erzählen. Terra inkogni­ta war das für Frau Enkler. Die ganze Zeit unterhielten wir uns so, als ob es uns wichtig sei, gemeinsam lachen zu können. Diese erotische Frau Enkler, wie gern würde ich sie näher kennenlernen, verstärkt wurde das Bedürfnis viel­leicht noch zusätzlich dadurch, dass ich keine Freundin hatte. Frau Enkler musste zur Uni. Ich sollte doch etwas vereinbart, um mich mit ihr wiederzu­treffen, aber dazu fiel mir im Moment nichts Gescheites als Begründung ein. Susanna fragte mich noch wegen der Bodenseefelchen. Ich musste sie wohl unentwegt dabei anstarren. Ob ich ihr durch meinen Blick medial vermitteln wollte, dass sie nicht aufhören dürfe? Ich konnte sie ja auch nicht darauf ansprechen, und unverbindlich fragen: „Wie läuft's denn im Studium?“, etwas Blöderes gab es ja nicht. „Ist etwas nicht in Ordnung? Sie schauen so sonderbar.“ erkundigte sie sich. „Nein, nein, alles ist in Ordnung. Ich bewundere sie nur, wie sie alles behalten können bei den vielen Gästen hier.“ gelogen war das ja nicht, nur daran hatte ich im Moment nicht gedacht. „Nein, das ist nicht ungewöhnlich. Ich behalte nicht alles. Dazu reichte mein Kopf ja nicht aus. Sie nehmen nur alles mit unterschiedlicher Gewichtung wahr. Das eine prägt sich ihnen ein, und das andere vergessen sie wieder.“ erklärte es Susanna. „Mich haben sie aber nicht vergessen. Wo lag bei mir das Gewicht?“ fragte ich. Susanna lachte. „Das weiß ich doch nicht. Ich denke schon, dass sie ein netter Mensch sind. Vielleicht vergisst man so etwas nicht so schnell.“ versuchte Susanna es zu deuten.


Den ganzen Nachmittag musste ich immer wieder daran denken, dass Susanna ihr Studium abbrechen wolle, dass sie das doch nicht dürfe und dass man es verhindern müsse. Erst abends wurde mir klar, was da mit mir geschah. Die Studentin Susanna war für mich eine völlig fremde Person, aber ich empfand Qualen, als wenn es meine Tochter oder mein bester Freund wären, die so et­was vorhätten. Mein Leben hatte sich in den zwei Stunden heute Mittag verän­dert. Das Restaurant Sonnenberg hatte seine Anonymität verloren. Ich hatte zu zwei Menschen, der häufiger hier verkehrenden Professorin Enkler und der Bedienung Susanna eine Beziehung bekommen. Auch wenn es kein tiefgreifen­des Verhältnis war, aber oberflächlich wäre ein falsches Wort gewesen. Über Susanna hatte ich für ihr Leben Bedeutsames erfahren und Frau Enkler? Von der würde ich gleich träumen, ihre natürlichen Lippen küssen. Meine Freundin hatte ich sicher öfter ungeschminkt als geschminkt geküsst, aber ich hatte es gar nicht wahrgenommen. Bei Frau Enkler erschienen mir ihre Lippen roh, un­berührt, als Metapher für die Schönheit des nackten Körpers einer Frau. Ob ich in der Nacht irgendwann von Frau Enklers Lippen geträumt habe, weiß ich nicht, aber müsste doch, oder? Beim Einschlafen musste ich jedenfalls immer noch an Susanna denken, versuchte mir vorzustellen, wie ihr Leben nach dem Studienabbruch aussehen würde, und was ich tun könnte, um sie davon abzu­bringen. Frau Enkler und Susanna hatten mich emotional stark bewegt, stärker als vieles andere.Wahrscheinlich, weil es sich um etwas Soziales handelte. An einem Waschtag kam so etwas eigentlich überhaupt nicht vor.


Grillféte

Heute herrschte keine Waschtagsstimmung, auch wenn ich ähnlich wie an an­deren Tagen zu arbeiten hatte, nur abends war Grillféte bei Mausis Eltern im Garten. Ob du daran denkst, weißt du oft gar nicht, aber deine Gefühlslage ist schon gleich beim Aufwachen am Morgen eine andere. Dein Körper wird deine Freude darauf internalisiert haben und steigert schon gleich mit dem Öffnen der Augen die Produktion der Glückshormone. Mausi war einer meiner liebsten, wenn nicht mein liebster Freund. Gina, seine Schwester mochte ich auch gut leiden. Sie war eine hübsche junge Frau, aber Ambitionen, sie zu lieben und mit ihr ins Bett zu wollen, kämen mir lächerlich vor. Mausi und ich kannten uns seit den ersten Schultagen und Gina ebenso. Viele Nachmittage und sogar Ferien hatten wir miteinander verbracht, gehörten im Grunde gegenseitig zur Familie des anderen. Vielleicht sah ich Gina ja wie meine Schwester, und Begehrlichkeiten konnten sich wegen des Inzesttabus gar nicht entwickeln. Seiner Schwester hatte Mausi, der eigentlich Georg hieß, den alle aber nur Mausi nannten, seinen Namen zu verdanken. Seine Mutter hatte als Baby wohl mal Mäuschen oder Mausi zu ihm gesagt. Sein drei Jahre altes Schwesterchen fand das so süß, dass sie den kleinen Georg nur noch so nannte. Allen späteren Versuchen seiner Mutter, sie davon abzubringen, war kein Erfolg beschieden. Damit hat Gina sich auch überall anderswo durchgesetzt. Wer sollte es besser wissen, wer dieser Junge wirklich war, als seine Schwester. An das liebkosend, süßliche des Namens dachte man gar nicht mehr, für alle war er Mausi. Nur seine Freundin nannte ihn niemals so. Die Féten bei Mausis Eltern entsprachen einem bunten Wiedersehen mit guten Freunden und Bekannten. Sie dauerten meistens bis spät in die Nacht, nicht zuletzt, weil es unendlich viele Gesprächsanlässe gab. Mein Sprachzentrum schien heute Abend Vorgaben erhalten zu haben, worüber ich zu reden hätte. Spätestens nach zwei Sätzen war ich immer bei den Soziologen und dem Soziologiestudium angekommen. Gina war es als ungewöhnlich aufgefallen. Sie wollte den Grund dafür erfahren. „Hast dich verliebt in diese Kellnerin, nicht wahr?“ vermutete sie. Als ich es empört zurückwies, wollte Gina alles genau wissen, und versuchte mir zu beweisen, dass und warum ich mich verliebt hätte. Sie musste es ja wissen, sie war schließlich Psychologin. „Gina, dass ist absoluter Quatsch. Ich kenne diese Frau überhaupt nicht. In ihre Professorin, in die habe ich mich verliebt. Sie hat mich verhext.“ erklärte ich lustig. Ich erzählte Gina amüsiert von ihr, und wir juxten weiter über Liebe, Liebesrausch und gegenseitiges Verzaubern. Gina hatte ich schon immer sehr gemocht, hätte mir auch so eine Schwester gewünscht. Ihr Verhältnis zu Mausi bildete bestimmt die Grundlage für die Beziehung zwischen seiner Freundin und ihm. Als ideal sah ich ihre Beziehung. So konnte ich das nicht, hatte sicher ein zu schwaches Ego.


Revanchieren

Wer war ich denn, dass ich mit Susanna, die ich nur als Bedienung kannte, über ihr Studium reden könnte? Ich durfte es ja nicht einmal wissen, dass sie es abbrechen wollte. Was ging mich das überhaupt an. Vorher hatte ich nie­mals vermutet, dass sie eine Studentin sein könnte. Kluge Augen hatte sie schon, sie war jung und ihr Auftreten passte auch nicht zu dem Bild einer bie­dern Bedienungsfrau, aber Gedanken hatte ich mir sonst noch nie darüber ge­macht. Durch das, was Frau Enkler erzählt hatte, war ein ganz neues Bild von Susanna entstanden. Ich würde bei der Arbeit immer ein griesgrämiges Gesicht machen, fühlte mich gequält, wenn ich neben dem Studium noch Geld verdie­nen müsste, Susanna aber war freundlich und lachte. Wundervoll, nur ich konnte es nicht verstehen. Ob ich mal gemeinsam mit Frau Enkler ein Ge­spräch mit Susanna führen sollte? Aber nein, was hatte ich damit zu tun und Frau Enkler hatte sie schon bearbeitet. Ich wusste ja nicht, ob Frau Enkler immer Freitagsmittags zum Essen ging, aber wiedersehen würde ich meine Femme fatale schon gern. Nur Freitags war das Restaurant immer besonders voll und die Möglichkeit, einige Worte mehr mit Susanna zu reden, äußerst gering. Aber Dienstag am frühen Abend wäre es bestimmt ruhiger, nur ich wusste ja gar nicht, ob Susanna dann auch da wäre. War sie natürlich nicht. Ich erkundigte mich nach ihrer Arbeitszeit. Sie habe heute eigentlich frei, käme aber gleich. Ob man ihr etwas ausrichten solle, ich könne aber auch warten. „Na, das ist ja ein Zufall“ sagte sie, als sie zu mir an den Tisch kam. „So ist das eben bei Fischsüchtigkeit, da hält man's nicht lange ohne aus.“ erklärte ich scherzend. „Ich kenne ihren Nachnamen nicht einmal. Ich weiß nur, dass sie Susanna heißen.“ bemerkte ich. „Müssen sie den kennen? Ich kenne ihren ja auch nicht. Ich habe nur mitbekommen, dass sie auch Student sind, und da kennt man ja meistens den Nachnamen nicht, weil sich alle immer nur mit Vornamen anreden.“ wir schmunzelten uns an. „Dann sagt man auch nicht Susanna, sie, sondern du, nicht wahr? Und ich wäre dann der Grischa, du für dich.“ wir lächelten und schienen uns wie zwei Sonnenkinder zu freuen. „Müsste man darauf nicht einen Schluck Wein trinken? Heute Abend habe ich mehr Luft. Ich komm gleich mal vorbei und bring was mit.“ erklärte Susanna. Sie hatte eine Flasche Wein und zwei Gläser mitgebracht. „Was studierst du? Nicht bei Frau Enkler, nicht war?“ erkundigte sie sich. „Nein, in die habe ich mich nur verliebt.“ stellte ich nüchtern fest. Susanna platzte los. „Na ja, sehr nett ist sie schon, aber du bist ja ein Mann, du fährst bestimmt mehr darauf ab, das sie einen Vamp Eindruck vermittelt, oder?“ erklärte Susanna unter Lachen. „Du scheinst ja nicht nur zu wissen, welchen Fisch ich gerne esse, sondern auch welche Frauen ich gern mag, aber solange Frau Enkler immer ihr Steak haben will, kann das mit uns nichts werden, glaube ich.“ lautete meine Ansicht. „Du suchst dir also Frauen nach Geschmacksrichtung aus. Dann müsste deine Freundin doch auch gerne Fisch essen. Du bringst sie aber nie mit, kommst immer alleine.“ bemerkte Susanna. „Ich habe zur Zeit gar keine Freundin. Wir haben uns getrennt, aber nicht wegen Fisch.“ klärte ich Susanna auf, „Deshalb bin ich ja auch so scharf auf Frau Enkler.“ „Oh je, da weiß man nie. Verheiratet ist sie zwar nicht, aber wirkt die nicht, als ob sie jeden Abend einen anderen verbrauchen könnte?“ erklärte Susanna und lachte. „Vielleicht, bezeichnet man das dann als erotisch?“ wollte ich wissen. „Schon möglich, wirke ich denn auch erotisch auf dich?“ erkundigte sich Susanna lachend. „Erotisch, ich weiß gar nicht was das genau ist, aber mit dir würde ich mich sowieso nicht einlassen, einer Studienabbrecherin, was soll das denn für eine Perspektive haben?“ erklärte ich. Warum ich das jetzt gesagt hatte, wusste ich selbst nicht, vielleicht weil es im Zusammenhang mit Susanna immer in meinem Kopf war, aber im Moment hätte ich die Worte am liebsten sofort wieder zurückgeholt. Augenblicklich machte Susanna ein Gesicht, als ob es das Sonnige, Lachende, Alberne dort nie gegeben hätte. Sie sagte nichts, starrte mich nur mit großen Augen an und ihr Mund zeigte eine ernste und strenge Mimik. Ich musste mich dazu erklären. Frau Enkler habe mir unter dem Sigel der Verschwiegenheit davon berichtet. Jetzt darüber zu reden und ihr zu sagen, sie solle es nicht tun, wäre absolut ineffektiv gewesen, soviel wusste ich von den Beziehungen der Menschen untereinander doch. „Grischa, das ist eine komplizierte Sache, das kann ich jetzt gar nicht erzählen.“ sagte Susanna. „Aber erfahren würde ich es schon gern.“ bemerkte ich. „Wozu, Grischa, was ich auch sagen werde, du wirst es dir anhören und mir hinterher dringend raten, dass ich es auf keinen Fall machen dürfte. Das kenne ich alles, Grischa, zur Genüge. Ich brauche keine immer neuen Wiederholungen. Du machst mir keine Freude damit.“ wehrte Susanna ab. „Womit könnte ich dir denn eine Freude machen?“ wollte ich wissen. Susanna platzte los. „Warum willst du mir denn eine Freude machen? Was treibt dich dazu?“ fragte sie. „Und du? Warum machst du mir jedes mal eine Freude, wenn ich hier bin? Ich wollte mich nur ein wenig revanchieren.“ erklärte ich. Es stimmte Susanna nachdenklich, wobei um ihre Augen und ihren Mund eine leicht goldige Mimik spielte. „Wir könnten ja gemeinsam ins Kino gehen, aber abends klappt das ja so gut wie nie.“ Susanna dazu. „Und wenn ich dich mal zu Kaffee und Kuchen ins Parkcafé einladen würde, und wir vielleicht auch noch ein wenig spazieren gingen, würdest du das als angenehm empfinden?“ fragte ich. Susanna musterte mich. Was sie wohl erkennen wollte, aber sie war einverstanden, und wir machten einen Termin aus.


Einsamkeit

„Du bist ein Kuchenfan?“ vermutete Susanna im Café. „Überhaupt nicht. Ich mag Kuchen gar nicht.“ reagierte ich. „Ah ja?“ wunderte sich Susanna er­staunt, „und warum isst du ihn dann?“ „Dir zur Liebe.“ versuchte ich ernst zu behaupten, was aber nicht verhinderte, dass Susanna losprustete. „Nein, ich mag gern Obst und besonders gern Sahne, und dieser Pflaumenkuchen besteht im Wesentlichen aus Obst mit Sahne. Die ganzen Torten und tortenähnlichen Gebilde sind mir zuwider. Es kommt mir alles wie Variationen von Butterkrem­torten oder Backwaren, die primär aus Zucker bestehen vor.“ erläuterte ich. „Deshalb ist du so gerne Fisch, weil er so wenig Zucker enthält.“ schlussfolger­te Susanna verwegen. Wir lachten, und ich bewunderte sie, weil sie die Lösung von für mich unlösbaren Rätseln, einfach so daher sagen könne. Susanna wusste vieles Lustige aus dem Restaurant zu erzählen. Ich meinte, dass ich das gar nicht könne wie sie. Meine Arbeit für's Studium sei sehr belastend. Wenn ich da nicht auch noch freie Zeit für mich hätte, sondern arbeiten müss­te, würde ich es wahrscheinlich nur mürrisch machen können. Sie sei aber im­mer gut gelaunt, ich könne das nicht nachvollziehen und bewundere sie. Su­sanna schaute in die Ferne über die Rasenfläche hinter der Caféterrasse. Sie dachte nach, ich betrachtete sie schweigend. „Weißt du, Grischa,“ begann sie dann, „für mich stellt sich das wahrscheinlich ganz anders da, mein ganzes Le­ben und vor allem das Studium. Ich kann das nicht. Zuhören, mitschreiben, le­sen, behalten, alles nur für einen Schein oder eine Klausur. Es bewirkt nichts, nichts verändert sich dadurch. Wenn du deinen Schein hast, ist es unbedeu­tend. So ist jeder Tag, du sitzt in der Menge, in der Vorlesung oder im Seminar, aber du bist allein. Was da geschieht hat mit dir nichts zu tun, und du hast mit niemandem etwas zu tun. Das ist mein Leben an der Uni, ein totes Leben. Manche haben Freunde oder einen Freundeskreis, da spielt sich dann ihr wirkli­ches Leben ab, und bei mir ist es eben das Restaurant.“ Susannas Gesicht blieb ernst. Ich weiß nicht, was ich in ihm suchte. Niemand sagte etwas. Jetzt war ich es, dessen Augen in der Weite der Parkwiese Antworten suchten. Ich wollte sie begreifen können, verstehen, nachempfinden, was sie gesagt hatte, verglich es damit, welche Eindrücke mein Studium auf mich machte. Natürlich gab es da auch manches, bei dem du stumpfsinnig pauken musstest, bei dem es nur darauf ankam Leistung abzuliefern, wo du dir wie ein Computer vorkamst, der möglichst viel genau zu speichern hatte, aber das war es nicht, was alles dominierte, den Gesamteindruck des Studiums für mich ausmachte. Ich empfand mich keineswegs isoliert und einsam an der Uni. Überwiegend war ich interessiert und involviert. Einen wesentlichen und bedeutsamen Teil meines Lebens bildete es und nicht nur die freie Zeit, die ich mit Freunden und Bekannten verbrachte. Ich, dazu gehörte auch das Studium. Die freundliche, lebenslustig wirkende Susanna, war einsam. Nicht nur in den Vorlesungen und Seminaren. Das Restaurant vermittelte den Schein, als ob es nicht so wäre. Sie verwechselte die Anerkennung, die sie dort erhielt, mit einer Anerkennung, die ihr als Person gelte. Das tun sie alle, haben es von klein auf so gelernt. Der bejubelte Sänger empfindet sich durch den Zuspruch, den er erhält, geliebt, dabei ist es nur wie das Lob für eine gute Mathearbeit, Anerkennung für Leistung die du erbringst. Das lernst du früh und sollst es immer so empfinden, dann bist du überall gut verwertbar. Susanna hatte keine Freunde im Restaurant, sie erhielt Anerkennung für ihre guten Leistungen. Wenn sie Abends die Türen hinter sich schloss, war sie nichts mehr, nur noch in ihrer Illusion. Das Restaurant war nicht Susannas Leben, es war die Droge in der Bewältigungsstrategie ihrer Einsamkeit. „Warum sagst du das so nicht Frau Enkler?“ fragte ich Susanna schließlich. „Was soll ich denn sagen? „Ich habe keine Lust mehr, mir stinkt das alles.“, das heißt es doch im Kern. Was ich ihr gesagt habe, ist ja auch nicht ganz falsch.“ erklärte Susanna. Meine fragenden Augen machten wohl deutlich, dass ich dazu Erläuterungen wünschte. Susanna lachte wieder. „Na ja, meine Sicht kann das natürlich nicht sein, aber ich bin so aufgewachsen. Toll war das nie, dass ich Latein lernte und hinterher studieren wollte. Das passe nicht zu uns, war schon die Grundstimmung, vor allem meines Vaters und meines Bruders. Deshalb habe ich ja auch Soziologie studiert, aber die revolutionäre Führerin der Arbeiterklasse wird aus mir nicht werden können.“ sagte sie und lachte wieder. Wie gern hätte ich Susanna in die Arme geschlossen und sie gedrückt. Mitleid musste meine Mimik wohl vermitteln, denn Susanna erklärte: „Das ist nicht schlimm, es tut nicht weh, du empfindest es als ganz normal. So ist das Leben, anders kennst du es nicht. Mein Großvater ist direkt nach dem Krieg aufgewachsen. Das alles in Schutt und Trümmern lag, sei ganz normal gewesen. „Wie schade, das alles kaputt ist.“, habe er nie gedacht. So habe er die Welt kennengelernt, so sei sie gewesen, als er kam. Er hatte ja nichts verloren, man hatte ihm ja nichts kaputt gemacht. Später hat mich diese defätistische Eistellung, dieses Leben ohne Blick auf eine strahlende Hoffnung schon manchmal genervt.“ „Und du hast es für dich geändert, dein Blick sieht die strahlende Hoffnung?“ fragte ich nach. Susanna träumte. „Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, ich weiß es selbst nicht genau. Einerseits kann ich mir eine andere, schönere Welt schon vorstellen und wünschen, aber andererseits denke ich auch, dass ich gar nicht in der Lage bin, es zu leben.“ meinte Susanna, „Weißt du, Grischa, im Restaurant erlebe ich es schon ein bisschen so. Die Menschen sind freundlich zu mir, mögen mich, ich bin anerkannt, aber das Restaurant ist ja nicht mein Leben.“ „Wieso nicht, du steigerst dich, wirst Oberkellnerin und machst später mal ein eigenes Restaurant auf.“ schlug ich vor. Ernst war das natürlich nicht, aber Susanna lachte schallend. „Was ist dann dein Leben?“ wollte ich wissen. „Wenn ich das wüsste, ein Niemand bin ich. Aber du hast schon Recht, das Restaurant ist nicht unwesentlich für mich.“ antwortete Susanna. Die einsame Frau, die lachen und lustig sein kann, sich aber in ihrer Einsamkeit als Niemand sieht. „Hast du denn keine Freundinnen oder einen Freund?“ erkundigte ich mich. „Freundinnen, das war und ist immer noch sehr sonderbar. Ich versteh mich immer ganz gut mit allen, aber die Welle, auf der man gemeinsam segeln könnte, zeigt sich nicht, es wird nie tiefer oder intensiver. Eine absonderliche Ausstrahlung werde ich vermitteln. Frau Enkler mag ich sehr gern. So ähnliche Frauen würde ich mir als Freundinnen wünschen.“ erklärte Susanna. „Und Männer.“ erinnerte ich. Susanna erklärte lachend: „Da ist es nicht besser, aber da geht es von mir aus. Es ist nicht so, dass mich niemand will. Ich bin eine sehr begehrte Frau, musst du wissen.“ sagte es und lachte laut, „Nein, ich habe Probleme. Wenn ich merke, dass ein Mann etwas von mir will, mag ich das nicht mehr. Und das ist wohl generell so. Vielleicht suche ich nur einen lieben, netten Bruder als Ersatz für meinen realen. Der ist schon als Chauvi geboren, glaube ich, konnte es nie ertragen, dass ein Mädchen mehr weiß und kann als er. Daraus resultierte lebenslang und ständig sein Verhalten mir gegenüber. Könntest du es denn ertragen, wenn ich mehr wüsste und könnte als du?“ schloss Susanna fragend. „Bei meiner Frau muss das so sein, sonst kann ich sie nicht respektieren.“ juxte ich weiter, „Was meinst du, weshalb mir sonst die Frau Enkler so gut gefällt?“ „Gefalle ich dir denn auch? Aber ich bin so ungebildet, komme so gut wie nie ins Theater, in ein Konzert oder eine Oper.“ wollte Susanna von mir wissen. Wir alberten noch weiter. Als wir gehen mussten, fiel mir ein, dass ich Susanna noch nach Frau Enkler fragen wollte. Nein, regelmäßig kam sie nicht, aber sie reservierte immer schon am Tag vorher. Susanna machte ein gequältes, bedenkliches Gesicht. „Grischa, wenn du mir versprichst, dass niemals irgendjemand etwas davon erfährt, auch nicht unter dem Sigel der Verschwiegenheit, könnte ich dich ja anrufen.“, erklärte Susanna. Ich versprach es natürlich, aber warum tat sie das. Es könnte sie doch ihre Stelle kosten. Aber wenn das Restaurant sowieso nicht Susannas Leben war, nur ein anderes hatte sie auch nicht.


Urmund

Frau Enkler wollte wieder am Freitagmittag kommen, wusste ich von Susanna. „Oh, da sind sie ja wieder. Das ist aber nett.“ wunderte sie sich, als ich zu ihr an den Tisch kam. „Nehmen sie doch Platz.“ forderte sie mich auf. „Ich wollte ihnen sagen, dass es mich auch sehr freut, sie wiederzusehen, Frau Professor.“ bemerkte ich, „Haben sie denn heute Fisch bestellt? Es gibt auch Steaks von Fischen. Das wäre doch ein Kompromiss.“ erklärte ich scherzend. „Ich habe noch gar nichts bestellt, nur der Sommelier war schon da. So ein Zirkus, wo ich doch immer den gleichen Wein bestelle, aber die Etikette scheint es nicht anders zu erlauben.“ erklärte Frau Enkler. „Ich habe schon mal eine Flasche Wein von Susanna serviert bekommen, ohne zu wissen welchen.“ bemerkte ich. Das musste ich näher erläutern. „Ja, Susanna ist eine wundervolle Frau, nicht wahr.“ sinnierte Frau Enkler. „Sie selbst sind es nicht weniger.“ reagierte ich an Frau Enkler gerichtet. Die lachte auf. „Oh, das ist aber lieb. Herzlichen Dank für ihr Kompliment.“ sagte sie immer noch lachend, „Was ist es denn, das sie an mir so wundervoll finden. Verraten sie es mir.“ „Genau weiß man das doch nie, aber ihre gesamte Ausstrahlung fasziniert mich schon. Nur eins müs­sen sie mir noch verraten. Fast alle Frauen haben ihre Lippen geschminkt oder wenigsten Gloss aufgetragen. Sie tun das offensichtlich nicht. Bestimmt gibt es einen Grund dafür, würden sie mir den nennen?“ fragte ich. Frau Enkler blickte erstaunt, aber die Mimik um ihren Mund lachte. „Wissen sie, das schmiert im­mer so beim Küssen.“ erklärte sie fast vertraulich und lachte. „Nein der Mund ist eine Metapher für Urgeschichtliches, Bedeutsames, Heiliges im Leben. Das erste Organ, das sich zusammenhängende Zellen zu einer für alle Zellen be­deutsamen Aufgabe bildeten, war ein Mund, der Urmund. Das ach so hochge­schätzte Herz und anderes kamen erst sehr viel später. Es sind viele Funktio­nen für den Mund hinzu gekommen, aber wir nehmen immer noch durch ihn unser zentral Lebenswichtiges, unsere Nahrung auf. So etwas Sakrosanktes beschmiert man nicht einfach mit bunten Farben.“ erläuterte sie es mir. Der natürliche, heilige Urmund, das erste gemeinsame Organ, eine hinreißende Vorstellung. Ob mir demnächst alle Frauen, die ihre Lippen mit Farbe oder Gloss verschmiert hatten als ehrverletzend und sündig erscheinen würden? Aber Frau Enklers natürliche Lippen gefielen mir schon, man musste es eben nur erkennen können. „Ihre Freundin wird sich doch auch die Lippen schmin­ken, oder?“ wollte Frau Enkler wissen.


Grischa kann nicht lieben

„Ich habe doch gar keine Freundin.“ antwortete ich nur fast pikiert. „Suchen sie denn eine, oder wollen sie grundsätzlich nicht?“ fragte Frau Enkler nach. „Schon, aber ich habe Probleme mit Frauen.“ reagierte ich. Frau Enkler mus­terte mich und grinste. „Das kann ich mir bei ihnen gar nicht vorstellen. Wür­den sie mir einen Satz mehr verraten?“ bat sie. „Natürlich. Eine Frau kennen zu lernen, ist für mich kein Problem. Ich finde Frauen toll und bewundere sie, die meisten jedenfalls. Eine Frau näher kennenzulernen, sich mit ihr zu unter­halten ist immer wieder ein faszinierendes Erlebnis. Sie haben so vieles, was dir fehlt, aber wundervoll an ihnen ist.“ erklärte ich. Frau Enkler blickte mich tief an und ihren Mund umspiele ein mokantes Grinsen. „Sie sind ein Macho, wie sie von den Frauen reden und wozu sie ihre Frauen benutzen. Die Frauen gibt es nicht. Jede ist ein eigenständiges Individuum, das für sich selbst lebt und nicht zu ihrer Erbauung.“ konstatierte sie. „Wenn sie das so sehen wollen, nur für mich stellt sich das absolut anders dar. Bei Männern gibt es eine Mo­mentaufnahme, dann ist alles geklärt, und sie interessieren mich nicht weiter. Das ist schade, ich möchte es gar nicht, aber da funktioniert das erlernte Ver­halten automatisch. Bei Frauen, und bei den Frauen handelt es sich um Fiona und Leonie, mit denen ich länger befreundet war, läuft das nicht so. Ihr Bild bleibt offen, ich möchte immer mehr von ihnen erfahren, andere Seiten sehen, sie verstehen können. Wenn man sich unterhält kommt man sich näher und es scheint mir, als ob ich den wirklichen Menschen in ihnen sehen könnte. Das wirkt sich auf die Gemeinsamkeit im Gespräch aus. Fiona hat damals gesagt, es sei, als ob sich unsere Seelen berührten. Es entsteht große Nähe und dazu braucht es gar nicht lange Zeit. Dass die Körper auch diese Nähe spüren wollen, ist nur verständlich. Sowohl Fiona als auch Leonie habe ich nachmittags kennengelernt, abends lagen wir gemeinsam im Bett und sind nicht mehr auseinander gegangen.“ erzählte ich. „Und woran ist es dann doch gescheitert?“ erkundigte sich Frau Enkler. „Das war keine Liebe, glaube ich. Wir hatten Interesse aneinander, und das bleibt nicht auf Dauer. Du findest deine Freundin immer noch ganz nett, freust dich, wenn sie nach Hause kommt, aber tagsüber kommt sie in deinen Gedanken nicht mehr vor. Sehnsucht und Verlangen, so etwas gibt es nicht mehr, nur noch nette Gesellschaft. Was ist da noch zwischen euch? Im Grunde nichts.“ erläuterte ich. „Das mit dem Bild von den Männern, da haben sie nichts gelernt, das ist ihnen angeboren. Kleinste Babys machen das schon. Sie reagieren auf den Anblick eines neuen Gesichtes mit Lachen oder mit Weinen und auch ihre Freundinnen werden sie mit Sicherheit sofort taxiert haben, sie schienen ihnen als potentielle Geschlechtspartnerinnen interessant, und sie haben sich mit ihnen befasst. Da haben Männer bei ihnen keine Chance, sie sind allenfalls Rivalen oder bedeutungslos.“ interpretierte es Frau Enkler. „Das mit den Rivalen …, doch ich habe es schon erlebt. Leonies Freund wollte sie wiederhaben, aber ich habe nicht gekämpft, das hat Leonie getan. Wir scheinen uns zu Beginn so tief zu verstehen, Achtung vor einander bleibt auch immer erhalten, ich kann es nur nicht begreifen, dass unser Interesse aneinander verblasst. Ich glaube, ich kann eine Frau gar nicht richtig lieben.“ meinte ich. Frau Enkler schmunzelte. „Da müssen sie ihren Therapeuten fragen.“ würde man sagen.“ meinte Frau Enkler, „aber was Liebe sein kann, was sie darunter verstehen, und wie sie sie gestalten, ist ja kein unabänderlich feststehendes psychisches Kontinuum. Sie ist nicht zuletzt abhängig von der Gesellschaft, in der sie sie erleben und suchen. Ich denke schon, das es Liebe war, was sie in ihren Beziehungen erlebt haben. Was soll Liebe mehr sein, als die Lust und das Verlangen, sich gegenseitig auszutauschen. Warum es bei ihnen allerdings so schnell verblasste, da werden sie doch wohl ihren Therapeuten fragen müssen, wenn sie nicht wünschen, dass es ihnen bis an ihr Lebensende ein Rätsel bleiben möge.“ erklärte Frau Enkler und lachte. „So ein dummer Spruch, nicht wahr? Meistens wissen die Leute es schlicht nicht, aber wenn es ein Rätsel bleibt, dann haben sie sich schon bemüht.“ meinte ich. „Ja, sie waren ein braver Junge, das hört sich gut an.“ Frau Enkler dazu. „Das hilft mir aber nicht. Es geht mir nicht darum, ein braver Junge zu sein, ich möchte gern in einer glücklichen Beziehung leben, wie die anderen auch. Aber da sehe ich keine Chance für mich. Es wird jedes mal wieder so ablaufen. Eineinhalb bis maximal zwei Jahre, dann ist es vorbei.“ erklärte ich. „Die anderen leben in einer glücklichen Beziehung? Was ist das denn für eine Chimäre? Alle möchten es gern, aber bei der Mehrzahl klappt es nicht. Sie können das doch nicht generalisieren, dass es sich bei ihnen so entwickeln muss, weil sie es zweimal so erlebt haben. Vielleicht sollten sie ein wenig zurückhaltender und skeptischer sein, wenn sie wieder bei einer Frau, die sie am Nachmittag kennenlernen, am Abend die Große Liebe entdecken.“ riet mir Frau Enkler.


Rose und Grischa

Ich traute mir trotzdem nicht. Eine neue Beziehung würde ich so schnell nicht riskieren. So mit Frau Enkler, sich einmal in der Woche treffen, das gefiel mir. „Sie kommen ja auch immer allein zum Essen. Mag ihr Freund keine Steaks?“ wollte ich scherzten. „Sie Schelm, sagen sie mir doch mal, bitte, wie sie hei­ßen. Ich habe nur gehört, dass Susanna sie Grischa nennt.“ reagierte Frau Enkler. „Wenn sie möchten, können sie mich auch so nennen. Mir würde es ge­fallen, mein Nachname ist Wolff.“ antwortete ich. Frau Enkler schien kurz zu überlegen. „O. k.,“ sagte sie dann, „Rose heiße ich mit Vornamen.“ „Nach Rose Ausländer oder nach der Blume?“ fragte ich. „Das weiß ich nicht. Meine Mutter hat mich nur immer Röschen genannt, und das habe ich entsetzlich gehasst.“ Frau Enkler dazu. Als Susanna abräumte, fuhr sie mir mit ihrem Handrücken über die Wange. Ein wonniges Lächeln formte ihre Mimik. „Schön, dass du da bist.“, sagte sie nur und ging. Frau Enkler schaute amüsiert. „Mögen sie sich?“ fragte sie. Puh, was sollte ich denn jetzt sagen? „Nein, wir mögen uns nicht?“ Ich blies die Luft durch die fast geschlossenen Lippen. „Ich finde Susanna sehr nett und sie mich wohl auch, aber sonst ist da nichts.“ erklärte ich es. So, wie ich es gesagt hatte, schien Frau Enkler es nicht zu glauben. Das sagte ihre Mi­mik, aber Worte verlor sie dazu nicht. „Von ihrem Freund wollten sie mir noch erzählen.“ erinnerte ich, nicht zuletzt um die Beschäftigung mit Susanna zu vermeiden. „Grischa, das musst du verstehen. Über meine Beziehungen möch­te ich nicht reden. Das ist mir zu privat. Ich lebe allein und fühl mich wohl da­bei. Reicht das?“ erklärte Frau Enkler mit leichtem Lächeln. „Das muss ich noch lernen.“ meinte ich, „Ich fühle mich nicht unwohl, erleide nicht permanent Qualen, aber als schön kann ich es noch nicht empfinden, allein zu sein.“ „Ich bin ja fast nie allein. In der Uni gibt es kein Alleinsein. Hier, beim Essen habe ich meine Ruhe gesucht, obwohl hier auch alles voller Menschen und Hektik ist, aber ich bin nicht darin involviert wie Susanna zum Beispiel. Jetzt empfinde ich es aber als sehr angenehm, wenn wir uns beim Essen unterhalten können. Sol­len wir das nicht öfter tun? Hättest du auch Lust dazu? Ich könnte dich anru­fen, wenn ich essen gehe und wenn du kannst kommst du auch. Sollen wir das so machen oder möchtest du lieber nicht?“ schlug Frau Enkler vor. „Ja, ich wür­de mich auch darauf freuen, das gefiel mir sehr gut.“ meinte ich dazu. Wie gut, jetzt brauchte Susanna mich nicht mehr zu informieren. Nur mein Geld. Hof­fentlich würde Frau Enkler nicht so oft essen gehen. Ich könnte ja sagen, dass ich keine Zeit hätte aber ich wollte ja selbst, nicht nur wegen Frau Enkler.


Verwirrte Oper

Warum ich mich darauf freute, Susanna zu sehen, wusste ich nicht. Es war ein­fach so. An einem Waschtag wirst du auch schon mit der entsprechenden Stim­mung wach, sie hält sich den Tag über und verändert sich nicht. Wenn aber schon morgens im Bett deine Freundin liebevoll und zärtlich zu dir war, konnte das den Level deiner Stimmung um mehrere Stufen anheben, und wenn ihr euch morgens schon geliebt hattet, war es kein Waschtag mehr, auch wenn du die gleiche Arbeit zu tun hattest, das veränderte alles. Fisch zu essen, bereite mir nach wie vor Freude, aber so gut wie mir der Fisch auch schmeckte, einen Zugang zu meiner Seele hatte er offensichtlich nicht. Susanna brauchte mir nur einen Blick zu schenken, schon schienen alle Türen geöffnet. Allein zu wissen, dass ich heute Susanna treffen würde, ließ meine Stimmung bereits am Morgen eine Wolke höher steigen. Ich konnte nur feststellen, dass es so war, was es zu bedeuten hatte, wusste ich nicht, und ich wollte es nicht wissen. Es konnte doch nicht sein, dass ich mich in Susanna verliebt hatte, wieso denn? Im Grunde hatte sie mich von Anfang an beschäftigt und unser Treffen im Parkcafé hatte es massiv verstärkt. Hatte ich vielleicht nur Mitleid mit ihr, der gute Mensch wollte ihr helfen? So war es auf keinen Fall. Dass sie ihr Studium abbrechen wollte, dass sie einsam war, das alles sah ich gar nicht, wenn ich mich auf Susanna freute. Was ich sah, das kann ich nicht richtig benennen, einen lebendigen, lachenden Menschen, der ein Teil von mir war, von meinen Wünschen, von meinen Visionen. Ich wollte mich keinesfalls in Susanna verlieben, dafür war sie viel zu schade. Wie eine Sonnenblume schien sie mir, die ihren großen Blütenteller extra zu mir drehte und den Wind mit ihren gelben Blättchen eine Melodie für mich intonieren ließ. Jetzt war sie einsam, eine Beziehung zu mir würde sie zerstören. Es gab doch so viele nette Männer und nicht nur geile Böcke, die sofort ihre Bedürfnisse anmeldeten. Na ja, so viele, das wusste ich eigentlich gar nicht, aber Mausi, Charly und Roger, meine Freunde, wären bestimmt anders. Was war denn eigentlich mit Roger, er hatte doch auch keine Freundin. Ob ich ihn mal zum Essen einladen sollte. Er wäre bestimmt ein besserer Freund für Susanna als ich. Als ich es aber in meinen Vorstellungen zu konkretisieren versuchte, gefiel es mir überhaupt nicht. Ich durfte sie nicht lieben, aber Susanna abgeben, an einen anderen Mann? Mein Herz würde es mir brechen. So sah ich es zumindest in meinen Vorstellungen. Alles Quatsch, törichte Gedanken. So sah die Oper aus: Auf der Bühne würde ich Frau Enkler lieben und Susanna bildete das Orchester und ließ es die bezauberndsten Melodien spielen. Ich war völlig verwirrt.


Die Lust am Leben

Mindestens einmal in der Woche so teuer essen, dafür konnte ich zwei Wochen in der Mensa dinieren. Darauf war mein Salär nicht zugeschnitten. Ein billigeres Apartment, nur von der Miete sah ich nichts. Meine Eltern überwiesen sie. Ein­sparen konnte ich nur sehr geringe Beträge. Es reichte einfach nicht aus. Wenn ich weiterhin so oft essen gehen wollte, brauchte ich mehr Geld. Bezahlen konnten meine Eltern es sicher, nur verstieß es gegen ihren Ehrencodex, wie man als Student zu leben hätte. Wenn ich sagen würde: „Ich brauche mehr Geld, damit ich öfter in teuren Restaurants essen gehen kann.“ hätte ich damit allenfalls Lachsalven ausgelöst. Dann habe ich doch von meiner neuen Freun­din, einer Professorin, erzählt. Zur Aufrechterhaltung und Pflege des zarten Pflänzchens unserer Liebe müsse ich öfter mit ihr essen gehen. Das könne ich aber nicht bezahlen. Mit sehr gemischten Gefühlen bekam ich schließlich Geld, weil man ja nicht für das Ende der Beziehung zu der Professorin verantwortlich sein wollte. Nur musste ich jetzt damit rechnen, dass sie sich ständig nach dem Verhältnis erkundigen würden. Ihr böser Sohn hatte sie total belogen. Sollten sie nicht so engstirnig und kleingeistig sein, dann hätte ich ihnen ja sagen können, dass ich süchtig nach Susanna war, die aber keinesfalls meine Geliebte werden durfte, und die ich nur im Restaurant treffen konnte. Warum eigentlich? Ich könnte sie doch auch an der Uni besuchen. Frau Enkler wusste natürlich auch nicht, was Susanna wann belegt hatte. „Fragen wir sie doch einfach mal.“ schlug sie vor, und Susanna sagte, was sie in diesem Semester mache. „Es ist im Grunde mein viertes Semester. Das vorige war so gut wie verloren. Du müsstest für die Klausur pauken, und dann rufen sie an, ob du nicht kommen kannst. Da brauchst du die Klausur gar nicht mitzuschreiben.“ erklärte Susanna. Niemand sagte etwas, was sollte man zu so unverständlichem Verhalten auch sagen. Verstehen konnte man es nur, wenn man von Susannas Sicht der Dinge wusste. Als ich nach einem Seminar vor der Tür stand, konnte Susanna es nicht fassen, viel mir um den Hals und drückte mich. „Was machst du?“ fragte sie fast zart und süß mit lachender Mimik und leicht vorgereckten Kopf. Ich sagte auch nichts, freute mich nur über ihr sonniges Gesicht. „Du hast so viel Schlimmes von der Uni erzählt, da muss ich das doch mal über prüfen.“ begründete ich mein Erscheinen. Die Sonne verschwand nicht mehr aus ihrem Gesicht. „Wenn du jeden Tag hier wärst, könnte ich bestimmt alles ertragen. Ich würde mich bei dir beklagen, und du könntest mich verstehen.“, meinte Susanna schließlich. Verstehen? Ihr Verhalten schiene mir sicher nicht plausibel, aber verstehen würde ich Susanna grundsätzlich, gleichgültig was sie tat. „Da vorne sind die Büros. Da sitzt auch deine Freundin, die könntest du ja auch mal besuchen.“ scherzte Susanna. Was mich bewegt hatte, herzukommen, musste ich bei einem Kaffee erläutern. „Du bist hier eben viel billiger als beim Fisch, sogar völlig kostenlos kann ich dich anschauen.“ es folgte eine gewichtige Pause, und sie ernst anblickend fuhr ich fort, „Ich mag dich äußerst gern, Susanna, aber mit der Liebe zwischen uns, daraus kann das nichts werden.“ erklärte ich in bedenklichem und leicht bedauerlichen Tonfall. Susanna schaute mich nur staunend an. „Du meinst, gut verstehen das reicht für eine potentielle Studienabbrecherin, oder?“ fragte sie dann mit leicht hämischem Grinsen. „Wie redest du, Susanna? Ich kann das nicht. Unsere Liebe wird zerbrechen und nach kurzer Zeit ist nichts mehr da. Das will ich nicht. Das möchte ich mit dir nicht erleben, dafür bist du zu schade.“ erläuterte ich. „Deshalb willst du die Liebe nicht herein lassen? Du bist sicher, dass sie dir gehorcht. Ein unzähmbarer Vogel sei sie, sagt man. Bist du dir ganz sicher, dass du es merkst, wenn sie kommt. Vielleicht ist ist sie schon da, du siehst es nur nicht. Ein wenig blind für das, was du nicht sehen willst. Kann das sein?“ fragte Susanna. „Ich habe zweimal eine Freundin gehab, wir waren verliebt, meinten es wenigstens, es dauerte nicht lange, da war von Liebe nichts mehr zu spüren. Das ist entsetzlich, es ist traurig und enttäuschend. Das möchte ich mit dir nicht erleben.“ erläuterte ich es näher. „Du würdest mich also lieben, wenn du eine Garantie hättest, dass es so bliebe?“ erkundigte sich Susanna und lachte laut, „Grischa, ich rede vielleicht dummes Zeug, wenn ich erzähle, warum ich nicht weiter studieren will, aber was und wie du über die Liebe redest, ist wenigstens genauso schwachsinnig.“ kommentierte es Susanna. „Sag du es mir, was Liebe ist und wie sie geht.“ forderte ich sie auf. Susanna lachte schallend. „Ich erkläre dir, was Liebe ist und wie man sie macht, ja? Woher soll ich das wissen. Ich weiß nur, dass sie lebt, dass sie dein Leben ist und niemals ein Zustand sein kann, den du jetzt erreicht siehst und halten willst. Wie öde, jeden Tag das gleiche, das gibt es gar nicht, das kann nichts werden. Ich stelle es mir wie einen Prozess vor, wie alles im Leben, ein Prozess mit der nicht enden wollenden Sucht, sich auszutauschen, mit allen möglichen Fantasien, Visionen und Geistern die in dir sind. Die Lust am Leben, das starke Bedürfnis, dein Leben mit dem Liebsten oder der Liebsten zu teilen, sich gegenseitig zu erkennen und zu vermitteln. Das empfindest du einfach, ist einfach da. Für deine Beschlüsse und Regulierungen haben die Gefühle der Liebe nur taube Ohren, sie folgen dir nicht, sind nicht zähmbar.“ stellte Susanna es dar. Trotzdem wollte ich es nicht. Die Angst, ja fast Sicherheit, dass es sich wieder so entwickeln würde, konnte Susanna mir nicht nehmen. So würde ich es eben machen, so war ich Liebe gewohnt, ich war eben nicht in der Lage, anders damit umzugehen.


Der Engel in dir

Aber Recht hatte Susanna schon, L'oiseaux rebelle, der unzähmbare Vogel L'a­mour hatte sich längst bei uns niedergelassen. Unendlich viele Variationen, wie Menschen mit Liebe umgehen, wie sie ihre Liebe praktizieren gibt es, nur sich einmal in der Woche als Bedienung und Gast in einem Restaurant zu treffen, gehörte dabei sicher nicht zu den verbreiteten Usancen. Auch wenn Frau Enkler nicht angerufen hatte, wenigstens einmal in der Woche musste ich unbedingt Susanna sehen, das erforderten die Produktionsbedingungen meiner Neuro­transmitter aufs Schärfste. Wir begrüßten und verabschiedeten uns immer mit Umarmung und Kuss. Wenn Frau Enkler auch zum Essen kam, war es natürlich zusätzlich auch beim Essen lustig und spannend. Sie befasste sich vornehmlich mit aktuellen, sozialphilosophischen Themen, über die wir losgelöst von der Wissenschaftlichkeit populär diskutieren konnten. Das gefiel mir nicht nur sehr gut, ich lernte auch äußerst viel in wichtigen, sonst von mir viel zu wenig be­achteten Bereichen. Ich hatte den Ehrgeiz, Frau Enkler jede Woche ein neues Gedicht von Rose Ausländer vortragen zu können, über das wir uns dann un­terhielten. Frau Enkler hatte kaum mehr gewusst, als dass sie eine Schriftstel­lerin war. Ich hatte Rose Ausländer in der Schule mit dem Gedicht „Sprache“ kennengelernt, und war fasziniert. Persönlich hatte ich mich näher mit ihr be­schäftigt und liebe sie auch heute noch. Frau Enkler gefiel das Gedicht „Spra­che“ auch sehr gut. Wir erkannten beide, dass es die Liebe an sich thematisier­te und nicht nur die zur Sprache:


Sprache

Halte mich in deinem Dienst
lebenslang
in dir will ich atmen
Ich dürste nach dir
trinke dich Wort für Wort
mein Quell
Dein zorniges Funkeln
Winterwort
Fliederfein
blühst du in mir
Frühlingswort
Ich folge dir
bis in den Schlaf
buchstabiere deine Träume
Wir verstehen uns aufs Wort
Wir lieben einander


Frau Enklers Favorit wurde das Gedicht „Der Engel in dir“:


Der Engel in dir

Der Engel in dir
freut sich über dein
Licht
weint über deine Finsternis
Aus seinen Flügeln rauschen
Liebesworte
Gedichte
Liebkosungen
Er bewacht
deinen Weg
Lenk deine Schritte
engelwärts


Wir beschlossen, dass es so sein müsse und nicht anders sein könne, als dass Frau Enklers Vorname mit Rose Ausländer in Verbindung stehe. Ich bestellte etwas, Susanna kam ganz dicht mit ihrem Kopf zu mir und wollte mir etwas ins Ohr flüstern. Ich drehte meinen Kopf, und Susanna kam auch mit ihrem Mund zu meinem Ohr, nur ich hörte nichts, sondern verspürte plötzlich Susannas Zungenspitze in meinem Ohr. „Susanna!“ brachte ich nur lachend in einem Tonfall hervor, der ein leicht vorwurfsvolles „Was machst du denn?“ beinhalte. Frau Enkler schmunzelte amüsiert. „Hat Susanna dir etwas Schweinisches ins Ohr geflüstert.“ erkundigte sie sich lachend. „Ach, viel schlimmer. Ich mag es gar nicht wiederholen.“ ich darauf ebenfalls lachend. „Ich mag euch auch sehr, Susanna und dich, süß seid ihr beide. Ich habe eine Reihe von Bekannten und Freunden, von denen ich auch sagen würde: „Wir mögen uns.“, nur ein Verhal­ten wie zischen euch beiden will sich da einfach nirgendwo entwickeln.“ erklär­te Frau Enkler mit schelmischer Mimik. „Nein, nein, sie haben ganz Recht, da ist schon mehr. Wir mögen uns sehr gern, so gern, dass Susanna mir für eine Liebesbeziehung mit Grischa zu schade ist.“ erläuterte ich. „Grischa, Grischa,“ bekam ich mit mahnenden Beiklang zu hören, „wenn du Susanna liebst, dann liebst du sie. Das kannst du nur konstatieren, ob du dazu eine Liebesbeziehung gegründet hast, ist völlig schnuppe. Dein Gefühl regiert deine Emotionen und nicht dein rationales Wollen und Planen. Ihr müsst ja nicht zusammen leben, nur sich ein wenig häufiger, als einmal in der Woche beim Fischessen zu tref­fen, könnte ich im Falle der Liebe schon für angezeigt halten.“ lautete ihre An­sicht und in ihrer lustigen Mimik spielte auch der frech ironisierende Mund mit. Als meine Geliebte würde ich Frau Enkler keineswegs bezeichnen, aber eine nette Bekannte, die Rolle hatte sie schon lange nicht mehr. Auch wenn wir uns nur einmal in der Woche zum Essen trafen, gehörte sie zu meinem Leben. Ich hatte Lust, mich mit ihr auszutauschen, sie freudig zu stimmen, mit ihr zu lachen. Mit meiner Beziehung zu Fiona und Leonie war das nicht zu vergleichen. Ich freute mich immer wieder erneut, Rose Enkler zu erleben. War das auch Liebe? Gewiss. Anders, aber menschlich viel tiefer und wertvoller als ich sie aus meinen Beziehungen gewohnt war. Es war keine Liebe zwischen Mann und Frau, das spielte keine Rolle, da konnte Frau Enkler noch so intensive erotische Ausstrahlung zeigen.


Liebe ist Hoffnung

Was sollte ich tun? Etwas ganz anderes beginnen? Mich da involvieren? Inten­siv Sport treiben? Für's Marathonlaufen trainieren? Vielleicht gab es viele unter den Marathonläufern, die dadurch irgendetwas anderes in sich, falsche Liebe oder Liebesverluste, besiegen oder einen Akt der Selbstüberwindung zelebrie­ren wollten. Mir das Fischessen abgewöhnen? Andere leckere Speisen entde­cken, zu denen ich nicht ins Restaurant Sonnenberg brauchte? Ja, ich müsste mich selbst besiegen. So einen Unsinn überlegte mein Kopf, dem die Angst vor dem Verlauf der Liebe nicht zu nehmen war. Wie sollte ich denn in der Lage sein, es anders zu machen. Ich kannte doch keine Wege. Mein Bauch, oder wenn es wirklich das Herz ist, in dem sich die Gefühle am stärksten entwickeln, wollten davon nichts hören. Bei ihnen war alles von Susanna besetzt. Beim Ma­rathonlaufen an etwas anderes zu denken, würde sie mir sowieso nicht erlau­ben. Die Überlegungen quälten mich schon. Wurde ich aber wach, und wusste, ich würde heute ins Restaurant gehen, lief die Endorphinproduktion auf Hoch­touren, nahm mir jedes schmerzliche Qualgefühl und dopte mich auf high sein. War meine psychische Harmonie gestört? Kann schon sein, nur empfand ich davon nichts, wenn ich Fischessen gehen konnte und Susanna erlebte. Zum Glück würde ich in den Semesterferien nicht immer zu Hause sein oder müsste in Urlaub fahren, ein weiteres Praktikum stand an. Susanna erkundigte sich scherzhaft über meine Therapieerfolge. Ich solle mal zur Rezeption gehen, da habe jemand nach mir gefragt, unterbrach mich eine Krankenschwester beim Blutdruckmessen. „Eine Frau, sie sitzt im Besucherraum.“ erklärte man mir. Wer würde mich hier aufsuchen? Ich vermutete schon was, und tatsächlich saß dort Susanna. Ich freute mich, aber mir standen die Tränen in den Augen. Dass mir vor Freude oder Glück die Augen feucht wurden, hatte ich in meinem Le­ben bislang noch nie erfahren. Ganz tief musste es mich anrühren, wie Susan­na mir eine Freude bereiten wollte. „Ich bin noch nicht fertig mit dem Blut­druckmessen. Kann ich das gleich fortsetzen? Ich würde gern mit Frau Berg­mann kurz in die Cafeteria gehen.“ fragte ich die Oberschwester. „Lassen sie mal. Das machen wir schon.“ reagierte die. „Du könntest mir ja mal den Blut­druck messen.“ scherzte Susanna auf dem Weg zur Cafeteria. „Der wird bei uns beiden jetzt bestimmt zu hoch sein, vermute ich.“ lautete meine Reaktion. „Mhm,“ signalisierte Susanna Zustimmung, „komm, drück mich doch mal.“ for­derte sie mich auf. „Hier gibt’s keinen Pflaumenkuchen, aber Apfelkuchen mit Sahne ist auch nicht schlecht.“ meinte ich an der Theke. Susanna konnte nichts von dem Angebotenen animieren. „Ist eben nicht Sonnenberg oder Parkcafé. Madame ist Besseres gewohnt.“ kommentierte ich ihre Entscheidung. „Ich könnte ja krank werden, und du würdest mich behandeln. Nur was müsste ich denn haben, damit ich auf deine Station käme?“ wollte Susanna wissen. „Dann doch lieber nicht.“ entschied sie lachend, als ich es ihr erzählte. „Ich bin noch nie krank gewesen, die ganzen zweieinhalb Jahre noch nicht, sonderbar.“ fiel Susanna erstaunt ein, „Wenn du unzufrieden bist, wirst du doch eigentlich schneller krank, oder?“ fragte sie mich. „Das Restaurant wird dich immer gesund halten.“ vermutete ich, allerdings mit einem Schmunzeln. „Das verstehst du nicht, Grischa, du machst dich lustig darüber. Als du mich nach meinem Blick, der die strahlende Hoffnung sieht, gefragt hast, und ich etwas mit dem Restaurant erzählt habe, hast du auch deine Witze gemacht. Ich frage mich nur, wo dein Blick denn die strahlende Hoffnung sieht. Sieht er sie in dem tollen Biochemiker, der engagiert in ein Projekt involviert ist, die kompliziertesten Rätsel löst und Aufgaben bewältigt, fleißig ist für den Erfolg seiner Firma oder seines Instituts? Und wenn er die Türen der Firma oder des Instituts hinter sich schließt, hat er noch viel zu tun, muss privat alles regulieren und organisieren. Und die strahlende Hoffnung? Wo soll sie sein? Er bewältigt seinen Alltag, wie alle es tun. Graue Gewohnheit ist es, von Strahlenglanz nichts zu erkennen. Und Liebe, das kann er ja nicht, das weiß er doch. Ein Blick, der strahlende Hoffnung sieht? Defätismus pur ist das, nichts anderes, Grischa.“ klärte Susanna mich auf. Ich schwieg. Unrecht hatte sie ja nicht. So ähnlich würde mein Leben bestimmt aussehen, würde meine Anerkennung in Erfolgen bei der Arbeit für andere suchen. Natürlich hatte ich Freunde, die mir wertvollere Anerkennung schenkten, aber Liebe? Ich wollte sie ja, suchte sie, würde ja gern hoffen, dass alles anders würde, nur worauf sollte das denn basieren? „Ich gebe dir ja in gewisser weise Recht, Susanna. Ich will das so auch nicht, nur woher sollte denn der Funke für die Hoffnung kommen?“ fragte ich schließlich. „Was du sagst ist keine Hoffnung, du willst Sicherheit, Gewissheit, dass es anders wird. Zur Liebe passt das nicht. Liebe ist Hoffnung, Erwartung, Vertrauen, dass sich Wünsche und Visionen verwirklichen. Zu sagen: „Ich liebe dich, aber ich weiß, dass es nicht funktioniert.“ ist schizophren. Was ist das für eine Liebe, an die du nicht glaubst? Wenn du keine Liebe hast, ist das nicht nur eine Form der Beziehung zu einer Frau, dein Leben ist ein anderes. Wenn du keine Hoffnung auf ein glückliches Leben mit einer Frau hast, nimmst du dir die zentrale Hoffnung für dein gesamtes glückliches Leben. Hoffnung braucht keine Bescheinigungen und Sicherheiten. Wenn du hoffst, gesund zu bleiben, gehst du nicht vorher zum Arzt.“ vermittelte mir Susanna. Bestimmt hatte Susanna Recht, vielleicht fehlte mir die Hoffnung, aber ich sah es eher als Angst, dass mein Wunsch, meine Hoffnung nicht erfüllt würde.


Kündigung

Wir trafen uns wieder wie meistens zu Steak und Fisch am Freitagmittag im Sonnenberg. Susanna erklärte lachend und stolz: „Ich war ganz tapfer. Am Dienstag. Ich habe es abgelehnt zu kommen. Ich könne jetzt nicht, hätte keine Zeit. Dem Geschäftsführer habe ich es am nächsten Tag erklärt. Ich hätte noch an meinem Referat arbeiten müssen, andernfalls würde ich den Schein nicht bekommen haben. Den bekäme ich hier auch nicht. Ich sei jederzeit bereit, aber in solchen Momenten habe das Studium eben Vorrang. Er hat mir zuge­stimmt, sah es auch so.“ Der Geschäftsführer war Ökonom und ließ sich im Restaurant so gut wie nie blicken. Wenn jemand den Chef sprechen wollte, wurde immer der Chef-Koch geholt. Dass es da noch einen Geschäftsführer gab, wusste sicher kaum jemand. Sprachlos kam ich mir vor. Wollten meine Ohren hören, dass Susanna erklärt hatte, das Studium sei ihr wichtiger als das Restaurant? Und das wollte sie einfach abbrechen? Die Phase dieser Gedanken schien wohl ohne ein Wort, ohne jede ausdrückliche Benennung überwunden. Frau Enkler sah es auch so, wunderte sich und konnte sich den Sinneswandel bei Susanna nicht erklären. Erklären konnte ich ihn auch nicht, aber etwas zu spüren, meinte ich schon. Etwa einen Monat später kam Susanna an den Tisch und erklärte lachend: „Ich werde jetzt Anschaffen gehen. Im Restaurant will man mich nicht mehr, vielleicht gibt es ja gut bezahlende Männer, die mich wollen.“ Sie wurde ernst und erläuterte es: „Man hat eine zusätzliche, feste Stelle für eine Bedienung eingerichtet. Der Geschäftsführer hat sie mir sofort angeboten. Top Qualität als Kellnerin im Sonnenberg, ist das nichts?“ suchte Susanna lachend Bestätigung, „Es habe sich so gut entwickelt, dass es mit ei­ner Aushilfskraft nicht mehr zu bewältigen sei, hat er gesagt. Direkt hatte es mit meiner Absage vielleicht nichts zu tun. Ein Aushilfe ist natürlich günstiger, wenn sie jederzeit zur Verfügung steht als eine feste Kraft, die ihre geregelten Dienstzeiten hat und auch für die Zeit bezahlt werden muss, in der nicht so viel anliegt. Dass sie jemanden wie mich nicht wiederfinden würden, eine Frau, die nicht auch mal studieren muss, haben sie wohl richtig eingeschätzt. Nur was mache ich denn jetzt? Ich brauche doch das Geld. Wo gibt es denn andere Jobs, die für mich in Frage kämen?“ Dass Susanna keineswegs damit zufrieden war, oder sich sogar über die Entwicklung freute, stand fest, aber schrecklich niedergeschlagen oder hilflos wirkte sie auch nicht. „Susanna, mit einem guten Zeugnis vom Sonnenberg, stehen dir doch die Türen aller First-Class-Häuser offen. Stell dir vor, du würdest im Restaurant des Excelsior bedienen. Da könn­test du dann den VIPs aus aller Welt den Fisch bringen und nicht nur so loka­len, verkannten Größen wie diesem Grischa.“ empfahl Frau Enkler und lachte. Ich blieb bis nach der Mittagszeit. Susanna hatte noch für sich ein Soufflé und für mich ein Eis organisiert. „Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Das stört doch in deinem Kopf, wenn du zusätzlich noch an die Arbeit denken musst. Ich meine man müsste frei sein, um sich voll auf das Studium einlassen zu kön­nen. Dann bekommst du auch ein anderes Bild, dein Studieren stellt sich dir anders dar. Du kannst dich in einiges involvieren, du wolltest doch Soziologie studieren, du hast doch Vorstellungen gehabt, hast dich doch darauf gefreut. Ich denke, nur wenn du frei bist, hast du auch die Chance, deine Interessen wahrzunehmen, sie zu erkennen und dich darin wiederzufinden, dich als Stu­dentin zu sehen, dich damit zu identifizieren und dir nicht mehr wie ein Nie­mand in einer beziehungslosen Welt vorzukommen.“ lautete meine Ansicht zu Susannas Suche nach Arbeit. „Dafür am Hungertuche nagen, in Sack und Asche gehen, nur gebrauchte Klamotten bezahlen können, ein Leben auf der Jagd nach den Superpreisknüllern, sieht so der Blick in die strahlende Zukunft für dich aus?“ wollte Susanna scherzend wissen. „Na klar, eng wird es schon werden, aber wenn du Geld brauchst, solltest du die Semesterferien dazu benutzen.“ kommentierte ich. Ich musterte Susanna. Was mir alles durch den Kopf lief, kann ich gar nicht auseinanderhalten, alles bunte Perspektiven, Visionen und Erscheinungen. Ob ich es wirklich völlig ernst meinte, was ich dann sagte, kann ich nicht beurteilen. „Oder du ziehst einfach zu mir, dann hast du die Miete schon mal gespart.“ verkündete ich kühn. Susanna schien gar nicht zu wissen, was sie hörte. „Ah ja,“ versuchte sie ganz nüchtern ernst zu bleiben, „und den Herd, den Kühlschrank, den Schreibtisch und das Bett hätte ich dann auch gespart, nicht wahr?“ kommentierte sie und prustete los. „Was hast du für Fantasien, Grischa? Ist ganz plötzlich deine Hoffnung explodiert? Ganz sterben kann sie ja nie, das glaube ich schon. Auch in dunkelsten Zeiten braucht es nur einen Funken, um sie wieder zum Leuchten zu bringen. Hoffnung gab es für mich auch nicht. Du willst sie ja, suchst sie im Beruflichen und sonst wo, nur das ist vergebens. Ich habe dir gesagt, dass ich dich als netten Menschen ansah und dich deshalb nicht vergessen hätte. So war das nicht, da war etwas anderes. Ich habe mich fast von Anfang an gefreut, dich zu sehen. Ganz ohne Grund. Ich kannte dich kein winziges Stückchen, sah dich nur, hörte deine Stimme und erlebte dich beim Bestellen, aber wenn du kamst, empfand ich es, als ob ein Licht angezündet worden sei. Hoffnung? Worin sollte die denn bestehen? Du vermitteltest mir nur das Gefühl, dass es sie geben könnte, wie wundervoll es wäre, die Hoffnung leuchten zu sehen. Worin meine Hoffnung bestehen sollte, wusste ich nicht. Dass sie nur im anderen Menschen zu finden und die Suche im Materiellen vergeblich ist, war mir klar. Später wurde es schon konkreter. Ich hoffte, in deinen Gedanken vorzukommen, hoffte, dass du mich mögen würdest, dass du dich auf mich freutest. Dann ist die Realität der Hoffnung vorausgeeilt, nur du wolltest sie nicht wahrhaben, nicht akzeptieren. Und jetzt? Jetzt hoffst du, dass wir zusammen leben können, und alles ganz anders werden wird, als du es erfahren hast? Ist das nicht sehr kühn und waghalsig? Nimmt deine Hoffnung da nicht auf einmal einen zu großen Schluck?“ befürchtete Susanna. Wir starrten uns an, und das Lächeln unserer Mimik ließ erkennen, wie nahe wir aneinander waren.


Erste Liebe versus Neuer Frühling

Begrüßungsküsschen hatte es immer gegeben, wir hatten uns umarmt und ge­drückt, sonst aber noch nie berührt. Ohne ein Wort, einer geheimen Absprache gleich, näherten sich unsere Gesichter einander, und jeder legte seine Wange an die des anderen. Viel intimer als sich küssen, was wir anschließend taten, war es. Nicht nur eine körperlich sensible Berührung der Lippen, unsere tiefs­ten Empfindungen für einander schienen gemeinsam zu kommunizieren. Mediale Kräfte mussten es sein, die wir so miteinander austauschten. Als ob Susanna mir dadurch eine andere geworden wäre, meine Susanna, die in mir war, und die ich jetzt auch körperlich empfand. Beinahe hätten wir es verges­sen uns zu küssen, so selig sonnten wir uns an. Susanna schminkte sich auch schon die Lippen nicht mehr. Wir hatten darüber nur scherzend gealbert, aber gewirkt hatte es offensichtlich trotzdem. Frau Enkler, die Gründerin einer Bewegung für den Urmundkult, für natürliche, reine Lippen? Beim Anblick des Gesichts wirken geschminkte Lippen vielleicht auffälliger und erotischer, beim Küssen aber kann die Natur durch nichts überboten werden. Das musste erotisches Empfinden sein, Susannas Lippen im natürlichen Urzustand zu küssen, Sinnlichkeit pur. „Ich weiß doch auch nicht, wie wir es machen sollten. Dass wir immer zusammen sein könnten, habe ich mir schon gewünscht und es gehofft, nur ich hatte Angst, zu große Angst, dass sich die Hoffnung nicht realisieren ließe. Vielleicht bin ein ängstlicher, ein schwacher Mensch. In der Vergangenheit hat mein Blick stets die strahlende Hoffnung gesehen. Nie gab es Grund daran zu zweifeln. Alles ist bei mir glatt verlaufen, ernsthafte Probleme kannte ich nicht. Wenn ich etwas für richtig hielt und es wollte, konnte ich es auch in die Tat umsetzen. Nur mit Fiona, da lief es plötzlich ganz anders. Ob ich es für richtig hielt und es wollte, war eine bedeutungslose Frage, es machte es einfach mit mir und nahm mich völlig ein. Dass es mit Fiona zerbrach, schmerzte und tat innerlich weh, aber es war auch die eindringlichste Erfahrung, dass nicht alles glatt laufen musste, dass es auch Versagen und herbe Enttäuschung geben kann. Verliere, was du dir vorstellen kannst, nichts ist alles wert, nur der Verlust von Liebe und Verbundenheit mit einem anderen Menschen kränken wirklich. Dies noch einmal erfahren zu müssen, war eine Horrorvorstellung, und trotzdem bin ich einfach wieder so hineingeschlittert. Das gleiche Szenario, die gleichen Konsequenzen. Vor Liebe kannst du dich nicht schützen, das glaube ich auch, aber meine Erfahrungen waren persönlich das Härteste was ich erleben musste. Und davor habe ich eben Angst, große Angst.“ erklärte ich mich. „Ich kenne deine Liebesopern ja nicht, aber lässt sich Liebe denn wiederholen? Kann es denn zweimal die gleiche Liebe geben? Ist Liebe nicht jedes mal anders, völlig anders? Muss sie das nicht zwangsläufig sein?“ vermutete Susanna. „Vermutlich hast du Recht, natürlich war Leonie ein völlig anderer Mensch als Fiona, aber suchst du nicht automatisch die Strukturen deiner ersten Liebe, in der du Liebe kennengelernt hast wieder?“ wand ich ein. „So werden wir das aber nicht machen. Wir werden es machen, wie ich es will. Und wie will ich es?“ Susanna lachte, „Grischa, ich will mit dir leben. Ein neuer Frühling in deinem Leben soll es sein. Du brauchst Fiona und Leonie nicht zu vergessen, aber obwohl wir es auch Liebe nennen werden, was uns verbindet, wird es damit nichts zu tun haben. Es ist ein anderer Teil deines Lebens, ein neuer Teil deines Lebens, den wir gemeinsam kreieren werden. So sehe ich es. Ich will von dir viel mehr, als nur geliebt werden, verstehst du?“ Ich schmolz in Wonne und hätte Susanna am liebsten gleich mit nach Hause genommen, aber da zeigte sich schon das andere. Susanna hätte es niemals getan.


Kopulierende Seelen

Seitdem Susanna nicht mehr zu arbeiten brauchte, verbrachten wir jede freie Minute gemeinsam. Natürlich musste sie auch meine Freunde kennenlernen. Warum Gina sie so intensiv drückte und mich dabei anlachte, war für mich kein Rätsel, aber Susanna war schon erstaunt. Sie meinen Eltern vorstellen und Su­sanna als Soziologieprofessorin auftreten lassen? Elegant und seriös konnte sie schon wirken. In den Zeiten von Kant und Hegel hätte sie durchaus Professorin sein können, aber heute war sie dafür einfach zu jung. Ich hatte auch über­haupt keine Skrupel mehr gegenüber meinen Eltern. Frau Enkler später mal heiraten zu wollen, hatte ich ja nie behauptet, aber dass es auch Liebe war, was uns verband, war nicht zu bestreiten. Gemeinsam hatten wir im Sonnen­berg Susannas Kündigung gefeiert. Die anderen begrüßten sie herzlich, und je­der wollte gern etwas für sie tun. Der Chefkoch kam selbst und teilte uns seine persönlichen Empfehlungen für heute mit. Zum ersten mal gab es für mich im Sonnenberg keinen Fisch und für Frau Enkler kein Steak. Und demnächst? Würden wir unsere gemeinsamen Essen einstellen? Keinesfalls, warum? Aber Susanna, sollte sie vom Bafög im Sonnenberg essen gehen, oder sollte sie etwa zu Hause bleiben. Beim nächsten mal sei sie Frau Enklers Gast, erklärte die. Daraufhin lud ich Susanna für's übernächste mal ein, und so, mit abwech­selnden Einladungen, wollten wir's in Zukunft halten. Lange dauerte es nicht, bis Susanna auch abends nicht mehr nach Hause ging. Von ihr war es ausge­gangen, sie wollte immer mehr und ich dachte dabei an ihre Furcht vor den Männern, die jedes mal zu schnell von ihr etwas wollten. „Susanna, ich würde ja auch schon gern, aber sollten wir nicht ein wenig vorsichtig, lieber etwas zu­rückhaltender damit umgehen?“ mahnte ich zu vorläufiger Enthaltsamkeit. Su­sannas Kopf lag auf meiner Schulter, und während sie ihre Fingerspitzen über meine Brust gleiten ließ meinte sie: „Grischa, in Liebe sind wir immer vereint. Unsere Seelen kopulieren ständig miteinander, aber wir genießen es ja auch, uns zu küssen und zu streicheln. Ist das nicht ein Zeichen, dass auch unsere Körper bei der Liebe nicht außen vor bleiben wollen, dass sich unsere Liebe da­nach sehnt, den anderen ganz und umfänglich zu lieben, mit allem was er ist? Gehört da nicht ganz dringend auch das, was ich von dir anfassen, berühren und spüren kann dazu? Alles andere wird dabei nicht unbeteiligt sein. Der Mensch Grischa kennte keine Aufteilung in Körper, Seele, Geist oder so. Er ist immer alles gemeinsam. Wenn wir uns lieben, dürfen wir dabei unsere Körper nicht vergessen.“ Das taten wir in Zukunft auch nicht mehr.


Innere Stimme

Susanna brauchte ihr Zimmer nur noch als Aufbewahrungsort für ihre Utensili­en und zum Arbeiten. Mit vielem wohnte sie schon bei mir. Erfüllte Hoffnungen? Gewiss. Unser beider Leben entsprachen in fast nichts mehr dem früheren.

 

Krone des Lebens,
Glück ohne Ruh',
Liebe, bist du!

 

Wir konnten Goethes Ansicht nur voll bestätigen. Gute Freunde zu haben ist ein reicher Schatz, aber dein Verlangen, Liebe zu geben und zu empfangen, können sie nicht befriedigen. Ich meinte, dazu nicht mehr in der Lage zu sein, hatte die Hoffnung aufgegeben, aber verhielt es sich bei mir nicht ähnlich wie bei der hoffnungslosen Susanna. Du hoffst und merkst es gar nicht. Offensicht­lich gibt es etwas in dir, das nicht ohne Hoffnung leben will. Als ich von Susan­nas Absichten hörte, ihr Studium aufzugeben, hoffte ich, dass sie es nicht tun würde. Warum nicht? Rationale Erklärungen gab es dafür keine. Ich hoffte ohne irgendwelche konkreten Anlässe auf den Menschen Susanna. Auch wenn es mit meinem Erkennen und Verstehen nichts zu tun hatte, erfüllte es mich voll. Das Bedürfnis nach Liebe und die Suche danach trägt jeder Mensch in sich, ein Verlangen nach Hoffnung nicht weniger. Gleichgültig was davon dein Bewusstsein erreicht.

 

Und was die innere Stimme spricht,
das täuscht die hoffende Seele nicht.

 

Drückte es Schiller aus. Meine Stimme hätte immer gesagt, dass es mir beson­ders wichtig sei und mir den Tag versüße, wenn ich im Restaurant Sonnenberg den köstlichen Fisch genießen könnte. Heute, da ich meine innere Stimme ein wenig besser verstehen kann, stellt sich meine persönliche Rankingliste völlig anders dar. Der Fisch schmeckt mir immer noch sehr gut, nur das ist eine an­dere Kategorie. Meine Liebe mit Susanna, meine Beziehung zu Frau Enkler und das Verhältnis zwischen mir und meinen Freunden belegen die vorderen Rang­plätze und sind durch nichts zu überbieten.

 

 

FIN

 

 

 

Tant qu'il y a de la vie, il y a de l'espoir.

 

Grischa ist Student und Susanna, die Aushilfskellnerin, studiert ebenfalls. Grischa sitzt mit ihrer Professorin an einem Tisch im Restaurant. Die Frau Professor findet er aufregend, aber was sie erzählt, lässt Grischa nicht mehr los. Die Professorin bekam noch einen Wein. „Essen sie gerne Fisch? Wieso?“ fragte mich Frau Enkler. „Das weiß ich auch nicht. Ich habe schon alles nachgeforscht in meiner Kindheit, meine Eltern und Verwandten befragt, ob irgendwo Affinitäten zur Fischereiwirtschaft oder zum Meer zu erkennen wären, vielleicht hätte ja mein Großvater einen Angelschein gehabt oder seine Ferien auf einem Forellenhof verbracht, aber nichts, nirgend­wo. Warum ich gerne Fisch esse, wird mir lebenslang ein Rätsel bleiben.“ er­klärte ich und wollte Frau Enklers Mimik dabei betrachten. Ich glaube, sie schi­en wegen meines unlösbaren Problems ein wenig mitzufühlen. „Das ist alles absoluter Nonsens, was ich ihnen erzählt habe, ich kenne den wahren Grund sehr genau, nur wenn ich ihn genannt hätte wären sie eventuell pikiert gewe­sen oder hätten sich düpiert gefühlt.“ erklärte ich. „Sagen sie's trotzdem. Ich werde tapfer sein, aber ich will es hören.“ forderte mich Frau Enkler auf. Unse­re Augen lachten sich an, und ich glaube, sie hatte doch erotische Ausstrah­lung, jedenfalls hätte ich sie am liebsten geküsst. „Nein, also gut. Es ist simpel, schlicht und naiv. Ich esse gerne Fisch, weil er mir gut schmeckt. Das ist alles, ohne irgendwelche Geschichten, und das war schon immer so. Mir reicht die Erklärung, warum sollte ich mehr wissen wollen?“, verkündete ich zögerlich. Frau Enkler lachte. „Na klar, was für eine dumme Frage. Das wird bei allem so sein, das man gerne isst, und ein Histörchen gibt’s dazu sicher nur höchst sel­ten.

 

 

Neue Hoffnung mit der Vamp Professorin – Seite 25 von 25

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Tag der Veröffentlichung: 29.12.2013

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