Carmen Sevilla
Doch wieder ein Mann?
Felicias Pflicht bei Männern, welche Liebe fühlen
Erzählung
Leur mode de vie est ouverte à toute de modification.
Ich hatte mich von meinem Mann getrennt. Jetzt schien die Welt wieder in Ordnung. Das Glück war bei meinen drei Kindern und mir zu Hause. Ein neuer Mann? Das Überflüssigste und Störendste, was man sich denken konnte. Aber was sich entwickelte wollte von meinen Vorstellungen nichts wissen. Jetzt würde meine Jüngste mich zum Studieren verlassen. Und ich? Allein mit einem Mann, dem Herrn Dirigenten, würde ich zusammenleben. Das Fatale, ich war auch noch glücklich und liebte ihn. Welche Vorstellung machte es mir denn, mit Christian allein zu leben? Ich hatte mit einer Frau zusammenleben wollen und jetzt hatte ich einen Mann. Ob ich mich auch noch um eine andere Frau bemühen sollte? Dann würde Christian sich hinterher noch in sie verlieben. Am günstigsten und sichersten wäre Claire, seine Frau. Wir trafen uns häufig und hatten Lust daran. Vielleicht lag es an Claudio oder auch daran, dass ihr die Befreiung mehr gegeben hatte, als die meiner Einschätzung nach, stupide Liebe zu Christian, jedenfalls erweckte sie den Eindruck, jünger, frischer, aufgeschlossener und lustiger geworden zu sein. Nach meiner Ansicht wäre sie eine begehrenswerte Frau. Als ich sie fragte, ob sie sich denn einen Partner wünsche oder sogar suche, bekam ich nur die knappe, eindeutige und abschließende Erklärung mitgeteilt: „Ich werd' mir doch so etwas nicht wieder ans Bein binden, Felicia.“ Auf mein Lachen hin erklärte sie sich näher. „Ich habe Christian für den ehrlichsten, aufrichtigsten und treuesten Mann gehalten, bei dem so etwas niemals passieren könne. Und trotzdem macht er's. Zeig mir einen Mann, bei dem du das ausschließen könntest. Den gibt es nicht. Das ist etwas genuin männliches. Wenn sie eine Geschlechtspartnerin sehen, von der sie meinen, bei der sei ihr Samen besser angelegt, dann müssen sie dem folgen.“ erläuterte Claire dazu. „Unter Lachen meinte ich, dass sich der Herr Hahn bei mir aber wohl ein wenig vertan hätte. „Das läuft doch vermittelt, meine Süße. Wenn sie große Glocken erotisch finden, dann basiert es darauf, das sie meinen, die Frau könne ihre Kinder gut säugen. Nur das spielt ja direkt heute keine Rolle mehr. Sie finden ja auch bei Frauen nach der Menopause große Titten noch sexuell erregend.“ meinte Claire dazu. „Und welche Reproduktionsvorteile sah Christian bei mir. Wie würdest du das einschätzen? Große Brüste können's ja nicht gewesen sein. Wirkt mein Becken eventuell gebärfreudig? Oder weißt mein Po die erforderlichen Fettpolster für gutes Überwintern auf? Du kennst ihn länger als ich. Du wirst besser wissen, worauf er bei der Verteilung seines Samens Wert legt.“ wollte ich bei Claire Rat holen. Zu solchen oder ähnlichen Blödeleien, kam es permanent bei unseren Treffen. Ja, wir mochten uns gut leiden, auch wenn ich uns für ziemlich unterschiedlich hielt. Ich wüsste nicht, mit wem ich lieber zusammengewohnt hätte, als mit ihr.
Doch wieder ein Mann? - Inhalt
Doch wieder ein Mann? 4
Kleiner Blick 4
Disharmonie 5
Leilani 6
Namensfindung 7
Orte 7
Weiber-WG 8
Verschwörung des Fiesco 9
Theater 10
Mit Dr. Weigand im Parkcafé 10
Einladung 12
Besuch bei Weigands 13
Madonnenblick 14
Weigands Besuch 15
Claudio 17
Grillabend 17
Scharfe Perle 18
Freund Thomas 19
Vorspiel 20
Christians Träume 20
Christians Zukunft 22
Christians Einzug 23
Gebt euch doch mal einen Kuss! 23
Oder ins Bett? 24
Steht mal endlich auf 25
Claire und unsere Liebe 26
Always busy 27
Nur mit Christian? 27
Du musst immer an so was denken 28
Abiturfeier 29
Du musst mir doch helfen 29
Raoul zieht ein 30
Den leichten Wind spüren 31
Etwas überblicken oder nach etwas schauen, sind die bedeutsamsten Verben im Sprachgebrauch unserer Tage. Wo kämen wir hin, wenn die UN nicht die Lage in der Welt überblicken würde und Angela Merkel nicht danach schaute, dass die Bürger der Bundesrepublik sich wohlfühlten und in Frieden leben könnten. Jeder überblickt, durchschaut etwas, will zumindest den Überblick behalten und ist sicher, über einen ausgedehnten Weitblick zu verfügen. Es kann nicht falsch sein, wenn wir den Funktionen unseres wichtigen Wahrnehmungsorgans auch im übertragenen Sinne angemessene Bedeutung zukommen lassen.
Ich blicke am liebsten aus dem Fenster, wenn ich am Schreibtisch sitze. Ein kleiner Baum steht auf der anderen Straßenseite vor meinem Fenster. Richtig klein und jung erscheint er allerdings nur im Vergleich zur mächtigen alten Esche, die schräg hinter ihm steht. Seine Krone demonstriert er hauptsächlich den Betrachtern hinter den Fenstern im zweiten und dritten Stock, während die alte Esche das Dach des beide umgebenden Instituts weit überragt. Die Esche vermittelt mit ihren dunkleren Blättern und ihren trägen Bewegungen eher das Bild der Gelassenheit einer weisen, alten Tante, während die beim leisesten Wind quinqulierenden, hellgrünen, zartgliedrigen Blättchen meiner Robinie jugendliche Frische, Lebendigkeit aber auch hohe Sensibilität ausstrahlen. Ich liebe den Blick auf den kleinen Baum. Nicht weil ich mich daran gewöhnt hätte, drängt es mich ihm zuzuschauen. Sein Anblick schmeichelt meinen Augen, und wenn ich seine Blättchen im leichten Windhauch klimpern sehe, frage ich mich schmunzelnd, welche feinen Botschaften ihnen der zarte Wind wohl übermittelt haben könnte.
Das Institut umgibt beide schützend, doch erdrückt es sie nicht. Der riesige Gebäudekomplex muss um die älteren Bäume herum entworfen worden sein und die Anpflanzung der jungen, meiner Robinie zum Beispiel, mit eingeplant haben. Um ein preisverdächtiges architektonisches Meisterwerk wird es sich dabei nicht handeln, aber es ist aufgegliedert, und seine detailreiche Harmonie gefällt dem Auge. Selbstverständlich sollten die Früchte architektonischer Kreativität immer derartige oder ähnliche Wirkungen auf den Anblick des Betrachters erzeugen, doch das Institut fällt auf, stellt eine Ausnahme dar. Die Produkte der Gebrauchsarchitektur zeigen sich in der Regel so, dass sie das Auge dessen, der sie anschaut, beleidigen. Warum verurteilen die, die es besser machen, ihre sogenannten Kollegen nicht stärker. Es sind doch nicht nur die wundervollen Museen und einige andere Gebäude, die das Bild des Architekten prägen. Kein Haus in diesen hässlichen Straßenzügen ist ohne leitende Führung eines Architekten entstanden. Wenn es unter Architekten auch eine Approbationsordnung gäbe, sie hätte sicher den meisten längst entzogen werden müssen.
Neben der Architektur macht auch sein Name das Institut zusätzlich sympathisch. Der Name sagt nur sehr pauschal etwas über den Zusammenhang, in dem hier Forschung betrieben wird, weil der Namensgeber auch in diesem Rahmen forschte. Im allgemeinen Sprachgebrauch in der Stadt wird nur dieser Name verwendet. Was dort konkret gemacht wird, erläuterte der Namenszusatz, den aber kaum jemand kennt, geschweige denn verwendet. Der Name sei Schall und Rauch. Mag sein im Hinblick auf Inhalt und tatsächliches Geschehen, aber er ist eben Schall und mehr noch Klang. Klang, den dein Ohr wahrnimmt und der im Kopf nach Assoziationen sucht. Ein Klangerlebnis, das du emotional bewertest, das dir eher nicht gefällt oder dem deine Sympathie gehört und das dein Empfinden und Verhalten beeinflussen wird. Nach einem Mann mit dem Namen Rotzbrecher hätte man nie Institute benannt, selbst wenn er noch so ein herausragender Wissenschaftler gewesen wäre, aber Fraunhofer, das tut einfach gut zu hören. Die Fraunhofer Sonate, welch wundervolles musikalisches Erlebnis müsste sie sein, wenn Beethoven sie komponiert hätte. Dass der Wind die Esche und kleine Robinie im Schutz des Fraunhofer Instituts nur mit wohlklingenden Melodien umspielen kann, versteht sich von selbst. Ein Bild, das mir Harmonie vermittelt ist es immer, wenn ich aus dem Fenster schaue, ein Bild in dem Blick und Klang zusammen ein gemeinsames Wohlempfinden erzeugten.
Etwas Banales im Vergleich zu den großen Durch-, Über- und Weitblicken und den berauschenden Musikerlebnissen in der Philharmonie. Nur so verbringst du deinen ganzen Tag, eine unablässige Folge von Bildern und Klängen, die du bewusst meistens gar nicht registrierst. Deine Wahrnehmungsorgane abschalten kannst du nicht, und selbst wenn du etwas liest, hörst du doch den Klang der Worte. Alles hat einen Namen, und den Klang des Wortes hörst du. Aber unabhängig davon, ob dir etwas bewusst wird, wie bei dem kleinen Baum, deine Emotionen knüpfen nicht nur Assoziationen, sie bewerten das Wahrgenommene auch, meist ziemlich dichotomisch nach angenehm oder unsympathisch. Wenn du nach der Arbeit nach Hause kommst, mies drauf bist und gar nicht weißt warum eigentlich, es ist doch nichts Schlimmes passiert, dann kann es einfach daran liegen, dass du permanent mit disharmonischen Konstellationen konfrontiert worden bist.
Lange Zeit fing die Disharmonie bei mir an, wenn ich aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Mein Mann hatte vor einigen Jahren eine leitende Position in einer anderen Firma bekommen und sich langsam zu einem anderen Menschen entwickelt. Dass er zu Hause nicht offen den Boss und Macho spielen konnte, war ihm wohl klar, aber ständig kamen herabwürdigende Bemerkungen, als ob wir zu erkennen hätten, wer hier der Chef sei. Dabei war es so lächerlich. Es hatte nie irgendeine Art von Hierarchien bei uns gegeben, und wenn einer bei uns eine Nebenrolle gespielt hätte, dann wäre an allererster Stelle er es gewesen. „Papa, du nervst.“ sagten die Kinder öfter, denn ernst konnten selbst sie es nicht nehmen, was er da gerade wieder abgelassen hatte. Ich hatte zu Anfang noch versucht, es ihm verständnisvoll zu erklären. Es waren keine verbalen Fehlgriffe, er wurde langsam selbst ein anderer und verstand nichts mehr, wollte nichts mehr verstehen. Es zerriss mich. So wie er sich verhielt, war er nicht der, den ich mal geliebt hatte, andererseits war es aber immer noch da und mit ihm verbunden. Mich heute von ihm trennen, kam mir vor, als ob ich gleichzeitig meine geliebte Geschichte zerstören müsse. Lange Zeit war er beides, der Widerling und mein Geliebter.
Ich dachte, es von den Kindern völlig trennen zu können. Die veränderte Situation nachher machte mir erst deutlich, welchem Trugschluss ich erlegen war. Dass er nicht mehr anwesend war und mich die Probleme nicht mehr belasteten, wirkte als ob sich ein Schleier von der ganzen Familie heben würde. Wir hatten ihn vorher gar nicht erkannt, wahrscheinlich weil er über Jahre langsam Faden für Faden gewebt worden war. Leilani sagte es als erste von den Kindern: „Es ist, als ob jetzt viel mehr Luft zum Atmen da wäre.“ Vielleicht hatte jemand von den anderen beiden auch etwas dazu gesagt, und ich habe es wieder vergessen.
Bei Leilani reagiert meine Aufmerksamkeit automatisch anders. Sie war vier Jahre jünger als ihr Bruder, und sechs jünger als ihre Schwester. Ich wollte Kinder, das war immer klar. Nicht weil ich gerne Mutter sein wollte und meine Kleinen beglucken, ich freute mich darauf, Kinder beim Aufwachsen zu erleben und zu begleiten. Dann übertrafen meine tatsächlichen Erfahrungen meine Wunschvorstellungen um ein Vielfaches. Davon hätte ich noch viele ertragen können. Ich hatte mich eigentlich nur kurz beurlauben lassen wollen, es aber immer wieder verlängert. Jetzt gab es keinen vernünftigen Grund mehr, als Grischa drei war. Wir haben dann überlegt, ob wir nicht doch noch eins wollten. Wenn, dann jetzt, damit der Abstand nicht zu groß wäre. In der Schwangerschaft fühlte ich mich schon völlig anders als bei den beiden. Sie war bereits in meinem Bauch eine Prinzessin und ich selbst kam mir nicht anders vor. Das war jetzt mein letztes Kind. Eine krönende Blume der Fortpflanzungskunst würde sie werden, und mir kam es vor, als ob ich das jeden Tag feiern müsste. Ob sie es auch in meinem Bauch mitbekommen hat?Ich sehe es so, dass sie es auch geworden ist. Wahrscheinlich hat sie schon alles gehört, denn wenn sie mal weinte, brauchte ich sie nur auf meinen Bauch zu legen und mit ihr zu sprechen. Bestimmt hörte es sich dann am ehesten so an, wie vor der Geburt in meinem Uterus. Und noch lange war es so, wenn sie auf meinem Schoß saß, und wir uns schmusend unterhielten, musste dabei ihr Kopf mit einem Ohr Körperkontakt an meinem Dekolletee haben. Sie weinte aber so gut wie nie, schien immer Freude zu suchen und lachen zu wollen. Dieses Kind war in allem außergewöhnlich, vor allem war es nie 'dieses Kind', sie war immer meine Blume, mein Freudenquell. Arana und Grischa waren natürlich auch meine Allerliebsten gewesen und waren es noch, aber bei Leilani war alles noch einmal ganz anders. Auch wenn sie seit ihren ersten Worten und Schritten die Chefin gab, die beiden Älteren waren trotzdem verliebt in sie. Ihr Leben brachte neues zusätzliches Glück für unsere ganze Familie.
Die Namensfindung für die Kinder bedeutete für mich immer eine unendliche Qual. Ich musste ja für ihr Leben entscheiden, welchen Klangeindruck es bei anderen erweckte, wenn sie ihren Namen hörten. Schließlich bekamen sie alle drei Namen aus unterschiedlichen Kategoriewelten, bei denen sie sich dann eventuell selber für einen anderen Rufnamen entscheiden konnten. Bei Arana war mein Mann noch der festen Überzeugung, dass sie sich später für ihren deutschen Allerweltsnamen Lina entscheiden würde, ob Grischa lieber Ruben oder Paul heißen würde, konnte er schon nicht mehr sagen. Neben dem Allerweltsnamen, mit dem sie keinesfalls auffielen, hatten sie noch einen hebräischen Namen, wie man sie aus dem alten Testament kennt und einen Klangnamen, der mir am besten gefiel. Der kam allerdings dann meistens aus dem Persischen, Indischen, Arabischen oder wie bei Leilani, der Südseeblume, aus dem Polynesischen. Ich war der Ansicht, dass es am wichtigsten sei, was für ein Klangerlebnis das Kind beim Hören seines Namens habe. Wenn es ihnen später wichtig sein sollte, wie alle andern auch Lina, Paul und Sofia zu heißen, sie hätten ja die Möglichkeit. Keiner von den dreien wollte das. Dass man mich für affektiert halten könnte wegen der Exotik der Namen, da stand ich absolut drüber.
Es mag schon seine, dass mir die Klangeindrücke außergewöhnlich auffallen. Meine frühesten Erinnerungen sind Erinnerungen an Klangerlebnisse. Ich konnte zwar laufen, wurde aber immer noch im Sportwagen mitgenommen. Wenn wir zu meinem Großvater mit der Bahn fuhren, war das ein tolles Erlebnis, aber besonders gespannt wartete ich immer darauf, dass die Bahnhofsvorsteher auf den Bahnhöfen die Namen der westfälischen Dörfer verkündeten an deren Bahnhof der Zug gerade hielt. Mecklenbeck, Albachten, Bösensell, Appelhülsen. Wundervoll, ich hatte immer meine helle Freude. Aber der Name meines Wohnortes, einer münsterländischen Kleinstadt gefiel mir überhaupt nicht. Was mit D gefolgt von kurzem Ü und L anfing, konnte nur Assoziationen zu dümmlich oder Müll wecken, hehre Worte begannen im Deutschen nicht mit dieser Buchstabenfolge. Hätte ich bei der Angabe meines Wohnortes 'Winsen an der Luhe' sagen können, ein verträumtes Lächeln wäre gewiss über die Mimik des Hörenden gehuscht, er sähe seine Gedanken auf feinen Fäden im leichten Wind wellenförmig über die Landschaft gleiten, aber wenn ich Dülmen sagte, meinte ich nur dumpfe oder stoische Reaktionen erkennen zu können. Ich nahm so etwas nicht sehr wichtig und litt nicht etwa darunter, aber dem gegenüber verschließen, dass du es hörst und deine Schlüsse ziehst, kannst du dich nicht.
Dass ich mir davon vieles bewusst werden lasse, ist sicher ungewöhnlich. Dass sich die Kinder zu dem entwickelten, was ich in ihren Namen zu klingen hörte, wird aber gewiss nicht vorrangig an dem Klang selbst gelegen haben, sondern daran, dass ich sie so zu sehen wünschte. Bei Arana war es mir sehr wichtig, dass aus dem Mädchen später mal eine starke, selbstbewusste Frau werden würde, dazu schien mir der Name zu passen. Dass sie es heute ist, wird niemand abstreiten wollen. Bei Grischa wusste ich gar nicht, was ich wirklich wollte. Einerseits ist das Bild von dem, was mir an Männern gefällt, stark affirmativ, andererseits kenne ich aber die Problematik sehr gut. Eine Mischung, schon männlich aber frei von den negativen Charaktereigenschaften. So sehe ich ihn auch heute und seine Freundin erklärte mir mal, dass es solche Männer wie ihn eigentlich gar nicht gebe. Für Liebesspiele hatte er schon jahrelang mit Leilani trainiert, auch wenn er letztendlich immer ihrem Charme unterlag. Die beiden begegnen sich auch heute immer noch wie ein neckisch verliebtes Pärchen, und seiner Freundin hatte er erklärt, dass sie für ihn seine neue Leilani sei, und dabei handele es sich um das Höchste, was sein Herz zu vergeben habe.
Jetzt lebte ich nur noch mit dieser Südseeblume allein im Haus. Sie war ja erst fünfzehn, als Grischa auszog, aber dadurch, dass wir alleine waren, schien sich das Mutter-Tochter-Verhältnis langsam zu verwässern. Mit jedem Tag, den sie älter wurde, wandelte sich die Familie immer mehr zu er zwei Weiber WG. Natürlich war es jedes mal traurig, als Arana und Grischa gingen, und es fiel schwer, sie morgens nicht mehr zu sehen, aber es entwickelte sich auch jedes mal ein neues, anders soziales Gebilde, das keinesfalls von weniger Freude geprägt war. So auch jetzt mit Leilani. Wenn sie in wenigen Jahren ausziehen würde, wollte ich mit einer anderen Frau zusammen leben. Allerdings ein Verhältnis wie zu Leilani würde es niemals geben können. Wir schienen nicht nur zwei Frauen zu sein, sondern auch Geschwister und Kinder. Ich hatte sie geärgert, wir rannten hintereinander her und sie stellte mich schließlich auf dem Bett. Halb über mich gebeugt, erklärte sie mir, dass sie mich unendlich liebe. Mit ihrem Freund gebe es auch ganz nette Momente, „Aber er wird immer ein Fremder bleiben, immer, da bin ich mir absolut sicher.“ erklärte sie. „Grischa, den liebe ich. Ich denke oft an ihn, und manchmal muss ich ihn unbedingt hören. Aber bei dir ist das noch viel mehr. Warum können wir denn nicht zusammen sein, du liebst mich doch auch mehr als jemand anders, und missratene Kinder können wir doch voneinander nicht bekommen.“ „Nein, nein, nein! Um Himmelswillen.“ hätte ich ausrufen können, fragte sie aber, ob sie denn schon mal Sex mit einer anderen Frau oder einem anderen Mädchen gehabt habe. Nach stundenlangen Diskussionen lief es letztendlich darauf hinaus, dass wir uns gegenseitig unserer innigsten Liebe versicherten, aber auf sexuelle Annäherungsversuche verzichten wollten. Ich machte mir Sorgen, dass es ihr schwer fallen könnte sich später zu lösen, obwohl ich an ihrer Selbständigkeit nicht im Geringsten zweifelte. Ja, richtig verknallt ineinander, das waren wir bestimmt. Wir hatten Lust, etwas, das wir sonst nie gemacht hätten, zu tun, weil es mit der anderen geschah. Es gefiel mir, ich liebte es und es machte mich glücklich, nur ob das perspektivisch ein guter Weg für Leilani war, daran kamen mir die Zweifel. Wir sollten lieber öfter etwas für uns allein ohne die andere unternehmen.
So war ich auch allein im Theater. Leilani liebte mehr Konzert und Oper, und Schiller, 'Die Verschwörung des Fiesco zu Genua', war schon gar nicht ihr Ding. Ich hatte einen billigen Restplatz in der vierten Reihe bekommen. Zu meinem Nachbarn, einem einzelnen, ein wenig jüngeren Herrn meinte ich, dass wir da wahrscheinlich Glück gehabt hätten, weil es Einzelplätze seien. Er erklärte lächelnd, dass er seine Karte aber schon länger habe. „Ich wollte den Fiesco endlich doch mal sehen. Jetzt im Schillerjahr zeigen sie ja alles. Im Grunde ist der ja keineswegs schlecht, nur während meiner damaligen Schillerfanzeit, konnte ich ihn nicht zu Ende lesen.“ erklärte ich. „Sie sind Schillerfan?“ erkundigte sich der Herr. „Nein, nein, das war in der frühen Jugend während meiner eigenen Sturm- und Drangzeit. Mit den Balladen fing es an. Das waren ja kleine Opern. Der Rhythmus, die Sprachmelodie und die Wortkombination erzeugen in ihnen Bilder, bei denen sie das Gefühl haben, das Geschehen hautnah selber zu erleben. Meine Tochter hätte bestimmt das Bedürfnis, sie zu tanzen. Sie meint, dass die Rhythmik des Gehörten und klanglich Geäußerten immer den ganzen Körper berühre und nicht nur die Gestik der Hände und Arme und die Gesichtsmuskulatur für die Mimik.“ antwortete ich. Was meine Tochter mache, wollte er wissen. „Sie studiert Geowissenschaften, interessiert sich für's Universum.“ sagte ich lächelnd. „Da wird sie ja demnächst nach den Sphärenklängen tanzen können.“ reagierte er scherzend. „Sie spotten, aber mich hat das überzeugt, wie sie es sieht. Im übrigen wusste schon Konfuzius, dass Musik der Weg ist, kosmische Harmonie zu erreichen. Ob meine Harmonievorstellungen etwas Kosmisches haben, weiß ich nicht, aber das sie unverzichtbar für unser Glück sind, das weiß ich schon.“ erwiderte ich ihm. „Da gebe ich ihnen voll und ganz Recht. Im Übrigen wollte ich mich keinesfalls über die Ansichten ihrer Tochter lustig machen. Ich kann es nur unterstreichen. Wie wir Klangereignisse erfahren und deuten, erfasst uns tief und umfänglich, das sehe ich genauso.“ sagte er noch, und dann verdunkelte sich das Licht. Der Fiesco begann.
In der Pause unterhielten wir uns weiter. Er wollte wissen, was ich mache und vermutete etwas mit Sprache oder mit Musik. Da ich nur schlichte Kinderärztin war, erklärte er, wieso er zu seiner Vermutung gekommen sei, und ich erläuterte ihm meinen Bezug zum Klanglichen. Natürlich wollte ich wissen, was er denn mache. Er war Chefdirigent der Philharmoniker. Ich schämte mich in Grund und Boden. Wie oft musste ich ihn schon gesehen haben. Aber er lachte auch darüber. Gemeinsam versuchten wir zu erklären, woran es liegen könne, dass ich ihn nicht erkannt hätte. Wir einigten uns darauf, dass ich das Gesamtbild des Orchesters und der Philharmonie sehe, der ich meinen klanglichen Eindruck zuordne und weder akustisch noch optisch die Details analysiere. Ich konnte es trotzdem nicht fassen. Er war der Ansicht, dass ich eine ideale Ausgangsbasis für ein Leben in der Musik gehabt habe. Er beneide mich darum. Er habe hören lernen müssen, und das habe erst mit dem Klavierunterricht begonnen. Wir versuchten zu analysieren, ob es sich dabei um eine erbliche Anlage handle oder man es erlerne und wodurch. Doch dann war die Pause schon zu Ende. Er würde das Gespräch aber noch gern weiter führen. Ob wir uns nicht mal treffen könnten.
Leilani lachte sich tot, dass ich Herrn Weigand nicht erkannt hatte. „Ich hätte das schon gerochen, wenn ich neben ihm im Theater gesessen hätte.“ lästerte sie, „Und wie war der Fiesco?“ erkundigte sie sich. „Na ja, ich bin wahrscheinlich die ungeeignetste Person, das zu beurteilen. Ich habe Schiller ja gemocht wegen seines Überschwangs und seiner expressiven Sprache, aber genau deshalb erschien er mir schon wenig später zu pathetisch. Seine Sprache gefiel mir nicht mehr, obwohl andererseits seine Inhalte und Ausgestaltungen schon bedeutsam blieben. Und wenn ich das heute auf modern gemacht, in die Gegenwart versetzt sehe, weiß ich gar nicht was ich davon halten soll. Einerseits sehe ich es als richtig und mit tollen Ideen gemacht an, aber andererseits möchte ich auch gern meinen Schiller wieder haben, der Historisches pathetisch deklamieren kann, obwohl ich das ja im Grunde gar nicht mehr mag. Es wühlt keine schweren Probleme in mir auf, aber hinterlässt ein indifferentes Gefühl. Die Fragestellung der Inhalte ergreift mich auch nicht mehr, das ist zum Beispiel bei Kleist ganz anders.“ erläuterte ich. Leilani meinte, dass sie bei diesen antiken Sujets und dazu noch in einer fremden Sprache immer emotionale Probleme habe. Bis tief in die Nacht sprachen wir über Theater und Schauspiel, was uns gefiel und was nicht, weshalb und warum nicht. Wir unterhielten uns über die Grundlagen, wie es begonnen hatte und warum Menschen es überhaupt liebten zu spielen und zuzuschauen. Sich darzustellen und zu zeigen, sahen wir als wesentliche Grundlage der menschlichen Kommunikation an und dazu sei auch die Lust am Zuschauen unverzichtbare Gegenbedingung. Im Grunde sei jede Unterhaltung ein Schauspiel mit wechselnden Darstellern und Zuschauern. Einerseits sich dessen bewusst zu sein, dass man sich darstelle und andererseits besser zuzuschauen, den Darsteller zu verstehen versuchen, sich auf ihn einzulassen, gestallte sicher jede Unterhaltung viel interessanter.
Mit Dr. Weigand traf ich mich im Parkcafé. Wir waren allein. Es lag ein wenig abseits, aber für unseren Weg nach Hause war es günstig. Weil wir weiter die unterschiedliche Entwicklung der auditiven Wahrnehmung besprechen wollten, trafen wir uns jetzt hier, wir sprachen aber über den Fiesco. „Schiller hat sich ja manches selbst verdorben, weil er unbedingt alles in schwäbischem Dialekt deklamieren musste.“ bemerkte ich, „Verstehen kann ich das nicht, wie man schwäbisch denken kann und so fantastisch hochdeutsch formulieren.“ „In der Musik spielt das ja Gott lob keine Rolle, aber in der Literatur, gab es doch sicher mehrere ähnliche Fälle. Bei Storm zum Beispiel und bei Anette von Droste-Hülshoff.“ reagierte er darauf. Ich sah ihn kurz erstaunt an und platze los vor Lachen. Die Vorstellung, wie die Droste-Hülshoff alles in münsterländischem Patt gedacht habe war zu skurril. Es kam immer wieder. Ich konnte ihm kaum erklären, warum ich so lachen musste. „Plattdeutsch haben doch nur die Bauern gesprochen, aber doch nicht der Adel.“ erklärte ich. „Können sie Plattdeutsch?“ wollte Herr Weigand wissen. „Nein aber ich kenne den Klang und die Sprachmelodie, das klingt breit und weich und gelassen. Der feingliedrigen sensiblen Sprache der Droste-Hülshoff steht das diametral entgegen. Stellen sie sich mal ein Gedicht von ihr vor und dann hören sie, wie jemand e auf plattdeutsch ließt. Das geht nicht. Das sind verschiedene Welten, mit dem Klang der Stimme umzugehen.“ erläuterte ich. Dann wollte Herr Weigand alles von mir wissen, wie ich denn was klanglich empfinden würde. Hauptsächlich natürlich Musik. Wenn er etwas anders sah als ich, engagierte er sich emphatisch, es mir zu erklären. Er schien dann voll in seiner Welt zu leben. Er wirkte süß, wie ein kleiner Junge beim Fußball, der im Moment dann auch nichts anderes mehr kennt. Ich musste lächeln und er fragte verunsichert: „Sehen sie das nicht so?“ Beim dritten Mal erklärte ich es ihm. Herr Weigand erläuterte mir, was ihm seine Arbeit bedeute. Er lebe darin und beziehe seine Identität daraus, aber andererseits sei da auch noch der ganz normale Mensch, der das Bedürfnis habe, sein Leben mit einer Frau zu führen, der Kinder liebe und nicht darauf verzichten wolle. Seine ganze Biographie lernte ich nicht nur kennen, sondern er diskutierte sie mit mir, wollte von mir wissen, wie ich bestimmte Entscheidungen und Wege beurteilen würde. Ich wollte da raus, kam mir vor wie in einer gemischten Rolle aus Psychotherapeut und Übermutter bei diesem Mann, den ich doch gar nicht kannte. Ich bezog etwas auf mich und begann, von mir zu erzählen. Das wollte ich eigentlich auch nicht so intensiv und detailliert, aber Dr. Weigand schien brennend daran interessiert und fragte immer nach. „Herr Dr. Weigand, was tun wir hier eigentlich? Wir wollten uns treffen, um darüber zu sprechen, wie sich die Klangwahrnehmung bei Kindern unterschiedlich entwickelt. Ich dachte, ihnen erklären zu können, warum mir der Name Sofiechen Wiedelband so gut gefiel, tatsächlich sind wir aber nach einer Stunde dabei, uns gegenseitig zu analysieren. Ich kann das gar nicht. Ich werde ihrer Psyche sicher massive Schäden zufügen.“ schloss ich mit einem Lächeln. Er sagte nichts, schaute mich nur groß an. Dann meinte er: „Ja, sonderbar, nicht wahr?“ und nach einer weiteren Pause, „Vielleicht drängt uns etwas, darüber zu reden.“ „Bei mir kann ich das grundsätzlich nicht erkennen, aber haben sie denn ein dringendes Bedürfnis?“ fragte ich. Er holte tief Luft und blies sie hörbar aus, verzog den Mund leicht und meinte: „Ja, vielleicht ist das doch alles zu privat. Ich habe ja was ich will, meine Musik und meine Familie. Wunderbare Familie und die Arbeit mit den Philharmonikern macht mich glücklich. Woran fehlt es mir? Das Problem ist, das beides in mir nicht miteinander harmoniert. Ich fühle mich unwohl, wenn ich etwas noch einmal probe und dadurch später nach Hause komme, und zu Hause ist die Arbeit in meinen Gedanken ständig präsent. Die Arbeit dominiert mich, obwohl ich das nicht möchte. Mit Frau und Kindern führt es dazu, dass ich mich immer mehr im Randbereich angesiedelt sehe und auch nicht weiß, wie ich daran etwas ändern könnte. Ja, das belastet mich ständig. Sie wissen ja, welche gravierenden Folgen es hat, wenn es an der notwendigen Harmonie fehlt.“ erläuterte Herr Weigand. Wir wollten uns noch mal treffen, weil ihm ein Gespräch mit mir sehr viel gebe.
Ich selbst fuhr mit sehr gemischten Einschätzungen nach Hause. Er wirkte auf mich sehr sympathisch und vorwerfen konnte ich ihm nichts, aber einer fremden Frau sofort sein Seelenleben zu offenbaren, erschien mir doch verwunderlich. Ich entdeckte mich dabei, dass ich mir schon Gedanken darüber machte, wie und wodurch er sein Verhältnis zur Familie für ihn selbst attraktiver gestalten konnte. „Und, hast du dich in ihn verliebt?“ wollte Leilani provokant lachend wissen. „Ein sonderbarer Mann, aber ich denke ich kann ihn ein wenig verstehen. Stell dir vor, Grischa hätte keine Freunde gehabt, keine freche Schwester und niemanden, der sich sonst für ihn interessiert. Das Klavierspiel wäre sein einziger Freund auf dieser Welt gewesen. Er hätte nur dafür und darin gelebt. Er weiß, das es das andere Schöne auch noch gibt auf dieser Welt und sehnt sich danach, aber umgehen wird er damit nicht können, weil er gar keine Erfahrung damit hat. Ja, der Dr. Weigand tut mir richtig ein wenig leid.“ erklärte ich. Leilani machte große Augen und gab mir einen Kuss.
Bei unserem nächsten Treffen, wollte ich keineswegs wieder über diese persönlichen Psychoangelegenheiten sprechen. Ich wollte über seine Arbeit mit ihm reden und mir erklären lassen, wie er dabei vorginge und worauf es ankäme. Das würde er bestimmt mit voller Begeisterung machen. So lief es auch, bis wir irgendwann wieder auf's Hören und klangliches Wahrnehmen kamen und Herr Weigand erneut bedauerte, dass ich mich nicht aktiv mit Musik beschäftigt hätte. „Hören sie, das war nicht meine Welt, in der ich lebte. Da war es nicht selbstverständlich, das jeder ein Instrument spielte und man in die Oper ging. Das einzige, was ich an Musik mitbekommen habe, war, das meine Mutter ständig sang. Daher vielleicht auch meine Wahrnehmung. Die Kinder sollen ja schon vor der Geburt die Mutter hören und eventuell vergleiche ich alles mit ihrer vorgeburtlichen Harmonik. Da gab es nichts, was mich zum aktiven Musik machen animierte. Ich konnte nicht lernen, was es bedeuten würde, selber aktiv zu sein. Dafür gab es keine Beispiele in meinem Familienbereich.“ erläuterte ich es ihm. Dann erläuterte er noch detaillierter, wie er zum Klavierspielen gekommen sei und was es für ihn bedeutet habe. „Ja sehen Sie,“ erwiderte ich, „das war ihr einziger Freund auf dieser Welt und heute verlangen sie, dass sie auch ihre Frau und ihre Kinder lieben können, obwohl sie das nie gelernt haben, derartige Erfahrungen nie gemacht haben. Sie verlangen Unmögliches von sich.“ Damit waren wir wieder beim Thema, das ich eigentlich dringend vermeiden wollte. Ein langes Gespräch über Familie mit konkreten Erlebnissen aus der Praxis schloss sich an. „Ich würde mir wünschen, dass wir befreundet wären, und wir weiterhin Kontakt hätten. Kommen sie uns doch besuchen, dann denkt meine Frau auch nicht, dass ich mich mit fremden Frauen treffe, und sie können mal erleben, was ich alles falsch mache. Vielleicht hat ihre Tochter ja auch Lust, mitzukommen, unsere beiden würden sich sicher freuen.“ meinte Herr Weigand als wir gehen wollten.
Einfach freudig gestimmt, einen neuen Freund kennengelernt zu haben, war ich nicht. Die anderen Freunde und auch Freundinnen, die ich zum Teil schon sehr lange kannte, waren mir gewiss gut vertraut, und man sprach natürlich auch über Persönliches näher, aber auf dieser fast psychoanalytisch anmutenden Ebene über die eigene Persönlichkeit hatte ich noch nie mit jemandem gesprochen. Leilani und ich analysierten uns natürlich permanent gegenseitig, beziehungsweise hatten Spaß daran, uns gegenseitig zu erforschen. Hauptsächlich waren es aber Gespräche, in denen wir viel über Sozialisation und Sozialverhalten lernten. Aber wie kam ich dazu, mich um Dr Weigands Psyche zu kümmern und andererseits mich ihm so zu offenbaren? Was veranlasste oder trieb mich dazu? Wäre es im Gespräch mit Rita, einer guten Freundin, in die Nähe derartiger Bereiche gekommen, hätte ich unbewusst selbstverständlich abgelenkt. Warum verhielt ich mich bei Dr. Weigand nicht so? Keine Erklärung. Wenn er wenigstens außerordentlichen Eindruck auf mich gemacht hätte. Wenn ich ihn vorm Orchester stehend kennengelernt hätte, würde mir das gewiss Eindruck gemacht haben, aber so war er ja ganz gewöhnlich, wie jeder Kollege es hätte auch sein können. Ganz so war es aber wohl doch auch nicht. Wenn ich unsere Ärzte sah, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass sich die Szene im Theater so entwickelt hätte. Das gewöhnliche Maß an Reserviertheit, dem man sonst begegnet, war nie aufgetaucht. Bei den ersten Worten hatten wir schon fast eine vertrauliche Atmosphäre erreicht. Und dann entwickelte es sich, als ob wir mit unserem Bruder oder unserer Schwester sprächen, die wir beide nicht hatten. Manche sind ja überzeugt, beim ersten Blick schon gleich verliebt gewesen zu sein. Na ja, vielleicht ist es ja auch nur eine Metapher für die Bedeutsamkeit des ersten Eindrucks bei einem Kontakt. Was Herr Weigand und ich da gegenseitig erkannt hatten, wurde unserem Bewusstsein nicht mitgeteilt, unser Verhalten schien es aber trotzdem zu steuern. Gefallen hatte es mir schon. Ich fühlte mich ja auch zu nichts gedrängt, aber das Ungewöhnliche verunsicherte mich. Es machte mir nicht Angst, warum auch, aber ich konnte auch überhaupt nicht sehen, wohin es sich entwickeln würde.
Nie hätte ich Leilani mitgenommen, wenn ich eine Freundin besuchte. Familienbesuche gab es schon mal zu Geburtstagen meiner Mutter und meiner Schwester, aber sonst seit der Kleinkindzeit nicht mehr. Trotzdem fand ich es jetzt ganz gut. Es würde meinem Besuch ein anderes Flair verleihen, als wenn ich alleine käme. Das tat es auch. Leilani hatte ein ausgeprägtes Feingefühl, die Atmosphäre einer Situation zu erfassen und konnte sie intuitiv verändern, ohne sich dabei in den Vordergrund zu spielen. Natürlich wurde sie gefragt, ob sie ein Instrument spiele, und sie berichtete von ihrem Geigenjahr, was natürlich Anlass zur allgemeinen Diskussion bot. „Es war ausschließlich Sado-Maso-Musik.“ erklärte sie. In ihrer Hand habe der Bogen die Seiten nicht geliebt, sondern nur gequält. Es müsse eine schlechte Musikpädagogin gewesen sein, wenn sie ihr nur rational erklärt habe, dass ihre Einschätzungen unbegründet seien, meinte Frau Weigand. „Mein Tränenjahr war das.“ erklärte Leilani, „In meinem ganzen Leben zusammen habe ich nicht so viel geweint, wie in diesem Jahr aus Wut und Verzweiflung. Was wird man denn da für ein Mensch? Da höre ich lieber meinem Bruder beim Klavierspiel zu, dann schwimme ich in Wohlgefühl.“ Als sie ihre Trauer äußerte, dass sie jetzt nur noch sehr selten in den Genuss käme, wenn Grischa mal zu Hause sei, schlug Frau Weigand, die selber Klavierlehrerin war, vor, sie ein wenig zu trösten. Sie könne dann ja urteilen, ob ihr Spiel, das gleiche Wohlgefühl erzeuge. „Nicht schlecht, wahrscheinlich sogar besser als Grischa, aber leider höre ich ihn trotzdem lieber. Er spielt anders. Es klingt wärmer, freundlicher und weicher. Vielleicht liegt das aber auch an unserem Flügel, allein glaube ich allerdings nicht. Ihr Spiel klingt energischer, härter, aber sehr gut ist es schon.“ urteilte Leilani. „Sie scheinen Weiches und Mildes zu bevorzugen,“ meinte Frau Weigand, „vielleicht entspricht das eher dem Gesamtklima in ihrer Familie.“ „Hah, sie sollten mal Arana kennenlernen. Beinhart und messerscharf ist die.“ reagierte Leilani harsch. Brachte dadurch jedoch alle zum Lachen, was sie bestimmt beabsichtigt hatte. Ob er denn selbst gar kein Instrument spiele, wollte sie von Herrn Weigand wissen. Sie wusste es ja von mir. Natürlich musste er auch spielen. „Oh, oh, da musst'e aber noch fleißig üben, mein Junge.“ klopfte sie ihm auf die Schulter. „Stört dich das denn gar nicht, wenn deine Frau es besser kann als du?“ Herr Weigand, der sein Lachen nicht unterdrücken konnte, meinte: „Ich höre in der Philharmonie oft Pianisten, die noch viel besser sind als meine Frau.“ „Und damit prahlst'e dann vor ihr?“ erkundigte sich Leilani. „Nein, nein, das mach ich nicht.“ versicherte Herr Weigand unter ständigem Lachen. „Ja, aber Frauen wollen doch an ihren Männern etwas sehen, das sie bewundern können.“ Leilani darauf. „Genau dafür arbeite ich den ganzen Tag unermüdlich.“ erklärte Herr Weigand darauf. „Oh, oh, jetzt flunkerst'e aber. Du willst mir erklären, dass du den ganzen Tag nur arbeitest, damit deine Frau dich bewundert?“ fragte sie skeptisch. „Nein, nein, aber es muss einem ja selber auch Spaß machen, wenn's was werden soll.“ antwortete Herr Weigand immer noch mit krampfhaft verhaltenen Lachen. „Aber meinst'e nicht, dass die dich mag, weil du einfach en netter Typ bist, und deine Arbeit ihr dabei völlig schnuppe ist?“ fragte Leilani noch. „Ich hoffe, dass das so ist.“ reagierte Her Weigand. Jetzt lachte man nicht mehr und die Beziehungsdiskussion war beendet. Die dreizehnjährige Rebecca strahlte Leilani permanent an. Leilani wollte sie auch Klavierspielen hören. Sie spielte Szenen aus Schumanns Carnaval. Leilani war beeindruckt, redete mit ihr und die beiden verzogen sich in Rebeccas Zimmer. Wir redeten über Leilani, ihre und unsere Kinder, über die Namen, sonstige familiäre Anekdoten und lachten dabei viel. Fast ausschließlich redeten Frau Weigand und ich, während Herr Weigand stets glücklich lächelnd daneben saß. „Frau Singer, immer wenn ich sie so anspreche und sie mich Frau Weigand nennen, fällt mir das unangenehm auf. Es kommt mir vor, als ob es nicht passte. Auch wenn wir uns gerade erst kennengelernt haben, wäre es mir lieber, wenn sie mich Claire nennen würden.“ erklärte sie. „Dann wäre ich die Felicia oder kurz Felice.“ meinte ich dazu und lächelte. Dann wurde auch noch Herr Weigand scherzend einbezogen, der anscheinend erst aus irgendwelchen Träumen geweckt werden musste, dann aber meinte, das Felis etwas ganz anderes bedeute als Felicia. Wenn er die Kurzform meines Namens gern so geschrieben sehen wolle, könne ich ja für ihn die glückliche Katze sein. Man lud uns zu einem Grillabend ein und ausdrücklich Leilani auch. Ich lud sie ein, unseren Besuch zu erwidern. Alles war happy und easy gewesen. Das meiste war sicher Leilani zu verdanken, so sah ich es. Ich hatte doch neue Freunde gefunden.
„Der ist doch verknallt in dich, absolut.“ meinte Leilani als wir im Wagen saßen. „Wie kommst du denn darauf?“ wollte ich wissen. „Na, hast du denn nicht seinen Madonnenblick gesehen?“ Leilani darauf. „Christian hat sich gefreut. Es gefiel ihm. Und was genau ist im Übrigen Madonnenblick?“ wollte ich wissen. „Jedes mal, wenn du etwas sagtest, war er verzückt. Schaute als ob er eine Erscheinung hätte. Entrückt nimmt er alles von dir auf, den Klang deiner Stimme, deine Mimik, deine Augen, dein ganzes Körperbild, nur den Inhalt bekommt er wahrscheinlich kaum mit. Als ob er vor der Grotte in Lourdes stünde. Die Immaculata persönlich eben.“ erläuterte sie. „Du spinnst. Du hättest es gern so.“ reagierte ich lachend. „Du wirst es ja erleben. Auch wenn er es selbst weit von sich weisen wird. Es wird ihn nicht loslassen. Mit einem freundlichen Lächeln, wird er sich nicht immer zufrieden geben.“ meinte Leilani noch.
Leilanis Vorstellungen hielt ich für pubertäre Spinnerei. Wir verstanden uns gut und waren uns sympathisch, mehr war da nicht, und hätte ich auch keinesfalls zugelassen. Er hatte so schon genug Probleme mit sich und seiner Familie, und dann durch mich alles noch mehr gefährden? Nein, nein, für so etwas war ich nicht zu haben, allein schon wegen Claire nicht. Ganz abgesehen davon war die Vorstellung 'ich und Mann' lange passé. Zu einem fremden Mann Zuneigung und Liebe zu entwickeln, war für mich weder vorstellbar noch wünschenswert. Die schöne Zeit hatte ich nicht vergessen, aber es gab kein Bedürfnis, keine Sehnsucht danach. Wenn auch das Glück nicht auf einer Skala zu bewerten ist, aber so glücklich wie jetzt, meinte ich noch nie gelebt zu haben. Jetzt ein Mann? Nichts wäre überflüssiger und störender gewesen. Aber Christian Weigand hatte ja auch keinerlei Annäherungsversuche oder Ähnliches in der Richtung unternommen. Trotzdem musste ich schmunzelnd immer wieder daran denken, wie es wohl wäre, wenn er mir seine Sehnsucht gestehen würde, wenn er mich küssen wollte, wie ich das wohl empfände. Alles nur lustige Gedankenspiele.
Rebecca kam zu Leilani und zwei Tage später schon wieder. Für Rebecca stellte Leilani wohl so etwas wie die ältere erfahrene Schwester und gleichzeitig kompetente Freundin dar, und Leilani mochte sie auch gut leiden. Sie verstanden sich gut und hatten ständig Spaß miteinander. Rebecca meinte unser Fügel höre sich besser an als ihrer. Satie hörten sie, und Leilani überzeugte Rebecca, dass es unverzichtbar sei, ihn spielen zu können. Rebecca kam immer öfter, und wenn es nicht ging, telefonierten oder skypten sie. Ihre Mutter habe ihr Satie nicht beibringen wollen. Das sei Kitsch habe sie gesagt, aber sie sei knallhart geblieben, erklärte sie stolz lachend. Ihr Vater habe sie auch unterstützt und gemeint, dass man das so pauschal keineswegs sagen könne. Jetzt studiere sie Satie. Das sei ja ein ganz interessanter Typ gewesen und Rebecca erzählte.
Als Weigands zu Besuch kamen, begrüßte Claire mich: „So, jetzt werde ich mal überprüfen, ob hier tatsächlich alles besser ist als bei uns, wie Rebecca immer behauptet.“ Ich meinte, dass der Hauptgrund wohl sei, dass sie hier eine große Schwester habe, und sie das vieles in anderem Licht erscheinen ließe. „Felicia, wenn du sie heute adoptieren wolltest, sie wäre sofort einverstanden. Das Piano klingt besser, alles schmeckt besser und was Leilani sagt, ist sowieso Gottes Wort in ihren Ohren.“ sagte es und lachte. „Mami redet wieder absoluten Quatsch.“ kommentierte Rebecca die Aussagen ihrer Mutter mir gegenüber. Sie und Leilani dominierten das Gespräch beim Kaffee. Claudio, der Sohn, war nicht mitgekommen. Er konnte einen anderen Termin nicht absagen. Er hatte einen mehr introvertierten Eindruck erweckt, und für seine Eltern blieb es immer schwer, zu akzeptieren, dass er sich überhaupt nicht für Musik interessierte. Claire konnte es nicht verstehen und suchte nach Vorwürfen, die sie sich machen könnte. Sie hatte immer gehofft, dass sich irgendwann doch etwas entwickeln werde, aber seit er den Computer für sich entdeckt habe, könne sie die Hoffnung wohl aufgeben. Seine Kumpels, mit denen er sich treffe, das seien alles Hacker, meinte Rebecca. Bei Claudio konnte man nicht umhin, an Claudio Arrau zu denken, und natürlich war das auch sein Namenspatron. Claire war von ihm begeistert. Er sei die letzte große Künstlerpersönlichkeit gewesen, seitdem gebe es nur noch Facharbeiter am Piano und auch an anderen Instrumenten. Umso schmerzlicher war es jetzt zu sehen, dass ihr Claudio dabei war, sich zum Fachidioten für Informatik zu entwickeln. Ich würde mit ihr allein noch mal darüber sprechen.
Dann musste natürlich der Flügel ausprobiert werden. „Ja,“ meinte Claire, „das ist natürlich 'ne andere Liga. Aber der wäre mir für meine Schüler auch viel zu schade. Wenn der Grischa so gut spielen kann, muss er doch auch ständig geübt haben. Bei so einem Konzertflügel ist doch immer das ganze Haus voll Musik. Wie kann man das den aushalten?“ „Im Grunde ist das ja schön. Du lebst immer in Musik, aber manchmal brauchte das Klavier auch eine Pause. Probleme gab's da mit Grischa eigentlich nie.“ antwortete ich. Christian wollte natürlich auch spielen. „Aber nicht wieder Rachmaninow.“ warnte Leilanie. „Kann der Grischa das denn?“ fragte Christian ungläubig. Leilani regierte mit einem unschlüssigen Gesichtsausdruck und erklärte dann: „Also er kann es so gut, dass ich persönlich die Fehler nicht merke. Ich sehe es immer nur an seiner Mimik, dass gerade etwas nicht so funktioniert hat, wie es müsste. Schon mal bricht er auch wütend ab und klappt die Tastatur zu.“ „Ihr Bruder studiert Musik, nicht wahr?“ fragte Christian ergänzend. „Als er hörte, das Grischa Französisch und Germanistik studiere, fiel er fast in Ohnmacht. Grischas Verhältnis zur Musik wurde erläutert. Es war schon ziemlich eigenartig. Er hatte auch nur einmal an einem Wettbewerb teilgenommen, und obwohl er dein Preis gewonnen hatte, dann nie wieder. Musik sei zum Hören und kein Pferderennen, hatte er erklärt. Sie war sein und unser Freund, und mehr konnte es gar nicht sein. Dass Leilani ihm gern stundenlang zuhörte, war für ihn pures Glück. Auch wenn er nicht ein Leben als Pianomann führen wolle, sei es unverzeihlich, wenn solche Kompetenzen im Kämmerlein verkümmerten. Leilani sollte ihn bewegen, Christian vorzuspielen. Christian spielte die Papagenovariationen von Bethooven. „Du hättes es vorher sagen müssen,“ meinte Leilani, „dann hätte ich das Cello gesungen. Aber gut war's schon. Den Text kennst du doch sicher auch. Bist du denn selbst auch einer von diesen Männern, bei denen ein gutes Herz nicht fehlt?“ „Lass es, Leilani.“ unterbrach ich sie, „Das kannst du mit Grischa machen.“ „Was macht sie denn?“ wollte Christian wissen. „Sie hat ein untrügliches Geschick, andere in Kalamitäten zu bringen. Sie kennt nur ihr Ziel und gewinnt die Schlacht intuitiv ohne jeden Plan. Sie hat schon als vierjährige damit begonnen und bekam ihren Bruder letztendlich immer rum. Beim letzten Mal mit dem Frauenimponieren, das war auch so etwas. Jetzt hätte sie dich bestimmt mit dem 'Liebe spüren' auf's Glatteis geführt.“ erklärte ich es. Christian lächelte und fragte: „Und von wem hat sie diese Gerissenheit.“ „Von mir natürlich.“ lautete meine knappe mit Lachen begleitete Antwort. Christian gefiel es aber trotzdem oder gerade, sich mit Leilani weiter zu unterhalten.
„Claire, ich habe ja auch Bilder von meinen Kindern gehabt. Das hast du immer, denke ich, anders kannst du gar nicht. Nur wie schaust du denn einen Jungen an, der mal ein toller Klavierspieler werden soll? Der Blick wird ihm nichts sagen. Ich habe meine Vorstellung in den Klang der Namen zu legen versucht, aber überhaupt nicht erwartet, dass es sich auch so entwickeln würde. Zwänge, dass ich etwas tun müsste, dass es auch dazu käme, habe nie gehabt. Claudio wird sehr bald gespürt haben, dass sein Verhalten nicht deinen Erwartungen entsprach. Er bekam dafür keine Anerkennung und das merkt er schon bevor er laufen kann. Diese Erwartung dir gegenüber wird sich im Laufe der Zeit verfestigt haben, eine Kommunikationsstruktur unter euch beiden, aus der ihr kaum noch heraus könnt. Es geht nur, wenn du dich von allem wirklich frei machen kannst, und nicht im Hintergrund immer noch denkst, wie schön wäre es, wenn er ein toller Künstler wäre. Du hast nur eine Chance, euer Verhältnis zu verändern, wenn du das andere Schöne in ihm zu entdecken versuchst, und wenn es nur ein freundlicher Blick beim Wecken ist. Mit Sicherheit sucht er dich und wird es dir danken. Entschuldigung, Caire, ich doziere das so, als ob ich die große Pädagogin sei, aber es tut weh, wenn ich mir vorstelle, das es bei einem meiner Kinder so wäre.“ sagte ich zu ihr, als wir allein zusammen saßen. „Dir wäre das nie passiert. Du bist im sozialen viel feinfühliger und, ich denke auch, kommunikativ viel kompetenter und flexibler.“ meinte Claire. „Vielleicht ist es auch das, weshalb Rebecca sich hier so wohl fühlt und Christian immer so von dir schwärmen lässt. Der ist in dich verliebt, da bin ich sicher, auch wenn er es noch so vehement bestreitet. Das merkst du doch, wie er über dich redet.“ „Das soll er mal schön bleiben lassen. Da wird er was auf die Finger bekommen.“ erklärte ich dazu und wir lachten. Dann redeten wir noch über Männer und welche Bedeutung sie für uns hätten. So intim hatte ich auch mit einer andere Freundin noch nie darüber gesprochen. Dabei verging die Zeit wie im Fluge und Weigands blieben zum Abendbrot. Unser zweiter Besuch, und ich empfand es, als ob wir seit Jahren befreundet wären.
Es war mir warm, glücklich, harmonisch eben. Ich meinte, auch die Beziehung zu Weigands sei ein glückliches Erlebnis, das ich nicht erträumen konnte, weil ich es nicht kannte. Beim Grillabend wurde ich mit allen bekannt gemacht. Jetzt lächelte Christian nicht stumm, sondern stellte mich wortreich überschwänglich vor und dichtete mir dabei alle möglichen Kompetenzen und Qualitäten an. Es war mir peinlich. Beim nächsten mal unterbrach ich ihn: „Christian, red' nicht so einen Unsinn.“, aber das wirkte auch so, als ob wir sehr vertraulich miteinander wären. Ich erklärte ihm, dass ich es nicht möchte. Er solle sagen, dass ich Kinderärztin sei und wenn er wolle, dass wir uns im Theater kennengelernt hätten. Kein Wort mehr über meine Vorzüge und herausragenden Eigenschaften, klar? Wie er mich anpreise, müssten die Leute ja denken, dass er mich verkaufen wolle. „Dich kann sowieso keiner bezahlen.“ rutschte ihm raus. Symbolisch gab ich ihm eins hinter die Löffel. Nein, nein, nein, ich wollte das nicht. Warum konnte er sich nicht mehr um Claire kümmern und ihre verborgenen Vorzüge entdecken. Obwohl ich Claire für selbst nicht ganz unschuldig daran hielt. Ich hatte es ihr gegenüber nicht kritisiert, aber ihre Ansicht konnte ich überhaupt nicht teilen. Sie hatte ihr Verhältnis wie einen starren Zustand dargestellt, mit dem sie beide zufrieden seien. Genauso wenig wie das Glück das man aktuell empfindet, kann man das momentane Wahrnehmen einer Beziehung nicht konservieren. Es sind Prozesse, die unabhängig von deinen Wünschen immer in Bewegung sind, und eine Beziehung, die du nicht belebst, wird schal und schläft ein. Ich wollte mich mit anderen unterhalten, aber Christian anscheinend nur mit mir. Ich konnte Leilani bewegen, möglichst bald nach Hause zu fahren. Das gefiel mir alles überhaupt nicht. Still von mir träumen, das konnte Christian ja meinetwegen machen, aber andere Ausdrucksformen seiner Zuneigung waren unerwünscht. Nein, er belästigte mich ja nicht, keineswegs, nur mit den absehbaren Entwicklungen wollte ich nichts zu tun haben.
Aber wie konnte Christian denn da wieder runterkommen. Sich nie mehr sehen. Das war doch alles kindisch. Konnte ein vernünftiger erwachsener Mann denn nicht sagen, ich hatte einen schönen Traum, aber der ließ sich nicht realisieren. Das war's. Anscheinend funktionierte es wohl nicht so einfach. Was es denn wohl war, das er von mir träumte, das Bild das er von mir hatte und das ihn berauschte. Vielleicht war es ja völlig abstrus, aber er konnte ja auch etwas sehen, dass ich selbst bislang nicht erkannt hatte. Völlig irre Vorstellungen würde er sich ja nicht machen. Ich stellte mir vor, er würde hier im Haus herumlaufen, den Tisch decken und die Spülmaschine ausräumen und musste lachen. Bevor er den Müll raus brächte, würde er mir einen Kuss geben, weil man ja nie ganz sicher wisse, ob man auch heil zurückkäme. Ich hatte Lust, mit derartigen Flausen zu spielen. Es war etwas ganz anderes als jetzt, aber mögen würde ich es schon wollen. Und was war mit dem überflüssigen Mann? Das war auch immer noch so, aber Christian war ja primär ein guter Freund, doch kein fremder Mann. Am folgenden Tag musste ich auch öfter an Christians Anwesenheit bei uns denken, und es amüsierte mich. Nein, Schluss damit. Ich wollte mich nicht mit solchen Gedankenspielereien beschäftigen. Nachher würde ich es mir noch wünschen.
Einladungen und Fèten gab es in der Folgezeit nicht, aber wir unternahmen häufiger gemeinsam etwas. Mit Caire gemeinsam ins Theater zu gehen war eben ergiebiger als mit Rita. Erwartungshaltung und Vorfreude waren wesentlich größer. Themenspektrum, Tiefe und Offenheit der Unterhaltung gab es in diesem Ausmaß nur mit Claire und Christian. Die beiden sahen es umgekehrt wohl auch so, zumindest beklagte Claire es, dass man mit den meisten Menschen nur über begrenzte Themenbereiche reden könne. Allein mit Christian zu einer Veranstaltung ging ich allerdings nicht. Ich traf ihn zwar schon häufiger allein, wenn er Rebecca abholen kam. Abholen und wegbringen war zur Regel geworden. Wir hatten so auch immer die Möglichkeit zu einem kurzen Kontakt.
Nach einem halben Jahr etwa war Claire das Wunder gelungen, Claudio in die Familie zurück zu holen, Nein nicht zurückholen. Es gab kein früher wo alles wunderbar gewesen wäre. Er hatte Dank Claire einen Weg zur Familie, und vornehmlich zu ihr, gefunden. Voller Vertrauen in Claire zeigte er sich zart und sensibel, auch wenn seine große Klappe manchmal ostentativ das Gegenteil beweisen sollte. Ob er sich mit Musik beschäftigen würde oder nicht, war Claire erst im Prozess wirklich völlig gleichgültig geworden. Ihr kam es vor, als ob sie ihren Sohn erst jetzt kennengelernt und sich in ihn verliebt hätte. „Ne scharfe Perle ist deine Tochter.“ meinte er wohl anerkennend über Leilani zu mir. Leilani verzog das Gesicht und konnte sich das Lachen kaum verkneifen. „Ja, Perle ist schon richtig.“ meinte sie, „Südseeperle, das sagt ja auch mein Name. Nur scharf? Scharf sind die eigentlich nur auf geile, kleine Jungs, die 'ne große Klappe haben. Kennst du welche davon?“ Claudio grinste, und meinte anerkennend zu Claire. „Die ist gut drauf, Mami, ne?“ „Ja, vor allem ist die dir über, ganz weit über. Verbrenn dir nicht die Lippen. Das wird dir nicht bekommen.“ reagierte Claire. Eines Tages wollte Claudio sogar mit ins Konzert. Claire hatte ihm abgeraten und ihn gewarnt, dass es für ihn leicht langweilig werden könne. Er war beleidigt, weil er meinte, das Claire ihn für minderbemittelt halte, nur sagte er es jetzt und beschwerte sich darüber. Wahrscheinlich war darin auch sein Bedürfnis begründet. Er sah in der Familie nicht mehr seine Feinde, die ihm die gewünschte Anerkennung vorenthielten, sondern wollte nicht länger ausgeschlossen bleiben. Im Gespräch über das Konzert lachten wir uns schief, da Claudio seine Kommentare in Computerenglisch gab. Er lachte mit und war sich sicher, das wir ihn nicht auslachten.
Langgezogen blies Leilani die Luft mit dicken Backen aus, knallte ihren Rucksack auf den Tisch und lies sich auf einen Stuhl fallen. „Der geht mir auf die Nerven, immer mehr. Tom quält mich. Hundertmal habe ich's ihm erklärt, wie sich für mich die Lage darstellt und dass ich jetzt keine Planung bis zum Rentenalter mach will, aber ständig fängt er wieder an mit Zukunftsplänen und wie sehr er mich liebt. Ich glaube, ich will das alles nicht mehr, aber wer denn sonst?“ klagte sie. Nach ausgiebigem Trösten nahmen wir uns einen Kaffee mit und diskutierten über Beziehungen, zum tausendsten Mal, jetzt über ihr spezielles Problem. Ich hielt ihre Beziehung zu Tom für sehr unglücklich, weil sie ihn überhaupt nicht akzeptiere, sondern ihn für's Sexuelle und was damit zusammen hing, gebrauche. „Da wird nie etwas draus werden. Ich denke, das dir es auch nicht gut tut. Wenn du auch im Moment zufrieden bist, für mich sähe ich es nicht als wünschenswerte Erfahrungswelt. Und dass du einen Mann brauchst, um Anerkennung bei den anderen zu finden, da stehst du doch weit drüber.“ erklärte ich. „Ja, ja, aber ein gutes Gefühl ist es ja schon.“ reagierte Leilani. „Und davon machst du dich abhängig, machst deine Beziehung davon abhängig? Dann brauchst du dich, meiner Ansicht nach, über Konflikte nicht zu wundern.“ war meine Meinung dazu. „Ach, Mama, ich werde mit Tom Schluss machen. Was soll das noch bringen? Und dann werde ich jemanden kennenlernen, find ihn toll, mag ihn immer mehr, liebe ihn, nur dann stelle ich fest, dass es wie bei Grischa ist. Mit ihm ins Bett zu gehen, da komm ich gar nicht drauf.“ erklärte sie und ließ uns lachen. Durch ihre Beziehung zu Tom sei sie auch nicht offen gewesen, aber jetzt jemand anders für's Bett zu suchen, davon riet ich ihr dringend ab. Sie habe ja auch so gut wie gar nichts mit anderen Männern in Zusammenhängen außer Schule zu tun. „Wenn du studierst wird das anders, aber die Möglichkeit für Zugänge zu anderen Bereichen hast du doch jetzt auch schon.“ meinte ich.
Grischa spielte Christian vor. Der war ganz begeistert. „Dazu später Näheres, aber ich habe eine zweite Aufführung gehabt. Das ist ja unglaublich köstlich, die beiden miteinander umgehen zu sehen. Du könntest permanent zuschauen. Das ist aufführungsreif. Leilani hat es auch bewirkt, das Grischa weitermachen und studieren will. Ich verstehe seine Gründe ja, aber sein Spiel hat absolute Qualität. Er könnte jederzeit bei uns einspringen, nur sein Repertoire ist eben relativ begrenzt. Die beiden werden dir sicher Näheres im Detail berichten.“ erklärte Christian am Telefon. Das taten sie auch aufgewühlt und in großer Emphase. Zunächst brauchte Grischa unverzichtbar den Flügel und die Möglichkeit zu üben. Jede Musikhochschule würde ihn sofort nehmen, da gebe es keinen Zweifel, habe Christian gemeint. Er wollte auch nach Möglichkeiten für Konzerte suchen und er könne so gut bei Proben den Klavierpart übernehmen, er brauche unbedingt Konzerterfahrung. Christian sei begeistert und außerordentlich bemüht gewesen. Er würde am liebsten den Pianisten rausschmeißen und Grischa einstellen, habe er gesagt. Er möge Grischa wohl gut leiden.
Da würde sich gewiss wieder einiges verändern. Aber es kam schon schneller. Claire rief an. „Felicia, oh je, oh je! Ich habe gedacht es läuft alles ruhig. Cristian hat alles im Griff. Vorgestern Nacht wird er aus einem Traum wach und nennt mich Felicia. Es war ihm so peinlich, dass er zunächst gar nicht darüber reden konnte. Gestern hat er mir dann alles erklärt. An seiner Liebe für mich habe sich nichts geändert, nur du seist eben auch da, immer da. Er habe gar keinen Eifluss darauf, und es sei wunderschön an dich zu denken. Es käme ihm vor, als ob alles heller würde, alles leuchten würde. Immer wenn er etwas beende, habe er die Wunschvorstellung, jetzt mit dir reden zu können. Er halte sich ja völlig zurück und handle, als ob es das alles nicht gebe, aber seinen Empfindungen gegenüber sei er völlig machtlos. Er hat ständig dabei geweint. Ob es meinetwegen war, oder mehr, weil es ihm versagt ist, sein Verhältnis zu dir zu realisieren, weiß ich nicht.“ berichtete Claire aufgewühlt. „Claire, ein lustiger Vogel ist der Christian aber schon. Wie kann er denn für sich allein eine Beziehung ausmachen. Da kann er auch in die Kirche gehen und ein Madonnenbild anbeten. Zu 'ner Beziehung gehören in der Regel zwei, die das gegenseitig wollen. Ich kann aber bei mir nichts verspüren. Ich mag Christian zwar, aber ich träume nicht von ihm.“ reagierte ich. „Können wir uns nicht trotzdem mal treffen?“ bat Claire. „Es ist ja nicht nur so, dass er mir weh tut, er zerstört alles.“ begann Claire, als wir uns bei mir trafen. „Claire, ich will nichts von Christian. Was will er denn ohne mein Eiverständnis?“ reagierte ich. „Meinst du denn das würde irgendwann aufhören oder sich ändern?“ fragte sie. „Claire, du hörst dich ja an, als ob du ihn los werden wolltest.“ bemerkte ich dazu. „Ja, natürlich!“ rief sie laut und lachte, „Stell dir das doch mal vor: Immer muss er an dich denken. Wenn du abends mit ihm im Bett liegst, denkt er: 'Wie schön wäre es, wenn Felicia jetzt auch hier liegen würde.' Wenn du mit ihm schläfst, denkt er, er schliefe mit dir, oder mit dir wär's bestimmt noch viel schöner. Wie willst du das denn ertragen.“ „Ich glaube du spinnst, Caire.“ reagierte ich. „Nein, er sagt es doch selbst, immer wenn er etwas beende, denke er, wie schön es wäre jetzt mit dir darüber reden zu können. Wann denkt er denn nicht daran, wie schön es jetzt mit dir wäre, und woran soll ich das denn merken. Soll ich ihn beim Vögeln fragen: „Denkst du jetzt auch nicht an Felicia?“ Claire lachte wieder, „Die Situation ist pervers für mich, ich kann das nicht ertragen und will es auch nicht. Und wenn es so ist, dann ist es viel unerträglicher, als wenn ich alleine wäre. Da habe ich auch gar nicht mal so große Angst vor. Du lebst ja auch alleine ohne Mann und bist glücklich. Seit wann dürfen denn Frauen nur glücklich sein, wenn sie einen Mann haben. Das ist doch übelste Machoideologie. Im Übrigen habe ich ungeahnte Freuden mit Claudio. Neulich kamen mir vor Glück die Tränen. „Mami, warum weinst du denn?“ fragt Claudio. Als ich sagte das ich seinetwegen weine, war er ganz erschrocken. „Nein, ich freue mich, du machst mich so glücklich. Ich weine vor Glück.“ sagte ich. Da hat er mich umarmt, gedrückt und gar nicht wieder losgelassen. Der Junge ist mein wahrer Freund. Der wird mich nicht verlassen. Obwohl, das will Christian ja auch nicht, aber ich will es nicht.“ „Und was zerstört er alles außer eurer Beziehung?“ erkundigte ich mich. „Na es ist kein Daddy mehr zu Hause, aber das werden die Kinder in dem Alter auch überleben. Haben deine ja auch. Aber was wird denn aus uns, wenn wir etwas zusammen machen wollen und du wirst immer den Herrn Christian berücksichtigen müssen?“ meinte Claire. „Wovon träumst du, Claire? Was habe ich mit Christian zu tun? Ich liebe keinen Mann, der Christian heißt.“ reagierte ich. „Na ja, ich dachte nur. Ich will das nicht mehr. Ich will nicht mehr mit ihm in einem Bett schlafen. Ich will ihn auch nicht von dir träumend im Haus rumlaufen sehen. Er müsste schon ausziehen. Das wird er wahrscheinlich nicht wollen, aber das werde ich ihm schon klar machen. Und dann hockte er allein in irgendeiner Wohnung. Du hättest hingegen genügend Platz, ein Klavier und er wäre nicht allein.“ meinte sie. „Oh Claire, zu allem bin ich für dich bereit, aber was willst du mir denn da antun? Du stellst doch keinen Kleiderschrank hier ab. Christian will doch etwas von mir. Wenn ich mir vorstelle, dass er beim Frühstück sitzt, und ich weiß, dass er ständig an mich denkt und mich beobachtet, dann kann das, glaube ich, genauso nervig sein, als wenn er bei dir ständig an mich denkt.“ war meine Reaktion darauf. „Meinst du nicht, dass du es schon in den Griff bekämst? Er wird dir doch sicher auf's Wort folgen.“ sagte Claire dazu. Ich wusste überhaupt nicht, was ich davon halten sollte. Ich hatte nur das Empfinden, lasst mir doch meine Ruhe. „Claire, ich kann dich glaube ich nicht nur verstehen, sondern auch deine Situation nachempfinden, und deine kühle, klare Entschlossenheit in dieser Lage bewundere ich. Nichts ist mir lieber, als dir helfen zu können. Nur wenn Christian hier wohnt, lebt er ja auch hier, und mein, beziehungsweise unser Leben wird nicht mehr das gleiche sein. Ich habe ich keinerlei Bedürfnis, dass sich daran etwas ändert, zumal ich ja auch überhaupt nicht abschätzen kann, wohin es sich entwickeln wird. Nur zwei Argumente gibt es, die dafür sprechen. Einmal, dass ich Christian gut leiden kann, und das zweite ist, das für dich dadurch alles zur Zufriedenheit gelöst wäre. Ich muss es nicht nur überdenken und überschlafen, selbstverständlich muss ich es auch mit Leilani besprechen. Ohne ihr Einverständnis wird es keinesfalls möglich werden.“ erklärte ich.
Völlig verwirrt kam ich mir vor, als Claire wieder nach Hause fuhr. Tausend Fragen, Gedanken und Bilder liefen mir unkoordiniert durch den Kopf. Leilani sagte ich es erst beim Abendbrot. Sie schaute mich an, verzog ihre Mimik zu einem Lächeln mit skeptischem Beigeschmack und meinte: „Wir man zwangsläufig im Alter so gaga, oder ist das noch von der Jugend beibehalten.“ „Gagaismus ist ein substantielle menschliche Fähigkeit, die jederzeit nutzbar gemacht werden kann. Ja, das ist Liebe, mein Schatz. Ein Blick, ein paar Worte und schon ist alles klar.“ ich darauf. „Ist bei dir denn auch schon alles klar?“ fragte Leilani. „Quatsch, ich bin doch nicht verliebt.“ reagierte ich. „Also ich find den Christian klasse. Der hatt was drauf, ist trotzdem ein ausgesprochen netter Typ und hat Lust auf Jux und am Lachen. Das Claire den einfach so gehen lassen will, kann ich gar nicht verstehen. Wenn Christian bei uns wohnt, werde ich ihn verführen.“ erklärte Leilani. „Ich wollte es vernünftig mit dir besprechen und wissen, was du davon hältst.“ gemahnte ich zur Ordnung. „Felicia, ich fände das von uns aus gesehen fantastisch, ich muss nur auch an Claire denken. Und wenn Christian jemand ist, der seine Familie verlässt, weil er jetzt mal eine andere Frau liebt, dann wird er dadurch ein bisschen müffelig“ war Leilanis Meinung. Ich klärte sie über den tatsächlichen Zusammenhang auf und zu meinen Bedenken wusste sie noch zu fragen, ob ich denn Angst habe, dass er mich vergewaltigen würde.
Jetzt hatten die drei Frauen über den weiteren Lebensweg von Herrn Weigand verfügt, nur er selbst wusste noch nichts von seinem Schicksal. Nachdem geklärt war, dass er nicht länger bei Claire wohnen könne, hatte sie ihm eröffnet, dass ich so freundlich gewesen sei, ihn bei mir aufzunehmen, um seine Probleme ein wenig zu lindern. Ich müsse aber vorher mit ihm darüber sprechen.
Nach dezidierten Erläuterungen zu den sozialen Verhältnissen in unserer zukünftigen gemeinsamen WG, die Christian immer durch „Aber selbstverständlich, Felicia.“ kommentierte, durfte er einziehen. Jetzt räumte er tatsächlich die Spülmaschine aus und brachte den Müll vor die Tür, allerdings ohne Abschiedskuss. Das war nicht schlecht. Im Gegenteil Christians Anwesenheit bedeutete eine außergewöhnliche Bereicherung für uns beide. Von Annäherungsversuchen konnte ich nichts verspüren, es erweckte den Eindruck, dass er einfach selig war, bei uns sein zu können. Jetzt, wo niemand davon abhängig war, ob er heute später nach Hause käme, ließ er sich immer telefonisch die Permission erteilen und bat uns, mit dem Abendbrot auf ihn zu warten. Das Leben mit uns hatte für ihn hohe Bedeutung, aber es disharmonierte nicht mit seinen beruflichen Ansprüchen. Wir änderten manche unserer Gewohnheiten durch ihn, unter anderem verführte er uns dazu, Spaziergänge im Wald zu lieben. Christian war ganz vernarrt in die leicht provokanten Nonsensgespräche mit Leilani. Sie hielt ihn stundenlang unentwegt am Lachen. Meistens war es Leilani, die irgendwann Schluss machte, weil sie keine Lust mehr hatte. Christian hielt es für eine absolute Kunst, die starke Sensibilität, hohe Intelligenz und große Schlagfertigkeit erfordere. Na ja, ich konnte so etwas auch nicht. Leilani hatte als vierjährige schon damit angefangen es zu trainieren. Nicht nur dadurch schien sich das Lachen in unserem Hause vermehrt zu haben. Als ein erfahrungsreiches, glückliches Leben empfand ich es, und Christian Weigand, von dessen psychischen Tiefen, ich so viel zu wissen glaubte, schien mir jetzt immer deutlicher erkennbar zu werden. Mir gefiel an ihm wie er reagierte, seine milde feste Stimme hörte ich gern, im Gespräch konnte ich mich in seine Mimik vertiefen und dem Rhythmus und der Melodie seiner Stimme lauschen. Ich freute mich wenn er da war. Hatte Lust auf ihn, Lust darauf ihn zu necken und mit ihm zu scherzen. Langsam hatte es sich entwickelt und erfreute mich ständig mehr. Ich wollte es gar nicht wissen, es nicht analysieren, was da mit mir geschah, ich genoss es. Wir hockten häufig zu zweit zusammen. Ich zeigte Christian zum Beispiel ein Gedicht, dass ich liebte, las es ihm vor, und wir sprachen darüber, oder wir hörten kurze Passagen aus einer Sinfonie, sprachen über unsere Impressionen und er erläuterte, warum er es in welcher weise dirigiere. Kleine Episoden mit fast sinnlichem Charakter.
„Ihr beide seid total bescheuert. Was wird hier eigentlich für ein Film gespielt?“ echauffierte sich Leilani, „Jeder sieht, dass hier ein Liebesfilm der heftigsten Sorte abläuft, nur die beiden Hauptakteure streiten es vehement ab, weil's der eine nicht zeigen darf und die andere es vor sich nicht wahr haben will. Kinder seid ihr. Warum redet ihr denn nicht mal miteinander. Wie ihr euch verhaltet, das ist absolut grotesk.“ Wahrscheinlich hatte sie nicht Unrecht, aber ich wollte's gar nicht wissen. So war's ja schön. Gab es irgend einen Zwang oder ein Bedürfnis, etwas anderes tun zu müssen? Ich fühlte mich glücklich, was sollte es da für Handlungsbedarfe geben. Nach dem Essen saßen wir noch bei Wein und Käse und ich hatte Christian gerade etwas zugeflüstert. Manche Worte flüstert man nicht, weil sie etwas Geheimes beinhalten, sie klingen einfach nur geflüstert besser. „Man, nu gebt euch doch mal endlich einen Kuss!“ stöhnte Leilani auf. Die Köpfe waren noch sehr dicht beieinander. Unsere jeweiligen Blicke fragten den anderen: „Sollen wir?“. Ja wir wollten. Leilani stand auf, umarmte unsere beiden küssenden Köpfe und gab jedem einen Kuss, dann verschwand sie in ihr Zimmer. Ernst mit leicht freudig breiten Lippen betrachteten wir den andern, während unsere Fingerkuppen seine Haut im Gesicht betasteten. „Felicia“ sagte Christian. Ich war wohl leicht im Nebel und sagte nur „Ja?“, als ob ich fragen wollte: „Was gibt’s?“. Aber es war ja auch alles so plötzlich, und in welcher Szene wir uns befanden, wusste ich auch nicht. Christian kam wieder mit seinen Lippen näher, das war auch das beste. Jetzt waren wir schon erfahrene Profis und würdigten mit dicker Schnute siegreich strahlend unseren Erfolg. Wir saßen immer noch an beiden Seite einer Küchentischecke. Ich nahm meinen Stuhl setzte mich zu Christian, und er drehte seinen zu mir. Das musste wieder küssend gewürdigt werden. „Wir werden das ganz oft machen müssen. Wir haben viel nachzuholen für all die Male, wo wir's nicht gemacht haben.“ meinte ich zärtlich. Nur in Wirklichkeit hatte ich mir das nie versagt, davon hatte ich nicht geträumt, den Wunsch hatte ich gar nicht gehabt, Christian zu küssen. Diese kleinen Szenen, wenn wir eng beieinander saßen, für den anderen ganz weit offen waren, und seine Anerkennung und Zuneigung erlebten, das waren selige Momente. Das war der Christian von dem ich geträumt hatte und der mir so viel gab. Aber Küssen war auch nicht schlecht, nur anders. Vergessen hatte ich es ja nicht, doch meine Erinnerungen mussten wohl mit viel anderem garniert dick verpackt und verschnürt abgelegt sein, denn jetzt konnte ich nicht verstehen, wie mir so etwas gleichgültig sein konnte, das brauchte Frau doch. Ich verwuschelte ihm das Haar und boxte ihm in den Bauch. Die Nebel der Irritation waren verschwunden. „Ist nicht schlecht, wenn man sich küssen darf, oder?“ fragte ich. Christian lachte, und meinte dass es sich dabei um den großen Sprung nach vorn in unserer Beziehung handle. „Weißt du denn auch schon, ob der Tiger von Eschnapur noch weitere große Sprünge vor hat.“ Und dann redeten wir beiden Idioten auf Stühlen in der Küche nebeneinander sitzend über den Film. Christian hatte ihn nämlich gesehen und ich wusste nur etwas aus der Kinematografie darüber. Es war verrückt, aber auch bezeichnend für unsere Beziehung. „Mon ami, wir sind doch dabei, uns zu lieben. Vergiss das bitte nicht.“ ermahnte ich ihn. „Der Liebhaber hat für seine Geliebte sogar einen Tiger besiegt. Erwartest du das von mir auch?“ wollte Christian von mir wissen. „Jede Frau erwartet das von dem Mann, der sie sie begehrt. Erst dann ist sie in der Lage, sich ihm voll hinzugeben.“ antwortete ich ihm. „Zieh dein Hemd aus. Ich will auch deinen Bauch küssen.“ forderte ich Christian auf. Christian hatte immer eine zum Lachen bereite Mine. Jetzt erklärte er in einem durch Lachen untermalten Jammerton: „Felicia, ich liebe dich, aber du machst immer Jux.“
„Sollen wir nicht mal zur Couch gehen?“ fragte ich, als ich ihm sein T-Shirt über den Kopf streifte. „Oder ins Bett?“ fragte Christian. Die Frage traf mich und ließ mir den Mund offenstehen. Alles lief mir blitzschnell durch den Kopf. Was vor einer Stunde noch als Ungeheuerlichkeit gegolten hätte, jetzt würde es mit Sicherheit darauf hinaus laufen. Christian hatte Recht. Warum sollten wir den Umweg über die unbequeme Couch nehmen und so tun, als ob wir dort die Attraktivität unserer körperlichen Reize entdecken und gegenseitige Begehrlichkeiten entwickeln würden. Die Couch wäre eine verlogene, perverse Lokalität. „Aber nicht nur vögeln.“ wollte ich mir ausbedingen. Christian schaute mich mit verhaltenem Lachen an und brachte nur ein entrüstetes „Felicia!“ hervor. Und dann machten wir's gar nicht. Nackt zusammen im Bett zu liegen, sich zu berühren und ertasten und dabei in love talk Klängen miteinander zu reden, war nicht nur neu. Es gefiel uns so gut, dass wir es ständig fortsetzen konnten und andere Bedürfnisse dabei nicht erwachten. Als ich Christian darauf ansprach, meinte er „Na, ist doch egal, wir müssen doch nichts, nur das, wozu wir Lust haben.“ und wir säuselten und befühlten uns weiter. Wahrscheinlich hätten wir den Rest unseres Lebens in dieser Manier zu bringen können. Schmeichelnd und neckend, mit sanft verliebter Stimme und häufigem Lachen und die Haut des anderen befühlend. Unterbrochen nur durch häufige Küsse. Neugierig war ich aber schon. Es war bestimmt schon in der Morgenzeit, als ich Christians Hans ein wenig fester auf meine Brust drückte und tiefer atmete. Er verstand. Was hatte ich nur erinnert, aber vielleicht oder wahrscheinlich ist es sowieso immer anders. „Bleib.“ sagte ich nur, als Christian begann, sich von mir runter zu bewegen. Ich wollte seinen verschwitzten heißen Körper weiter auf meinem spüren. Vergessen kannst du es ja nicht. Ob die Zeit deine Erinnerungen verändert? Vielleicht konnte man es auch so auch erst ab fünfzig erfahren. Ich schwelgte in Wonne. Später lag ich auf Christian, scherzte und schlief beseelt auf ihm liegend ein. Es war schon nach Zwölf als wir aufwachten. In der Küche bereiteten wir uns Frühstück zu und brachten es mit Champagner zum Bett. Von Leilani war nichts zu sehen. Am Nachmittag schaute sie kurz durch die Schlafzimmertür, zog sie aber sofort wieder zu. Wir beschlossen, unser weiteres Leben im Bett zu verbringen. Wenn Päpste, Könige, Dichter und Philosophen es gekonnt hatten, warum sollte es uns verwehrt bleiben. Die Eindrücke von anderen Menschen seien unvollkommen, da sie auf die Erkenntnisse haptischer Wahrnehmung verzichteten. Man müsse sich beim Sprechen nicht nur zuhören, zuschauen sondern sich auch befühlen können. „Hast du denn jetzt durch deine haptischen Erfahrungen ein anderes Bild von mir?“ wollte Thomas wissen. „Ja, was denkst du denn, wozu ich das mache. Nur, um mein Bild von dir zu vervollkommnen.“ antwortete ich. „Und ist es jetzt vollkommen, oder gedenkst du noch weitere Versuche zur Vervollkommnung zu unternehmen?“ wollte Christian lachend wissen. „Mon Ami, die Vervollkommnung des Bildes seines Liebsten ist doch kein einmal abzuschließender Akt. Es handelt sich dabei um einen Prozess, der permanenter Pflege bedarf.“ reagierte ich darauf. Unabhängig von diesen Scherzen, kam es mir in der Tat vor, als ob ich ein dringendes Bedürfnis hätte, Christian möglichst oft zu berühren. Wo war das vorher? Ja, jetzt schien die Liebe bis in die Fingerspitzen zu gehen.
Wir lagen aneinander gekuschelt und redeten, als Leilani reinkam. „Man steht mal endlich auf. Ich will euch auch mal sehen. Das Abendbrot wartet schon.“ forderte sie uns auf. Beim Abendbrot strahlte sie uns abwechselnd an. „Ja, was kiekste, du allein bist Schuld daran.“ sagte ich zu ihr. „Nein, es ist ja beruhigend zu erfahren, dass es einem auch in eurem Alter noch Spaß machen kann.“ erklärte sie mit todernster Mine, wobei ich mein Baguette auf sie feuerte und Christian schon wieder einen Lachkrampf kriegte. „Das ist ja nicht nur Spaß. Viel harte Arbeit steckt darin. So wie bei den meisten Erfolgen im Leben eben.“ reagierte Christian mit unterdrücktem Lachen. „Du siehst das also mehr als eine Metapher für das Leben an sich. So wie der Langstreckenläufer hechelnd und stöhnend sein Ziel erreicht. Aber wo tut man das im Leben denn sonst? Machst du das so, wenn du eine Symphonie dirigierst?“ fragte Leilani darauf. „Nicht immer.“ brachte Christian unter Lachen hervor. „Aber Schatz, sich lieben besteht doch nicht nur aus Hecheln und Stöhnen, oder bist du das so gewohnt?“ erkundigte ich mich. „Ich bin gar nix mehr gewohnt. Ich werde Nonne werden und ins Kloster gehen. Da kann ich dann für die Seelen so sündiger Menschen wie euch beten.“ reagierte Leilani. „Ja stimmt, habe ich noch nie davon gehört, von deinem Freund. Gibt’s gar keinen?“ fragte Christian. Dann folgte eine längere Diskussion über Leilanis Liebesleben. Sie revidierte nicht zu letzt auf Grund unserer Erfahrungen ihre Vorstellung von den anderen Männern, die ihr immer fremd bleiben würden, wollte Christian öfter bei der Arbeit besuchen und auch oft anderes mit ihm unternehmen.
Das wir verliebt waren und miteinander schliefen, erfuhr Claire durch Rebecca. Ich hatte mich nicht getraut. „Ja, Claire, es war falsch. Ich habe dich bevormundet und mir deinen Kopf zerbrochen.“ erklärte ich ihr, als sie Rebecca abholen kam. „Ich dachte, es würde dir weh tun. Ich hatte dir gegenüber ein schlechtes Gewissen. Und da war ich einfach zu feige.“ „Felicia, Christian kann machen, was er will. Er war ja damals schon bei dir. Wie du damit umgingst, war doch nicht meine Angelegenheit. Du hast doch nie etwas dazu getan. Dass du sagtest, du liebtest ihn nicht, war deine Aussage. Die ich dir auch geglaubt habe, und die damals sicher zutreffend war, nur ich wusste auch, dass es nicht so bleiben musste und sich wahrscheinlich im Laufe der Zeit ändern würde. Ich habe mit nichts anderem gerechnet, Felicia. Mach dir, bitte, keine irgendwie gearteten Vorwürfe. Mir tut da überhaupt nichts weh. Weh tat es mir, als er mich halb wach Felicia nannte. Ich hatte schlagartig das Gefühl, es ist vorbei. Er ist nicht mehr bei dir. Den Rest der Nacht konnte ich nicht schlafen, aber als er mir alles erklärte, kam es mir schon vor wie kalter Kaffee, als ob er mich um Verzeihung bitten wollte.“ erläuterte Claire. „Ich bin ihm vor allem aber dir kein bisschen böse deswegen. Ich freu mich eher für euch beide. Na ja, wenn ihr vor meinen Augen extensiv turteln würdet, wüsste ich vielleicht doch nicht wie ich das empfinden sollte.“ Claire erschien mir immer ein wenig härter und straffer geordnet, das war sie wohl auch, trotzdem war sie ein wunderbarer Mensch.
Wir hatten gar keine Zeit für unsere neue Liebe. Immer waren wir total busy. Leilani war absolut begeistert von ihren neuen Erfahrungen, war ständig unterwegs, und Rebeccas Besuche mussten stark reduziert werden. Sie habe bei ihrem Geigenunterricht damals den falschen Blick gehabt. Ein Mensch der sich nicht musikalisch ausdrücken könne, habe in seinem Gefühlshaushalt eine große verwaiste Stelle. Sie überlegte, noch Cello spielen zu lernen. Bald kannte sie Gott und die Welt aus Philharmonie, Oper und Theater und sah dort auch ihren Lebensmittelpunkt. Das soziale Klima an der Schule interessierte sie kein bisschen mehr. Nur für Haushaltsangelegenheiten, die wir uns sonst immer redlich geteilt hatten, war auch keine Zeit mehr da. Ich hatte in meinem Leben noch nie so viel mit Haushalt zu tun gehabt. Unserer letzten Haushaltsgehilfin hatten wir gekündigt, als die Kinder größer wurden. Ich wollte nicht nach der Klinik bis in den Abend über beide Ohren permanent nur mit Haushaltsarbeiten beschäftigt sein. Also gab es für uns drei Erwachsene wieder eine Haushaltsgehilfin. Dann mussten wir auch noch einen neuen Flügel besorgen, entweder für uns oder für Grischa, und tatsächlich ein Cello für Leilani. Ihre Begeisterung für Sol Gabetta war ausschlaggebend gewesen. Ein neuer Weg in die Katastrophe? Nein entscheidend hatte sie ein Student ermutigt, der manchmal im Orchester spielte. Er selbst war ein hervorragender Cellist, sonst hätte er ja auch nicht spielen können, Sol Gabetta sei eben noch eine ganz andere Liga. Da könne man Tag und Nacht üben, was erblich angelegt oder in frühester Kindheit erworben worden sei, könne man nie nachholen. Wie tröstlich für Leilani. Sie hatte zwar eine Lehrerin, aber Raoul war die oberste Instanz. Er konnte ja schließlich viel besser spielen, als ihre Lehrerin. Christian schätzte nicht nur seine fachliche Qualität, er mochte ihn auch. Öfter trafen die drei sich auch bei uns. Zum ersten mal, um die Papagenovariationen jetzt für Leilani komplett zu spielen. Sie hatten viel Freude miteinander und ich sah mich ein wenig außen vor.
Leilani würde jetzt auch bald das Abitur machen. Und mich verlassen? Das würde ich nicht überleben. Unsinn, aber eine Welt ohne Leilani konnte ich mir nicht vorstellen. Einen kleinen Vorgeschmack bekam ich ja jetzt schon. Sie hatte kaum Zeit für die Arbeiten der Schule und dann für mich? Die Zeit unseres kleinen Paradieses, hatte sich schon durch Christian verändert. Unsere Liebe und der gleichzeitige Beginn von Leilanis Interesse für die Philharmonie hatten wieder eine neue Welt geschaffen. Ein Kontinuum gab es nicht, konnte es auch gar nicht geben. Seit dem Auszug meines Mannes damals hatten die Veränderungen letztendlich immer nur erfreuliche Auswirkungen gehabt. Welche Vorstellung machte es mir denn, mit Christian allein zu leben? Ich hatte mit einer Frau zusammenleben wollen und jetzt hatte ich einen Mann. Ob ich mich auch noch um eine andere Frau bemühen sollte? Dann würde Christian sich hinterher noch in sie verlieben. Am günstigsten und sichersten wäre Claire. Wir trafen uns häufig und hatten Lust daran. Vielleicht lag es an Claudio oder auch daran, dass ihr die Befreiung mehr gegeben hatte, als die meiner Einschätzung nach, stupide Liebe zu Christian, jedenfalls erweckte sie den Eindruck, jünger, frischer, aufgeschlossener und lustiger geworden zu sein. Nach meiner Ansicht wäre sie eine begehrenswerte Frau. Als ich sie fragte, ob sie sich denn einen Partner wünsche oder sogar suche, bekam ich nur die knappe, eindeutige und abschließende Erklärung mitgeteilt: „Ich werd' mir doch so etwas nicht wieder ans Bein binden, Felicia.“ Auf mein Lachen hin erklärte sie sich näher. „Ich habe Christian für den ehrlichsten, aufrichtigsten und treuesten Mann gehalten, bei dem so etwas niemals passieren könne. Und trotzdem macht er's. Zeig mir einen Mann, bei dem du das ausschließen könntest. Den gibt es nicht. Das ist etwas genuin männliches. Wenn sie eine Geschlechtspartnerin sehen, von der sie meinen, bei der sei ihr Samen besser angelegt, dann müssen sie dem folgen.“ erläuterte Claire dazu. „Unter Lachen meinte ich, dass sich der Herr Hahn bei mir aber wohl ein wenig vertan hätte. „Das läuft doch vermittelt, meine Süße. Wenn sie große Glocken erotisch finden, dann basiert es darauf, das sie meinen, die Frau könne ihre Kinder gut säugen. Nur das spielt ja direkt heute keine Rolle mehr. Sie finden ja auch bei Frauen nach der Menopause große Titten noch sexuell erregend.“ meinte Claire dazu. „Und welche Reproduktionsvorteile sah Christian bei mir. Wie würdest du das einschätzen? Große Brüste können's ja nicht gewesen sein. Wirkt mein Becken eventuell gebärfreudig? Oder weißt mein Po die erforderlichen Fettpolster für gutes Überwintern auf? Du kennst ihn länger als ich. Du wirst besser wissen, worauf er bei der Verteilung seines Samens Wert legt.“ wollte ich bei Claire Rat holen. Zu solchen oder ähnlichen Blödeleien, kam es permanent bei unseren Treffen. Ja, wir mochten uns gut leiden, auch wenn ich uns für ziemlich unterschiedlich hielt. Ich wüsste nicht, mit wem ich lieber zusammengewohnt hätte, als mit ihr.
Es war ja noch nicht alles entschieden, vielleicht studierte Leilani ja auch hier. Eigentlich wollte sie Theaterwissenschaften studieren. Das ging hier nicht. Aber Christan meinte, es gebe keinen Beruf, für den das Voraussetzung wäre. Nur die wenigsten Regisseure oder Dramaturgen hätten so eine Ausbildung. Die meisten seien Germanisten, und wenn man wisse, dass man später etwas in der Richtung machen wolle, könne man ja entsprechende Schwerpunkte setzen. Außerdem könne sie den Bezug zur Praxis, den sie hier habe, anderswo nie bekommen. Vor allem aber das Cello. Von Beginn an war es ihr Gott. Eine Lehrerin hätte sie anderswo auch finden können, aber das Cello war auch Raoul. Er kam oft, und sie spielten, hörten und diskutierten. Er konnte Leilani natürlich enorm viel vermitteln, aber für ihn selbst? Leilani einen Gefallen tun und das manchmal zwei Mal in der Woche? „Ist Raoul dein Freund?“ fragte ich sie. „Felicia, du musst immer gleich an so etwas denken. Du kannst dich ja mal daneben setzen und zuhören, worüber wir uns unterhalten. Natürlich verstehen wir uns gut, sonst ginge es ja auch gar nicht, aber wir kümmern uns nur um's Cello.“ reagierte sie leicht empört. „Na ja, wer soll es besser wissen als du?“ reagierte ich schmunzelnd. Ich immer gleich an so etwas denken. Ich hatte es mir genauso verboten wie sie jetzt. Warum tun wir das? Mögen wir unsere Emotionen nicht? Es ist schon ärgerlich, wenn sie nicht in die rationalen Vorschriften passen. Aber das Cello einsam mitnehmen und Raoul verlieren, die Perspektive könnte schon einiges beeinflussen.
Natürlich blieb sie. Ihr Abitur feierte sie, wie einen großen Hochzeitsball. Sie habe nicht die Mature sondern die Freiheit erlangt, das gelte es viel intensiver zu feiern. Aus der Schule war nur eine junge Frau anwesend, die sie als ihre Freundin bezeichnete, alle anderen kamen aus dem Umfeld von Philharmonie, Oper und Theater. Grischa und Raoul spielten Rachmaninows Sonate für Klavier und Cello und Arana und ihr derzeitiger Lover tanzten sie. Leilani selbst musste natürlich auch noch spielen. Franz Lists Liebestraum mit Grischa am Klavier. Immer wieder schaute sie zwischendurch zu Raoul, und es waren keine Blicke, die fragten, ob sie es richtig mache. Er streichelte Leilani anschließend anerkennend über die Schulter und ich fragte: „Ist es völlig daneben, wenn ich euch auffordere, euch doch endlich mal zu küssen?“ Leilani lachte und strahlte. Sie schaute Raoul an, der ein wenig verlegen grinste. Er hätte es wahrscheinlich am liebsten schon vor einem Jahr getan. „Komm!“ forderte Leilani nur. Jetzt klebten sie für den Rest des Balls noch enger zusammen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Es war ein wunderbares Fest. Schöner und harmonischer hatte ich noch keines erlebt und meine Südseeprinzessin reif, erwachsen, frei und verliebt. Es waren Freundinnen und Freunde aus einer Welt, die sie sich mit Unterstützung von Christian selber geschaffen hatte. Dahin würde ich sie gern entlassen können. Zwischendurch saß ich allein am Küchentisch. Ein wenig schien es mir, als ob ich langsam alt werden würde, aber ich war glücklich. Musste schlucken und in meinen Augenliedern begann sich Flüssigkeit zu sammeln.
Ständig spielte jemand Klavier und Grischa war viel gefragt. Leilani hatte trotz ihres strikten Vorhabens doch wohl ein wenig zu viel getrunken, war leicht beschwipst und ständig am Lachen. „Felicia, ich fänd' das ja blöde, wenn der Raoul gleich noch nach Hause fahren würde, aber meinst du, ich sollte einfach so mit ihm schlafen?“ wollte sie von mir wissen. In mein Lachen hinein erklärte Raoul schon: „Leilani, du hast zu viel getrunken.“ „Ne, Raoul, die fängt mit einem ihrer Spielchen an. Das kann die auch, wenn sie völlig nüchtern ist. Da kommst du aus dem Lachen nicht heraus.“ „Mama, du machst alles kaputt. Ich bin aber wirklich besäuselt. Meinst du denn das geht dann und man hat Spaß oder ist man dann immer nur doof?“ fragte sie ernsthaft, aber ich musste trotzdem schrecklich lachen. „Du wirst es ausprobieren müssen, und wenn's nicht gut war, dich dafür entscheiden, es beim nächsten Mal doch lieber nüchtern zu machen.“ war mein Rat. Raoul, der kopfschüttelnd daneben gestanden hatte, wandte sich anderen zu. Leilani setzte sich mit gespreizten Beinen auf meinen Schoß. „Du musst mir doch helfen, Mamelena.“ Das hatte ich seit ihren Kindertagen nicht mehr gehört. Da hatte sie situationsadäquate Namen für mich erfunden, die mit Mame- oder Mama- begannen. „Hast du irgendwo vor Angst?“ fragte ich und sie nickte. Unerklärlich war mir das. „Das ist doch etwas ganz anderes. Wir lieben uns doch.“ erklärte sie. „Und da hast du Angst, etwas falsch zu machen?“ erkundigte ich mich. „Leilani, ich glaube, dann wird das nix, wenn man bei der Lust alles richtig machen will. Dann geht es nicht. Du musst ganz frei sein und dich einfach freuen. Was soll denn passieren? Wenn Raoul etwas macht, was du nicht möchtest, wirst du's ihm sagen und umgekehrt genauso. Wo ist das Problem? Du darfst nur deine Lust leben und niemals an irgendwelche Absichten oder Vorschriften denken.“ meinte ich. Sie legte sich mir um den Hals und erdrückte mich fast. Es wurde schon fast Morgen, als Cristian mich auf der Couch weckte und mit ins Bett nahm.
Bei der Vorstellung, allein mit Christian zu leben, war mir nicht nur wohl zumute. Nicht wegen Christian, da hatte ich keine Befürchtungen oder Bedenken, aber das Bild von dem alleinlebenden älteren Ehepaar, das passte nicht in meine Vorstellung von Leben. Natürlich wäre es darauf angekommen, was wir daraus gemacht hätten, aber Leben geht anders als die Tage unter zwei relativ Gleichaltrigen verbringen. Ich will zum Leben anderer auch privat Kontakt haben, zu meinem Leben gehört, dass ich auch das Leben anderer erlebe und darin eingebunden bin. Die alte Esche und die junge Robinie formen gemeinsam das harmonische Bild mit dem sie beide schützenden Institut. Eine Separierung des Lebenden in Altersstufen ist von der Natur nicht vorgesehen und ihr wesensfremd. Sonst könnte es sich um ein Leben handeln, dessen Intention es ist, sich mit gemächlichen Schritten auf das Altersheim zuzubewegen. Jetzt war nicht nur Leilanis Auszug abgewendet, Raoul war natürlich auch öfter hier und blieb immer länger. „Raoul, warum hast du eine Wohnung in der Geibelstraße, brauchst du manchmal eine absolute Rückzugsmöglichkeit?“ fragte ich ihn. Er lachte auf und fragte: „Ist das nicht gut? Stimmt etwas nicht mit der Wohnung oder der Lage?“ „Nein, nein, mich wundert nur, wenn du an neun von zehn Tagen hier lebst, warum du dann für den einen Tag eine extra Wohnung brauchst. Ich frage mich, wie belastend es für dich wäre, den zehnten auch noch hier zu verbringen?“ erläuterte ich. Raoul lachte immer noch. „Ja, aber ich kann doch nicht einfach ganz hier wohnen.“ äußerte er Bedenken. „Raoul, weißt du was, deine Freundin die macht das auch, und die fühlt sich pudelwohl dabei. Lass dir das doch mal von ihr erklären.“ meinte ich. Raoul lachte in sich hinein und ging zu Leilani ins Zimmer. Jetzt war die Dreierbande ständig zusammen, und ich bestand darauf nicht ständig außen vorgehalten zu werden. Bei manchen Angelegenheiten waren Spezialdiskussionen auch tabu. Beim gemeinsamen Spaziergang wurde nicht über Grifftechniken und Bogenführung diskutiert. Das hatte sich alles sehr schnell eingespielt und unser Haus war wieder voll Musik. Jedes Instrument hat seine eigene unvergleichlich schöne Sprache. Grischas Klavierspiel konnte ich permanent hören. Ob es bei einer Geige auch so wäre? Ich glaube eher nicht. Ich liebe Violinkonzerte über alle Maßen, aber den ganzen Tag nur Sologeige, da wäre ich skeptisch. Beim Cello war das völlig anders. Für mich war es ein sündiges Instrument. Warum ich weiß es nicht, aber ich fand der Klang habe immer wieder und permanent etwas Sinnliches, Erotisches. Für den Liebestraum von List hatte Leilani bis zum Erbrechen geübt. Eigentlich lag er außerhalb ihres Kompetenzbereiches. Ich konnte jede Note inclusive Vibrato singen, und trotzdem konnte ich es immer wieder hören.
Immer wieder gab es Veränderungen, die Situationen waren immer neu, aber nie empfanden wir sie als schlechter, verglichen mit dem Vergangenen. Ob es an uns lag, wie wir damit umgingen, uns nicht im Beweinen des Verlorenen erschöpften, sondern immer offen waren, freudvoll Neues zu erkennen und es zu leben. Vieles haben wir sicher hineingesehen und gestaltet. Dein Blick ist ja nicht leer und nimmt Vorhandenes auf. Die Dinge zu sehen ist immer ein interaktiver Prozess zwischen dir und dem, dem was du siehst. Genau weiß ich nicht, was unsere jeweilige Lage wie beeinflusst hat, nur dass es sehr hilfreich ist, auch die feinen Verästelungen zu sehen und auch die Zwischentöne zu hören, dessen bin ich mir sicher. Es genügt nicht zu wissen, ob es Sommer oder Winter ist, du musst auch den leichten Wind spüren und seine Botschaft verstehen, so wie die kleine Robinie auf der anderen Straßenseite vor meinem Fenster.
FIN
Leur mode de vie est ouverte à toute de modification.
Ich hatte mich von meinem Mann getrennt. Jetzt schien die Welt wieder in Ordnung. Das Glück war bei meinen drei Kindern und mir zu Hause. Ein neuer Mann? Das Überflüssigste und Störendste, was man sich denken konnte. Aber was sich entwickelte wollte von meinen Vorstellungen nichts wissen. Jetzt würde meine Jüngste mich zum Studieren verlassen. Und ich? Allein mit einem Mann, dem Herrn Dirigenten, würde ich zusammenleben. Das Fatale, ich war auch noch glücklich und liebte ihn. Welche Vorstellung machte es mir denn, mit Christian allein zu leben? Ich hatte mit einer Frau zusammenleben wollen und jetzt hatte ich einen Mann. Ob ich mich auch noch um eine andere Frau bemühen sollte? Dann würde Christian sich hinterher noch in sie verlieben. Am günstigsten und sichersten wäre Claire, seine Frau. Wir trafen uns häufig und hatten Lust daran. Vielleicht lag es an Claudio oder auch daran, dass ihr die Befreiung mehr gegeben hatte, als die meiner Einschätzung nach, stupide Liebe zu Christian, jedenfalls erweckte sie den Eindruck, jünger, frischer, aufgeschlossener und lustiger geworden zu sein. Nach meiner Ansicht wäre sie eine begehrenswerte Frau. Als ich sie fragte, ob sie sich denn einen Partner wünsche oder sogar suche, bekam ich nur die knappe, eindeutige und abschließende Erklärung mitgeteilt: „Ich werd' mir doch so etwas nicht wieder ans Bein binden, Felicia.“ Auf mein Lachen hin erklärte sie sich näher. „Ich habe Christian für den ehrlichsten, aufrichtigsten und treuesten Mann gehalten, bei dem so etwas niemals passieren könne. Und trotzdem macht er's. Zeig mir einen Mann, bei dem du das ausschließen könntest. Den gibt es nicht. Das ist etwas genuin männliches. Wenn sie eine Geschlechtspartnerin sehen, von der sie meinen, bei der sei ihr Samen besser angelegt, dann müssen sie dem folgen.“ erläuterte Claire dazu. „Unter Lachen meinte ich, dass sich der Herr Hahn bei mir aber wohl ein wenig vertan hätte. „Das läuft doch vermittelt, meine Süße. Wenn sie große Glocken erotisch finden, dann basiert es darauf, das sie meinen, die Frau könne ihre Kinder gut säugen. Nur das spielt ja direkt heute keine Rolle mehr. Sie finden ja auch bei Frauen nach der Menopause große Titten noch sexuell erregend.“ meinte Claire dazu. „Und welche Reproduktionsvorteile sah Christian bei mir. Wie würdest du das einschätzen? Große Brüste können's ja nicht gewesen sein. Wirkt mein Becken eventuell gebärfreudig? Oder weißt mein Po die erforderlichen Fettpolster für gutes Überwintern auf? Du kennst ihn länger als ich. Du wirst besser wissen, worauf er bei der Verteilung seines Samens Wert legt.“ wollte ich bei Claire Rat holen. Zu solchen oder ähnlichen Blödeleien, kam es permanent bei unseren Treffen. Ja, wir mochten uns gut leiden, auch wenn ich uns für ziemlich unterschiedlich hielt. Ich wüsste nicht, mit wem ich lieber zusammengewohnt hätte, als mit ihr.
Doch wieder ein Mann? – Seite 29von 29
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2013
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