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Introduction und Inhalt

Carmen Sevilla

Schutzengel Sophia

Verwirrungen durch Liebe

 

 Erzählung

 

 Tout mortel a le sien : cet ange protecteur, cet invisible ami veille autour de son cœur.

 Alphonse de Lamartine 1823

 

Illusionen, Fakes und Träumereien mag Charly nicht. Er ist ein nüchterner Realist. Sophia, die Schwester von Charlys Partnerin wird unheilbar krank. Sie verbringt ihre letzten Tage bei Andrea und Charly. Dabei verlieben sich Sophia und Charly ineinander. Eine tiefere, intensivere Beziehung als Charly es jemals erlebt hatte. Ein Austausch wie er sonst unter Menschen nicht möglich sei, meinte Charly. Sophia verspricht, nach ihrem Tod, Charlys Schutzengel zu werden. Jetzt hat der absolut coole und nüchterne Realist einen Schutzengel. Charly dreht durch. Vielleicht haben ja alle einen Schutzengel, meint Charly. Sie wissen es nur nicht und sind nicht realistisch genug, um ihn erkennen zu können.

Beziehung ins Jenseits - Inhalt

 

Beziehung ins Jenseits 4

Jeder Mensch brauche seine Illusionen 4

Sammelwörter 5

Was ist Liebe? 5

Verliebt 6

Herz 6

Sophia 7

Gerry 8

Sophias Krankheit 8

Sophias Genesung 9

Rückfall 10

Keine Therapie 11

Sophias Tod 12

Wir müssen wieder leben 12

Sophia im Traum 13

Mein volles Leben 15

Divergenzen 16

Therapie 17

Frisch verliebt und wieder glücklich 18

Heirat 19

Lilly 20

Gemeinsames Leben 21

Epilog 21

 

 

Beziehung ins Jenseits - Jeder Mensch brauche seine Illusionen

 

„Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich das gesehen habe.“ beschloss mein Freund Milo seinen Bericht über ein für ihn ungeheuerlich erscheinendes Ereignis. Ich zweifelte daran, ob ich ihm trauen könne. Er hatte noch nie eine Brille getragen, und auch jetzt schien seine Sehkraft in keiner weise einge­schränkt. Er sollte lieber daran zweifeln, ob das was die Augen seinem Gehirn mitteilten, dort richtig interpretiert wurde. Seine Augen hatten sich seit seiner Geburt nicht wesentlich verändert, nur wie die Interpretationszentren die Im­pulse verarbeiteten, war ausschließlich erlernt. Wir wissen von vielen Signalen, wie unsere Gehirne sie gewöhnlich zu deuten gelernt haben. Es fällt daher oft nicht schwer, das Bewusstsein zu täuschen, die gewohnte Interpretationsweise auszunutzen und ihrer Wahrnehmung etwas vorzugaukeln, was nicht den Rea­litäten entspricht. Man erzeugt durch die Sinnestäuschung eine Illusion. Zaube­rer oder Magier, wie sie sich früher nannten, bezeichnen sich heute vielfach als Illusionisten.

 

Jeder Mensch brauche seine Illusionen, wird gesagt, und man rät ihm sogar, er solle sie sich auch nicht nehmen lassen. Dem Illusionären halte ich mich nicht für besonders zugetan. Sciencefiction Filme können in mir nicht einen Hauch von Interesse, geschweige denn Begeisterung wecken. Ich hätte keine Ahnung, wollte mir ein Freund verdeutlichen. Wollte ich auch gar nicht, selbst das wäre mir schon zu viel überflüssige Beschäftigung mit diesem Genre gewesen. Kri­mis kann ich mir nicht anschauen, weil der Gedanke daran, dass es sich um einen Fake handelt, permanent meine Wahrnehmung dominiert. Alle Spielfilme sind schließlich Fakes. Sie hegen zwar ausdrücklich keine betrügerischen Ab­sichten, aber sie gaukeln mir vermittels der cineastischen Möglichkeiten fiktive Realitäten vor, die sich außer in den Gedanken der Regisseure und Drehbuch­autoren nirgendwo abspielen. Bei schlichten Filmen blendet sich mir immer eine mögliche Situation am Set ein, wie diese Szene gedreht wurde, und es ist vorbei. Ich kann mich nicht mehr auf den Film einlassen. Spielfilme schaue ich mir auch nur selten an, außer wenn mich Rezensionen oder Besprechungen auf künstlerische Besonderheiten hingewiesen haben. Das entspricht nicht einem rationalen Beschluss von mir, es ergab sich einfach so, dass mich die selbster­nannten Illusionisten nicht animieren und meine Aufmerksamkeit für längere Zeit auf ihre Vorführungen konzentrieren konnten. Ich sah immer, wie die Schauspielerin Frau Müller sich mühte, um die verliebte Sandra zu geben, und konnte es nicht ausblenden. Es wurde mir sehr schnell langweilig und ich hatte den dringenden Wusch, mich mit etwas anderem zu befassen. Bei Romanen oder Erzählungen handelte es sich in der Regel ja auch um frei erfundene Ge­schichten, nur das hat im Zusammenhang mit dem Lesen des literarischen Werkes keine Bedeutung.

 

Sammelwörter


Was sind denn Illusionen? Handelt es sich bei meinen Gedankenspielen, mei­nen Träumereien, meinen Assoziationen auch um illusionäre Gebilde. Soll es sich bei allem, was ich nicht in Übereinstimmung mit der Realität faktisch bele­gen kann, etwa um Sinnestäuschungen handeln? Unsinn! Ich muss nicht Zau­berkünstler mögen und in Bäumen Menschen erkennen, wenn ich darüber sin­nieren will, wie gut mir ein besseres, sorgenfreieres Leben gefallen würde. Die Bezeichnung Illusion ist ein Unwort, unter dass sich Unterschiedlichstes subsu­mieren lässt. Dass du Vorstellungen, Wünsche, Träume haben und sie nicht einfach vergessen solltest, darunter könnte ich mir etwas vorstellen und würde dem auch zustimmen, aber dies mit illusionärer Verkennung der Realität unter dem gleichen Begriff zusammenzufassen, missfällt mir.

Wir scheinen eine Vorliebe für solche Wörter zu haben. „Wie schön, dass es ihm gut geht, und er eine so schöne Freundin hat.“ könnte man sagen. Was ist schön? Alles was nicht hässlich und unangenehm ist und mir gefällt. Wozu braucht man solche Wörter. Unser Lexikon ist einfach zu dünn, oder wir ver­wenden die differenzierenderen Bezeichnungen aus Bequemlichkeit nicht.


Was ist Liebe?


Mit der Liebe verhält es sich nicht viel anders. Ich liebe meine Freundin, die Frau, mit der ich seit zehn Jahren zusammenlebe, aber ob das eine Ähnlichkeit mit dem hat, was der Philatelist für seine Briefmarken empfindet? Mir will es sich jedenfalls nicht direkt erschließen. Doch selbst wenn man den Begriff auf die Beziehung unter Menschen beschränkt, hat er noch eine große Variations­breite. Meine Geliebte hat seit einiger Zeit einen Liebhaber. Er kann es kaum erwarten, dass sie ihn besuchen kommt, und wenn sie wieder gehen will, drängt er sie, doch länger zu bleiben. Während ihrer Anwesenheit ist er für nie­manden sonst zu sprechen, und er hat sich auch schon Gedanken darüber ge­macht, sie gegebenenfalls zu ehelichen, nachdem er erfahren hatte, dass wir beide nicht verheiratet sind. Er hat diese Überlegungen jedoch vorläufig zu­rückstellen müssen, da seine mentalen Kapazitäten noch nicht ausreichten, um dieses Problem abschließend klären zu können. Gerry, der dreieinhalbjährige Sohn der Schwester von Andrea, meiner Lebensgefährtin, mag sie über alle Maßen. Aber auch Sophia selbst, seine Mutter, liebt Andrea ihre zwei Jahre äl­tere Schwester innig. Andrea habe ihr beigebracht, die Welt zu erobern. Sie habe sich immer ein wenig besser ausgekannt und habe es ihr vermittelt. Er­klärt es Sophia. Die Liebe ihrer Mutter kann man fast als abgöttisch bezeich­nen. Die Erfahrung bei ihrem ersten Kind, während der Schwangerschaft, bei der Geburt und als neues, in ihrem Bauch gewachsenes Leben, scheinen über die vielen Jahre nicht verblasst, und immer wenn sie Andrea sieht, präsent zu sein. Zumindest erwecken ihre Begrüßungen immer den Eindruck, als ob sie Andrea für gerade frisch zur Welt gekommen hält. Alle lieben meine Geliebte. Es lässt mich nicht eifersüchtig werden, erzeugt in mir nicht im Entferntesten Vorstellungen von Konkurrenz, ich freue mich für sie, ich liebe es.


Solange es kulturelle Aufzeichnungen gibt, wissen wir, dass Fragen der Liebe die Menschen tiefgreifend beschäftigten. Sie ließen ihre Götter liebende Bezie­hungen eingehen oder erklärten mit liebenden Vereinigungen sogar zentrale kulturgeschichtliche Entwicklungen. Platon lässt seine Diotima ausführlich über die unterschiedlichen Formen der Liebe und ihre Beziehungen untereinander referieren, während die Religion, die sich als Kulturstifterin des christlichen Abendlandes sieht, sich als Religion der Liebe bezeichnet. Die Form des Ver­liebtseins zwischen Mann und Frau, wie wir sie heute kennen, sei ein Produkt der bürgerlichen Familie, in der erst die Liebesheirat ihren zentralen Stellen­wert erhalten habe. Die zu Beginn oft ekstatischen Zustände der Verliebtheit entsprächen den visionären Trance ähnlichen Verzückungen, die sich bis dahin mehr auf religiöse Sachverhalte bezogen hätten.


Verliebt


Ob ich auch der Realität entrückt war, als Andrea und ich uns kennenlernten? Leicht obsessiven Charakter hatte die Beschäftigung mit ihr schon. Die Zeiten in denen ich sie nicht sehen konnte, schienen mir endlos, und vieles verlor enorm an Bedeutung im Vergleich zum Zusammensein mit ihr. Gedanken an sie schienen meine mentalen Aktivitäten zu dominieren und die Freude auf un­sere Treffen hatte sicher leicht surreale Züge. War das alles ekstatische Ver­zückung, die die Realität ausblendete? Unterlag die Interpretation meiner Wahrnehmungen von Andrea einer Sinnestäuschung, unsere Liebe sollte nur eine Illusion sein? Das streite ich bis heute, auch wenn ich es jetzt schon mal fast eine Woche ohne Andrea aushalten kann, rigoros ab. Die Verlogenheit auch und besonders in Liebesfragen mag ein Produkt der bürgerlichen Kleinfa­milie sein, aber die schwärmerische, rauschhafte Liebe wurde nicht von ihr er­funden. Sie ist den Menschen schon immer vertraut, zumindest so lange sie davon erzählen können. In Mythen und Dramen erfahren wir von ihren theatra­lischen Verläufen. Die Lust-, Körper- und Frauenfeindlichkeit der Kirche hat der Liebe zwischen Mann und Frau enge Restriktionen aufgezwungen und sie pri­mär zum Zweckorgan der Fortpflanzung im Sinne der Verherrlichung Gottes deklariert und degradiert. Unserer Beziehung fehlt nicht nur der kirchliche Se­gen, Andrea kann auch gar keine Kinder bekommen und trotzdem sind wir schon seit über zehn Jahren ineinander verliebt. Teufelswerk von Heidenkin­dern hätte die Kirche in früheren Zeiten darin gesehen, doch wir finden unsere Liebe göttlich.


Herz


Für das zentrale Steuerungsorgan der Funktionen des menschlichen Körpers wurde in Zeiten, bevor man es besser wusste, das Herz gehalten. Daran denkt heute niemand mehr, aber die Liebe ist bis heute stets dort wohnen geblieben. Auch hier weiß jeder und jede, dass diese Angelegenheiten ebenso von emotio­nalen Vernetzungen im Gehirn reguliert werden. Es scheint in der Tat ein be­sonderer Sinn, eine außergewöhnliche Fähigkeit zu sein, deren emotionalen Bereich wir im Herzen verorten. In allen Bereichen, auch den unbewussten, verhalten wir uns kalkulierend, unsere Vor- und Nachteile berechnend, nur bei dem was wir dem Herzen zuordnen, ist es anders. Das Herz ist offen und gibt, es rechnet nicht. Es macht mir Freude, Andreas Neffen meine Zuneigung zu schenken, ohne dass ich je darauf käme, mir Gedanken darüber zu machen, was es mir denn vielleicht wohl als Gegenwert vermitteln könnte. Bei jeder Art von Liebe kann es nicht anders sein. Aber es geht auch darüber hinaus. Hier ist das versammelt, was ich für andere habe, das was wir als Mitgefühl, als Menschlichkeit, als Moral bezeichnen, in dem Bereich meines Empfindens, den ich als mein Herz bezeichnen möchte. Hier befindet sich die Basis für meine zwischenmenschlichen Beziehungen. Die basalen vorderen Plätze belegen dort meine Frau, ihre Mutter, ihre Schwester und ihr kleiner Sohn. Die Beziehung zu ihnen bildet mein sozialemotionales Fundament. Nicht nur Andrea wird von allen geliebt, es beruht auf Gegenseitigkeit. Die Beziehung aller untereinander sind sehr intensiv, und sie mit etwas Geringerem als Liebe zu bezeichnen, wäre beleidigend.


Sophia


Müßig, sich Gedanken darüber zu machen, worin sich die Liebe unterscheidet. Dass die Beziehung zu Andrea auch Sexualität einschließt, ist es jedenfalls nicht. Das könnte ja außer bei ihrer Schwester auch sowieso keine Rolle spie­len. Mir äußerten sich zwar keine sexuellen Begehrlichkeiten gegenüber So­phia, aber als eine wunderbare Frau sah ich sie schon. Ihr Gesicht, ihre Haare konnten zusammen mit ihrem bezaubernden und häufigen Lächeln und Lachen schon betörend wirkten. Bei Andrea und Sophia konnte man nicht nur an ihrem Reden und Verhalten erkennen, dass es sich um zwei Schwestern handelte, die sich sehr mochten, bis auf ihr Äußeres schienen sie sich auch wie zwei eineiige Zwillinge völlig zu gleichen. Sophia wirkte vielleichte ein wenig mehr forsch, burschikos? nein, nein das wäre ein falsches Wort, sie konnte oft sehr zart, sanft und einfühlsam sein, genauso wie Andrea auch. Ich wusste im Grunde sehr wenig von ihr, obwohl wir uns sehr häufig sahen und wir auch schon ge­meinsam den Urlaub verbracht hatten. Ich wusste nur, dass sie allein gelebt und einen Liebhaber hatte, mit dem sie sich manchmal für eine Nacht traf. Er war verheiratet, hatte zwei Kinder und sie war in der Firma seine Chefin. So­phia hatte sich direkt nach Uni und Praktikum kühn auf eine Position als Abtei­lungsleiterin in einer größeren Firma beworben. Entgegen all ihrer Erwartungen kam sie in die engere Wahl und erhielt letztendlich auch die Stelle. Sie sah sich schon befähigt für ihre Aufgaben, konnte aber ausgiebig darüber lachen, dass ihr der freche Coup geglückt war. Für den überwiegenden Teil des gesamten Exports war sie verantwortlich und hatte immer noch keinen Plan, wie sie denn ihr Salaire verwenden sollte. Auf großem Fuße zu leben und es weitgehend zu verbrauchen, entsprach nicht ihren Lebensvorstellungen. Dass ihre Beziehung zu ihrem Lover, sich mal so entwickeln könnte, dass der Frau und Kinder ver­lassen und mit ihr leben wollte, lehnte sie ausdrücklich ab. Sie sei zufrieden und glücklich so, ständig mit einem Mann zusammenleben, wolle sie nicht. Zu Beginn ihres Studiums habe sie mit einem Freund zusammengelebt, der sie betrogen habe, wusste Andrea. Sie sei zwar nicht lange tief enttäuscht gewe­sen, habe aber wohl ihr gesamtes Weltbild in Bezug auf den Stellenwert von Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau für die Zukunft revidiert. Welche Position sie hatte, wie sie es genau sah, wusste niemand. Darüber sprach sie nicht, auch nicht mit Andrea. Dass sie aber ein starkes Bedürfnis habe, die Fähigkeit auszunutzen, in ihrem Bauch ein Kind wachsen zu lassen und ihm sein Leben zu schenken, und wie sehr sie sich darüber freuen würde, mit ihm gemeinsam seine Entwicklung zu erleben und zu gestalten, darüber hatte sie schon mehrfach mit Andrea und ihrer Mutter gesprochen. Sie hat es sich schließlich einfach machen lassen, ohne mit ihrem Liebhaber je ein Wort darüber zu reden. Als der es erfuhr, war trotz aller Erklärungsversuche Sophias, dass sie es ganz allein als ihr Kind ansehen würde, und nie ein einziger Hauch von Verantwortung auf ihn zukäme, das Verhältnis beendet. Sie hatte sich bitter darüber beklagt, weniger darüber, dass er die Beziehung beendet hatte, als über ihr eigenes Problem, ihn so falsch eingeschätzt zu haben. „Du kannst doch nicht grundsätzlich deiner Einschätzung über deine Mitmenschen misstrauen. Es muss doch Vertrauen geben, das brauchst du doch. Ich will mich nicht zur Misanthropin entwickeln lassen. Ich will andere Menschen mögen und lieben können. Das bin ich, so sehe ich mich, und ich will auch, dass es so bleibt.“ hatte sie geschimpft.


Gerry


Dass wir grundsätzliche Bedenken gegen Sophias Pläne hatten, war schon ver­flogen, als der kleine Gerry begann, sich in ihrem Bauch auszubreiten. Mit sei­ner Geburt war Gerry ein Wunderkind. Es war kein wundersamer Stern aufge­gangen, und es waren auch keine extraordinären Männer gekommen, um ihn zu beschenken. Wir glaubten nicht, dass er uns die Erlösung bringen würde und Sophia ihn jungfräulich empfangen habe, trotzdem hielten wir unsere Freude über dieses kleine neue Menschlein für wesentlich größer, als sie vor 2000 Jahren in Palästina hätte sein können. Gerry war unser aller Liebster von Anfang an, und er verstand es bald, die Zuneigung, die ihm entgegengebracht wurde, zu erwidern. Dass ich in seiner Rankingliste dabei hinter seiner Kinder­frau auf dem letzten Platz rangierte, bekümmerte mich nicht, zumal es ihn selbst auch nicht zu tangieren schien. Wenn ich ihn besuchte, war ich sein bes­ter Freund, von dem er selbstverständlich erwartete, dass er sich ausschließ­lich mit ihm beschäftige. Wenn er bei uns war, gab es allerdings einen Unter­schied. Dann existierte sein bester Freund nicht mehr, sondern ausschließlich Andrea, selbst die Oma hatte gegen Andrea keine Chance. Ob es an Andreas Affinität zu seiner Mami lag, oder ob er Sophias Wertschätzung für Andrea un­bewusst spürte, und sie seine Vorstellungen beeinflusste, wissen konnten wir es nicht, nur uns wundern und rätseln.


Sophias Krankheit


Es war schon spät am Abend, als Andrea von ihrer Schwester zurückkam. Mit einem gehetzten „Charly, Charly,“ rief sie mich beim Öffnen der Wohnungstür, „Sophia ist krank. Krebs, sie hat Krebs. Blutkrebs, Leukämie.“ Mit einem: „Charly, sag mir, dass das alles überhaupt nicht wahr ist.“ warf sie sich mir um den Hals und vergrub ihr Gesicht auf meiner Schulter. Ich hatte es gehört und auch verstanden, aber ich reagierte nicht. Wie starr umfasste ich die um mei­nen Hals liegende Andrea. Ganz langsam schien mir bewusst zu werden, was sie mir mitgeteilt hatte. Gleichzeitig stieg mein Herzschlag, und mein Atem ging schneller. Wut packte mich. Wut worauf? Es gab niemanden, dem ich da­für vor die Schienbeine treten konnte, dessen grässliche Visage ich sah, um sie dafür zu malträtieren. „Was soll das denn? Wozu muss das denn sein?“ rief ich ohne eine Antwort erwartend immer noch wütend. Wäre ich jetzt allein gewe­sen, ich hätte bestimmt fluchend gegen Schrank und Couch und Wand getre­ten. Wenn ich schon nicht die Schuldigen treffen konnte, musste ich doch et­was haben, wohin ich mit meiner Wut konnte. Andrea gelang es auch so, mich auf meinen üblichen kommunikativen Aggregatzustand zurückzugeleiten. Sie berichtete alles, was sie von Sophia erfahren hatte. Unbehandelt sei sie in we­nigen Monaten tot, und die Behandlung sei eine Tortur mit Isolationsfolter. Die Heilungschancen lägen zunächst um die 60 %, aber die Rückfallquote sei er­schreckend hoch. Üblicherweise trete diese Art von Leukämie erst in höherem Alter auf, aber durch ionisierende Strahlungen von Atombombenexplosionen oder Bezolvergiftungen könne sie auch ausgelöst werden. Alles unverständlich, warum es ausgerechnet Sophia treffen musste. Sie hatte sich immer schlapp gefühlt und sich für blass gehalten. Sie meinte Gliederschmerzen zu haben, und ihre Mundschleimhaut hatte sich entzündet Sie müsse wohl krank sein, hatte sie vermutet und war zum Hausarzt gegangen. Der habe sie panikartig sofort zur Uni-Klinik geschickt. Dort habe man zwar gleich den Verdacht ge­habt, ihr aber erst auf Grund der Untersuchungsergebnisse den Befund mitge­teilt und sie näher informiert. Ich hatte alles gehört und vieles nachgefragt, was Andrea auch nicht wusste, als ob ich dadurch zu dem Punkt käme, es ver­stehen zu können. Was willst du daran verstehen? Nichts wird sich dir erschlie­ßen. Dein Leben verläuft nicht auf von dir erkennbaren rationalen Wegen. Nur wenn du alle denkbaren horriblen Möglichkeiten dir Tag für Tag vergegenwärti­gen, als potentielle Wendung deines Lebens sehen willst, wirst du dein Leben wahrscheinlich in der Psychiatrie führen müssen. Was mit Sophia jetzt gesch­ah, gehörte nicht zu unseren Vorstellungen vom Leben. Es passte nicht, würde vieles zerstören. Wir sahen uns als lebensfroh und glücklich. Diese Perspektive für Sophias Leben, war von der Handschrift des Todes geschrieben. Ihr Leben würde in nächster Zeit darin bestehen, zu versuchen, sich seinem Zugriff zu entwinden. Ich sah, welches Leid Sophia willkürlich zugefügt wurde. Ein Gott möchte ich sein, der es von ihr nehmen könnte, aber mir blieben nur Hilflosig­keit und Trauer. Es schnürte mir die Kehle, und ich musste schlucken. Die Feuchte meiner Augen begann sich zu vermehren, ich legte meinen Kopf auf Andreas Schulter und weinte.


Sophias Genesung


Jeder und jede wollten alles für Sophia tun, um ihr im Geringsten zu helfen oder etwas zu erleichtern. Es musste nicht ein großer bunter Strauß sein, jedes einzelne kleine Gänseblümchen hätte man ihr gebracht, wenn es sie erfreuen könnte. So gerne ich bei Sophia war, so schwer fielen mir die Besuche. Meine Emotionen wollten sie immer nur umarmen und dem Fluss der Trauer die Schleusentore der Tränen öffnen. Sie selbst schien immer gefasst und weinte nie, nur Andrea wusste um die Stunden, die sie gemeinsam weinend durchlebt hatten. Sophia wollte ihre Gefühle nicht ungebändigt mit sich toben lassen, möglichst realistisch wollte sie ihre Situation erfassen und betrachten. „Charly, wir brauchen und sollten nicht immer über mich reden. Ich freue mich, dich zu sehen. Es versüßt mir meine Stunden, etwas von dir und über dich zu hören.“ hatte sie zu Beginn einen meiner verkrampften Konversationsversuche kom­mentiert. Ihr durch Stammzellentransplantation ein neues Blutbildungssystem implementieren, was einen höheren Grad auf Heilungsaussicht gehabt hätte, konnte nicht erfolgen, weil weder in der Familie noch in der Internationalen Datenbank Spender mit Zellen, der zu Sophia kompatiblen HLA-Typen zu finden waren. Die Therapieblöcke, in denen sie in völliger Isolation von der Außenwelt lebte, mussten schrecklich sein. So krank wie hinterher hatte ich Sophia noch nie erlebt.

Sie hatte alles überstanden, und galt als geheilt. Zurückgekehrt war aber nicht die Sophia, die wir kannten, als sie noch gesund und lebenslustig war. Ihr Er­scheinungsbild hatte sich enorm verändert. Ihr Gesicht war schmaler gewor­den, und statt der weichen warmherzige Freundlichkeit vermittelnden Züge, kennzeichneten jetzt markante, härtere ihre Aussehen. Andrea und Sophia hatten etwa die gleiche körperliche Statur. Sie waren nicht das, was man eu­phemisierend als vollschlank bezeichnet, aber sie waren auch nicht schlank und dünn. Sophia war es jetzt. Ihre Augen schienen tiefer zu liegen, und auch wenn sie genauso oft lächelte wie vorher, ihr Lächeln sagte etwas anderes, es lebte in einer anderen Sprache. Ihre Worte waren karg geworden und, ihre Ge­dankengänge schienen oft von einem melancholisch, zerbrechlich wirkenden Grundtenor untermalt. Sie war eine andere Frau, ein anderer Mensch gewor­den. Was von unserer Sophia geblieben war, schien ihre aufrichtige, warme, of­fene Freundlichkeit zu sein, ihr Herz hatte die Krankheit offensichtlich nicht verändern können. Sie sprach wenig und antwortete manchmal nur mit einem Verständnis vermittelnden Lächeln. Als ob sie über den Kleinigkeiten des All­tagslebens stünde, wirkte sie oft, erweckte den Eindruck sich in anderen Ge­dankenwelten zu bewegen und liebte es, ihren Gesprächspartner lange tief an­schauend zu fixieren. Sophia schien eine andere Welt kennengelernt zu haben, in der sie mit dem Tode verhandelt hatte. Sie war erfolgreich gewesen und hat­te ihm ihr Leben abgetrotzt. Um welchen Preis konnte, wenn überhaupt, nur sie selbst erklären.


Rückfall


Gerry lebte samt Kinderfrau selbstverständlich immer noch bei uns. Sophia verbrachte ihre Zeit auch überwiegend hier. Sie wollte langsam wieder begin­nen, zu arbeiten. Mir schien es unvorstellbar. Selbst wenn es ihr physisch keine Probleme bereiten sollte, dass sie die zur Durchführung ihrer Arbeiten erforder­liche mentale Einstellung finden könnte, hielt ich für ausgeschlossen. Wie sollte diese Frau, die exakte Organisation und terminliche Präzision für die Abwick­lung eines Exportgeschäftes in die USA als primären Topos ihres Denkens und Agierens zulassen können. Sie würde es allenfalls mal als nette Abwechselung empfinden, aber mehr wäre sie nicht bereit gewesen, einer derartigen Triviali­täten zukommen zu lassen. So sah ich sie, ob sie sich selbst anders sah, gerne sehen würde, oder ihr die früheren Tätigkeiten auch in einem ganz anderen Licht erschienen, wusste ich nicht. Sophia war jedenfalls der Ansicht, dass zum Gesundsein auch Wieder-arbeiten-können gehöre.


Seit fast einem dreiviertel Jahr hatte sie jetzt alles überstanden, doch bevor ihre Bemühungen um Arbeitsaufnahme erfolgreich waren, mehrten sich die Tage, an denen es ihr körperlich nicht gut ging. „Andrea, es ist wie damals.“ erklärte sie mit panikartigen Augen, die anscheinend ihre vorstehenden Wan­genknochen noch überragen wollten. Selbstverständlich wusste Sophia, dass es eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit gab. Vielleicht konnte es auch ihr Ver­halten erklären, dass sie ihr Leben primär als eine temporäre Leihgabe sah. Jetzt, da es sich ankündigte, schien sie es aber nicht wahrhaben zu wollen. Wahrscheinlich hatten eher wir Gründe für ihre Rettung gesucht, weil wir es uns wünschten. Wenn ihr junges Lebensalter und ihre gute körperliche Allge­meinkonstitution schon als wesentliche Komponenten für ihre Heilung angese­hen wurden, müssten sie doch auch bewirken, das Sophia zu dem Kreis der endgültig Geheilten ohne Rückfall gehörte. Wir schienen optimistischer zu sein, als sie selber. Doch unser Optimismus konnte Sophia nicht helfen.


Keine Therapie


Sie wollte keine Therapie mehr. Sterben müsse sie jetzt sowieso, und das wolle sie als Mensch und in Würde. Eventuell wie ein halb tot gequältes Versuchska­ninchen in irgendeinem Isolierraum der Klink zu verenden, entspreche nicht ih­ren Vorstellungen. Wir hatten unser Schlafzimmer für sie hergerichtet, wäh­rend wir selbst im Gästezimmer übernachteten. Wenn ich am Schreibtisch saß, konnte ich mich immer nur kurzfristig auf die vor mir liegenden Texte oder den Bildschirm konzentrieren. Mein Blick schweifte zur Bücherwand gegenüber. Wie oft hatte mich der Anblick der Bücher schon zu Gedankenspielen und Träume­reien verleitet. Es waren meine Bücher, meine Freunde, und die Träume, mit denen sie mich reisen ließen, führten durch Landschaften, die mein Gefallen fanden und mich erfreuten. Jetzt sprachen sie nur von Sophia. Ich wusste es ja, trotzdem wollte ich es nicht akzeptieren, dass es nichts gab, in dessen Kraft es lag, zu verhindern, dass sie uns verließe. Unser gemeinsames Haus würde nicht nur um einige Räume ärmer, es veränderte seine Struktur, das Gebäude würde ein anderes werden. Sophia beherrschte all unser Denken und es war verbunden mit Melancholie, Traurigkeit und Schmerz. Sophias Mutter war eine Frau, deren Augen nicht mehr trocken werden konnten. Tief empfindend schien sie Gefühltes zu erleben. Keine aufgetragene Oberfläche führte sie vor. Sie band uns ein, ließ uns mitgehen auf ihren emotionalen Wegen. Ansteckend war die aufgeschlossene Ehrlichkeit mit der sie uns begegnete. Umso unerträglicher war es jetzt zu sehen, welches Leid ihr zugefügt wurde. Alles schien unerträg­lich zu werden. Die einzigen sonnigen Inseln in diesem trüben dunklen Meer, das mich umgab, waren die Begegnungen mit Sophia selbst. Als unendlich kostbar erschien mir jeder Moment des Zusammenseins mit ihr. Kannst du einen anderen Menschen nur so erkennen, wenn du weißt, dass er dich bald für immer verlassen wird. Bei Andrea, ihrer Mutter und Gerry wäre es nicht anders gewesen, doch im Vergleich zu Sophia schien ich ihnen gegenüber heute plump, grob und oberflächlich zu sein. Sophia hatte meine Sinne für die Wahr­nehmung und Wertschätzung eines Mitmenschen geschärft. Trotz ihres krank aussehenden Äußeren, erkannte ich ihre bewundernswerte Komposition und die blühende Pracht eines anderen Menschen.


Sophias Tod


Auch jetzt weinte sie nicht, sprach gelassen über alltägliche Petitessen, vor al­lem aber mit und über Gerry. Ich hatte ihr etwas Amüsantes aus der Kanzlei erzählt, und sie war darauf eingegangen. Plötzlich brach Sophia unvermittelt in Tränen aus, schlang ihre Arme um meinen Hals und zog mich zu sich runter. „Ich will doch noch so gerne hierbleiben, Charly, ich liebe euch doch alle. Char­ly wenn du an mich denkst, solltest du nicht nur traurig sein. Du solltest auch daran denken, dass ich dich für einen ganz tollen wunderbaren Menschen hal­te, und dich ein wenig darüber freuen. Wenn es doch einen Himmel geben soll­te, werde ich dein Schutzengel sein, nicht wahr. Du wirst mich nicht verstehen können, aber erkennst bestimmt, wie sehr ich dich mag und dein Gutes will.“ erklärte sie mit triefenden Augen und versuchte ein Lächeln. Ich biss mir auf die Lippen, konnte aber nicht verhindern, dass Bäche aus meinen Augen mir über die Wangen liefen. Sophia nahm mich wieder zu sich und strich mir übers Haar. Wir starrten uns mit unseren verheulten Gesichtern an und lachten. Dann umarmten wir uns nochmal, bevor ich ins Bad ging, um mir die klebrige Trä­nenflüssigkeit aus dem Gesicht zu wischen. So nah waren Sophia und ich uns noch nie gewesen, vierzehn Tage bevor sie an einer Lungenentzündung mit zu­sätzlichen Komplikationen in unserem Bett verstarb. Sie war unter Opiaten und Sedativa eingeschlafen und am anderen Morgen nicht mehr ansprechbar. Wäh­rend der Nacht hatte uns ihr Leben verlassen.


Wir müssen wieder leben


Auch wenn wir alle es lange auf uns hatten zukommen sehen, waren Trauer und Schmerz nicht zu trösten. Ich empfand ein Gefühl der Leere, als ob alles hohl sei in mir, Niemandsland. Keiner schien da zu sein, der etwas denken, träumen oder empfinden konnte. Ich weinte auch bei der Beerdigung nicht. Fast wie in Trance vollzog ich meine Tage. Es musste ein schockähnliches Er­lebnis sein. Dieser gravierende Eingriff in mein oder unser Leben, die Konfron­tation mit dem Tod, die völlige Veränderung unseres Lebensalltags, alles kulmi­nierte symbolisch in Sophias tatsächlichem Dahinscheiden. Jetzt war sie nicht mehr, was wahr jetzt? Nichts, das ratlos Nichts in mir. Wie sollte, würde es wei­tergehen? Ich konnte es mir nicht vorstellen, hatte aber auch keine Lust, mich damit zu befassen. Lethargisch ließ ich mich von den Anforderungen durch den Tag geleiten. Am angenehmsten war es mir, neben Andrea auf der Couch zu sitzen, meinen Arm um sie zu legen und meinen Kopf schläfrig auf ihrer Schul­ter ruhen zu lassen. Sie, die ständig plötzlich völlig unvermittelt zu weinen be­ginnen konnte, nahm an, ich wolle sie trösten. „Charly, es kann so nicht wei­tergehen. Wir müssen wieder leben. So kann Gerry nicht die Welt erfahren. Ich möchte wieder glücklich sein können und mich ehrlich auf ihn freuen. Das Le­ben als Pflicht mit ihm zu führen, kommt einem Verbrechen an seiner Entwick­lung gleich. Sophia hätte es nicht gewollt, dass wir uns in Trauer und Trostlo­sigkeit über ihren Tod verzehren. Da bin ich mir absolut sicher.“ erklärte An­drea. Ich konnte ihr nur beipflichten und ein leichtes Lächeln umspielte meinen Mund, weil ich daran dachte, was Sophia gesagt hatte, ich solle mich beim Ge­denken an sie auch ein wenig freuen, weil sie mich für einen wunderbaren Menschen hielte. Für den hielt ich mich selbst allerdings momentan überhaupt nicht. Und das war wohl zutreffend. Andrea und ich versprachen uns gegensei­tige Unterstützung und Hilfe in unserer Trauer, um sie bewältigen und mit ihr wieder ein normales Leben führen zu können. Wir wollten sehr sensibel und verständnisvoll für einander sein, aber wie es ansonsten konkret weiter ausse­hen sollte, wussten wir auch nicht. Daran, dass mir dieses apathische Dahinve­getieren der vergangenen Tage zuwider war, gab es keinen Zweifel. Natürlich wollte ich wieder ein gewöhnliches Leben führen, eine Befürchtung darüber oder dabei Sophia vergessen zu können, entbehrte jeder Grundlage. Nur wie sollte mein „gewöhnliches“ Leben aussehen? Wir hatten vorher ja auch die meisten Tage unsere Alltags ohne Sophia gelebt, aber ein Dahin-zurück konnte es nicht mehr geben. Dass Andrea mich quinquilierend begrüßte, wenn ich später nach Hause kam als sie, war nicht mehr vorstellbar. Ich hätte es mir auch gar nicht gewünscht. Wir hatten uns selber verändert. Der Tod schien auch mit uns gesprochen zu haben. Hatte in unser Denken und Empfinden ein­gegriffen, uns der Freude am unbeschwerten Lustig sein können beraubt. Alles, was man als leichtschwingendes Glücklichsein, als Residuen kindlichen Sich-freuen-könnens bezeichnen würde, hatte er mit sich fort genommen. Unser Le­ben hatte keineswegs daraus bestanden, leichtfüßig durch die Tage zu jonglie­ren, aber diese Gravidität, mit der uns jetzt alles behaftet zu sein schien, hat­ten wir bis dahin nicht gekannt. Wir waren nicht verbittert, ehr als vom Leben Getäuschte, Ernüchterte sahen wir uns. Unsere Sonne hatte sich nicht verfins­tert, aber ein ihren Glanz trübender Schleier schien die leuchtende Intensität ihrer Strahlen zu brechen. Ich empfand mich als ernster und unsicherer.


Im Laufe der Zeit fielen uns die Tage zunehmend leichter, nur abends im Bett, wo sich Liebe und Freude, Begierde und Lust getroffen hatten, ging es meis­tens über gemeinsame verständnisvolle Zuneigung und anerkennende Beach­tung nicht hinaus. Auch die Wege zu Lust und Begierde schienen durch die Ver­änderung unseres Glücksempfinden und des Gefühls sich als unbeschwert frei wahrzunehmen, stark verengt. Lesend und sinnierend kam der Schlaf über mich. Es stimmte mich nicht traurig, ich war noch nicht einmal direkt unzufrie­den, einfach so hinnehmen konnte ich es. Der Tod hatte mir auch gesagt, ich sei ein Idiot, anzunehmen, dass mein Leben mir gehöre.


Sophia im Traum


Ich hatte von Sophia geträumt. Einfach auf der Terrasse ihres Hauses hatte sie gesessen und gelächelt, als ob sie mir zulächele. Dann war da nur noch ihr Haus, Sophia war verschwunden. Mehr erinnerte ich nicht. Aufgeregt berichte­te ich am Morgen Andrea davon, als ob mir ganz Außergewöhnliches widerfah­ren sei. Dass unser intensives Leben mit ihr, Widerhall in unseren Träumen fin­den würde, war eigentlich ganz verständlich. „Gott sei Dank wird mir nur sehr selten etwas von meinen Träumen bewusst, und am nächsten Morgen weiß ich sowieso nichts mehr davon, aber ich denke, wenn ich etwas von Sophia träu­men würde, käme es eher zu alptraumartigen Vorstellungen über die Qualen, die wir, und vor allem sie natürlich, erlitten haben.“ kommentierte es Andrea. In meinen Gedankenspielereien vorm Einschlafen am Abend, wünschte ich mir, dass Sophia mich auch in dieser Nacht wieder im Traum besuchen möge. Die Regisseure meiner Träume schienen meine Empfehlungen jedoch blank zu ignorieren. In dieser Nacht und den darauf folgenden gewährten sie meinem Bewusstsein keinen Einblick in ihre nächtlichen Inszenierungen. In einer späte­ren Nacht träumte ich etwas, das mit meiner Schulzeit zusammenhing. Sophia kam darin natürlich nicht vor. Ich versuchte mir vorzustellen, was ich von So­phia träumen könnte, außer dass sie lächelnd auf der Terrasse säße, und schlief darüber ein. Es waren freundliche, liebevolle Gedanken, die mich schmunzeln und selig hatten einschlafen lassen. Es hatte mir gefallen, und am nächsten Abend sann ich mir wieder Bilder aus, wie mir Sophia im Traum be­gegnen könne. Manchmal wusste ich gar nicht, ob ich noch wach war, oder be­reits schlafend meine Gedanken weiter verfolgte. Ich träumte schon, aber wenn es zu surreal wurde, konnte mir auch bewusst werden, dass es sich so nicht verhalten könne. Ich schlief bereits. Meine Gedanken hatten sich selb­ständig gemacht, ich empfand es aber, als ob sie sich in meinem Bewusstsein entwickelten, und tatsächlich bestand ja auch manchmal die Möglichkeit, etwas wach und bewusst erkennen und korrigieren zu können. Es existierte beides. Ich war nicht mehr wach, aber meine bewusste Wahrnehmung war auch noch nicht ganz abgeschaltet. Ich liebte diese Art, mich von Sophia träumend in den Schlaf geleiten zu lassen. Die Terrassensituation bildete die Ausgangsbasis. Es war Sommer, die noch gesunde Sophia lächelnd in einem leichten bunten Som­merkleid, barfuß. Sie schaute mich immer nur lächelnd an, sprach nie, saß oder stand irgendwo, lächelte oder winkte mir zu. Es waren handlungsarme Fantasien. Das Szenario ließ ich oft ändern. Ich sah Sophia vor den verschie­densten Hintergründen. Es ähnelte eher einer Ausstellung mit unterschiedli­chen Bildern, deren Mittelpunkt aber immer Sophia bildete. Ich hatte mich ein wenig verliebt in mein Einschlafritual. So wie ich als kleines Kind nicht ein­schlafen wollte ohne ein erzähltes oder vorgelesenes Märchen oder Gedicht, brauchte ich jetzt meine Träumereien mit Sophia. Sie schien sich dabei leicht zu verändern. Ihr gesamtes Äußeres veränderte sich nicht. Ich zog ihr kein an­deres Kleid an oder ließ sie Schuhe tragen, aber unbeabsichtigt von mir erschi­en mir ihr Anblick leuchtender und ihre Augen strahlten intensiver, wenn sie mich anblickte. Ihre Bewegungen wurden filigraner und ihr mildes Lächeln schien an Zärtlichkeit zu gewinnen. Dann träumte ich wirklich von ihr. Wie Kin­der rannten wir freudig lächelnd durch eine Blumen übersäte Bergwiese auf einen halb verfallen Schuppen zu, ließen uns auf der leicht modrigen Bank da­vor nieder und strahlten uns an. Obwohl es nur ein kurzer Augenblick war, er­regte es mich so, dass ich nicht einfach weiterschlafen konnte und wollte. Ich zog mich mitten in der Nacht an und setzte mich an meinen Schreibtisch. Mir gegenüber im Regal die Nornen, die meine Wahrnehmung ausschließlich auf Sophias bevorstehendes Ende gelenkt hatten. Jetzt sollten sie als Najaden den Quell meiner Freude umspielen. Ich liebte diesen simplen Traum, er erregte mich, schien mir wie ein wunderbares Glück. Ich liebte Sophia. Ich hielt mich für wach und geistesgegenwärtig. Nach ihrem Tod hatte ich mich in Sophia ver­liebt? In das Bild, das ich mir durch meine Einschlafträumereien von ihr ge­schaffen hatte? Ganz mit rechten Dingen konnte es bei mir wohl nicht mehr zugehen. Aber ich empfand diese Liebe, liebte auch die Frau, die mir gesagt hatte, sie wolle mein Schutzengel sein. Vielleicht war sie es ja tatsächlich. Ließ mich durch meine Träume Glück und Wohlgefühl erleben, wie es das sonst in meiner Welt nicht mehr gab. Es war ein kindlich zartes Glück, frei von aller Skepsis, jeglichem Mistrauen und allen Unsicherheiten. Es war leicht und warm und entbehrte all der Schwere unseres Alltags. Der leichte Schleier von Tristes­se, der sich an mein Leben gefügt hatte, fehlte hier völlig. Sie musste ein Engel sein. Wer oder was sonst könnte mich das erleben lassen. Es war nicht die So­phia, wie ich sie gekannt hatte, es war ihre verklärte Form, die sich darum kümmerte, dass ich Momente des Glücks erfahren konnte.


Mein volles Leben


Ich zwickte mich, weil man so erkennen sollte, ob man noch wach war oder schon träumte. Ich war hell wach, aber warum spann ich mir Derartiges zu­sammen. Was suchte ich darin? Warum gefielen mir diese Träumereien so gut? Was schien ich zu entbehren, das ich so etwas brauchte? Ich konnte mit dem Leben, wie es uns durch Sophias Tod beschert worden war, nicht zu Recht kommen. Das war nicht mein Leben, so war es nie gewesen, trübe und grau mit Fantasien von Freude und Glück nur im Traum. Wie das Wissen um die Endlichkeit gehörte auch unbeschwertes Glücksempfinden, Liebe geben und er­fahren, das Schöne in dieser Welt und in den von ihren Menschen geschaffenen Werken erkennen, genießen und sich an ihm erfreuen zu können zum realen Leben und nicht in den Traum. Es gehörte nicht den Fantasien, die Engel uns vermitteln würden.


Am kommenden Tag würde ich nicht arbeiten. Ich hatte keine Gerichtstermine, und für das Übrige meldete ich mich krank. Ich wollte Sophias Grab auf dem Friedhof besuchen und mit ihr persönlich alles klären. Ich hielt nicht viel von dieser Friedhofskultur. Ich wusste, dass Sophia nicht dort war, wo der Denk­malstein stand und in der Erde ihre Gebeine verwesten. Was geblieben war, be­fand sich in unseren Köpfen und Herzen und in den Genen des kleinen Gerry. Andererseits hielt ich es schon für richtig, auch mit den leblosen Körpern der Verstorbenen würdevoll zu verfahren und für die Reminiszenz und das Geden­ken feste Orte zu haben. Auch wenn ich wusste, dass sie hier nicht war, kamen mir an Sophias Grab zunächst die Tränen. Es erinnerte nicht an die glückliche Zeit meiner Träume, sondern an die schweren Tage unserer Qualen und die Trauer, dass sie nicht mehr war. Wenn es noch Märchen- und Sagenzeit gewe­sen, eine Fee erschienen, und uns die Erfüllung eines freien Wunsches zuge­sagt hätte, niemand von uns vier Zurückgebliebenen hätte einen anderen ge­äußert, als Sophia wieder lebend unter uns sein zu lassen. Alle Güter und Vor­teile, die die Welt zu vergeben hat, sind Banalitäten gegenüber dem leuchten­den Stern der liebenden Beziehung zu einem anderen Menschen. Es sollte symbolischen Charakter haben. Hier wollte ich mit Sophia sprechen und nicht in den Phantasmagorien meiner Traumwelten. Ich wollte mit ihr akzeptieren können, dass sie nicht mehr war. Sicherlich war es ein Selbstgespräch, aber ich wollte ihre mitteilen, was mich bewegte, wollte ihre Ansichten hören, erkennen können, wie ich meinte, dass sie es gesehen hätte. Ich wollte mich mit meinem anderen Ego beraten können, und das sollte Sophia heißen. Sie sollte nicht eine mutterähnliche Funktion für mich haben, sie war mein alternativ mögli­ches Selbstverständnis. So hatte ich sie zu meinem Schutzengel erklärt. Nicht zu einem mich in Himmelssphären protegierenden imaginären Wesen, sondern zu einem Bereich in mir selbst, mit dem ich mich konsultieren konnte. So sollte sie in mir weiterleben, und ihr Grab war der symbolische Ort dafür. Hier konnte ich mit ihr sprechen. Ich forderte sie auf, den Tod in seine Schranken zu wei­sen. Dass unsere Tage jederzeit ein Ende finden könnten, hatten wir ja nun hinreichend erfahren, aber was gab ihm das Recht, die uns verbleibenden zu verderben? Gewiss würde ein Leben mit den Erinnerungen an Sophia nicht das gleiche sein können, wie ohne ihren Tod, so wie es sich jetzt gestaltete war es kein volles Leben und sicher nicht das, was sich Sophia für uns gewünscht hät­te. Ich wollte es mit Sophia ändern, und der Tod hatte gefälligst seine ekligen Finger daraus zu lassen.


Divergenzen


Ich sprach mit Andrea darüber. „Schön und gut,“ meinte sie, „aber ich kann nicht abends mit anderen in einer Kneipe sitzen und mir den Bauch halten vor Lachen über irgendwelche Albernheiten. Das bin ich nicht mehr. Wenn ich es trotzdem tun sollte, wäre es verkrampft und unehrlich. Ich werde mich nicht dazu zwingen können, mich über etwas zu freuen, wenn es sich tatsächlich nicht so verhält. Das will ich nicht und kann ich nicht.“ erklärte sie dazu. Ich verdeutlichte Andrea noch mal die ganze Tristesse unseres Alltags, und dass dies kein Leben, sondern nur ein halbes sei, und Sophia es so auch bestimmt nicht gewollt hätte. „Was soll ich machen?“ zeigte sich Andrea ratlos, „Ich möchte auch gern glücklicher sein, aber ich kann nicht anders leben als ich empfinde.“ „Aber es hat doch einen Grund, dass du so empfindest, wie du es tust.“ reagierte ich, „Weil du in allem, was du erlebst, sich Sophias Tod einmi­schen lässt. Wer will das denn, wer verlangt das denn? Keine Moral und Sophia erst recht nicht. Du allein lässt es einfach zu. Es ist deine eigene freiwillige An­gelegenheit. Du solltest dir mal Gedanken darüber machen, warum du so et­was zu suchen scheinst.“ Andrea schaute mich tief an, antwortete aber nicht darauf. Sie sprach überhaupt nicht mehr. Was ich gesagt hatte, schien sie be­leidigt zu haben. Es kam öfter zu unglücklichen Gesprächsverläufen. Gegensei­tige Vorwürfe wurden geäußert, und vermehrt gingen wir uns einfach aus dem Wege. Mein Bedürfnis, Zärtlichkeiten für Andrea zu empfinden, nahm rapide ab. Eines Abends legte sie im Bett ihren Kopf auf meine Schulter und weinte. „Charly, so geht es doch nicht. Was ist bloß in uns gefahren? Uns geht es mies genug, und wir haben nichts Besseres zu tun, als kräftig daran zu arbeiten, uns auch noch gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen.“ klagte sie. Wir redeten fast die ganze Nacht, versicherten uns unserer gegenseitigen Zuneigung und Liebe, und waren der Ansicht, dass wir Zerwürfnisse zwischen uns nicht nur wegen der Liebe nicht wollten, sondern sie auch unverantwortlich gegenüber Gerry und damit Sophia seien. Wir schienen in der Nacht ein Herz und eine Seele zu sein in der Ablehnung unserer Differenzen. Am Tage jedoch kamen Bedingungen hinzu, die in der Nacht nicht vorhanden waren. Als wir uns ver­liebten, hatten wir uns gegenseitig ein wenig glorifiziert. Man braucht es viel­leicht so, aber unser Interesse an der Person des Anderen und seinem Leben war immer fortbestehen geblieben. Jetzt entsprach es nicht meinen Wünschen und Vorstellungen, wie Andrea lebte. Mein Bedürfnis, sie in ihren häufig de­pressiven Anwandlungen zu trösten und zu unterstützen, nahm ab. Es war mir häufig ehr unangenehm und konnte mich nerven. Ich machte ihr innerlich den Vorwurf, nichts dagegen zu tun. Sie erschien mir, als ob sie sich auch gar nicht dagegen wehren wolle, als ob es ihr keinerlei Leidensdruck bereite, ja sie sich in ihrer Rolle eventuell sogar gefalle. Das konnte mein Leben nicht sein. „An­drea, ich möchte gern mit dir zusammenleben, aber du musst dich ändern.“, hätte ich ihr sagen können. Was sollte das denn für eine Basis einer gemeinsa­men Beziehung sein?


Therapie


So konnte es in der Tat nicht weiter gehen. Wir brauchten Hilfe. Wir suchten eine Paartherapie auf. Die erste Sitzung ließen wir anstandslos über uns erge­hen. Andrea und ich schauten uns bei manchen Einlassungen der jungen The­rapeutin süffisant grinsend an, nachher beschlossen wir aber, ihr beim nächs­ten Mal klar zu machen, dass ihre Herangehensweise uns nicht helfen könne. Beide versuchten wir ihr zu verdeutlichen, dass es uns nicht darum gehen kön­ne, zu erfahren, wie Mann und Frau am besten miteinander redeten, das hät­ten wir über zehn Jahre anstandslos und in großer Liebe gemeinsam prakti­ziert. Es sei ein konkretes Problem aufgetreten, mit dem wir allein nicht fertig zu werden schienen, und dabei suchten wir Hilfe. Ob sie kein Wort verstanden hatte, das Repertoire ihrer therapeutischen Kapazitäten sich auf einen einzigen Vorgehenskanon beschränkte oder uns für Idioten hielt, die selber keine quali­fizierten Beiträge, auf die sie sich einlassen musste, äußern konnten, jedenfalls schien sie unbeirrt in ihrer Agenda fortzufahren. Ich stand auf, bedankte mich für ihr Bemühen und ging. Andrea folgte mir. Vielleicht war unser Problem durch das, was man unter Paartherapie zu verstehen hatte, auch gar nicht zu bewältigen. Wir wollten einen Psychotherapeuten aufsuchen. Die Psychothera­peutin erweckte bei uns beiden einen sehr sympathischen und einfühlsamen Eintruck. Gemeinsam gelangten wir zu der Auffassung, dass es sich bei Sophi­as Tod um ein Trauma für uns handle. Nach dem, was wir ihr berichtet hätten, sehe sie aber sehr gute Chancen für uns, damit klar zu kommen, da gravieren­de posttraumatische Belastungsstörungen bei uns nicht zu erkennen seien.


Wir waren beide richtig gehend begeistert von Frau Dr. Selini, und unterhielten uns, nachdem Gerry im Bett war lange über alles, als ob uns ein freudiges Er­lebnis widerfahren sei. Lachend stritten wir über ihre Art, uns dahin zu führen, das wir es für ein Trauma hielten. Während Andrea die mehr ehrliche Variante bevorzugte, neigte ich mehr zu der erfahrenen, trickreichen Therapeutin. Je­denfalls küssten wir uns öfter dabei, und als wir ins Bett gingen, hatten wir Lust uns zu lieben. Zum ersten Mal seit langer Zeit. In der nächsten Sitzung zeigte sie uns verschiedene Therapiekonzepte auf, gab uns Unterlagen dazu und verwies auf weitere Informationsmöglichkeiten. Wieder hatten wir das Empfinden, den optimalen therapeutischen Weg für uns selber gefunden zu ha­ben. Sie wirkte auf uns nicht, wie die distanzierte fremde Frau Doktor, eher wie eine gute Bekannte, die unser vollstes Vertrauen genoss. Zu Hause gab es na­türlich wieder ausführliche Diskussionen über die Sitzung und diese faszinie­rende Frau. Ob sie trickreich war oder nicht, es spiele für mich keine Rolle, sie war trotzdem offen und schien, nichts als unser Bestes im Sinn zu haben. Da­von waren wir überzeugt, auch wenn es sich für sie ja um ihre Arbeit handelte, mit der sie ihren Unterhalt verdiente. Das steigerte eher noch ihr Ansehen bei uns. Auch diesmal hatte uns nicht nur die Sitzung selbst erfreut, sondern auch das Gespräch darüber bereitete uns Gefallen, und der fusionierenden Wirkung schien es nicht zu entbehren. Wir liebten uns nicht nur anschließend immer, wir liebten auch die Tage, an denen es zu diesen Verläufen kam. Andrea war dann eine Andere. Ich versuchte nichts irgendwo zu in Relation zu stellen. Ich wollte mich nur freuen und es genießen. Eine Therapie war von Anfang ein gemeinsa­mes Ding unserer Überzeugungen gewesen. Die Stupidität der ersten Thera­peutin hatte ein verstärktes Gemeinsamkeitsempfinden bewirkt. Fast wie ein verschworenes Pärchen gegen die Engstirnigkeit dieser Frau waren wir uns vor­gekommen. Wir waren gar nicht so sehr frustriert, die Überzeugung, dass wir gemeinsam zu einer anderen Lösung kommen würden, und die Freude über unseren gemeinsamen Erfolg mit Frau Dr. Selini, hatte uns wieder zusammen geführt. Wer wie welches Leben führen wollte, war für mich eine theoretische Frage geworden, deren Beantwortung mir müßig erschien. Unsere Therapieta­ge waren glückliche Tage geworden und begannen sich kräftig auszudehnen. Wenn wir uns abends geliebt hatten, war auch der darauf folgende Tag ein an­derer, und die Scherze vorm Therapietag über das, was der nächste Tag mit sich bringen würde, versetzten uns nicht selten in so gute Stimmung, dass wir auch schon in dieser Nacht miteinander schliefen. Wir konnten wieder lustig sein, uns freuen und uns lieben. Wir hatten wieder zueinander gefunden, unbe­absichtigt, in einer veränderten Welt, über seltsame Wege. Ohne Zweifel war Frau Dr. Selinis Therapie richtig und wichtig, nur das, was wir vermittels der Therapie eigentlich erreichen wollten, hatte sich als sekundärer Begleitumstand unserer Therapieversuche längst jenseits dieser entwickelt und eingestellt.


Frisch verliebt und wieder glücklich

 

Wir konnten wieder glücklich sein und unsere gegenseitige fürsorgliche Zunei­gung nahm sich aus, als ob wir frisch verliebt wären. Und so war es auch wohl. Natürlich hatte ich Andrea immer geliebt. Doch seit Sophias Krankheit war vie­les anders geworden. Ob sich unsere Liebe nicht adäquat mitentwickelt hatte, oder ob sie die schweren Belastungen nicht einfach so ertragen konnte? Wie dem auch sei, ich meinte Andrea immer geliebt zu haben, nur jetzt berausche es mich, als ob ich meine Geliebte neu kennengelernt hätte.

 

Schon wieder eine Illusion. Sie war ja kein anderer Mensch geworden. Für mich allerdings schon, und Andrea schien auch in mir etwas anderes zu sehen, et­was das sie lieben, wollen und begehren konnte. Uns gefiel unsere neue alte Liebe in einem wiedergefundenen neuen Leben. Ich hatte Andrea von meinen amourösen Träumen mit Sophia und den Besuchen an ihrem Grab erzählt. „Ich glaube, ich kann das alles erst jetzt richtig verstehen und dich auch gut verste­hen.“ ich bekam einen Kuss und wurde gestreichelt. Andrea fuhr fort, „ich habe auch mit Sophia gesprochen, abends vorm Einschlafen. Ich interpretierte es so, dass ich es brauche, weil ich ohne den Kontakt mit Sophia nicht sein könne. Ich war besessen davon und irritiert. Habe begonnen mich mit esoterischen Möglichkeiten, Kontakt zu Verstorbenen aufzunehmen, zu beschäftigen, bis ich mir in einem wachen Moment, Klarheit über meinen Zustand verschafften konnte. Es hat mich nicht begeistert, sondern eher zusätzlich frustriert, weil es mir erneut meine Hilflosigkeit vor Augen führte. Ich begann daran zu zweifeln, ob ich psychisch stabil genug sein würde, alles verkraften zu können. Und als dann noch die Streitigkeiten zwischen uns aufkamen, hatte ich öfter den Ein­druck, dass jetzt nicht mehr viel fehlen würde. Als ich es damals im Bett an­sprach habe ich geweint, geweint, weil ich entsetzliche Angst um mich selber hatte. Aber deine Gespräche mit Sophia, das finde ich doch o. k.. Du weist doch, wo du bist. Andere führen Selbstgespräche, andere tun es auch, aber sprechen dabei nicht und wieder andere lassen nur ihre Gedanken im Kopf spielen. Auf irgendeine Art nimmt doch jeder Kontakt zu seinem Ego auf und verhandelt mit ihm. Wenn du dafür Sophia einbeziehen kannst, ist das doch ein wunderschönes Gedenken. Aber auch ein wunderschöner Weg dich Friedhofs­muffel mal öfter zu ihrem Grab zu bekommen. Nur wirst du mir in Zukunft be­richten müssen, was sie dir verraten hat, ich bin ja schließlich ihre Schwester und habe vorrangige Ansprüche. Und im Übrigen will ich auch mal barfuß mit dir über eine blühende Bergwiese tanzen.“ Wir lachten, umarmten, küssten und streichelten uns. Diese vielen kleinen, über den Tag verstreuten Zärtlich­keiten hatten stark zu genommen und ein Ausmaß erreicht, wie wir es seit Be­ginn unserer Liebe vor zwölf Jahren nicht mehr kannten. Frisch verliebt, das waren wir wohl wirklich, und Gerry sah es auch so. Wir waren für ihn zum 'heiß verliebten Ehepaar' avanciert, dessen Sonderwünsche er großzügig respektie­ren konnte.

 

Heirat


Er kam in die Schule und würde damit dem Neuen in unserem Leben ein zu­sätzliches Fundament hinzufügen. Gerry war Andreas Adoptivsohn. Ob wir nicht doch heiraten sollten, um ihm komplette Eltern geben zu können. Wir überlegten zwar lange, waren aber der Ansicht, uns in unserer Beziehung und Lebenserfahrung auf einer Ebene zu bewegen, in der amtliche Festschreibung unseres Verhältnisses oder nicht nur noch eine Formalie war, die im Rang einer Quisquilie chargierte. Einfluss auf unsere Beziehung oder unser Leben haben, könnte so etwas nicht mehr. Ob Andrea nun meine Frau war, und ich ihr Ehe­mann oder nicht, eine Frage die für uns eine Ridikulität darstellte, über die wir uns amüsieren konnten. Wir hatten etwas ganz anderes erlebt, als den Kampf um oder gegen eheliche Abhängigkeiten. Am liebsten hätten wir den Vertrag über unsere neuen Rechte und Pflichten bei einem Notar unterzeichnet. Jegli­chen Beigeschmack eines nun endgültig erfolgten Liebesversprechens wollten wir vermeiden. Mutters Erstgeborene konnte ihr, die sich nichts lieber als eine wunderschöne Traumhochzeit zwischen uns beiden schon immer gewünscht hatte, vermitteln, worum es uns ging, und dass das, was sie sich wünsche, bei uns schon längst Realität sei, viel fundamentaler und authentischer als Gla­mour und Pomp einer Hochzeitsfeier dies vermitteln könnten. Natürlich war sie besänftigt. Andrea letztendlich zu widersprechen, lag auch nicht im Rahmen ih­rer mütterlichen Kompetenzen ihr gegenüber. Wir wollten überhaupt nichts fei­ern, aber ein leckeres Essen und einen netten Abend konnten wir meiner neu­en Schwiegermutter nicht auch noch streitig machen. Gerry durfte so lange aufbleiben wie er wollte, auch wenn es schon Mitternacht vor bei wäre, wie er sich vorher ausdrücklich hatte versichern lassen. Nur schienen seine Kräfte für das geplante Großvorhaben nicht ganz zu langen. Um halb Zehn etwa nahm der Schlaf in seine Arme, und er musste sich für den weiteren Verlauf des Abends von Lilly, seiner Kinderfrau, vertreten lassen. Der Abend gestaltete sich so ausnehmend lustig, dass wir unseren Hochzeitstag doch wohl nie vergessen werden. Hauptsächlich lag es sicherlich an der Konstellation der vier Erwachse­nen, die so noch nie einen Abend zusammen gesessen hatten. Was auch An­dreas Mutter und Lilly die Freiheit gab, so ausgelassen lachen und fröhlich sein zu können, war mir unerklärlich. Vielleicht hatten sie nur bei uns gesehen, dass man es kann und dass man es darf, und ihren verborgenen Wünschen, auch die Freiheit erteilen können. Die Reaktion von Andreas Mutter schien etwas in dieser Richtung zu bestätigen. Bedankt hatte sie sich für den wunderbaren Hochzeitsabend und gemeint, sie habe sich dadurch verändert.


Lilly


Lilly hatte ich sowieso stets nur bewundern können. Immer hatte sie Gerry die Treue gehalten trotz aller unerträglicher Umstände. Wenn für Gerry durch alle Ereignisse keine Blessuren im späteren Leben zurückblieben, dann war das maßgeblich Lillys Verdienst. Sie hatte das Kind einer gut situierten glücklichen jungen Frau betreut, von der Folter, die sie später erlebte, stand in ihrem Ar­beitsvertrag nichts geschrieben. Sie hätte jeden Tag gehen können, nur sie blieb, freiwillig. Was in dieser Frau vor sich ging und vor sich gegangen war, hätte ich gerne erfahren. Auf jeden Fall musste sie über ein außergewöhnliches Herz verfügen, wie ich es mir wunderbarer für meine Mutter nicht hätte wün­schen können. Jetzt konnte sie wieder unbeschwert lachen, scherzen und fröh­lich sein. Unser Hochzeitsabend schien auch bei ihr einen Bann gebrochen zu haben. Warum Lilly keinen Mann oder Freund hatte, dazu gab es nur rudimen­täre Informationen. Sie sei mal enttäuscht worden und wolle so etwas nicht mehr. Nur Kinder seinen wahre und treue Liebhaber, hatte sie gesagt. Vielleicht bedeutete es ihr ja unendlich viel, dass Gerry sie so gern mochte, und sie war nicht fähig, ihn in seiner Lage wegen ihrer eigenen Umstände verlassen zu können. Wir mochten Lilly schon immer, und auch Sophia hatte sie natürlich gemocht, aber jetzt erst schien ich die erforderliche Muße und Entspanntheit zu haben, sie näher sehen und ihren wundervollen Charakter erkennen zu kön­nen. Sie fragte oft, was sie für uns tun könne, weil Gerry doch mittlerweile sehr eigenständig und morgens ja in der Schule sei. Wir wollten es eigentlich nicht, das sie zu unserer Haushaltsgehilfin mutierte und für die Müllentsorgung zuständig wurde. Auch wenn sie nichts zu tun hatte, Gerry konnte ja nicht je­den Tag bis 15-16 Uhr alleine sein, und außerdem kam Lilly entlassen sowieso nicht in Frage. Wir machten uns eher Gedanken darüber, ob wir unser Zusam­menleben nicht anders gestalten könnten. Ingrid, meine neue Schwiegermut­ter, kam uns auch häufiger besuchen. Es gefiel ihr bei uns besser, als zu Hause alleine für sich etwas zu organisieren. Ich erlebte sie zwar nicht so häufig, da der Schwerpunkt ihrer Besuchszeiten am Morgen lag, wenn Gerry in der Schule war. Ingrid kam am liebsten Lilly besuchen. Sie verstanden sich nicht nur prächtig, sondern schienen sich auch sehr zu mögen. „Das läuft doch alles chaotisch.“ regte ich mich auf, „Lilly muss nachmittags wenn wir kommen in ihr kleines Apartment verschwinden. Ingrid kommt sie morgens besuchen, obwohl sie jederzeit gern hier wäre. Kann aber nachmittags und abends Lilly nicht tref­fen. Dass wir gemeinsam am Tisch sitzen können, obwohl wir uns alle gut ver­stehen und sehr mögen, gibt es nicht. Warum leben wir nicht zusammen in ei­nem Haus, wie wir die individuellen Möglichkeiten gestalten, können wir doch selbst entscheiden.“


Gemeinsames Leben


Wir wollten es an einem Samstagabend mit unseren Hochzeitsgästen, Ingrid und Lilly, erörtern. Als der gemeinsame Entschluss feststand, strahlten wir uns an wie Honigkuchenpferde, wie Kinder die sich gerade etwas Ungeheuerliches vorgenommen hatten und gar nicht wussten, wie sie sich denn richtig freuen sollten. Wir schienen über uns selber zu staunen. Ingrid wollte ihr Haus ver­kaufen und Lilly würde zur Nanny auf Lebenszeit ernannt. Auch wenn Gerry keine Kinderfrau mehr benötigte, seine Geliebte würde sie immer bleiben. Fi­nanziert wurde ihr Gehalt aus den Erlösen von Sophias gut angelegten Rückla­gen. Als Gerry auf's Gymnasium kam, wohnten wir zusammen und die Tage nahmen kein Ende, an denen wir uns nicht für unser gemeinsam geschaffenes Glück gegenseitig bestaunten. Es war kein Wunder, auch wenn es uns manch­mal so erschien. So konnte Realität auch sein. Ich werde die Tage nicht verges­sen, in denen ich so etwas nicht einmal hätte träumen dürfen, um mich nicht selbst für einen verrückten Spinner zu halten, der sich realitätsfernen Illusio­nen hingibt. Sophia musste doch mein Schutzengel sein, ich erkannte es an ih­rem zustimmenden Lächeln, wenn ich mit ihr sprach. Vielleicht haben wir ja alle einen Schutzengel. Wir müssen ihn nur erkennen und sollten häufiger mit ihm reden. Wer weiß?


Epilog

 

Dem Illusionären nicht besonders zugetan, daran hatte sich bei meinem Film­konsum nie etwas geändert, aber in meinem Alltag war ich mit sehr vielem konfrontiert worden, bei dem die Modalitäten meiner Wahrnehmungsspezifik entscheidenden Einfuss auf die Erkenntnis der Realität ausübten. Ich war dem nicht nur blind ausgesetzt gewesen, sondern hatte es sogar bewusst provo­ziert. Meine Träumereien von Sophia hatten bewirkt, dass sich ihr Bild in mei­nen Erinnerungen glorifizierte. Darin leben und davon leben kannst du nicht. Von der realen Welt verabschieden geht nicht. Dann bist du nicht mehr zurech­nungsfähig, bist krank. Nur das Spektrum deiner Wahrnehmungsmöglichkeiten ist viel weiter und größer als es dir deine gelernten und allgemeingültigen In­terpretationsmuster vorgeben. Es handelt sich dabei sowieso nicht um Kon­stanten, die unabhängig von deiner psychischen Konstitution und deiner indivi­duellen Verfassung jeden Tag identisch funktionieren. Nutze deine erweiterten Möglichkeiten, suche was in dir steckt und was dir davon gefällt und hilft. Viel­leicht entdeckst du ja auch den Engel in dir. Folge ihm und nicht den vorgege­benen Anforderungen, Normen und fremden Erwartungen an dich. Lenke deine Schritte in seine Richtung. Lass dich inspirieren und zu kreativem Handeln ver­leiten, das dir hilft, deine Träume zu verwirklichen und sie leben zu können. Vielleicht sollte ich mich ja doch mal ein wenig auf Sciencefiction Filme einlas­sen, aber ich befürchte, dass bei der beschränkten Blickweite der Filmemacher, Schutzengel nicht in der ihnen gebührenden Breite wahrgenommen werden?

 

FIN

 

Tout mortel a le sien : cet ange protecteur, cet invisible ami veille autour de son cœur.

Alphonse de Lamartine 1823

 

Illusionen, Fakes und Träumereien mag Charly nicht. Er ist ein nüchterner Realist. Sophia, die Schwester von Charlys Partnerin wird unheilbar krank. Sie verbringt ihre letzten Tage bei Andrea und Charly. Dabei verlieben sich Sophia und Charly ineinander. Eine tiefere, intensivere Beziehung als Charly es jemals erlebt hatte. Ein Austausch wie er sonst unter Menschen nicht möglich sei, meinte Charly. Sophia verspricht, nach ihrem Tod, Charlys Schutzengel zu werden. Jetzt hat der absolut coole und nüchterne Realist einen Schutzengel. Charly dreht durch. Vielleicht haben ja alle einen Schutzengel, meint Charly. Sie wissen es nur nicht und sind nicht realistisch genug, um ihn erkennen zu können.

 

 

 

Beziehung ins Jenseits – Seite 20 von 20

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.06.2013

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