Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Wenn kluge Mädchen lieben

Versuch das Betty mal klar zu machen

 

Erzählung

 

 

En tous pays, avant de juger un homme,
le monde écoute ce qu'en pense sa femme.

Honoré de Balzac

Mädchen sind ja sowieso immer schlauer als Jungs, aber dass ich keine tumbe Tusse sein konnte, hatte ich von meiner Omi geerbt. Meine Omi war eine ganz kluge und schlaue Frau, emeritierte Professorin und Feministin. Ich bewunderte sie aber nicht nur, weil sie so viel, ich glaube, fast alles, wusste, sie war meine Allerliebste überhaupt. Omi Leonie hatte sich durchgesetzt, dass ich Simone hieß nach Simone de Beauvoir. Darüber wollte ich natürlich alles wissen. Nicht nur einfach so, ganz genau wollte ich alles erklärt haben. Freund, Mann? Dass wir Frauen das unterdrückte Geschlecht sind, wusste ich schon als Kind. Der Mann von meiner Freundin, einer Lehrerin bei uns an der Schule, so einen könnte ich mir vielleicht noch vorstellen, aber da gab's ja nur den einen. Ich wollte nach dem Abitur lieber in einer Frauen-WG wohnen. Und dann lerne ich diesen Claudio kennen, den sie alle Akki nennen. Bei einer Grillfète stand er neben mir und meinte, ich solle doch Schweinefleisch essen. Den ganzen Abend blödelten wir nur über Schweinefleisch und ähnlich Verrücktes. Wir haben schrecklich viel gelacht, aber Akki rief an, er möchte mich wiedersehen. Ich wollte das alles doch gar nicht. Dieses blöde, infantile Verliebt-Spielen war mir zuwider. Nur so lief das mit Claudio gar nicht. Dass sich für mich durch Liebe zu einem Mann so viel verändern könnte, hätte ich bestritten. Aber Simone de Beauvoir hatte ja sogar mehrere Liebhaber und nicht nur ihren Jean Paul Sartre.

 

Wenn kluge Mädchen lieben - Inhalt

 

Wenn kluge Mädchen lieben 4

Die Eltern 4

Das unterdrückte Geschlecht 4

Simone de Beauvoir 5

Versuch das Betty mal klar zu machen 5

Feuer des Erkennenwollens 6

Was sollte ich mit so einem 7

Schweinefleisch 8

Wie das mit dem Klicken ist 8

Jetzt wollte ich mich auch mit Akki treffen 9

Was studieren? 10

Abitur 11

Fète 11

Herrschaftsverhältnisse 12

Gefühle leben 13

Neues Leben und alte Hüften 14

Des Glücks jeden Tages bewusst werden 15

Neue Wohnung 16

Jeder Tag ein Festtag 16

Maria hieß sie 17

Alles Verführung, alles Manipulation 18

Maria und Fabian 19

Maria braucht einen Mann 20

Fabian will heiraten 21

Frühlingsblume und Märchenprinz 22

Wohnung für das junge Paar 23

Donnerstagskreis 24

 

Wenn kluge Mädchen lieben - Die Eltern

 

Mein Vater war Landschaftsmaler und meine Mutter Landschaftsmalerin. Manchmal bekamen sie einen Auftrag, dann sollten sie für jemanden eine be­stimmte Landschaft malen, aber meistens malten sie nur, weil sie es selber schön fanden. Mag sein, dass andere Leute ihre Bilder auch schön fanden, nur kaufen wollten sie sie nicht. Auch in den Galerien sagte man nicht, dass die Bil­der schlecht oder hässlich wären, aber ausstellen wollten sie die Bilder trotz­dem nicht. Meine Eltern hatten schon alle Landschaften in der Umgebung von Ismaning, Hallbergmoos, Moosinning und Finsing gemalt, jetzt überlegten sie, ob sie nicht lieber die Landschaften in der Toscana malen sollten. Ob sie dann mehr Geld für ihre Bilder bekämen und mir endlich mal gescheite Klamotten kaufen könnten? Aber an so etwas dachten meine Eltern nicht. Sie freuten sich nur über ihre Bilder. Mein Vater und meine Mutter mussten in den Bildern et­was sehen, was den anderen Menschen beim Betrachten verborgen blieb. Viel­leicht erlebten sie jedes mal, wenn sie eins anschauten, das Empfinden in den Momenten, als sie es gemalt hatten, wieder. Vielleicht sahen sie nicht nur das Bild wie jeder andere, sondern bekamen eine Geschichte erzählt. Zu ihnen sprach das Bild, nicht aber zu den anderen Betrachtern.

 

Das unterdrückte Geschlecht


Für schöne Bilder kannst du Stifte, Kreide, Farben und Pinsel verwenden, du kannst sie dir aber auch einfach im Kopf malen. Das tun die meisten Men­schen, und da entstehen die meisten Bilder. Meine schönsten Bilder sind die „Was-wäre-wenn“ Bilder. Ich höre ein Wort, das mir auffällt, und dann denke ich mir etwas aus. 'Landschaftsmaler' hatte ich vorher noch nie gehört. Meiner Mutter die Geschichte erzählen? Ich glaube, sie könnte nicht einmal darüber la­chen. Sie war Lehrerin an einer Grundschule. Ob sie streng war, weiß ich nicht, könnte aber schon sein. Zu Hause ließe ich ihr das nicht durchgehen, aber da hatte sie Prinzipien. Wenn die Wörter „generell oder grundsätzlich oder auf kei­nen Fall“ vorkamen, hatte ich es nicht so leicht. Meine Oma, die von meinem Vater, hatte keine Prinzipien, sie war eine Schlampe. Ich meine nicht, dass bei ihr nicht alles sauber und ordentlich gewesen wäre, nur bei mir ließ sie alles durchgehen. „Du musst sowieso alles selber lernen und erfahren.“ sagte sie. „Durch Verbote und Gebote deiner Eltern lernst du nicht viel. Was du nicht selbst erlebt hast, hat keinen Wert.“ Meine Oma war eine sehr kluge Frau, sie war Professorin im Ruhestand und ihre Möbel bestanden hauptsächlich aus Bü­cherregalen. Meiner Oma erzählte ich meine Geschichten. Sie hörte gut zu, und konnte sie mir sogar erklären. „Vergiss das nicht, was du dir ausgedacht hast, es kommt meistens tief aus dir selbst. Die Menschen wollen für sich et­was anderes als Regierungsdirektor und Grundschullehrerin sein, nur sie wis­sen es gar nicht mehr. Du kannst es noch erkennen.“ meinte sie. Richtig ver­stehen konnte ich sie nicht immer. Auch wenn ich mich für sehr gescheit hielt, vor dem was meine Oma alles wusste, hatte ich schon Respekt. „Gerade wir Frauen müssen viel und vor allem das Richtige lernen. Weil die Frauen nämlich das unterdrückte Geschlecht sind.“ hatte sie gesagt. Wir Frauen unterdrückt? Da war doch jede Frau selber Schuld dran, wenn sie sich das gefallen und sich unterdrücken ließ. Also, ich würde mich niemals unterdrücken lassen. Und meine Mutter, wer sollte die denn unterdrücken. Das schaffte ich ja noch nicht mal, und ich kannte schon einige Tricks. Mein Vater, der ließ sich eher unterdrücken. Er sagte zum Beispiel, dass er sich in meine Erziehung nicht einmische. Was meine Mutter tat, war ihm also grundsätzlich Recht. Nicht nur da, auch bei allem anderen setzte sich meine Mutter immer durch. Sogar bei mir tat er es meistens, wie ich es wünschte. Warum nur? Ob im das Spaß machte? Es gab doch Leute, denen es gefiel, gequält zu werden. Nein, Sadisten nicht. Ich fragte meine Mutter, wie die anderen hießen und meinen Vater fragte ich, ob er ein Masochist sei. Er bekam sich gar nicht wieder ein vor Lachen, balgte mit mir und wollte es erklärt haben. „Liebe ist das, Simone.“ sagte er, „Es freut mich, dir oder Mami einen Gefallen zu tun. Ich bin glücklich, wenn es euch freut, weil ich euch liebe.“ Dann versuchte er mir noch zu erklären, was Masochisten wären, was ich aber nicht verstand.


Simone de Beauvoir


Genauso lachte meine Oma, als ich ihr erklärte, dass die Frauen nicht unter­drückt würden, sondern dass es sich dabei um Liebe handele. „Du hast dir Ge­danken gemacht, meine Liebste, das ist sehr gut, nur leider konnten deine Ge­danken den richtigen Weg nicht finden. Dass du dich nicht unterdrücken lassen willst, das ist schon mal ganz prima. Und eine Frau mit deinem Namen, dürfte das auch niemals.“ Dann erzählte sie mir, dass sie von einer Frau, die Simone de Beauvoir hieß, begeistert gewesen sei und es immer noch sei. Deshalb habe sie sich auch gewünscht, dass ich den Namen Simone bekäme, obwohl meine Mutter es nicht so gut gefunden hätte. Mein zweiter und dritter Name kämen jetzt von ihr. Natürlich wollte ich alles von dieser Frau wissen, auch wenn ich vieles kaum oder gar nicht verstand. Dann holte sie ein dickes Buch und er­klärte, dass Simone de Beauvoir damit in ihrer Jugend allen Frauen auf der Welt erklärt habe, warum sie das unterdrückte Geschlecht seien. Das musste sie mir natürlich auch erklären. Unbedingt wollte ich es wissen. Oma sollte mir das Buch vorlesen. Sie wehrte ab und wollte mich auf später vertrösten, weil ich es nicht verstehen könne, aber ich ließ mein dringendes Verlangen nicht unterdrücken.


Versuch das Betty mal klar zu machen


Von da ab war Spielen für mich vorbei. Meinen Klavierunterricht absolvierte ich noch mit Mühe, aber sonst brannte ich darauf, jede freie Minute mit Oma zu arbeiten. Fast jedes zweite Wort musste sie mir erklären, aber für mich taten sich dadurch neue Welten auf. Alles war ungeheuer spannend. Sonst wurde ich behandelt, wie man meinte, mit einem Kind, einem Mädchen in meinem Alter, umgehen zu müssen, mit Simone de Beauvoir lebte ich in der Welt der Erwach­senen, der Frauen mit absolutem Durchblick. Oma würde es sicher bald lang­weilig werden, das konnte ich nicht denken. Ich erlebte sie ja. Eindeutig mach­te es ihr genauso große Freude wie mir. Einem Mädchen im dritten Schuljahr „Das andere Geschlecht“ zu erklären, war für sie offensichtlich auch eine Her­ausforderung die ihr großes Vergnügen bereitete. Meiner Freundin Betty, die schon sauer war, dass ich nie mehr Zeit hatte, versuchte ich etwas zu erklären. Verstanden hat sie wahrscheinlich kaum etwas, aber sie musste das doch auch wissen, sie war doch eine Frau. Nur versuch Betty mal klar zu machen, dass sie nicht als Frau geboren ist, sondern dazu wird. Meine Mutter tat so, als ob sie es verstehen würde, aber das war bestimmt Show. Jedenfalls wollte sie „Das andere Geschlecht“ auch lesen. Sie müsse ja schließlich wissen, womit Oma ihre Tochter verführe.


Feuer des Erkennenwollens


Um wie viele Jahre ich durch das Studium mit Oma reifer und älter geworden bin, kann ich nicht beurteilen, nur zu Beginn des Gymnasiums anderen Mäd­chen erklären zu können, warum sie als Frau unterdrückt würden, machte schon immensen Eindruck. Frau Professor war mein Schimpfname. Zwei ande­re Dinge waren mir aber viel bedeutsamer. Zwischen meiner Oma und mir hat­te sich ein so tiefes Verhältnis entwickelt, sie hatte sich ja auch selbst bei all dem immer wieder offenbart, nicht einem Kind gegenüber, sondern einer Freundin. Unsere Beziehung war nicht die zwischen einer Großmutter und ihrer Enkelin. Ganz enge Freundinnen waren wir geworden, die sich liebten, weil sie sich so nahe waren, und nicht weil die Kleine so süß war. Sie hatte Simone schon immer französisch ausgesprochen, und ich nannte sie Leonie, weil sie mit richtigem Namen Eleonora hieß. Oma konnte ich nicht mehr sagen. Ich konnte mich ganz gut auf etwas konzentrieren, Probleme habe ich damit je­denfalls nie gehabt, aber unsere Forschungsreise auf den Spuren von Simone de Beauvoir hatte mit üblichem Konzentrieren nicht viel zu tun. Ich war kom­plett involviert, wenn ich mit Leonie las und forschte. Angespannt und vertieft war ich, wie ich es sonst nicht kannte. Abends war ich meistens völlig geschafft und beim Abendbrot kaum noch ansprechbar. Niemand hatte diese intensive Beschäftigung von mir gewünscht, verlangt oder gefordert. Dieses Buch und diese Frau hatten tiefe Bedürfnisse in mir geweckt. Es ging um mich, verstehen können, wer ich selber war und wo ich mich in dieser Welt befand. „Dich hat das Feuer des Erkennenwollens erfasst. Es wird dich nie mehr loslassen, dein ganzes Leben lang nicht.“ urteilte Leonie „Ob die anderen, die keine Früchte vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, deshalb im Paradies leben, würde ich doch stark bezweifeln.“ Ich hatte ja nicht nur Simone de Beauvoirs Gedan­kengänge zu verstehen versucht, das Buch war ja einerseits alt und anderer­seits wurden unendliche viele Zusammenhänge hergestellt, von denen ich nichts verstand. Leonie musste mir für vieles die aktuelle Bedeutung klar ma­chen, es auf die Gegenwart beziehen und außerdem die vielen angesprochenen Bereiche erläutern und vermitteln. Nicht nur die Grundlagen feministischen Denkens lernte ich kennen, es war ein soziologisch-philosophisch orientiertes Studium Generale für mich gewesen, als acht bis zehnjähriges Kind. Leonie und ich hatten uns auch eine Basis geschaffen, auf der wir immer spannend diskutieren konnten. Zu Hause, was sollte ich da außer Schlafen, Klavierspielen, meine Hausaufgaben machen und Gewäsch plaudern. Mich mit meiner Mutter anlegen? Da stand ich drüber, aber sie mal cool bloßzustellen, den Spaß konnte ich mir doch hin und wieder nicht verkneifen. Sie schien es akzeptiert zu haben, dass mein Orientierungs- und Bezugspunkt bei Leonie lag. Auseinandersetzungen mit mir ging sie aus dem Wege. Bei meiner Mutter hatte ich mittlerweile größte Freiheiten, als Schlampe würde ich sie deshalb doch nie sehen. Auch wenn wir „Das andere Geschlecht“ durchgearbeitet hatten, verbrachte ich weiterhin die meiste Zeit wie vorher bei Leonie. Mit ihr machte die Unterhaltung Spaß, mit ihr machte das Leben Spaß, bei Leonie war ich zu Hause. Nicht selten herrschte eine so launige Stimmung, dass wir ständig Albernheiten, Quatsch und Blödsinn machten. Dass ich ernst genommen wurde, gleichgültig wie alt ich war, dieses Gefühl gab es nur im Gespräch mit Leonie, trotzdem schienen wir uns im gemeinsamen Lachen noch näher zu sein, wie ein Liebesbeweis untereinander war es. Dann wollte ich nicht nach Hause, wollte Leonie für die Nacht nicht verlieren, wollte an sie gekuschelt beim Träumen und Einschlafen ihre Wärme spüren.


Was sollte ich mit so einem


Jetzt hatte ich auch einen. Alle hatten sie einen, mit dem sie ins Kino gingen, ins Bett gingen oder sonst wo hingingen. Ziemlich viele Gedanken hatte ich mir gemacht, jetzt war es einfach so passiert. Mit den Grundzügen des Zusammen­lebens zwischen Mann und Frau in unserer heutigen Welt hatte ich mich ja schon vor der Pubertät vertraut gemacht, fehlte nur noch das Marginale, was die Genitalien betraf. Darüber befand ich am besten nach der Pubertät. Wir wa­ren mittlerweile zu einem ansehnlichen Kreis von feministischen Hexen ange­wachsen, drei Freundinnen aus meiner Klasse, Lucie aus der Klasse drüber und Rixa Bruns, eine Lehrerin. Sanne und Manon, brauchten keinen Freund, sie liebten sich untereinander. Aber sowohl Gitta als auch Lucie hatten einen Freund. Beide hatten versucht, mich davon zu überzeugen, dass es trotzdem schön sein könne, sich mit einer Freundin zu verwöhnen. Aber ich war offen­sichtlich stock hetero, auch ohne Freund. Wenn ich auch nicht als Frau geboren war, heterosexuell musste ich schon wohl vor der Geburt gewesen sein. Ande­rerseits konnten mich Männer auch nicht aufregen. Bislang hatte noch kein Mann bei mir erotische Empfindungen aufkommen lassen. Wahrscheinlich war ich narzisstisch, liebte nur mich selbst, denn Vorstellungen von einem Mann er­schienen mir auch beim Masturbieren nicht. Und mir Bilder zum Träumen zu malen, die mit einem Mann zusammenhingen, war erst recht völlig unmöglich. Das Glück lag für mich anderswo. Den Mann, beziehungsweise Partner von Rixa Bruns fand ich ganz nett. Er war gebildet, Dramaturg, das Gehirn vom Theater. Mit ihm konnte man sich hervorragend unterhalten und lustig war er auch. Wir hatten uns bei Leonie getroffen. Die anderen waren schon gegangen, ich fragte Rixa Bruns, was man denn tun müsse, um sich so einen tollen Mann zu angeln. Es gab noch eine ernste Information darüber, wie sie sich kennen­gelernt hätten, und ab dann wurde nur noch gejuxt und gelacht, übers Männer bekommen allgemein und über unsere jeweils speziellen Erfahrungen und Er­wartungen. Es wurde spät, Rixa hatte zu viel getrunken und wir übernachteten beide bei Leonie. Das gemeinsame Frühstück schien die Fortsetzung vom Vorabend zu sein. In einer Frauen WG würde ich nach dem Abi wohnen wollen, was interessierten mich Männer. Direkt Ausschau gehalten hatte ich bislang sowieso nicht. Ich spürte kein Bedürfnis und hätte auch nicht gewusst, was ich mit so einem sollte.


Schweinefleisch


Lucie machte eine Grillfète bei ihnen im Garten, eher ein kleiner Park. Ich hatte mir Salat genommen. Neben mir stand jemand, der meinte mir empfehlen zu müssen: „Nehmen sie sich doch etwas von dem Schweinefleisch.“ Ich schenkte ihm nur einen mokanten Blick mit hochgezogenen Brauen. „Ja, Schweinefleisch ist das für den Menschen am besten verdauliche und verwertbare Fleisch.“ schob er erläuternd nach. „Nur die Filets und Rippchen oder auch Leberwurst und Blutwurst?“ bat ich mit grinsendem Gesicht um Präzisierung. Eine Antwort erhielt ich nicht, nur einen schmunzelnden Blick. Dafür nähere Erläuterungen: „Das Eiweiß ist für den Menschen am besten verwertbar.“ „Ja, ja, im Gehirn wird ja das meiste gebraucht, aber Schweine sind ja kluge Tiere.“ sinnierte ich, während wir uns langsam mit unseren Tellern über den Rasen in Richtung auf einen alten Baum zu begaben. „Nicht nur biologisch auch kulturgeschichtlich sind Mensch und Schwein enge Verwandte.“ meinte der Schweinefleischapolo­get. „Das denke ich manchmal auch.“ bestätigte ich ihn. „Ich meine das ernst.“ sagte er und erläuterte die Bedeutung der Schweine für die Menschen in der Geschichte. Aber ernst konnte im Zusammenhang mit dem Schweinefleisch nichts mehr sein oder werden. „Warum essen wir eigentlich kein Fleisch von Af­fen? Das müsste unseren Eiweißen doch noch näher kommen. Aber Affen sind uns zu nahe verwandt. Das wäre ein Sakrileg, das Fleisch seiner Brüder zu es­sen, nicht wahr? Deshalb ist es wahrscheinlich verboten.“ fügte ich an. Fortan unterhielten wir uns über andere Sakrilegien, die uns einfielen, nicht weniger lustig als über Schweinefleisch. „Im Patriarchat ist es für Männer ein Sakrileg, sich ernsthaft um die Lebensbedingungen der Frauen zu kümmern und sich auf sie einzulassen.“ konstatierte ich und verblüffte den jungen Mann, der Akki hieß und Kulturgeschichte studierte, soviel hatte ich nebenbei erfahren. „Ohne mich um die Lebensbedingung meiner Freundin zu kümmern und mich auf sie einzulassen, hätte ich keine Chance, zu bestehen. Ich denke auch manchmal, dass bei uns das Matriarchat schon Einzug gehalten hat. Ab wann rechnest du denn generell damit?“ wollte Akki meine Einschätzung hören. Ich hatte mit meinem Salat keine Probleme, aber Akki musste sein Schweinefleisch schnei­den, und ich hielt ihm jedes mal seinen Teller auf meiner Hand. Er hatte schon vorgeschlagen, sich an einen Tisch zu setzen, aber ich fühlte mich unter dem großen Baum wohler, auch wenn ich ihm immer den Teller stützen musste. Fast zwei Stunden alberten wir herum. Ich fragte Lucie noch kurz, wer Akki sei, hat­te zu Weiterem aber keine Lust mehr und fuhr nach Hause.


Wie das mit dem Klicken ist


Einige Tage später war Akki am Telefon. Er würde mich gerne nochmal treffen, bei einem Kaffee oder so. Warum? Er habe mich so interessant gefunden und würde sich gern auch ernsthaft mit mir unterhalten. Er hatte doch eine Freun­din. Lernt auf 'ner Fète jemanden kennen, und die Freundin spielt keine Rolle mehr? „Ist das bei euch im Matriarchat so abgestimmt?“ fragte ich ihn. „Du fängst schon wieder an, zu blödeln, Simone, mir ist es ernst.“ reagierte Akki. Na, schauen, was er wollte, konnte ich ja mal. Unsympathisch war er mir je­denfalls nicht. „Im Gegensatz zu mir wirst du etwas von unserem Treffen er­warten.“ erklärte ich Akki im Café und wollte von ihm wissen was. „Simone, ich fand dich sehr ansprechend, und das hat mich immer beschäftigt. Der Grill­abend ging mir ständig durch den Kopf.“ antwortete er. „Aha, und was hat dich von mir so angesprochen?“ fragte ich, denn völlig ernst bleiben konnte ich jetzt auch nicht. Es war ja auch eine kuriose Situation für mich, dass ein Mann ir­gendwelche Absichten zu hegen schien. „Na ja, genau weiß ich das eigentlich gar nicht, aber du bist eine Frau, bist intelligent und gebildet und kannst sehr lustig sein“ druckste Akki. „Du scheinst auch intelligent und gebildet zu sein, wenn du erkennen kannst, dass ich eine Frau bin.“ reagierte ich. „Sprich doch, bitte, mal ernsthaft, Simone. Mir ist es kein Spaß. Es hat bei mir irgendwie geklickt an dem Abend, seitdem denke ich immer an dich. Ich glaube, ich mag dich sehr.“ erklärte Akki. Ich empfand mich verwirrt und leicht verstört. „Akki, ich weiß überhaupt nicht, wie ich mit so etwas umgehen soll. Ich finde dich zwar auch ganz nett, aber wie das mit dem Klicken ist, weiß ich überhaupt nicht. Ich hatte noch nie einen Freund und war noch nie verliebt, in einen Freund jedenfalls nicht.“ reagierte ich darauf. Dann erzählten wir uns ohne Ende aus unseren jeweiligen Biographien. Richtig hieß er Claudio, woher das Akki kam wusste er gar nicht, aber alle würden ihn eben so nennen. Nur seine Großmutter sage Claudio zu ihm, das fühle sich gut an, geborgen empfinde er sich bei ihr. Akki musste mich bei meiner Großmutter Leonie besuchen, er spielte nämlich auch Klavier, und das musste er demonstrieren.


Jetzt wollte ich mich auch mit Akki treffen


Nein, nein, mein Freund sei er nicht, wir verstünden uns nur ganz gut und er solle mal etwas vorspielen, erklärte ich Leonie. Nach kurzem Smalltalk setzte sich Akki auch ans Klavier, machte ein paar Fingerübungen und schaute Leonie mit großen Augen und breit gezogenem Mund an. „Ich glaube, das müsste mal gestimmt werden.“ meinte Akki. „Der Maestro, schlägt ein paar Tasten an und will gleich hören, dass das Klavier gestimmt werden muss, so ein Angeber.“ dachte ich. Es schlug aber schnell in Erstaunen um, als ich ihn hörte. Um Klas­sen besser war er als ich. Was er spielte lag für mich in den Bereichen, von de­nen ich meinte, dahin nie vordringen zu können. Wir wollten etwas Vierhändi­ges spielen, aber er musste sich nach mir richten, was Akki vorschlug konnte ich nicht. Trotzdem gefiel es mir sehr, neben ihm am Klavier zu sitzen. Als er noch eine Etüde spielte, lehnte ich am Piano und schaute ihn an. Ich mochte es, ich mochte ihn, ein warmes Empfinden spürte ich. Seit diesem Zeitpunkt wollte ich mich auch mit Akki treffen. Ich nannte ihn Claudio, Akki klinge nach saufenden Männern an der Dartscheibe in einer Kneipe, meinte ich. Vielleicht fühlte er sich ja bei mir auch geborgen, wenn ich ihn Claudio nannte. Auch wenn ich jetzt einen hatte, aber ins Kino gingen wir nicht und auch nicht ins Bett. Statt ins Kino zu gehen, hatten wir immer etwas vor, das uns mehr interessierte. Mit dem Bett erklärte ich Claudio, dass er mir da noch Zeit lassen müsse. Wir küssten und streichelten uns doch, und das sei für mich schon ein großer Schritt auf dem Weg dorthin.


Was studieren?


Es machte Spaß mit Claudio, auch als wir noch nicht zusammen ins Bett gin­gen. Warum genau? Das kann ich gar nicht beschreiben. Das Gefühl konnte ich mir auch vorher nicht ausdenken. Claudio sagte öfter, dass er mich liebe. Sehr gut fühlte es sich an mit Claudio, aber eine Liebe wie zu Leonie war das nicht. Ich mochte Claudio schon sehr gern und wir hatten auch Lust, uns ständig ge­genseitig zu beschenken. Miteinander zu sprechen, lustig zu sein, war immer ein Geschenk gegenseitigen Anerkennens, Verstehens und Vertrauens. Ob es doch Liebe war? Ich glaube schon. Für Claudio musste es fast Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Nach dem Grillabend war er sich absolut sicher, dass alles andere als ich für ihn sekundär sei. Claudio verstand es, mir Kultur­geschichte so verführerisch nahe zu bringen, dass ich schon überlegte, ob ich es nicht eventuell auch studieren solle. Aber ich wollte doch Biochemie studie­ren. Das faszinierte mich absolut. Mein Feuer des Erkennenwollens hatte sich daran entzündet. Die sozialen Grundlagen und Bedingungen unseres Lebens waren seit dem Beginn mit Simone de Beauvoir permanenter Gegenstand un­serer Auseinandersetzungen und Beschäftigungen gewesen. Die naturwissen­schaftlichen Grundlagen unseres Lebens, beziehungsweise des Lebens an sich, zu erforschen, gestaltete sich zu einem wenigsten ebenso umfangreichen Un­terfangen und ungeheuerlich erschienen mir meine immer weiter vordringen­den Erkenntnisse auch. Jetzt war es an mir, meine Faszination auf Leonie zu übertragen, und ihr meine Erkenntnisse verständlich zu vermitteln. Nicht sehr einfach, vielleicht ähnlich wie bei ihr damals, denn Leonies Wissen über biologi­sche und chemische Zusammenhänge war im Laufe der Zeit auf Rudimente ge­schrumpft. Gender Studies und dergleichen hatte ich schon abgeschrieben. Wissenschaftlich hätte ich mit meiner uneingeschränkten Vertretung von Judith Butlers Theorien wahrscheinlich einen schweren Stand gehabt, andererseits meinte ich auch, dass es schon so viele kluge Mädels gebe, die dort forschten, dass dabei kein weiterer Bedarf bestünde. Es war ja die Praxis in Gesellschaft und Politik, die sich trotz aller klugen Forschungen nicht änderte. Alle Chefposi­tionen der Medien im Print und TV Bereich dürften nur noch mit einer Doppel­spitze aus einer Frau und einem Mann besetzt werden, dann sähe unsere Infor­mationslandschaft bald anders aus. Nur so etwas zum Beispiel würde ich auch durch einen Master of Arts in Gender Studies nicht erreichen. Mein zweites Herz gehörte der Philosophie. Judith Butlers Studien basierten ja auch auf epis­temologischen Grundlagen. Das wäre ein Traum, mich dort so zu Hause zu füh­len wie sie. Judith Butler erfüllte für mich heute eine ähnliche Funktion wie Si­mone de Beauvoir damals. Nur in Philosophie würde man unendlich viel pauken müssen, auch aus Bereichen, die einen kaum interessierten. Aber wie wäre es denn in Biochemie, von forschendem Lernen wäre da vor dem Examen sicher kaum etwas zu erkennen. Ich konnte mich nicht entscheiden. Beides gleichzei­tig war nicht zu schaffen. Unabhängig davon war ich mir sicher, dass ich mich im Kreise der Philosophen wohler fühlen würde. Mal ganz abgesehen davon, dass ich dann auch besser mit Claudio und Leonie kommunizieren könnte.


Abitur


Geschafft! Ich konnte studieren was und wo ich wollte. Die Frau Professor war ich immer geblieben. Bei jemandem, der im Kindesalter beginnt, ein Instru­ment spielen zu lernen, entwickelt sich das Gehirn anders. Sicher hatten sich bei mir keine feministischen Areale oder Kanäle gebildet, aber durch unsere kindliche, intensive Tätigkeit im Nachdenken und Verstehen war meine intellek­tuelle Entwicklung wesentlichen intensiver und früher gefördert worden als bei den meisten anderen. Ich denke schon, dass es sich auf mein weiteres Leben prägend ausgewirkt hat. Probleme in irgendwelchen schulischen Bereichen wa­ren bei mir nie aufgetaucht. Im Gegenteil, die Schule ging mir bis auf einige unwürdige Behandlungen durch Lehrer sehr leicht von der Hand. Ein unvorher­gesehener Effekt, dadurch dass ich mich nicht hatte unterdrücken lassen, und Simone de Beauvoir schon als Kind lesen und verstehen wollte. Dass ich eine eigene Wohnung brauche und nicht zu Hause wohnen wolle, konnte meine Mutter nicht verstehen. Ich wisse doch, dass ich zu Hause alle Freiheiten habe und sie mir in nichts reinreden würde. Wir sparten damit nicht nur viel Geld, sondern vor allem würde ich ihr so eine große Freude bereiten, sagte sie, und ihre Augen schienen sich zu befeuchten. Dann erklärte sie mir, was ich ihr be­deute und begann dabei wirklich zu weinen. Das hatten ihre Lippen niemals sa­gen können. Vielleicht kam es von dort, wo sie auch spüren konnte, dass es erfüllender sei, sich als Landschaftsmalerin an seinen Bildern zu erfreuen, als nach vorgegebenen Regeln seinen Dienst in der Grundschule abzuleisten. Ich empfand mich auch den Tränen sehr nahe und hätte ihr am liebsten geraten, gemeinsam in eine Frauen WG zu ziehen. Meine Mutter war in diesem Moment für mich eine andere und mir so nahe, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Wir sprachen noch außergewöhnlich tief miteinander, und ich erklärte ihr auch, warum ich eine Wohnung für mich alleine brauche, und nicht mit Claudio zu­sammen ziehen wolle, auch wenn wir uns sehr liebten. Claudio verstand es auch kaum. Er meinte, ich sei von feministischen Gedanken zu tief durchdrun­gen, denen sich auch unsere Liebe unterzuordnen habe. Wir diskutierten lange darüber, und ich machte ihm klar, dass wir ja so oft und solange zusammen sein könnten, wie wir es wollten, nur brauche ich meinen eigenen Bereich und nicht einen gemeinsamen, von dem ich ein Teil sei, und in dem ich meinen Platz behaupten und abstimmen müsse. Wenn wir es so nicht ertrügen, könn­ten wir uns ja um günstigere Bedingungen bemühen, eventuell zwei Wohnun­gen im gleichen Haus oder Entsprechendes.


Fète


Natürlich musste gefeiert werden, obwohl ich diese Initiationsriten nicht mag. Ja, die Schule war zu Ende, aber war oder wurde ich jetzt ein anderer Mensch? Erhielt ich etwa jetzt meine Freiheit, die ich vorher nicht gehabt hatte? War ich jetzt endgültig erwachsen geworden? Oder was? Wann bist du denn erwach­sen? Weil du jetzt so groß und stark bist, und dir ein Bart wächst? Weil dein Körper seine hormonale Umstellung zum größten Teil erledigt hat? Weil du jetzt so gescheit und vernünftig bist? Alles Quatsch, ich kam mir mit zehn schon manchmal wie eine Erwachsene vor und hatte jetzt noch manchmal Lust, al­bern wie ein Kind zu sein, Leonie nicht weniger. Erwachsen sagen die anderen zu dir, wenn sie nicht mehr mit dir umgehen wollen, wie sie meinen, dass man mit Kindern umzugehen hätte, für dich selbst ist das Wort ein unnützer Begriff. Aber ob Initiation oder nicht, eine Fète zu machen und gemeinsam Spaß zu ha­ben, war nie ein unnützes Unterfangen. Man konnte auf einer Fète ja auch eine neue Freundin finden, so wie Claudio. Ob er jetzt wieder eine neue Tulpe ken­nenlernen würde, der er erklärte, sie sei sein Stern für's Leben? Mit mir das sei ein Grillfètenrausch gewesen. Mit seinem Klick und seiner augenblicklichen Fas­zination, das konnte ich in gewisser weise verstehen, aber wie er über seine Beziehung zu Veronica, seiner damaligen Freundin, gesprochen hatte, war ein dunkler Punkt, den ich unbedingt noch mit ihm klären wollte. „Na, hast du dir schon eine ausgesucht, von der du dich heute Abend bezaubern lassen willst?“ fragte ich ihn zu Beginn der Feier. „Ja, eine elegante Dame ist mir ins Auge ge­fallen, aber ich bin nicht sicher, ob sie sich auf mich einlassen wird.“ er zeigte auf meine Mutter und wusste, dass sie es war. „Bring sie dazu, dir ihr Herz zu öffnen. Sie hat ein gutes Herz. Wenn du es schaffst, bist du ein Genie.“ rea­gierte ich. Sanne, Manon, Gitta und ich wir veranstalteten diese Fète gemein­sam und Lucie hatte sich auch daran beteiligt, weil sie zu ihrem Abschluss im letzten Jahr nichts gemacht hatte. Auch wenn mir der Garten von Leonie im­mer ziemlich groß erschienen war, jetzt war es voll. Jede und jeder, der in ir­gendeiner Art mit einem Instrument umzugehen wusste, musste etwas zum Vortrag bringen. So hatten wir nicht nur den ganzen Abend Musik, sondern auch unendlich viel Spaß. Claudio sollte etwas spielen, aber er lehnte ab. Er könne jetzt nicht. Tatsächlich saß er die ganze Zeit mit meiner Mutter auf der Terrassencouch. Als meine Eltern gingen umarmten sich die beiden ewig, starr­ten sich noch mal an und Mutter strich Claudio über die Wange. „Es hätte nicht viel gefehlt und wir beide wären im Bett gelandet. Eine wundervolle Frau.“ scherzte Claudio noch ganz ergriffen von ihrer langen Unterhaltung. Er wollte mir immer weiter von meiner Mutter berichten, sie hatte ihm wohl nicht nur ihr Herz geöffnet, sondern ihr ganzes Leben vor Claudio ausgebreitet. Mit ihr hatte er auch sein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Freundin erörtert, doch letztendlich hatte sie ihm Absolution erteilt. Für Claudio musste wohl meine Mutter eine erwachsene Frau und ich eher das Mädchen sein.


Herrschaftsverhältnisse


„Was wäre wenn Bilder“ malte ich schon lange nicht mehr. Ich meinte, mein Leben selbst biete mir eine so große Vielzahl immer neuer Eindrücke, wie ich sie mir nicht erträumen könne. Und was war mit dem, von dem Leonie gesagt hatte, ich könne es als Kind noch erkennen. Erkannte ich das jetzt immer noch, oder war ich dafür auch schon blind geworden? Verstand ich noch die Geschichten, die die Bilder erzählten oder sprachen sie zu mir auch nicht mehr? Mit Alexander, Rixas Mann, unterhielt ich mich darüber. Er meinte, die Dramen im Schauspielhaus seien alle wie meine „Was wäre wenn“ Geschichten, sie handelten bloß nicht nur von konkreten Einzelpersonen, sondern bezögen sich zumindest sinnbildlich auf die Menschen allgemein. „Das war aber bei mir doch nicht anders.“ wandte ich ein, „Es ging doch nicht darum, was ich hier und jetzt konkret realisieren wollte, sondern um Träume von Glück und Freude, wie sie alle Menschen haben könnten oder lieber haben sollten. Das hat mir gut gefallen. Jetzt denke ich manchmal, ich sei in der Realität angekommen, in der man sich freut, es zum Regierungsdirektor gebracht zu haben, aber seine wirklichen Bedürfnisse und Gefühle gar nicht mehr kennt. Ist es bei dir denn anders? Kennst du deine wirklichen Bedürfnisse und Gefühle noch und ver­suchst sie zu leben?“ Alexander schaute ins Ferne und meinte dann: „Wirkliche Bedürfnisse nach Freude, Vertrauen, Gerechtigkeit und Geborgenheit, allem voran aber befriedigende Beziehungen und dabei über allem die Liebe, ich glaube schon, dass ich sie kenne, nur wie ich sie lebe, ist eine andere Frage. Eigentlich müsste ich doch jedes mal Freudentänze aufführen, wenn ich Rixa treffe, aber ich sage „Hallo“ und gebe ihr ein Küsschen auf die Wange oder den Mund. Alles ritualisiert. So läuft der Alltag und das ist bei dem Meisten so.“ „Und warum? Weil nicht deine Bedürfnisse dir sagen, was für dich wichtig ist, sondern die Bedürfnisse anderer, und ihre Einschätzungen dich okkupiert ha­ben. Und genau das weiß ich bei mir nicht.“ meinte ich dazu. „Aber das ist doch ein Traum. So kannst du doch hier nicht leben. Stell dir vor, ich würde sa­gen: „Ich kann heute nicht zur Premiere kommen, weil ich meine Frau lieben muss. Das ist mir wichtiger.“. Ich hätte den letzten Tag meinen Job gehabt.“ Alexander darauf. „Ja, oder ich hätte nicht zur Klausur kommen können, weil Claudio und ich im Bett noch nicht fertig waren. Was wäre das für eine Welt, die so etwas akzeptierte?“ ergänzte ich. „Das Paradies hieße die Welt dann, Si­mone.“ wusste Alexander. „Nein, nein, es wäre nur eine Welt in der die wirkli­chen Bedürfnisse und Gefühle der Menschen Vorrang hätten. Erwarten wir denn nicht, dass es eigentlich selbstverständlich so sein sollte? Menschen sind es doch, die über die Lebensbedingungen der Menschen bestimmen.“ wand ich ein. „Simone, du brauchst keine Angst zu haben, dass du deine Kraft zum Träumen verloren hättest, nur Spinnereien sind das nicht. Die Herrschaftsver­hältnisse sind leider andere, wie du weißt.“ meinte Alexander. Er wollte Claudio und mich mal zu einer Premierenfeier einladen, da kämen wir mit den kleinen örtlich Herrschenden in Kontakt, die könnten wir ja mal nach ihren wirklichen Bedürfnissen und Gefühlen fragen.


Gefühle leben


Ja, meine Gefühle leben, darum würde ich mich verstärkt kümmern. Ich freute mich doch, Leonie zu sehen, warum brachte ich das nicht entsprechend zum Ausdruck, spulte, anstatt daran zu denken, was sie mir bedeutete und meine Freude zu äußern, unser übliches Begrüßungsritual ab. Bei meinen Freundin­nen lief es nicht viel anders. Anstatt ihnen meine Freude zu vermitteln, alltägli­che Begrüßungsrituale. Eine Schande. Auch mit Mutter musste ich noch mal sprechen, da war mein Gefühlshaushalt auch nicht im Reinen. Aber mit ande­rem war ich voll zufrieden. Auf meine Arbeit, die mir wesentlich war, musste ich mich schon voll und ganz einlassen können, musste involviert sein mit mei­ner ganzen Person. Befriedigung daraus ziehen, dass ich etwas von anderen Angesehenes erreicht hätte, würde ich niemals können. Aber mit Claudio, wie war es denn da eigentlich, alles nur Gefühle. Nüchtern konnte ich ihn nicht sehen. Nein, so war es nicht, aber dass ich in Bezug auf Claudio meine wirklichen Gefühle nicht erkennen und auch leben sollte, konnte ich mir nicht vorstellen. Er war tatsächlich mein Liebster und mein Liebstes geworden, ein Gefühl, das ich mir vorher nicht erträumen konnte. Ihn mit einer anderen Frau teilen zu sollen, war für mich unvorstellbar. Das war Theorie, die nicht mit den Gefühlen korrelierte. Auf bürgerlichem Besitzdenken basierte das nicht. Für mich war eine Beziehung dieser Art nicht teilbar. Keine Frage, dass Menschen nicht monogam veranlagt sind, aber darum ging es ja nicht, es handelte sich um die tiefe persönliche Beziehung, die mich erfüllte und ausfüllte, und das kann ich nicht mehrfach haben, dann ist beides oberflächlich und nicht viel wert.


Neues Leben und alte Hüften


Ich brauchte ein Auto. Ein Auto, in dem Leonie sitzen, und in das sie einsteigen konnte. Leonie war alt geworden. Sie konnte nur noch mit großen Schmerzen in den Hüften laufen. Ihre Ärztin vermutete Arthrose, hielt es aber für dringend erforderlich, zur genauen Diagnose einen Orthopäden aufzusuchen. Wenn kei­ne speziellen Erkrankungen vorlägen, bekäme man heute künstliche Gelenke implantiert, und alles sei vergessen. Das wollte Leonie nicht. Abgesehen da­von, dass sie es sowieso nicht liebte, zum Arzt zu gehen, meinte sie, das lohne sich bei ihr doch nicht mehr. „Leonie, für jeden Tag, an dem du keine Schmer­zen hast, lohnt sich das.“ lautete meine Ansicht. „Simone, ich bin alt, ich werde bald sterben. Habe ich heute neue Hüften, stellt sich morgen etwas anderes ein. Ich will es ja überhaupt nicht. Ich will nicht weggehen, ich will bei dir und bei euch bleiben. Noch nie war mir das so wichtig, noch nie habe ich das Leben so geliebt wie jetzt. Schöner ist es nie gewesen. Dabei fühle ich mich gar nicht alt, nur mein Körper spricht anders. Ich empfinde mich jung und lebenslustig und das habe ich dir zu verdanken.“ erklärte Leonie. „Sag alles, was du sagen musst, aber sag nicht, dass du bald sterben wirst. Und dein Leben, Leonie, hast du nicht mir zu verdanken. Du bist es selbst, die für ihr Leben verantwort­lich ist.“ meinte ich dazu. „Nein, Simone, ohne dich hätte es das nicht gege­ben. Du siehst es so, dass sich dein Leben seit unserer gemeinsamen Bezie­hung verändert hat. Ich habe dich nie als kindlich oder jung gesehen, aber du hast mir ein neues, junges Leben geschenkt. Du kannst nicht ermessen, wie viel mir unsere Liebe bedeutet. Als du nicht nach Hause gingst, weil du für die Nacht unsere Liebe nicht verlieren wolltest, habe ich geweint. Ich weine nicht. Bei Ralfs Tod hatte ich zum letzten mal geweint, aber jetzt erfüllte es mich so, dass meine Emotionen mir vor Ergriffenheit die Augen feucht werden ließen. Mir hat mein Leben nicht schlecht gefallen, nur mit unserem Zusammensein hat etwas qualitativ Neues begonnen. Du hast deine Gefühle nicht nur in deine Geschichten verpackt, sondern sie mit mir gelebt. Ich dachte zu wissen, was Liebe sei, aber so wundervoll und jung wie mit dir, hatte ich sie noch nie erfah­ren. So wie es jetzt ist, ist es paradiesisch für mich, und das liegt an dir, Simo­ne. Ich will nicht gehen, ich will noch bleiben.“ erklärte sich Leonie und jetzt standen ihr auch die Tränen in den Augen. Lange Eine Zeit war es still. „Leonie, ich denke, du vermischt zwei Dinge. Du kannst über den Tod nachdenken. Das sollten schon junge Leute tun, sich dessen bewusst sein, dass ihre Tage auf diesem Planeten gezählt sind, aber er steht nicht deshalb vor der Tür, weil deine Hüften schmerzen. Du lebst heute und morgen und übermorgen so voll und jung, wie es schön für dich ist. Wenn sich mit deinen Hüftgelenken etwas ändern lässt, dann sollten wir uns dringend darum bemühen und keinen Tag verstreichen lassen. Lucie soll mal ihren Vater fragen, der ist doch ein angesehener Chirurg an der Klinik, was der dazu meint. Lucie meinte, er solle doch mal selbst mit Leonie sprechen, er könne so etwas gut. In der Tat, sie begrüßten sich als Frau Professorin und Herr Professor mit einem Schmunzeln. Er überzeugte Leonie, dass so etwas heute schon fast Routine sei und sie noch zu den Jüngeren zähle, bei denen das gemacht würde. Eine vorherige Untersuchung in der Klinik wegen der Arthrose müsse allerdings erfolgen. Sie brauche ihn ja nicht als Arzt aufzusuchen, sondern käme zu ihm als Vater von Simones Freundin, so wie jetzt auch.


Des Glücks jeden Tages bewusst werden


Natürlich bekam Leonie neue Hüftgelenke und meine Mutter einen Nervenzu­sammenbruch über den Preis des Autos. Leonie wollte sich beteiligen. Die Hüft­operation ertrug Leonie nicht geduldig, es verjüngte sie anscheinend noch ein­mal. Erstaunt und mit kindlicher Freude berichte sie immer über ihre Erfahrun­gen mit den ärztlichen Errungenschaften. Sie fühlte sich sichtlich wohl im Kran­kenhaus. Knie, könne man sich auch neue einsetzen lassen, ob sie das nicht auch gleich machen lassen wolle, schlug ich vor, dann könne sie noch ein biss­chen länger bleiben. Aber Recht hatte Leonie schon. Sie würde immer mehr Hilfe brauchen. Auch nach dem Krankenhausaufenthalt durfte sie ja sechs Wo­chen ihre Hüften nicht belasten, und dann müsse sie erst wieder laufen lernen. Sicherlich könnte mir jeden Tag etwas zustoßen, aber voraussichtlich würde ich erleben müssen, das Leonie von uns ging. Nein, nein, nein, nein, nein, das wollte ich nicht erleben. Das könnte ich nicht ertragen. Eine Welt ohne Leonie konnte es für mich nicht geben. Nur in traurigen Herbstbildern zeigte sich die Welt ohne Leonie. Mit Leonie würde meine Lust an ihr sterben. Ich weinte auch nicht, aber jetzt kamen mir die Tränen. Mit Claudio sprach ich darüber. Er war der Ansicht, dass zum Leben auch der Tod gehöre, wir nur nicht damit umge­hen könnten, es nie gelernt, sondern stets verdrängt hätten. „Du wirst voraus­sichtlich auch den Tod deiner Eltern und Freunde erleben. Es gibt nichts Perma­nentes auf der Welt. Sie ist kein starres, gleichbleibendes Bild, in dem du dich bewegst und das du dir immer wieder anschauen kannst. Wenn Leonie heute für dich die gleiche ist wie vor zehn Jahren, dann ist sie das nicht faktisch, sie ist es in deiner Wahrnehmung, weil du den Prozess der Veränderung mit ihr er­lebt hast, du hast dich auch verändert. Viel kostbarer müssten uns die gemein­samen Tage sein, wenn wir daran denken würden, dass sie gezählt sind.“ meinte Claudio. Recht hatte er. Ich wollte mir des Glücks jeden Tages bewusst werden, der mir mit Leonie geschenkt würde. Die Welt existiert nicht, weil es Leonie gibt, nur heute ist sie besonders schön, weil ich sie mit Leonie genießen kann.


Neue Wohnung


Jeden Tag kümmerten sich meine Mutter, Claudio und ich uns um Leonie, bis sie wieder voll auf den Beinen war. Aber auch jetzt brauchte sie viel Hilfe. „Ich werde in ein Seniorenheim ziehen.“ verkündete Leonie eines Tages. „Das wer­den wir nicht zulassen, meine Liebe.“ reagierte ich lachend, „Und solltest du es trotzdem wagen, werden wir dich gleich am ersten Tag wieder rausholen.“ Leo­nie lachte auch, meinte aber, dass es für uns auf Dauer doch nicht zumutbar sei. „Für dich ist mir alles zumutbar, Leonie. Das solltest du doch wissen. Keine Sorge, wir werden alles mit Leichtigkeit und Freude schaffen. Komm nicht wie­der auf solche Gedanken.“ Das Haus, in dem sie wohnte, gehörte Leonie. Die Verwaltung machte sie immer selber bis auf die Nebenkostenabrechnung, die eine Firma durchführte. „Die Wohnung im ersten Stock wird frei. Wollt ihr dort nicht einziehen, dann habt ihr nicht mehr so weite Wege.“ verkündete Leonie. Warum die Mieter auszögen, wisse sie nicht. Sie hätten es ihr nicht gesagt. Sie hatte ihnen gekündigt wegen Eigenbedarf, wie sich später herausstellte. Eine kleine Ungeheuerlichkeit für Leonie. Das hatte sie noch nie getan, und auch die Mieten hatte sie seit ewigen Zeiten nicht erhöht. „Was soll ich mit 140 Quadrat­metern, Leonie? Und Claudio sucht sich etwas im Nachbarhaus?“ fragte ich. Sie hatte mich ja darin bestärkt, allein leben zu wollen. Jetzt wegen Leonie doch zusammenzuziehen, wäre widersprüchlich gewesen. Aus der großen Wohnung sollten zwei kleine gemacht werden, das war dringender denn je. Ich hatte schon Ärger mit Claudio gehabt, weil er sich angewöhnt hatte, faktisch bei mir zu wohnen. Nur noch um etwas zu holen und den Briefkasten zu lehren fuhr er nach Hause. Leonie war einverstanden, aber wie sollten wir es organisieren. Wir brauchten einen Architekten, allein würde uns der Überblick fehlen. Kein Problem, Claudios Vater war Architekt, aber er wollte lieber jemand anderen. Claudio hatte wohl mal geäußert, dass er zu seinem Vater kein besonders gu­tes Verhältnis habe, aber Claudio hatte eine Macke. Kindisch legte er sich im­mer mit seinem Vater an. Ich verdeutlichte ihm, wie schwachsinnig er sich ver­halte. „Entweder du änderst das, oder du gehst direkt zum Therapeuten.“ ver­kündete ich apodiktisch. Seitdem gingen sich die beiden aus dem Weg, und sein Vater regelte alles mit mir oder Leonie. „Ich habe mir auch meinen Vater ganz anders ausgemalt, und Leonie hat mir als Kind damals gesagt, dass er auch sicher in Wirklichkeit lieber so sein wolle, es nur nicht mehr erkennen könne. Versuche dir doch auch mal ein Bild von deinem Vater zu malen, wie er eigentlich lieber sein würde. Ich glaube, du würdest ihn lieben. Meine Mutter konnte es auch nicht mehr erkennen, aber bei dir ist es ihr eingefallen, sie hat es dir erzählt, und du bist begeistert von ihr.“ ermunterte ich Claudio.


Jeder Tag ein Festtag


Unser gemeinsames Leben in Leonies Haus gestaltete sich eher wie das Zu­sammensein in einer WG. Leonies Wohnung glich einem großen Gemein­schaftsraum. Wir verbrachten hier viel Zeit, spielten Klavier, schauten gemein­sam Fernsehen, Besuch kam hierher, und die Mahlzeiten nahmen wir sowieso gemeinsam ein. Das Klavier hatte Leonie immer noch nicht stimmen lassen. Da sei mehr dran zu machen, hatte der Klavierstimmer gesagt, und bezweifelt, ob sich das noch lohne. Ein neues Klavier sollte gekauft werden. Leonie war von dem Klang eines Flügels bezaubert. Claudio konnte ihr nicht widersprechen. „Aber das ist doch nur unser Freizeitvergnügen.“ wandte ich wegen des immensen Preises ein. „Was kann es an unseren letzten Tagen Schöneres geben, als dass wundervolle Klänge sie begleiten. Und du wirst dich mühen, Simone, ich will noch die ungarischen Tänze von euch beiden hören.“ reagierte Leonie. „Wir feiern immer irgendwelche Feste, das sind doch Ritualien. Für uns ist jeder Tag ein Festtag, so empfinden wir es wenigstens, und diesem Gefühl wollten wir auch gebührend Ausdruck verleihen. Wenn der Flügel da ist, wird es jeden Tag ein Konzert geben, zur Ehre des wundervollen Tages.“ entschied ich. Leonie musste jetzt auch wieder öfter ans Klavier. Sie war damals im ersten Teil des Albums für dir Jugend stecken geblieben. Mutter kam oft, obwohl Leonie ihre Hilfe nicht mehr gebrauchte. Ob sie auch wegen Claudio kam? Jedenfalls schien sie sich bei uns sehr wohl zu fühlen. Sie so zu erleben, war ich aus meinen Kindertagen nicht gewohnt. Claudio hatte sie erzählt, dass sie eigentlich mehr Kinder hätte haben wollen, nur von mir so begeistert gewesen sei, dass sie keine fremden Götter mehr neben mir hätte haben wollen. Die Begeisterung sei geblieben. Sie hätte mich immer mit sich selbst als kleines Mädchen verglichen, sei stolz auf mich gewesen und habe mich bewundert. Vielleicht hatte das Bild, das ich als Kind von meiner Mutter hatte, zu mir nicht gesprochen, hatte mir nicht ihre Geschichte erzählt, mich nicht wissen lassen, dass sie in Wirklichkeit eher die Landschaftsmalerin als die Grundschullehrerin war und das nicht nur in meinen Träumen. Jetzt empfand sie sich zu uns gehörig, sicher und geborgen bei uns. Wir konnten gemeinsam scherzen und Spaß haben, und mich machte es glücklich, meiner Mutter ein Zuhause schenken zu können.


Maria hieß sie


„Claudio, das mit dem Sexuellen werde ich aufgeben. Ich brauche nachts mei­nen Schlaf, sonst schaffe ich das alles nicht mehr.“ überraschte ich Claudio abends im Bett. Seine Reaktion bestand darin, dass er sich krümmte vor La­chen. „Ja, das sind wahrscheinlich die überflüssigsten Gefühle, die erotischen. Sie nehmen so viel Zeit in Anspruch und führen nur zu einem augenblicklichen Befriedigungserlebnis, das nicht lange anhält. Morgen sind sie genauso schon wieder da. Es gibt ja auch Menschen, bei denen es länger vorhält, eine Woche oder einen ganzen Monat sogar. An so etwas hattest du aber sicher nicht ge­dacht, oder?“ erkundigte sich Claudio. „Du Hirni, an nichts hatte ich gedacht, ich wollte nur sagen, dass es mir manchmal ziemlich stressig erscheint. Ich brauchte gar nicht mehr zu studieren, allein wenn ich das regelte, was allge­mein so anliegt, ist mein Tag ausgefüllt. Wir brauchen Hilfe, Claudio. Dieses Scheiß-Einkaufen geht mir absolut auf den Nerv. Ich finde es ja schön, wenn es immer etwas Leckeres zu essen gibt, aber das erfordert auch sehr viel Zeit. Um so zu leben, wie wir es wollen, reicht unsere Zeit nicht aus.“ erläuterte ich es. Was tun? „Ich habe ja gesagt, es wird zu viel.“ meinte Leonie. „Ah ja, du möchtest also gern ins Seniorenheim, und wir kommen dich dann einmal in der Woche besuchen, oder wie? Wo liegt denn das Problem, wenn wir eine Haus­haltsgehilfin einstellen?“ wollte ich wissen. So sollte es gemacht werden. Maria hieß sie, war eine vierzigjährige Frau und kam aus Polen. Maria war lustig und sang immer. Chopin kannte sie natürlich, und Claudio sollte immer etwas von ihm spielen. Maria kannte alle möglichen polnischen Rezepte. Häufig bekamen wir etwas uns bislang völlig Unbekanntes zu essen und Maria freute sich überschwänglich, dass sie es kochen sollte und wir es lecker fanden. Fast immer gab es jetzt eine Suppe, weil Maria der Ansicht war, ohne Suppe sei ein Essen nicht vollständig. Maria brachte neues Leben ins Haus. Sie kam aus völlig anderen Zusammenhängen, war ein wundervoller Mensch und bereitete uns Freude. Wir hatten jemanden für die Arbeit gesucht und eine Freude verbreitende Frau bekommen.


Alles Verführung, alles Manipulation


Du bekommst immer Menschen, nur Maria lebte nicht in der Welt, die uns ge­läufig und alltäglich war. Ich sprach häufig mit Maria. Marias Bilder waren nicht meine, nicht unsere Bilder. Zu mir sprachen sie nicht. Ihre Geschichten blieben mir verborgen, Maria musste sie erläutern. Ihr Vater war Fabrikarbeiter gewe­sen, und ihre Mutter musste sich um Kinder und Haushalt kümmern. Sie ge­hörte zu denen, die das einfache, und in Polen arme, Volk bildeten, die Arbeiter und Angestellten. Wir sprachen über sie, sie bildeten ja die Mehrheit, aber ihre Bilder interessierten uns nicht. Wir spürten kein Interesse, sie zu verstehen und uns ihre Geschichten erzählen zu lassen. Bei Maria war es für mich anders. Auch wenn sie nicht so dachte wie ich, aber in unseren Gefühlen waren wir uns sehr nahe. Ich bewunderte sie, sie lebte ihre Gefühle, zu unserer aller Freude. Nur die Religion bildete bei Maria einen separaten emotionalen Block. Wo bei anderen vielleicht Kanäle und Zentren für besondere Fähigkeiten am Klavier gewachsen waren, hatte sich bei Maria das Römisch-Katholische eine physiolo­gische Basis im Gehirn angelegt. „Nein, Maria, ich akzeptiere deine religiöse Einstellung, aber mit dir darüber reden tue ich nicht.“ erklärte ich ihr. Sie woll­te natürlich wissen warum nicht. Sie hatte nämlich Interesse an mir, weil sie es nicht fassen konnte, dass so ein lieber Mensch, wie ich, nicht an einen Gott glaubte. „Du kannst nicht über deine religiöse Einstellung reden, selbst wenn du es wolltest. Sie ist ein Teil von dir und steht deinem Willen nicht zur Verfü­gung. Mit Sprechen, Hören, Sehen und Laufen hast du auch Beten und Glau­ben gelernt, das ist nicht verfügbar, genauso wenig wie du sagen kannst, ab heute will ich meine Muttersprache vergessen.“ erläuterte ich. „Du meinst also, ich bin als ganz kleines Kind schon manipuliert oder verführt worden, und heu­te kann ich nicht mehr anders?“ schloss Maria. „In allem bestehen wir nur aus Verführungen, Maria. Wir können die Brustwarze der Mutter finden, damit wir nicht verhungern, sonst können wir nichts. Jedes kleine bisschen mehr ist von anderen Gelerntes. Dass du ein Mädchen bist, und was du da zu tun hast, weißt du als Neugeborenes nicht, alles kommt von anderen, alles Verführung, alles Manipulation. So geht es dein ganzes Leben weiter.“ erläuterte ich und wir lachten. Trotzdem redeten wir ständig über Religiöses, meistens Grundsätzli­ches über Gott und über Glauben allgemein. Maria wollte wissen, wie ich denn damit leben könne, wenn ich nicht wisse, wo ich nach dem Tod hingehe? „Ge­nauso ist es. Das erträgst du nicht. Du musst es wissen, und weil du es nicht weiß, denkst du dir etwas aus, was alles erklärt. Alle Völker und Stämme ha­ben sich etwas ausgedacht und behaupten, dass so die Realität ist.“ antwortete ich ihr. „Du meinst also, alles könnte nur ausgedacht sein, auch das mit Him­mel und Hölle?“ fragte Maria. „Alles, Maria. Wirkliche Beweise gibt es für nichts, alles nur von Einzelnen in Ekstase gesehen, geglaubt und weitergege­ben. Was meinst du, was ich alles sehe, wenn mich die Musik in der Oper in Ekstase versetzt?“ antwortete ich. „Meiner Meinung nach ist es sowieso wider­sprüchlich, wenn die Religion der Liebe dir mit Höllenqualen droht. Es gibt nichts Menschlicheres, als dass du dich als Frau in einen Mann verlieben möch­test. Du landest aber in der Hölle, wenn du es tust, weil ein Pfarrer dich mal mit einem anderen vermählt hat, den du gar nicht mehr kennst. Das ist und bleibt für mich abstrus und menschenwidrig, Maria.“ war meine Ansicht. Maria hatte offiziell mal geheiratet, der Mann war aber schon kurz darauf verschwun­den und eine einmal geschlossene Ehe einfach auflösen, das ging in Polen nicht. Es handelte sich ja um ein vor Gott bezeugtes Sakrament.


Maria veränderte sich sehr rasch. Sie war schon bald nicht mehr die, als die sie bei uns angefangen hatte. Förmliche Distanz und höfliche Reserviertheit hatte sie schnell abgelegt. Maria versuchte sich viel von uns anzueignen. Sie brachte sich nicht morgens vom Bäcker die Bildzeitung mit, sondern las in unseren, fragte viel und wollte alles erklärt haben. Maria fühlte sich ersichtlich wohl. Sie war eine schöne Frau und verstand es auch, sich chic zu machen, nur leider eher ein wenig altbacken. Ich ging mit Maria shoppen, die Jeans, Blusen und Pullis versinnbildlichten jetzt auch die lebenslustige, frische, sportliche Frau, die darin steckte. Sie habe eine Arbeit gesucht, sagte Maria, und ein Zuhause bekommen. Ihre intime Ansprechpartnerin in diesem neuen Zuhause war ich.


Maria und Fabian


Der Herdentrieb muss sehr tiefe evolutionäre Grundlagen haben. Er stellt of­fensichtlich die Basis für Selbstzweifel und Selbstmisstrauen dar. Die andern werden sicher besser wissen, wo es das gute Futter gibt als du selbst. Bei uns schienen die Leute daran zu zweifeln, dass sie sich bei sich selbst zu Hause ebenso wohlfühlen würden, wie bei uns. Deshalb kamen immer alle möglichen Leute zu uns. Fast selbstverständlich war es, dass man sich bei uns traf. Wir hatten nicht nur viel zu tun, wir hatten auch ständig Besuch. „Claudio, das geht so nicht mehr. Wir müssen auch mal nein sagen können, sagen es geht nicht, ich habe zu tun.“ erklärte ich. „Soll ich Fabian sagen: „Nein, komm heut nicht, du störst.“?“ Claudio darauf, aber sein Grinsen zeigte, dass er es auch wohl nicht ganz ernst gemeint hatte. „Du Idiot, selbstverständlich kann dein Freund Fabian so oft kommen und so lange bleiben wie er möchte. Nur wir können ja bald ein Café aufmachen. Maria bezahlen wir zur Hälfte dafür, dass sie den anderen Kaffee kocht.“ argumentierte ich. „Und zur anderen Hälfte da­für, dass sie mit Fabian schäkert.“ ergänzte Claudio, worüber wir beide ins La­chen kamen. In der Tat, Maria und Fabian gefielen sich offensichtlich trotz des Altersunterschiedes gegenseitig sehr gut. Maria bemutterte Fabian. Der spielte ihre Lieder auf dem Klavier und besorgte auch Noten für andere polnische Volksweisen. Es gefiel ihm offensichtlich, Maria eine Freude zu machen und sie zum Lachen zu bringen. Wir bekamen jetzt immer, im Gegensatz zu früher, Ku­chen und Kleingebäck, dessen Vorzüge und Besonderheiten nur Fabian erläu­tert wurden. Wenn Fabian zum Abendbrot blieb, war Maria völlig nervös und schien nur noch ihn wahrzunehmen. Mit dem herausragenden Stellenwert den Gastfreundschaft in Polen genieße, begründete sie es, und Fabian sei ja schließlich unser Gast. Fabian war Sannes älterer Bruder. Er hatte Germanistik studiert und promovierte jetzt. Claudio und er spielten etwa gleich gut Klavier. Ungarische Tänze? Na, selbstverständlich, obwohl Leonie immer behauptete, Claudio spiele besser. Sie saß im Sessel und lauschte verzückt. Ihr Buch hatte sie dabei auf den Schoß gelegt, hörte nur noch zu und träumte. Hin und wieder verbrachte ich die Nacht mit ihr, je nachdem, wie es sich aus der emotionalen Situation am Abend ergab. Das Frühstück schmeckte dann um Klassen besser.


Maria sollte auch Klavier spielen lernen. Fabian zeigte ihr, wie sie die Finger zu halten habe und ließ sie die Tasten anschlagen. Maria lachte sich tot. „Aber im Ernst, Maria. Warum nicht? Du bist doch nicht zu alt, deine Finger sind doch nicht verkalkt, und das, was Leonie spielt, wirst du auch schon in ganz kurzer Zeit können.“ meinte ich. Fabian spielte den Wilden Reiter aus dem Album für die Jugend und wechselte dann zur Träumerei über. Das kannte Maria, sie hat­te es ja auch schon öfter bei uns gehört. „Nein, so etwas zum Beispiel.“ und ich spielte den Flohwalzer. Das kannte sie auch und war für sie der Ententanz. „Aber dann musst du auch richtigen Unterricht nehmen. Der Fabian ist ja kein Lehrer.“ erklärte ich. „Das wird kein Problem sein, ich will ja sowieso bald Deutsche werden.“ sagte Maria und musste unserer fragendes Erstaunen be­friedigen. Ihre Heimat sei hier, sie habe in Polen nichts mehr verloren, auch wenn ihre Seele natürlich immer polnisch bleiben würde.


Maria braucht einen Mann


Der erste Schritt nach Marias Wechsel der Staatsbürgerschaft, war ein Gang zum Gericht. Sie wollte sich scheiden lassen, aber da hatte man ihr unendlich vieles erklärt und gefragt, was sie nicht verstand und nicht beantworten konn­te. „Maria, für so etwas brauchst du einen Anwalt, der sich damit auskennt. Das geht nicht einfach so.“ machte ich ihr klar. „Meine Mutter ist doch Rechts­anwältin, aber mit so etwas hat die normalerweise nichts zu tun. Sie wird be­stimmt jemanden kennen, der dir helfen kann. Ich frag' sie mal.“ meinte Fabi­an. Das seien doch Kinkerlitzchen, das könne doch jeder, hatte sie gemeint, als Fabian ihr erklärte, worum es ging. Fabians Mutter kam aus dem Lachen nicht wieder heraus. Zur Besprechung von Marias Angelegenheit kamen sie gar nicht, weil Maria sie in immer wieder neuen Elogen glücklich pries als Mutter von einem so wundervollen Sohn. Was er alles könne, wisse und getan habe, musste sie berichten. Fabian saß nur mit geschlossen Lippen lachend daneben. „Maria.“ sagte er, um sie zu stoppen, aber es hörte sich an, als ob nur das „meine Allerliebste“ gefehlt hätte. Fabian sollte zur Demonstration ein polni­sches Lied vorspielen und sie würde dazu singen, schlug Maria vor. „Das ma­chen wir alles hinterher Frau Nowak, lassen sie uns doch zuerst ihr Anliegen klären.“ schlug Frau Wiedemann, Fabians Mutter, vor. Mit dem verschollenen Mann könne es allerdings schon Probleme geben, zumal Maria keinerlei Unter­lagen darüber besaß. Frau Wiedemann notierte sich alle Angaben von Maria und wollte sich ans Konsulat wenden. Es dauerte nicht lange und alles war geschafft. Sie sei schon genug durch das Lob ihres Sohnes von Maria entlohnt worden, die Gerichtskosten musste sie allerdings schon bezahlen. Maria war auch beim Pfarrer gewesen und hatte ihm etwas vorgeweint. Selbstverständlich sollte die Ehe für ungültig erklärt werden. „Deutschland ist ein freies, kluges und vernünftiges Land. Ich bin stolz und glücklich, hier zu leben.“ erklärte Maria und fügte hinzu, „und ich bin jetzt frei, völlig frei. Jetzt brauche ich einen Mann.“ Wir platzten los vor Lachen. „Maria, wozu gebrauchst du einen Mann. Bist du bei uns nicht glücklich?“ wollte Claudio wissen. „Zum Heiraten, na, wozu sonst?“ lautete Marias Reaktion. „Ja, natürlich,“ meinte ich gezwungen ernst zu bleiben versuchend, „Und wie müsste der aussehen, und woher willst du ihn nehmen?“ wollte ich von ihr hören. „Ja, das ist schon ein Problem. So einen einfachen Fabrikarbeiter, der sich in der Bildzeitung informiert, beim Fußball grölend mit Bier vorm Fernseher sitzt und kein Klavierspielen kann, das ginge nicht mehr. Und ein Professor, der nähme doch keine Hauswirtschafterin. Ihr habt mich verdorben.“ sagte sie und lachte. „Mit der Liebe, das spielte gar keine Rolle?“ wollte Claudio noch wissen. „In Polen war die große Liebe in den besseren Kreisen ganz wichtig, bei den einfachen, armen Leuten war das Entscheidende, dass man versorgt war.“ erklärte Maria. „Und wenn es einen gäbe, der zwar kein Professor ist, aber schon bald ein Herr Doktor sein wird, der dich sehr liebt und wundervoll Klavierspielen kann, würde dir das denn reichen? Ich weiß aber nicht, ob der heiraten will.“ trug ich zur Diskussion bei. Maria lachte stumm, öffnete aber ihren Mund und ließ ihre schönen Zähne sehen. Ein Gesicht, von dem ich mir gut vorstellen konnte, dass es Fabian bezauberte. „Wir mögen uns sehr gern, und ich glaube schon, dass es so etwas wie Liebe ist, aber du wirst doch nicht von Fabian erwarten, dass er so eine alte Frau heiratet. Ich könnte ja fast seine Mutter sein.“ verdeutlichte Maria ihre Sicht.


Fabian will heiraten


Als Fabian von unserem Gespräch erfuhr, meinte er nur: „Die spinnt doch.“ „Was habe ich gehört? Du willst mich betrügen mit einem anderen Mann?“ er­klärte Fabian lachend vorwurfsvoll, als er auf Maria traf. Die lachte auch, und sie vielen sich um den Hals, zum ersten mal. Den Rest des Nachmittags ver­brachten die beiden auf der Couch. „Das kann ich nicht, das ist fest in mir ver­wachsen, Simone, erklär' du es Fabian doch mal.“ sagte Maria zu Fabians Vor­schlag, doch ohne Heirat zusammen zu leben. Wir saßen alle zusammen beim Abendbrot, und das war Maria im Moment wichtiger, als Fabian zu betätscheln. „Ich denke, bei Fabian wird es genauso fest verwachsen sein, dass er keine Hochzeit will und das auch nicht kann, wie bei dir die religiöse Einstellung. Er möchte, dass ihr zusammen seid, weil ihr euch liebt und sonst nichts. Andere haben da nichts reinzureden oder es zu genehmigen. Eure Liebe ist für ihn das ausschließlich Entscheidende. Aber küssen dürft ihr euch doch auch ohne Trau­schein, oder?“ war meine Ansicht. Auf die Idee waren sie noch gar nicht ge­kommen. Sie hatten so hitzig diskutiert, schon mal geklärt, dass der Altersun­terschied irrelevant sei und dabei die Zärtlichkeiten völlig vergessen. Jetzt lachten sie, und Maria bekam rote Wänglein, als sie ihre Lippen aufeinander zubewegten. Maria hatte mir mal erklärt, wie sie sich früher ihr Leben vorgestellt hatte. Schlicht und einfach war es, keine großen Träume. Sie hatte sich auch gewünscht, Kinder zu haben, wenigstens zwei, mehr würden sie wahrscheinlich nicht ernähren können. Ich erinnerte mich daran und fragte Maria: „Du willst doch Kinder haben, das müsstest du aber unbedingt mit Fabian besprechen, oder hast du ihm das schon gesagt?“ Maria lachte laut auf. „Zu alt, was redest du? Schau dir mal die Mütter in den Kindergärten an. Dass Frauen mit Vierzig ihr erstes Kind bekommen, ist hier überhaupt nicht ungewöhnlich.“ reagierte ich auf Marias Einwände. Das schien Maria aufgewühlt zu haben. Den ganzen weiteren Nachmittag und Abend schien sie zu träumen und nachzudenken. Einige Tage später erklärte sie, das Fabian jetzt einverstanden sei, und sie heiraten wolle. „Na, du kennst ihn doch. Ich wusste, dass er irgendwann vernünftig werden wird.“ kommentierte es Maria schlicht. Die Frage nach Kindern hatte sich Fabian noch nie gestellt, aber das Bild, mit Maria kleine Fabians und Marias zu haben, begeisterte ihn. Und mit Kindern sei es ja sowieso sinnvoller, verheiratet zu sein, meinte er.


Frühlingsblume und Märchenprinz


„Das ist doch ungeheuerlich.“ würden wir sagen, wenn wir es von außen sä­hen. Wir hätten auch ein Bild wie alle, würden es nicht genau betrachten und verstünden es nicht. Jetzt haben wir es erlebt, haben es zuerst belächelt, dann wurde es selbstverständlich und es hat uns erfreut. Wir wissen, dass es dieses Bild, junger gebildeter Mann liebt ungebildete ältere Frau nicht gibt, dass die Aussage hohl ist und nichts von der wirklichen Geschichte erzählt. Wie oft wir wohl immer noch auf so falsche, schale Billder in anderen Angelegenheiten hereinfallen.“ sinnierte Leonie. „Und wie sieht das Bild aus, das die wirkliche Geschichte erzählt?“ fragte ich sie. „Es ist eine Frühlingsblume, sie sagt, dass durch die Liebe neues leuchtendes Glück entsteht, gleichgültig wie kalt und bit­ter die Tage im Winter gewesen sind und sie sagt auch, dass du es nicht erken­nen kannst, woher sie ihre Kraft für die neue Blüte und die Kunst für ihre leuchtende Pracht nimmt. Dass Altersunterschied kein Hindernis für die Liebe sein muss, hätten wir vermutet, aber dass die unterschiedliche Bildung auch nicht stört, ist doch verwunderlich.“ meinte Leonie. „So, das erstaunt mich aber, Leonie. Wir beide befanden uns doch intellektuell wohl auch auf einer höchst unterschiedlichen Ebene, und ich habe dich nicht geliebt, weil du so klug warst und so vieles wusstest. Ich fand dich einfach unerklärlich zauber­haft, was darin zum Ausdruck kam, wie du mich behandeltest und wie du dich dabei verhieltest, wenn du es mir erklärtest.“ meinte ich dazu. „Ja, du erkennst den Menschen in dem anderen, kannst ihn verstehen, er spricht zu dir. Wenn das auf Gegenseitigkeit beruht, wird sich Liebe nicht verhindern lassen.“ kom­mentierte Leonie. Sanne lachte immer, war glücklich und nutzte jede Gelegen­heit, um die beiden zu küssen. „Ich freue mich, dass ich so etwas erleben darf. Es ist ja wie im Märchen, der Prinz erkennt, dass das Mädchen in der Asche in Wirklichkeit eine Königstochter ist. Ich glaube, dass es an der Musik liegt, sie spricht eine andere Sprache, du kannst Worte hören, erkennen und verstehen, die es im verbalen und kausalen Sprachgebrauch nicht gibt. Das wird es Fabian ermöglichen, auch von Maria das zu erkennen und zu verstehen, was ihn be­glückt und verzaubert. Wundervoll.“ erklärte Sanne es sich. Fabians Mutter fand es toll und mutig. Das habe sie sich früher nicht getraut. Dafür sei sie viel zu angepasst und unsicher gewesen. Nur Fabians Vater gefiel es überhaupt nicht. Aber ihm gefiel alles nicht, vor allem die ganze Welt nicht und darin vor­rangig sein eigenes Leben. Alles Vermurkst. Die Frau schafft das große Geld heran, die Tochter ist lesbisch und der Sohn verbringt seine Zeit damit, schöne Geschichten zu erforschen. Jetzt will er auch noch eine Haushaltsgehilfin heira­ten. Da stimmte doch alles nicht. Er ertrug es einfach. Ob er sich mal Gedan­ken über die Grundlage seiner Einschätzung machen sollte, die Frage kam ihm nicht in den Sinn.


Wohnung für das junge Paar


Maria lebte vornehmlich bei uns. Ihre Sachen hatte sie in einem kleinen Man­sardenappartement untergebracht. Sehr häufig übernachtete sie bei uns im Gästezimmer. Fabian wohnte zu Hause. Jetzt würden die beiden eine Wohnung benötigen. „Klingenbergs kündigen, das kann ich nicht, und Breuers haben sel­ber Kinder. So ein Jammer.“ sinnierte Leonie. Außer ihr hatte daran auch nie­mand gedacht. „Leonie, das ist doch kein Problem. Wiedemanns werden den beiden eine Wohnung finanzieren.“ meinte ich. „Dann wären sie aber kaum noch hier. Maria käme hierher, um zu arbeiten und nicht mehr, um Fabian zu treffen und mit uns zu leben. Für mich und uns wäre es ein herber Verlust, der schmerzlich wäre.“ erklärte Leonie. Das würde sich nicht ändern lassen, es wäre ja Marias und Fabians Leben, aber Recht hatte Leonie schon. Sonderbar, ich fixierte mich immer mehr auf den Gedanken, dass Maria und Fabian in der Wohnung über uns wohnten, malte mir Bilder aus, wie unser Leben dann wohl aussehen würde, wenn eine Kleine Maria im Kinderstühlchen mit am Tisch säße, sie im Garten im Sandkasten buddelte. Immer wieder musste ich an sol­che und ähnliche Szenen denken. Wollte ich auch mit Claudio Kinder haben? Vielleicht schon mal, aber jetzt auf keinen Fall. Das war es nicht. Maria war die Mutter, und die Mutter gehörte zu uns und nicht in eine fremde Wohnung. Lie­ße sich vielleicht irgendetwas mit den Räumen so organisieren, dass die beiden auch noch bei uns wohnen könnten? Im Moment sicherlich, aber mit Kindern würde es dann doch problematisch. Ewig würden die Klingenbergs ja auch nicht hier wohnen bleiben, sie waren ja in Leonies Alter. Ich wollte mich mal unverbindlich bei Frau Klingenberg nach ihrer langfristigen Perspektive erkun­digen. Meine Träume waren offensichtlich äußerst stark und intensiv gewesen, so dass sie wohl telepathische Wirkungen entfaltet haben mussten. Klingen­bergs wollten sowieso in eine Wohnanlage für Senioren ziehen. Sie hätten ja nicht die Hilfe wie Leonie und die Treppe, wenn's auch nur zum ersten Stock wäre, mache ihnen doch zu schaffen. Sie schauten sich verschiedene Projekte an und würden sich dann entscheiden. Genau sagen könne sie es noch nicht, aber in einem halben Jahr würden sie bestimmt nicht mehr hier wohnen. Es war nicht zu fassen. Das schien für mich das eigentliche Märchen zu sein, als ob mir eine Fee einen Wunsch frei gegeben hätte. Einfach so er zählen, konnte man so etwas natürlich nicht. In einem andachtsvollen Ritual wurde es nach ei­ner Schweigeminute beim Abendbrot feierlich verkündet. Marie war die erste, die sich wieder äußerte. Sie sprang auf, umarmte und küsste mich. Leonie lä­chelte die ganze Zeit nur verschwiegen und genussvoll, als ob sie etwas geahnt hätte. Fabian war offensichtlich darin vertieft, sich alles auszumalen, zumindest schien sich vieles in seinem Kopf zu bewegen. Plötzlich sagte er unvermittelt, überrascht und erfreut: „Dann könnte ich ja immer an den Flügel.“ Alle muss­ten lachen, und ich meinte, dass Leonie und Maria das auch von ihm häufig er­warten würden.


Donnerstagskreis

 

Bei uns hatte sich donnerstagabends ein Diskussionszirkel gebildet, mehr intui­tiv als geplant. Leonie las viel Literatur, mal Heine mal Balzac, donnerstag­abends sprach ich mit ihr darüber. Fabian hatte sich angeschlossen und auch Claudio gehörte bald dazu. Wenn wir uns alle miteinander unterhielten, durfte auch Maria nicht fehlen. Sie war toll, fragte nichts Unnützes, Plumpes, Stören­des, offensichtlich war sie sehr feinfühlig, zu erkennen, was angebracht war. Zu sagen, Maria sei intelligent und wäre heute eine gebildete Frau, wenn sie in an­deren Verhältnissen aufgewachsen wäre, war eine unnütze und dumme Hypo­these, aber sie verfügte über menschliche Qualitäten und Gefühle, wie sie je­der haben könnte, den meisten aber leider fehlten und zwar völlig losgelöst vom Zustand ihres Bildungshorizontes. Maria sah mit anderen Augen, aber sie sah mehr und tiefer. Ihr erschienen die Bilder nicht wie den meisten anderen. Sie sah in ihnen etwas, das die anderen nicht sahen, bekam eine Geschichte erzählt, ließ die Bilder zu sich sprechen, hörte gut zu und ging nicht achtlos darüber hinweg, wie die meisten Menschen, zu denen die Bilder nicht spra­chen, weil sie nur die banalen Vorgaben und Bewertungen kannten und sie im Gegensatz zu Maria ihre wirklichen Bedürfnisse und Gefühle nicht mehr erken­nen konnten.

 

FIN

 

 

En tous pays, avant de juger un homme, le monde écoute ce qu'en pense sa femme.

Honoré de Balzac

Mädchen sind ja sowieso immer schlauer als Jungs, aber dass ich keine tumbe Tusse sein konnte, hatte ich von meiner Omi geerbt. Meine Omi war eine ganz kluge und schlaue Frau, emeritierte Professorin und Feministin. Ich bewunderte sie aber nicht nur, weil sie so viel, ich glaube, fast alles, wusste, sie war meine Allerliebste überhaupt. Omi Leonie hatte sich durchgesetzt, dass ich Simone hieß nach Simone de Beauvoir. Darüber wollte ich natürlich alles wissen. Nicht nur einfach so, ganz genau wollte ich alles erklärt haben. Freund, Mann? Dass wir Frauen das unterdrückte Geschlecht sind, wusste ich schon als Kind. Der Mann von meiner Freundin, einer Lehrerin bei uns an der Schule, so einen könnte ich mir vielleicht noch vorstellen, aber da gab's ja nur den einen. Ich wollte nach dem Abitur lieber in einer Frauen-WG wohnen. Und dann lerne ich diesen Claudio kennen, den sie alle Akki nennen. Bei einer Grillfète stand er neben mir und meinte, ich solle doch Schweinefleisch essen. Den ganzen Abend blödelten wir nur über Schweinefleisch und ähnlich Verrücktes. Wir haben schrecklich viel gelacht, aber Akki rief an, er möchte mich wiedersehen. Ich wollte das alles doch gar nicht. Dieses blöde, infantile Verliebt-Spielen war mir zuwider. Nur so lief das mit Claudio gar nicht. Dass sich für mich durch Liebe zu einem Mann so viel verändern könnte, hätte ich bestritten. Aber Simone de Beauvoir hatte ja sogar mehrere Liebhaber und nicht nur ihren Jean Paul Sartre.

 

Wenn kluge Mädchen lieben – Seite 23 von 23

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Tag der Veröffentlichung: 18.06.2013

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