Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Liebe neu lernen


Der Frühling lässt auf sich warten

 

Erzählung

 

Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiß was ich noch gestern war.

"Die Liebende", Das Buch der Bilder, Rainer Maria Rilke

„Du wirst dich später als einsamer, alter Mann von deinem Töchterchen pflegen las­sen müssen, wenn du dich nicht mal bald um eine neue Frau kümmerst.“ Machte ich Claude deutlich. Er schmunzelte, schaute mich an „Und du?“ fragte er nur. Ich hätte ihn jetzt gern geküsst, traute mich aber nicht. Einige Schritte weiter tat ich es dann aber doch. Wir schauten uns lange an. Die anderen waren schon weit voraus. „Sandra ich lie­be dich einfach immer.“ sagte Claude, „Das wird nie wieder weg gehen. Das ist wie eingebrannt. Auch eine andere Frau wird das nicht auslöschen können. Selbst wenn es gar keine Chance für die Realisierung gibt, es ist einfach da. Wie du deine Mutter liebst, was auch niemand verändern kann, bist du es mit der Liebe zu einer Frau in mir. Ich will es ja eigentlich gar nicht. Es würde ja vieles erleichtern, wenn es nicht so wäre, aber ich kann mich nicht dagegen wehren. Was ich dir damals in Bonn gesagt habe, warum ich dich für so eine tolle Frau halte, sehe ich zwar auch so, aber das ist es nicht, was es ausmacht. Da ist noch etwas anderes, was ich nicht benennen, was ich nicht fassen kann.“ Was sollte ich dazu sagen. „Puh,“ stöhnte ich nur. „Ich liebe meine Tochter. Wie Liebe zu einem Mann geht, ob ich das noch weiß, Claude? Vielleicht habe ich es in der langen Winterzeit völlig vergessen. Oder vergisst eine Frau so etwas nie? Ob wir das mal klären sollten? Sonst müsste ich es eben neu lernen. Würdest du mir denn dabei helfen? Ich mag dich nämlich auch schon sehr gern, Claude. Ob wir mal etwas in der Richtung versuchen sollten?“ Claude lächelte und wir küssten uns nochmal, Jetzt ein wenig intensiver und länger.

 

Liebe neu lernen - Inhalt

Liebe neu lernen 4

Weihnachten 4

Perspektiven 4

Herbstzeit 5

L' Amour und die Familie 5

Verloren 6

Was willst du von mir? 6

Rauswurf 7

Kein Frühling in Sicht 7

Keine Entwicklung 8

Neu Inspirationen 9

Neues Leben? 10

Beziehungen 10

Besuch bei Linchen 11

Flaute in der Apotheke 12

Monsieur Denon 13

Wiedersehen 13

Linas Freund 15

Kein Wandel 16

Camille kommt 16

Unerwarteter Besuch 17

Neue Freundschaft 18

Besuch in Liége 18

Neue Liebe 19

Wechselnde Besuche 20

Claude kommt nach Bonn 20

Frühlingsperspektive 21

 

 

Liebe neu lernen


Weihnachten


Auf die Weihnachtszeit freue ich mich. Nicht nur ich freue mich heute, sondern soweit man weiß, bot sie immer schon für die Menschen Anlass zu Freude und festlichen Veranstaltungen. Die katholische Kirche erklärte Weihnachten zum Geburtstag ihres Religionsstifters, doch das weiß man erst seit Karl dem Großen, der bei Androhung der Todesstrafe dadurch früher übliche, als heid­nisch bezeichnete Bräuche ersetzte. Ich freue mich auch nicht, weil angeblich um diese Zeit in einem Stall in Palästina ein vorgeblich nicht gezeugter Tisch­lerssohn geboren sein soll. Das lässt mich cool, kann keine angenehmen emo­tionalen Regungen in mir wecken. Ich freue mich, weil Weihnachen symboli­siert, dass eine zunehmend unangenehmer werdende Zeit ihr Ende gefunden hat, dass ab jetzt etwas Neues beginnt, in dem langsam aber stetig und unwi­derruflich die Annehmlichkeiten größer werden. Die dunklen grauen Herbst- und Wintertage sind vorbei. Die Sonne wird intensiver ihr Licht ausstrahlen, und es wird morgens früher hell und abends später dunkel. Es geht auf den Frühling zu. Eine freudig stimmende Erwartung, die dieser Wechsel um die Weihnachtszeit mit sich bringt.


Das feiern die meisten Menschen an Weihnachten heute allerdings nicht. Sie geben sich Gelüsten hin, deren Befriedigung ihnen womöglich das übrige Jahr über versagt ist, und deren anheimelnde Erscheinungsformen Wärme vermit­telndes Glück versprechen. Das mag ich nicht und ist nicht mein Weihnachten, dieses Bedürfnis nach imaginierter Glückseligkeit, nach Rauschgoldengeln und Glühweinduft, die Freude an kindlich naiven Verkleidungen, an süßlichen Lied­chen und Dekorationen in immer perfektionierterer Kitschigkeit. Das entspricht eher einem kindlich naiven Anpassungsverhalten, was zu meiner Freude auf die Wintersonnenwende in keiner Beziehung steht.


Perspektiven


Ich bin keine Landwirtin, für die die Jahreszeiten und Witterungsbedingungen bedeutsam sind, aber mir gefällt es, Situationen zu erleben, in denen sich eine angenehme Perspektive, eine positive Entwicklung abzeichnet. Davon ist dem Herbst nichts vergönnt. Im Gegenteil, die Annehmlichkeiten es Sommer ver­schwinden nach und nach, und die graue Tristesse feuchter dunkler Regentage nimmt zu. Welche Freude bereiten da die ersten Schneeglöckchen und Krokus­se, sowie schon mal ein warmer Tag im März. Es ist weniger das einzelne Er­lebnis, das uns erfreut, sondern das vermittelte Signal, das bald wieder Blu­men blühen, und die Bäume uns mit dem angenehmem Grün ihrer Blätter er­freuen werden. Im Café noch leicht fröstelnd, denken wir an die kommende warme Zeit, die es uns erlaubt, in lauer Abendluft noch spät draußen zu sitzen. Wir wissen es wird angenehmer, bequemer, es kommt eine Zeit, die in uns vie­le wohltuende emotionale Erlebnisse bereiten wird. Das stimmt jetzt schon freudig und hebt unser Befinden.


Ich brauche dieses Empfinden, eine Perspektive zu haben, eine Entwicklung zu sehen, auf die ich mich freuen, oder die ich zumindest gutheißen kann. Jeden Tag zu leben, wie ich ihn gestern auch schon gelebt habe, und dort ja nichts Schlimmes passiert ist, reicht mir nicht. Das es schlimmer, beziehungsweise schlechter wird, vollzieht sich in der Regel nicht durch ein plötzliches unerwar­tetes Ereignis, sondern langsam Tag für Tag ein ganz klein wenig. Du nimmst es gar nicht wahr. So wie du älter wirst, und es auch nicht Tag für Tag er­kennst. Jeder Tag scheint dir wie der vorhergehende und trotzdem hat sich et­was verändert. Deine Tage sind kein Kontinuum sie sind immer ein Prozess, ein Prozess der eine Entwicklung hat. Dass deine Haut langsam älter wird, dei­ne Organe an Funktionstüchtigkeit verlieren, ist eine feststehende Entwicklung, auf die du keinen grundsätzlichen Einfuss hast, die Entwicklung deiner Persön­lichkeit, deiner emotionalen Lage ist jedoch kein festgelegter Prozess, sondern hängt von dir, deinem Handeln und deinen Erfahrungen ab.


Herbstzeit


Betrachte ich mich, habe ich über viele Jahre mit einer Herbstzeit ähnlichen Perspektive gelebt. Über viele Jahre habe ich im Zusammenleben mit meinem Mann positive Entwicklungen nicht erlebt, ja ich habe sie gar nicht mal mehr erwartet. Ich habe nicht gewusst, dass man es braucht, dass ich es brauche. Ich wahr froh, wenn ich meinte festzustellen, es sei nicht erkennbar schlimmer geworden sei. Ich fand es zwar nicht erfreulich, aber auch nicht außergewöhn­lich schlimm. Es hat lange gedauert, bis mir bewusst wurde, wie perspektivlos es ist, und jede Vorstellung davon, jeder Anspruch darauf ein glückliches Leben zu führen, in diesem Zusammenhang nicht möglich sein werden.


L' Amour und die Familie


Als „ganz normal“ würde ich es bezeichnen. Wir waren schrecklich verliebt, als ich Sebastian kennenlernte. Kaum eine Minute konnten wir ohne den andern sein. Sebastian musste dafür sogar ein zusätzliches Semester einlegen. Es war alles wunderschön und aufregend. Dass unsere Liebe, unser Verliebtsein nachließ oder abnahm, ist mir nicht aufgefallen. Natürlich konnte es nicht im­mer so bleiben, so konnte man ja auch nicht mit den Alltagserfordernissen zu­recht kommen, aber dass wir uns auch noch nach zwei Jahren genauso lieb hatten, sah ich schon so. Dann kamen die Kinder im Abstand von zwei Jahren, noch mehr Alltagserfordernisse und zwei kleine Nebenbuhler um Zuwendung und Liebe. Sicherlich hatte sich an unserer Liebe etwas verändert. Sebastian war ja immer da, große Sehnsucht nach ihm brauchte es nicht zu geben, aber dass ich ihn weniger geliebt hätte, konnte ich nicht sehen. Insgesamt wurde aber doch wohl langsam immer alles selbstverständlicher. Alltag eben. Die Be­ziehung zu Sebastian auch. Sie gehörte zwar dazu, aber im Vordergrund stand eher, alles gemanagt zu bekommen. Ich hatte wieder angefangen zu arbeiten, Linchen war auch in die Schule gekommen, und ich musste mich sorgen, wie ich in meinem Terminplan alles geregelt bekam. Sebastian kümmerte sich auch um vieles, wir liebten uns ja. Oder war es damals schon nicht viel mehr als eine gute freundschaftliche Beziehung? Ich konnte es nicht erkennen. Wir schliefen zwar miteinander, aber das war auch ebenso dieses selbstverständliche Alltagsgeschehen, dieser Familienablauf. Nur selten dachte ich darüber nach, ich funktionierte einfach und war damit zufrieden. Im Grunde war alles wie früher bei mir zu Hause, zwei Kinder und zwei Organisatoren, die alles zufriedenstellend am Laufen hielten. Wo war ich eigentlich? Meine Persönlichkeit? Lebte ich davon, dass ich meine Hausaufgaben brav gemacht hatte, meine Pflichten erfüllt hatte, war ich damit zufrieden und befriedigt. Was wollte ich für mich? Welche Perspektive gab es? Ich wusste es überhaupt nicht. Nur über die Familie, das Wohlergehen der Kinder und Ähnliches konnte ich mich definieren.


Verloren


„Sebastian, ich glaube ich bin verloren gegangen.“ sagte ich zu meinem Mann. „Aha,“ meinte er lächelnd von seiner Zeitung aufblickend, „soll ich dich jetzt suchen?“ „Nein ich meine etwas Ernstes.“ erwiderte ich und erklärte ihm die Ansicht meiner persönlichen Situation. „Ja, ich denke auch, dass sich vieles verändert hat, nicht alles unbedingt in eine Richtung, die jeden Einzelnen von uns beiden glücklicher gemacht hat. Nur als zufrieden empfinde ich mich so schon. Was sollen wir tun? Entwicklungen ungeschehen machen? Ein Fake großer Verliebtheit inszenieren? Es mag zwar sein, dass etwas anderes schö­ner, angenehmer sein könnte, aber ich sehe keinen Weg dahin. Ich gebe mich mit unserer derzeitigen Situation zufrieden.“ erklärte er dazu. Da ist mir zum ersten Mal deutlich geworden, dass zwischen uns etwas grundsätzlich anders geworden war. Es kam mir vor, als ob ich ihn als Gesprächspartner verloren hätte. Er hörte mir fast nur noch formal zu, um mir dann seine Version darzu­stellen, die apodiktisch zu gelten hatte. Er ließ sich gar nicht mehr auf mich ein, fragte nicht, was ich davon hielte, wie belehrt kam ich mir vor. Das war nicht der Sebastian der mich geliebt hatte, und den ich meinte immer noch zu lieben. Ich war enttäuscht und traurig. Ich wollte das ändern, wollte es repa­rieren, wollte unsere Beziehung wieder intensivieren. Wir beide allein würden mehr gemeinsame Aktivitäten entwickeln, dann kämen wir sicher wieder näher zusammen. Wir würden öfter gemeinsam Essen gehen, gemeinsam ins Theater oder die Oper, Ausstellungen würden wir zusammen besuchen, nur wir beide ohne die Kinder. Leider musste ich feststellen, dass Sebastian es meistens ehr für eine Verpflichtung hielt, der er sich nicht entziehen konnte, anstatt sich darüber zu freuen. Er schien seine Lust auf mich, auf meine Person verloren zu haben, ich weinte, aber zu helfen wusste ich mir nicht.


Was willst du von mir?


Schon damals hätte ich ihn fragen sollen, was er eigentlich von mir wolle, und ihn vor die Alternative stellen sollen, ihn rauszuwerfen oder sich zu ändern. Vielleicht hätte er es ja noch gekonnt, aber derartige Gedanken kamen mir nicht. So etwas lag für mich völlig außerhalb meines gedanklichen Horizonts. Ich Sebastian wo rauswerfen? Mich gab es ja in meinem Empfinden gar nicht mehr allein. Ich war ein Teil der Familie, zu der auch Sebastian gehörte. Ich hätte ja auch nicht meinen Kindern einfach kündigen können und Sebastian ebenso wenig. Es kam mir nie in den Sinn. Nur was sich an Beziehung zwi­schen uns abspielte wurde immer dünner. Wir hätten befreundete Geschäfts­partner sein können, Interesse an der Person des Anderen existierte kaum noch. Ich meinte es hinnehmen zu müssen, es gab ja keinen Grund zur Be­schwerde, keine Streitereien, kein exzessives Verhalten. Wenn man hörte, was sich in anderen Ehen abspielte, ging's mir ja noch gut. Wir respektierten einan­der schon, und ich meinte auch Sebastian immer noch zu mögen, obwohl ich diese Entwicklung natürlich für schade hielt und eine Perspektive, das sich et­was ändern könnte, nicht vorstellbar war. Ich lebte halt meine Tage und mein­te, mich damit abfinden zu müssen. Als mich jemand fragte, ob ich wisse, dass Sebastian eine Freundin habe, wurde mir erst deutlich wie fern er mir war. „Na und?“ hätte ich beinahe geantwortet. Ich hatte das Gefühl, dass es mich kaum interessiert. Nur mit ihm schlafen, wozu es sowieso sehr selten kam, wollte ich jetzt nicht mehr. Als Sebastian es einmal zu wollen schien, habe ich ihn ge­fragt, ob's ihm seine Freundin nicht gut oder häufig genug mache. Er hat nur seine Kissen genommen und ist in sein Arbeitszimmer gegangen. Seit dem schlief er auf der Couch in seinem Zimmer.


Rauswurf


Als Linchen sich verabschiedet hatte, um in ihr Studentenzimmer nach Bonn zu fahren, habe ich Sebastian angeschaut: „Verschwinde! Mach das du weg kommst!“ herrschte ich ihn an. Er lächelte verlegen, glaubte nicht zu verste­hen, was er gehört hatte. „Es ist kein Scherz. Genau so meine ich es. Wie ich es gesagt habe und wie du es gehört hast. Ich habe seit vielen Jahren nichts mehr mit dir zu tun, und du willst nichts mit mir zu tun haben. Also was soll ich mit dir. Raus! Ich will dich nicht mehr sehen!“ reagierte ich. Sebastian begann zu diskutieren, ich unterbrach ihn: „Es gibt nichts darüber zu reden. Es steht so fest, wie ich es gesagt habe. Besorge dir eine Wohnung und verschwinde. Das ist definitiv alles, was es dazu zu sagen gibt.“ Ich hatte es mir schon lange überlegt. Meine einzige Sorge war, dass Linchen eventuell etwas von unange­nehmen Szenarien mitbekommen könnte. Die Tage bis sie das Haus verließ waren kurz und gut erträglich. Ich hatte ja eine Perspektive. Was mir als Qual, die ich nach meiner Einschätzung zu ertragen hätte, erschienen war, hätte dann ein Ende. Ich konnte mich wieder freuen, befreit fühlen. Die perspektivlo­se Herbstzeit, in der keine positiven, angenehmen Entwicklungen zu erkennen sind, hatte ein Ende. Es war Weihnachten.


Kein Frühling in Sicht


Nur direkte Hinweise eines sich ankündigenden Frühlings konnte ich auch nicht erkennen. Keine bunt leuchtenden Blumen, keine warmen Empfindungen einer für mich strahlenden Sonne, aber ich wusste auch überhaupt nicht, was ich wollte, und in der Apotheke, in der ich tagsüber arbeitete, lief mir wahrschein­lich auch das Glück nicht plötzlich über den Weg. Ich hätte es ja auch nicht einmal erkennen können. Wie sollte es denn aussehen? Ein anderer Mann? Gott bewahre! Männer erschienen mir prinzipiell alle wie Sebastians, in anderer Erscheinungsform zwar, aber grundsätzlich waren es Männer, die Frauen quäl­ten. Allein zu sein, war zunächst kein Problem für mich. Im Gegenteil ich fühlte mich erleichtert und frei und konnte vor Freude durchs Haus tanzen. Allerdings war Linchen ja auch nicht mehr da. Niemand war mehr da, mit dem ich mal ein Wort wechseln konnte. Immer musste ich Leute einladen oder Bekannte besu­chen, wenn ich mal mit jemandem reden wollte. Die Apotheke war ja auch kein besonderes Diskussionsforum, wo ich meinen persönlichen Gesprächsbedarf decken konnte, und nach Geschäftsschluss wie eine Einsiedlerin zu leben, ent­sprach nicht meinen Bedürfnissen. Ich diskutierte mit Jeane, meiner besten Freundin darüber. Ich amüsierte mich oft über ihren Lebensstil. Sie hatte seit fast zwanzig Jahren einen festen Freund, aber beide zogen es vor in getrenn­ten Wohnungen zu leben. Familie oder Ähnliches kam für sie nicht in Frage. Sie brauche niemanden rauszuwerfen, falls ihre Beziehung erkalte, sie könne nicht in Zwänge kommen, aus denen sie sich nicht zu lösen wisse. Sie fühle sich sehr wohl so und wolle es nie anders haben. Vielleicht wäre das kein schlechtes Model, eine mögliche Perspektive für mich, aber Mann? Ein Verlangen danach konnte ich in mir nicht verspüren. Ich war ja mittlerweile auch schon sieben­undvierzig Jahre alt. Auch wenn ich meinte noch relativ gut auszusehen und den Wechsel gut überstanden zu haben, verminderten die Begehrlichkeit we­ckenden Reize auf die maskulinen Mitglieder unserer Spezies doch zunehmend ihre Anziehungskraft. Außerdem lebte der weitaus überwiegende Teil braubarer Männer in meinem Alter mit Sicherheit in festen Beziehungen. Die Wahrschein­lichkeit bei neuen Beziehungen auf Männer wie Sebastian oder schlimmer zu treffen, war nicht gering. Daran lag mir nicht. Sollte ich im Haus vielleicht et­was vermieten? An eine Studentin, mit so etwas Ähnlichem wie Familienan­schluss, dass sie meine Küche benutzen und im Wohnraum fernsehen konnte? Ich würde sie dann ja öfter sehen und mit ihr vielleicht auch Gemeinsames machen können. Nein, nein, eine alte einsame Frau, die sich von einem jungen Mädchen unterhalten lassen will, war ich auch nicht.


Keine Entwicklung


Es war unwiderruflich gut, dass die frühere Situation vorüber war, nur eine Perspektive, einen Ausblick in welche Richtung sich etwas entwickeln könnte, das mich glücklicher werden lies oder mit dem ich zumindest zufrieden sein könnte, gab es nicht. Ich wusste auch gar nicht, in welche Richtung ich denken sollte. Immer so bis an mein Lebensende die Tage verstreichen lassen, war keine Perspektive, die mich erfreuen konnte. Sie machte mir eher Angst. Angst, weil ich befürchtete, dass es dazu kommen könnte, weil ich nicht wuss­te, was ich sonst tun sollte. Perspektivlos traurig fühlte ich mich.


Im Grunde lebte ich ja so weiter wie bisher, nur eben ohne Sebastian. Ich musste etwas anderes beginnen, mir eine neue Umgebung suchen, ein neues Leben anfangen, wenn mir irgendwelche Inspirationen für meine Zukunft kom­men sollten. Aber was sollte ich mit meinem Pharmaziestudium im Alter von siebenundvierzig schon anfangen. In Augsburg oder Stuttgart Pillen verkaufen? Sollte das andere Inspirationen vermitteln. Für alles andere war ich ja zu alt. Ich hatte mir eigentlich auch kein Leben als Verkäuferin in einer Apotheke vor gestellt, aber darin bestand der größte Teil meiner Arbeit. Natürlich hat man ein wenig mehr Verantwortung, als wenn man hinter der Fleischtheke Schnitzel verkauft, aber so ganz viel anders ist es nicht. Nur eben ein deutlich anderes Ambiente. Eigentlich wäre ich gern im Wissenschaftsbereich geblieben, aber dass daraus nichts wurde, ist auch Sebastians Schuld. Damals dachte ich lieber daran mit ihm im Bett zu liegen, als mir ein Thema für meine Dissertation zu überlegen. Die Verliebtheit hatte alle anderen Perspektiven vernebelt.


Neu Inspirationen


Als ich sinnierend über meine ganze Biographie nachdachte, fiel mir das wun­derschöne Jahr meines Schüleraustausches in Frankreich ein. Bei einer Familie in Charleville-Mézières in den Ardennen war ich gewesen. Mézières selbst hatte mich nicht sehr fasziniert. Es waren Madame und Monsieur Rozier, die alles ta­ten, um für mich ein glückliches Jahr zu arrangieren. Mein Verhältnis zu Coralie ihrer Tochter, war nicht so besonders herzlich, vielleicht weil Madame mir of­fensichtlich nicht nur größere Beachtung schenkte, sondern regelrecht verliebt in mich zu sein schien. Die Roziers waren Belgier, liebten Belgien und all ihre Verwandten und Freunde lebten dort. Sie kamen aus Liége hatten sich dort kennengelernt und verliebt, und nach dort natürlich alle möglichen Verbindun­gen. Wir verbrachten so gut wie jedes Wochenende in Belgien, nicht nur in der Wallonie, sondern ich bekam ganz Belgien gezeigt. Flandern mit Brügge, Gent und Antwerpen hatte mich besonders begeistert, und Madame nannte mich im­mer schmeichelnd ihre kleine Flamande. In De Panne habe ich im Urlaub zum ersten Mal Meer und Strand erlebt und meinen ersten Freund gehabt. Wir ha­ben zwar nicht miteinander geschlafen, dafür war ich mit vierzehn ja noch viel zu jung. Die fickenden Kinder heute würden darüber lachen, aber für mich war unser Gefummel mein erster Sex. Ein Junge, der meine Muschi berührte, sie streichelte und mit seinen Fingern kitzelte, das hatte ich noch nie erlebt. Knall­rot war ich geworden, nicht vor Scham, sondern vor Spannung und Aufregung. Es kam mir vor, als ob ich in dem Jahr zwar in Frankreich zur Schule gegangen war, aber eigentlich Belgien erlebt und lieben gelernt hatte. Alles Belgische war mir lieb und wichtig, und wenn ich heute über die Konflikte zwischen Flamen und Wallonen höre, tut es mir weh. Gedanken an Belgien, wecken noch heute freudige Assoziationen in mir, ob wohl ich später nur einmal wieder kurz mit den Kindern in Antwerpen war.


Sollte ich vielleicht nach Belgien gehen und dort ein neues Leben versuchen? In Brüssel, Liége oder Namur? Ich schrieb meinen Gasteltern von damals. Sie mussten ja jetzt annähernd siebzig sein. Aber die Post kam zurück. Das Berg­werk gab es ja nicht mehr und außerdem würden sie ihren Lebensabend si­cherlich in Belgien verbringen. Ich wollte es bei Freunden und Verwandten in Lüttich versuchen. Irgendjemand ließe sich bestimmt noch finden, der sich an die jeune fille de Flandre vor dreiunddreißig Jahren erinnerte. Stand es schon fest, war es schon sicher, dass ich es so machen wollte. Dass ich mich in Belgien wohl fühlen würde, stand außer Frage und dass es vielfältige neue Eindrücke gäbe auch. Was wollte ich mehr als Basis für eine neue Perspektive. Ja ich würde mich in Liége um eine Stelle und eine neue Wohnung kümmern. Jens und Lina meine Kinder waren eher skeptisch, freuten sich aber darauf, mich dort besuchen zu können. Auch Jeane und andere Bekannte äußerten Bedenken, aber ich glaubte daran, hatte eine Perspektive, auf die ich mit freute. Es gefiel mir auch gut in Lüttich. Ich fühlte mich wohl. Zwei der alten Bekannten konnte ich noch ausfindig machen. Natürlich erinnerten sie sich an la Flamande, aber sie wussten auch, das Roziers nicht mehr lebten, gemeinsam bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren sie. Das trübte die Freude über unser Wiedersehen nach so langer Zeit. Trotzdem brachten sie mich in Kontakt mit ihren Kindern, die auch etwa in meinem Alter waren. Wir hielten das aufrecht, uns so brauchte ich mich im großen Liége nicht allein und verlassen zu fühlen.


Neues Leben?


Nur was änderte sich grundsätzlich? Ich fühlte mich ganz wohl, aber auch wenn ich jetzt den ganzen Tag über französisch sprach, Einfälle und Inspiratio­nen für eine künftige Perspektive wollten sich auch in dieser Sprache nicht ein­stellen. Jetzt würde ich eben in Liége französisch sprechend allein alt werden. Unwohl hatte ich mich ja in Erlangen auch nicht gefühlt. Ich lebte gern dort und war damit nicht unzufrieden. Ich meinte nur, dass eine neue Umgebung mich grundsätzlich auf andere Gedanken bringen würde, hatte aber nicht be­dacht, dass ich meine Persönlichkeit, meine psychische Struktur, mein soziales Verhalten ja nicht zurücklassen konnte. Ich war kein neuer Mensch, weil ich in einer neuen Umgebung lebte. Ein neues Leben? Eine Phantasmagorie. Du musst mit deinen Strukturen und Vorstellungen zurecht kommen. Du musst dir darüber klar werden, was dich daran hindert, etwas zu verändern, etwas Neu­es zu gestalten, neue Wege zu finden, neue Knospen zu bilden, die sich zu prachtvollen Blüten entfalten. Mir schien, als ob bei mir in meinem Denken und meinen Vorstellungen alles blockiert sei, dass ich gar nicht wusste, was denn zu tun sei, um mich für Veränderungen offen zu machen. Ich überlegte einen Therapeuten zu konsultieren.


Beziehungen


An einem Wochenende fuhr ich nach Erlangen zu Jeane, um ihr mein Leid zu klagen. „Ja, vielleicht ist Belgien wirklich schön,“ erklärte Jeane „außer bei die­sen Konflikten zwischen Flamen und Wallonen entwickeln sich bei mir auch kei­ne Aversionen, aber dass du es liebst und heute noch so freundliche emotiona­le Assoziationen entwickelst, liegt nicht an der Schönheit Belgiens, sondern an der Liebe und Zuneigung mit der sie dir nahegebracht und vermittelt worden ist. Das ist das Glück, dass in dir bleibt. Schöne emotionale Empfindungen, die du liebst und die dir viel bedeuten, werden nie durch Materielles hervorgeru­fen, sie sind immer mit Personen verbunden, mit Zuneigung, Vertrauen, Aner­kennung, das macht dir die Welt angenehm, lässt dich sicher frei und zufrieden empfinden, macht dich glücklich. Das positive Verhältnis anderer zu dir ist es, was dir die Welt schön werden lässt.“ Was wollte Jeane mir damit sagen? „Al­lein kann es keine Perspektive geben. Du brauchst jemanden, der dich mag, anerkennt, dir Liebe vermittelt?“ Ja im Grunde traf es schon zu. Da existierte ein fester Block in mir, ein festgefügtes Bild, an dem nichts verändert werden konnte. Meine emotionalen Beziehungen zu Gleichaltrigen, waren die zu Sebas­tian, anderes war nicht präsent und zugänglich. Es war das, was ich über vierundzwanzig Jahre erlebt hatte, ausschließlich erlebt hatte. Es machte mir Angst und vermittelte mir quälende Empfindungen. Wie ich dieses Bild ändern sollte in ein Bild, das mich Beziehungen zu anderen freudig erwarten ließe, wusste ich nicht. Es war mir nur klar, dass meine derzeitigen Assoziationen jede Beziehungsaufnahme verhinderten.


Besuch bei Linchen


Ich fuhr jetzt häufiger nach Deutschland. Fast jedes Wochende verbrachte ich dort. Linchen studierte Biologie in Bonn. Für mich war sie trotz ihrer fast zwei­undzwanzig Jahre immer noch die Süße, Kleine. Sie hatte nichts dagegen und lachte darüber. Sie war ja auch zart und grazil, und ich empfand sie als außer­gewöhnlich hübsch. Sie hatte zarte Gesichtszüge und konnte einen mit ihren braunen Augen, durchdringend aber warm anschauen. Ich hatte Jens auch ge­mocht, und hätte mich gegen den Vorwurf, eins der beiden Kinder zu bevorzu­gen gewehrt, aber Linchen war mir schon als kleines Kind viel näher erschie­nen. Sie war immer meine kleine Frau gewesen, mit der mich so etwas Ähnli­ches wie eine schwesterliche Solidarität verband. Sie suchte auch während ih­rer gesamten Entwicklung meine Nähe und ich war immer eindeutig ihr bevor­zugter Ansprechpartner. Sie freute sich außerordentlich, wenn ich sie besuch­te, und von Liége nach Bonn war es ja auch nicht so weit. Natürlich war ihr nicht verborgen geblieben, dass die Beziehung zwischen Sebastian und mir nicht stimmte. „Es war manchmal gräßlich, euch beide, meinen Dad und meine Mami, zu erleben.“ erklärte sie mir, „Wie zwei Menschen von anderen Sternen, die gerade mal gegenseitig ihre Namen kannten, so kalt so distanziert. Ihr habt euch ja nicht angekeift, aber es tat mir entsetzlich weh. Ich habe öfter geweint. Ich wollte mich da nicht einmischen. Ich wusste ja nicht, wieso es dazu gekommen war. Ich sah nur die schöne Zeit, als ich klein war, wie ihr miteinander Quatsch machen konntet, euch liebend umarmtet und küsstet. So glücklich wollte ich später auch mal sein. Du erschienst mir, wenn du dich mit Dad unterhieltest, wie ein anderer Mensch. Da warst du nicht die Sandra, die meine Mami war, die mich liebte und mit der ich mich glücklich verbunden fühlte. So eine Mutter hätte ich nicht gewollt. Ich habe dich damals nicht ver­standen. Jetzt weiß ich es ja, und ich habe zwar nicht direkt Angst, das mir zwangsläufig so etwas auch passiert, aber ich denke schon, dass ich Tag für Tag wache Augen haben werde, um so eine Entwicklung zu verhindern.“ Ich erklärte Lina, wie tief sich dieses Erlebnis bei mir eingegraben hätte, und im­mer noch mein Denken über Beziehungen dominiere. „Warum steht nicht das, was ich bei meinem Verhältnis zu dir empfinde im Vordergrund? Warum zeigt sich nicht das Vertrauen und die Liebe, die uns verbindet, wenn ich an die Be­ziehung zu einem anderen Menschen denke? Ich glaube, ich habe einen schwe­ren psychischen Defekt, eine unheilbare Männerbeziehungsphobie.“ schloss ich scherzend. Linchen gab mir einen Kuss. „Sandra,“ zum ersten Mal nannte sie mich so, bislang war ich ausschließlich die Mami gewesen, „ich denke auch, dass mein Verhältnis zu dir für mich meine tiefste, bedeutsamste persönliche Beziehung darstellt. Das Verhältnis zu einem Mann ist etwas anderes, obwohl sicher vieles von dem darin enthalten ist. Von wem weiß ich, was Liebe, Ver­trauen, Zuneigung, Verständnis und Wärme sein können, das hast du fest in mir verankert, das bist du, die in mir lebt. Ein schönes Gefühl macht das. Ich bin dir dankbar dafür. Das hast du doch auch in dir. Das wusstest du doch be­vor du Sebastian kennenlerntest und das ist auch noch da. Das ist ein Teil von dir, der sich als Kind in deine Person eingegraben hat, den niemand wieder auslöschen kann. Du hast es mir doch auch gegeben. Versuche es wieder zu finden, es ist noch da. Die Erfahrung mit Sebastian war, auch wenn sie langan­dauernd, enttäuschend und quälend war, demgegenüber nur eine Episode. Versuche deine Liebe, deine Freude, dein Vertrauen wiederzufinden. Das ist es was dich, was deine Person ausmacht, jetzt definierst du dich noch immer über Sebastian. Auslöschen wirst du diese Erahrung nicht können, aber ich denke du solltest versuchen dich selbst mehr in den Vordergrund zu stellen.“ Jetzt küssten wir uns. Mir machte es immer sehr viel Freude. Sie machte mir nicht nur Mut, sie gab mir Wärme, Zuneigung und das Empfinden, dass es immer eine Hoffnung gibt. Das hatte sie von mir? So etwas konnte ich?


Von Linchen fuhr ich immer glücklich beschwingt nach Hause. Ein Besuch bei ihr ließ mich immer leichter und lockerer werden, nahm meinen Gedanken die Schwere, die sonst auf ihnen zu lasten schien. Es half mir viel mehr, als all die tiefen Überlegungen im schönen Belgien. Vielleicht sind es ja auch gar nicht so sehr das Alter und die körperlichen Reize, die deine Attraktivität ausmachen, vielleicht kannst du es nicht verbergen, dass du nicht glücklich bist und er­weckst dadurch bei anderen nicht das Bedürfnis zu einer Kontaktaufnahme mit dir. Ich lebte weiter in Belgien, wie ich's mir gewünscht hatte und verbrachte die Wochenenden in Deutschland, was mir trotz der stressigen Fahrten immer am besten gefiel.


Flaute in der Apotheke


In unserer Apotheke war die Geschäftslage ein wenig flau geworden. Ich be­fürchtete schon, man werde mir kündigen. Ohne Familie, als letzte eingestellt, da war es schon naheliegend, aber man kündigte den Hilfskräften. Angenehm war das auch nicht. Jetzt hatten wir deren Arbeit mit zu erledigen. Drei Arzt­praxen in unserer unmittelbaren Nähe waren innerhalb kurzer Zeit verschwun­den. Zwei waren in ein neu errichtetes Ärztehaus umgezogen, und der ältere Arzt, der uns die meisten Kunden mit den umfänglichsten Rezepten vermittelt hatte, war in Ruhestand gegangen. Die Praxis stand lange Zeit leer, bis ein re­lativ junger Arzt, etwa Mitte dreißig, sie neu eröffnete. Er kam in der Mittags­zeit zu uns, meinte, seine Patienten würden ja wohl vornehmlich bei uns ihre Rezepte einlösen. Wir seien ja nicht unabhängig voneinander, und ihm läge daran, wenn wir uns mal kurz kennenlernen würden. Nach Schließung der Apo­theke wollten wir uns an einem Abend kurz bei ihm treffen.


Man scherzte viel, was er zu tun hätte, um unsere Apotheke zu sanieren, und wie wir das organisieren könnten. Es wurde ziemlich lustig und man hatte das Gefühl, sich gut zu verstehen. Er hatte lange gezögert, sich niederzulassen, sah aber darin letztendlich für sich persönlich doch die günstigere Perspektive. Er meinte, Hausmann sei ein französischer Name, und bei meiner Sprache könne ich nicht verleugnen, dass ich französische Wurzeln haben müsse. In Deutschland gehe es den Apotheken doch so glänzend, was mich denn da nach Belgien vertrieben habe. Es sei nichts geheimes daran, nur sei es eine etwas längere Geschichte, die jetzt nicht in den Rahmen passe. „Ich würde sie trotz­dem gern hören.“ meinte er, „haben sie nicht Lust, sie mir mal bei einem Kaf­fee oder Glas Wein zu erzählen?“ Sonderbar, ich kannte ihn ja gar nicht, aber weil er mir nicht unsympathisch war, ließ ich mich darauf ein. Bestimmt eine nette Abwechselung.


Monsieur Denon


Es wurde ein anregender Abend. Monsieur Denon konnte sehr unterhaltsam sein, und brachte mich durch seine Scherze und ironischen Bemerkungen häu­fig zum Lachen. Die Story über die Entwicklung meiner Liebe zu Belgien fand er hinreißend und meinte, da würde ich Belgien sicher besser kennen als er selber. Besonderes Interesse schien er aber daran zu haben, wie es zur Tren­nung von meinem Mann gekommen war und wie sich unsere Beziehung entwi­ckelt hatte. Seine Nachfragen gingen mir doch ein wenig zu weit. „Monsieur, ich habe mich mit ihnen getroffen, weil ich ihnen meine Geschichte zur belgi­schen Apotheke erzählen wollte, ich hatte nicht erwartet mich bei meinem The­rapeuten wiederzufinden.“ machte ich ihm eindeutig klar. Er entschuldigte sich, es habe sich unreflektiert so entwickelt. Nichts liege ihm ferner, als meine per­sönliche Spähre zu verletzen. Obwohl ich gar nicht mehr daran dachte, ent­schuldigte er sich beim Abschied noch einmal und versicherte, dass ihm so et­was nicht wieder passieren werde. Der Abend hatte mir gefallen. Ich würde gern öfter Ähnliches erleben. Ich kannte zwar einige Leute, aber die Unterhal­tungen mit ihnen hatten nicht das, was dieser unbekannte Mann mir vermittelt hatte. Es käme nicht wieder vor? Wann und wodurch sollte es denn nicht wie­der vorkommen?


Kurze Zeit später erschien er in unserer Apotheke und wollte mit mir etwas be­züglich eines Rezeptes klären. Was war das denn. Wenn es etwas zu klären gab, telefonierte man gegenseitig, aber besuchte sich doch nicht. Ich hielt es nur für kurios und schmunzelte. Dass es etwas mit mir zu tun haben könnte, der Gedanke kam mir nicht.


Wiedersehen


Etwa zwei Monate später stand er abends vor unserer Apotheke. Er entschul­digte sich vielfach stotternd, wolle mir nicht zu nahe treten, aber habe das dringende Bedürfnis gehabt mich wiederzusehen und nicht gewusst wie. Mon Dieu, was sollte das denn? Diesen Jungen quälten doch wohl keine amourösen Gelüste nach einer alten Frau. So fühlte ich mich zwar nicht, aber der erhebliche Altersunterschied war doch nicht zu verkennen. Wie sollte ich reagieren? Ihm sagen: „Schaun sie mich gut an, und dann gehen sie brav nach Hause.“ Nein ich mochte ihn ja, kompromittieren wollte ich ihn nicht. „Na jetzt sehen sie mich.“ lächelte ich ihn an, „Und was wollen sie jetzt mit mir machen, wo sie mich gesehen haben?“ fragte ich spöttelnd noch leicht irritiert. „Ich weiß nicht, irgendetwas, in ein Café gehen, was sie möchten. „Na, sie wollten mich doch wiedersehen, da müssten sie doch wissen, was sie möchten, aber o. k., lassen sie uns einen Kaffee trinken gehen.“ gab ich ihm zur Antwort. Im Café fixierte ich ihn lächelnd, er war nervös, sein Verhalten war ihm sicher nicht angenehm. Überwinden hatte er sich dazu müssen. Ein dringendes Bedürfnis war es ihm anscheinend, hatte von mir geträumt. Ich musste lachen, als es mir durch den Kopf ging. „Ich lache nicht über sie Monsieur, ich habe an etwas anderes gedacht.“ log ich ihn an, „Aber erklären müssen sie mir schon etwas.“ Ich brauche keine Befürchtung haben, er habe sich nicht in mich verliebt. Er hätte mich nur bei unserem Gespräch sehr angenehm und sympathisch empfunden und hielte es für schade, wenn sich derartige Kontakte einfach wieder verlieren würden. Das war auch gelogen. „Soll ich ihnen das glauben, Monsieur? Sie hätten mich doch anrufen können und auf einen Kaffee einladen können, aber so, wie sie es gemacht haben, kommt es mir schon eher so vor, als ob sie etwas drängt. Was möchten sie, was erwarten sie, was erhoffen sie sich. Monsieur Denon wurde verlegen, begann zu drucksen und meinte: „Na ja, Madame Hausman, es ist schon so, dass ich nicht nur unser Gespräch als angenehm empfand, sie persönlich haben bei mir auch ein starken Eindruck hinterlassen. Sie gefielen mir sehr gut, und ich musste im Nachhinein öfter an sie denken, immer öfter. Warum genau kann ich nicht erklären, es war einfach so, und das Bedürfnis sie wieder zu sehen nahm ständig zu.“ „Monsieur Denon, sie sind ein junger Mann. Sie werden mir doch nicht erklären, dass sie sich in mich verlieben wollen. Da sollten sie sich doch lieber etwas in ihrer Altersklasse suchen.“ verdeutlichte ich ihm. „Habe ich ja.“ und auf meine erstaunten Blicke erklärte er, dass er verheiratet und auch Vater eines Kindes sei. Nur für ihn existiere das Verhältnis ausschließlich formal. Er könne mit seiner Frau nicht mehr reden und käme sich häufig wie geduldet vor. Irgendeine Art von Einfluss habe er auf seine Frau nicht mehr. „Und da suchen sie jetzt Trost bei der Mutti und wollen sich ausweinen. Monsieur, dafür bin ich keine Ansprechpartnerin. Gehen sie zu ihrer richtigen Mamon, die wird sie sicher in die Arme nehmen, ihnen zuhören und ihnen Trost spenden. Aber aller Trost wird ihnen letztendlich wenig helfen, wenn sie das Problem selbst nicht lösen.“ stellte ich meine Sicht dar. Er wollte mir erklären, wie kompliziert es sei und welche unangenehmen Folgen es haben könnte wegen seiner Tochter. „Non Monsieur,“ reagierte ich, „ich mag sie, aber das will ich gar nicht hören. Sie glauben doch nicht, dass sie ihre Probleme lösen können, indem sie eine andere Beziehung beginnen. Die Frau in dieser Beziehung möchte ich grundsätzlich nicht sein, unabhängig von dem Alter.“ Das Alter spiele für ihn keine Rolle, ich habe einen sehr tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. „Trotzdem wird es keine näheren Beziehungen zwischen uns geben. Sie haben ein Problem, das sie lösen müssen. Solange sie das nicht gelöst haben, fehlt jedem weiteren Kontakt zwischen uns die Basis.“ stellte ich klar. „Aber öfter mal gemeinsam einen Kaffee trinken könnten wir doch.“ meinte Monsieur Denon. „Nein, nein, auch das möchte ich nicht. Sie sind nicht unvorbelastet, Monsieur le Docteur. Lassen sie es uns bei den zufälligen Kontakten bewenden lassen. Es wird besser für mich sein, und auch für sie ist es die sinnvollere Praxis.“ erklärte ich abschließend. Er bedauerte es und auch ich dachte am Abend noch öfter darüber nach. Was ihn wohl an mir interessiert hatte. Im Spiegel meinte ich es nicht entdecken zu können. Gab es doch etwas an mir, an dem was ich sagte, wie ich mich verhielt, das bei anderen Interesse an mir wecken konnte, sogar bei einem bestimmt über zehn Jahre jüngeren Mann? Es ließ mich schmunzeln, ich war ein wenig zufrieden mit mir.


Linas Freund


„Ich sag ja immer, dass du eine tolle Frau bist. Jetzt hast du's endlich mal er­fahren. Hoffentlich glaubst du es jetzt auch selber.“ kommentierte Linchen, als ich ihr davon erzählte. Sie meinte auch, dass es mit dem Arzt keine Perspekti­ve gewesen sei, aber dass ich einen Mann nett und sympathisch gefunden hät­te und ihn gut leiden könne, sei doch allein schon ein riesiger Erfolg. Sebastian sei da ja anscheinend nicht zugegen gewesen. Linas Freund war auch anwe­send. Ich hatte zuerst nicht kommen wollen, weil ich meinte zu stören, aber Linchen bestand darauf ihn mir zu zeigen. Sie hatten sich in der Camargue bei einem Umweltseminar kennen und lieben gelernt. Camille war Franzose und studierte in Montpellier. Ein schlanker, großer junger Mann mit schwarzen Haa­ren und Brille. Machte einen intellektuellen aber auch ein wenig naturverbun­denen Einduck, zeigte sich sehr offen und lachte viel. Ich hätte gedacht, dass Camilles alles Mädchen seien, meinte ich. Bei ihm sei das eben mal anders ver­laufen, meinte er scherzhaft, klärte mich dann aber auf, wie es sich tatsächlich verhielt. „Camille, ich will dich jetzt schon warnen. Du wirst immer mit meiner Eifersucht zu rechnen haben. Ich liebe meine Tochter sehr. Du kannst nicht er messen, welche Kostbarkeit sie darstellt.“ erklärte ich scherzend. Er wisse es schon, sonst habe er den weiten Weg hierher sicher nicht gemacht. Dazu sei er noch viel zu jung, um das vollständig erfassen zu können. Camille lachte, um­armte mich und meinte: „Madame Hausmann, das, wofür meine Kinderaugen jetzt noch verschlossen sind, werden sie mir bestimmt zu vermitteln wissen, da bin ich mir sicher.“ Wir lachten, ich mochte Camille und Lina erfreute es. „Wie kann man denn einen Freund haben, der so weit entfernt wohnt? Wie erträgt man das denn?“ fragte ich sie als wir unter uns waren. „Umso mehr freut man sich, wenn man sich dann mal trifft.“ meinte sie leicht scherzend, „nein, ist mir schon klar, dass es so keine Perspektive hat. Ich mag Camille schon sehr, aber es ist ja im Grunde alles noch sehr dünn, und jetzt einfach hier alles fliegen lassen und nach Montpellier gehen, weil ich Camille gern öfter sehen möchte, das mache ich auf keinen Fall. Da muss ich schon für mich selber eine Perspek­tive sehen können, die auch dann noch trägt, wenn wir uns mal auseinander dividieren sollten.“ Eine kluge Frau, meine Tochter, mir hatte es an einer der­artigen Einsicht damals gemangelt.


Kein Wandel


Eine Perspektive für mich, gab es jedoch immer noch nicht. Es belastete mich aber nicht mehr so sehr. Ich fühlte mich leichter und lockerer, war eher der festen Ansicht, es würde sich schon etwas ereignen, wie mit dem jungen Arzt. Nur es ereignete sich nichts. Kein Mann der sich in mich verliebte, keine her­ausgehobene Bekanntschaft, keine beruflichen Veränderungen, alles blieb so wie es war. Nichts wurde anders oder besser. Ich machte mal mehr das Eine oder das Andere, ging mal häufiger ins Theater, kümmerte mich mehr um Kunst und besucht öfter Ausstellungen, aber grundsätzliche Veränderungen, Ansätze für eine neue Perspektive boten sich dadurch nicht. Schrecklich traurig konnte mich das aber nicht machen. Ich konnte in Liége gut leben und freute mich auf die Wochenenden in Deutschland.


Camille kommt


Für Lina hatte sich allerdings eine neue Perspektive ergeben. Nicht sie hatte Wege für sich in Montpellier gefunden, sondern Camille, der kein Wort Deutsch kannte, hatte es nicht mehr ausgehalten. Besuchte einen Intensivkurs Deutsch in Montpellier und wollte sich im nächsten Semester in Bonn einschreiben. Ihm gefiel es auch in Bonn besser als in dem Moloch Montpellier. Er fand nicht nur die Biologische Fakultät der Uni gut, er liebte auch die relative Beschaulichkeit Bonns, den Rhein, die Umgebung mit den vielen Laubwäldern und grünen Wie­sen und die Heimat Beethovens, seines Lieblingskomponisten, mit dem er sich in seiner Jugend so viel am Klavier abgemüht hatte, was konnte es schöneres geben. Alles war stimmig. In der Sehnsucht nach Lina war auch ein klein wenig die Liebe zu Bonn enthalten. Lina freute sich natürlich maßlos. Einfach zusam­men in ihrem relativ kleinen Appartement zu wohnen, hielt ich allerdings für keine gute Grundlage ihrer gemeinsamen Beziehung. Ich war schon der An­sicht, dass es besser sei, mehr persönlichen Freiraum zu haben, als ständig all zu nah beieinander hocken zu müssen.


Unsere Überlegungen führten letztendlich dazu, dass ich mich von Sebastian scheiden lassen wollte, unser Haus verkaufen, zurück nach Deutschland kom­men, in Bonn ein Haus kaufen und mit Lina und Camille zusammenleben woll­te. Lina freute sich darauf, Camille ebenso und mir erschien es, als ob ich end­lich eine Perspektive gefunden hätte. Es bedeute viel Arbeit und die Erledigung umfangreicher Formalitäten. Als Camille kam hatten wir noch kein Haus und ich keine Arbeit. Jetzt lebten nicht nur Lina und Camille in dem kleinen Appar­tement, sondern ich auch noch. Wir standen uns zwar ständig auf den Füßen, aber wir lachten darüber, weil wir wussten, dass es anders werden würde, und dass ich Arbeit finden würde, dessen war ich mir auch sicher. Letztendlich hat auch alles funktioniert, nur mit dem schönen Haus in der Bonner Altstadt, wie wir uns das vorgestellt hatten, wurde es nichts. Das konnte ich doch nicht fi­nanzieren. Wir hatten endlos damit zu tun alles ein- und herzurichten und alle Formalitäten zu erledigen. Lina und Camille wohnten im Parterre, wenn wir ge­meinsam etwas machen wollten, kamen sie zu mir. Das war sehr oft der Fall, und ich empfand mich in meiner Situation als happy. Mir kam es vor, als ob es in Bonn mit Lina und Camille viel mehr Neues und Interessantes gab, als damals für mich in Belgien. Lina und Camille waren stark politisch engagiert und infizierten mich. Ich las andere Zeitungen und entwickelte andere, neue Interessen. Jetzt schien ich ein anderer, vielleicht ein wenig neuer Mensch zu werden. Nicht weil ich etwas anderes tat, ich hatte den Eindruck, sonst alles nur von außen registriert zu haben, jetzt fühlte ich mich selbst betroffen, nahm ein Gefühl von Verantwortung war, meinte einen anderen Platz in der Gesellschaft zu besetzen. Es machte mich stark und wichtig, und eröffnete mir neue Horizonte und Welten.


Unerwarteter Besuch


Wir wohnten seit etwa einem Jahr in unserem Haus, als es klingelte und Dok­tor Denon aus Belgien mit vermutlich seiner Tochter in Tür stand. „Oh Schreck, was wollen sie denn hier?“ schoss es mir durch den Kopf, sagt ich aber natür­lich nicht, sondern bat ihn rein. Er mache eine Woche Urlaub und wolle seiner Tochter den Rhein zeigen. Von seiner Frau habe er sich getrennt, sie habe auf das Sorgerecht verzichtet und Linette lebe jetzt bei ihm. Da er schon mal hier sei, habe er mich doch kurz besuchen wollen. Die Adresse habe man in der Apotheke gehabt. Ich wusste gar nicht wie mir war, was ich davon halten soll­te, was ich mit ihm reden sollte. Ob er wohl immer noch heimlich in mich ver­liebt war und wieder Kontakt aufnehmen wollte? „Und haben sie schon eine neue Freundin gefunden, oder suchen sie immer noch nach einer Großmutter für Linette?“ fragte ich ein wenig spitz. „Non Madame, sie scherzen, aber sie sind keine alte Frau, sie sind eine wundervolle Frau. Wer nicht ganz unsensibel ist, erkennt das schnell. Die Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit vermittelt das, wonach man sich eigentlich sehnt.“ reagierte er auf mich. „Monsieur, sie über­schütten mich mit Komplimenten, aber was meinen sie mit dem, wonach man sich eigentlich sehnt?“ wollte ich von ihm wissen. „Madame sie wissen es, aber es ist das Vertrauen, die Wärme, die Herzlichkeit die sie ausstrahlen, es ist die Freude, die ihr Lachen und Lächeln vermittelt, es sind Wissen und Erfahrung, die in ihrem Blick liegen. Was kann ein Mann sich mehr von einer Frau wün­schen? Ich denke, dass Männer, die das nicht erkennen und zu werten wissen, erhebliche Sensibilitätsmängel haben.“ erklärte Monsieur Denon. Ich erklärte ihm, dass ich eine ganz normale, schlichte, alltägliche Frau sei, die ihre Macken und Probleme habe, und keine kleine Madonna, als die er mich wohl sähe. Er blieb dabei, und meinte er sei kein Phantast, der sich irgendetwas zusammen spinne. Da ich wieder in Deutschland sei, wäre an eine Beziehung ja nicht zu denken, aber ich habe für ihn eine Marge gesetzt, die ihm den Kontakt zu einer anderen Frau nicht erleichtere. Er wollte also nichts mehr von mir. Jetzt war ich befreit und lebte auf. Ich zeigte und erklärte ihm Alles, scherzte mit seinem zwölfjährigen Töchterchen und schien ihn wieder richtig zu mögen. Selbstver­ständlich blieb er zum Abendbrot, und mit Lina und Camille wurde es eine recht lustige Runde. Lina wusste was es alles Aufregendes in Bonn zu sehen gab, und was Linette auf keinen Fall versäumen durfte. Sie bot sich an, sie am nächsten Tag zu begleiten, und am übernächsten Tag wollte ich mit ihnen zum Drachenfels, auf dem ich auch noch nicht gewesen war. Vom Rhein bekamen Monsieur Denon und seine Tochter außer in Bonn nicht viel zu sehen. An einem Tag fuhren sie von ihrem Bonner Hotel aus nach Köln, damit war der Rhein-Urlaub beendet.


Neue Freundschaft


Wir hatten unsere E-Mail Adressen ausgetauscht, und Monsieur Denon bedank­te sich für den wunderbaren Urlaub, den er und seine Tochter durch uns ge­habt hätten. Viel bedeutsamer als die Sighseeings selber sei die Herzlichkeit in der sie ihnen zugänglich gemacht worden seien. Seiner Tochter habe es auch sehr gut gefallen, sie hätte uns sehr nett gefunden und möchte uns gut leiden. Ich bedankte mich für sein Lob und sprach auch noch anderes an. Wir schrie­ben uns häufiger und Lina fiel manchmal noch etwas ein, womit sie Linette Vergnügen bereiten konnte. Lina fotografierte gern und machte wild aufregen­de Bilder im Alexander-König-Museum, das Linette so begeistert hatte. Sie schickte ihr auch schon mal ein kleines Buch oder Informationen über etwas, womit sie sich gerade beschäftigte, und es dauerte nicht lange, bis Linette für sich beschloss, später auch Biologin werden zu wollen.


Eines Tages rief Claude, wir duzten und mittlerweile, mich an. Er habe ein Pro­blem und ich solle offen sagen, wie es sich für mich darstelle. Linette habe ge­fragt, warum wir uns nicht mal öfter besuchen würden, und warum wir nicht mal zu ihnen kämen. Linette freue sich immer sehr über Besuch, nur wäre der recht selten, und wenn Lina sie besuche, sei das natürlich etwas unvergleich­lich Schönes für sie. Ich wusste gar nicht, wo ich stand. Ich mochte Claude gut leiden, freute mich über seine Mails, hatte Lust ihm zu schreiben und mit ihm zu scherzen. Er war ein guter Freund, ein sehr guter Freund, nur Amore und Beziehung waren in unsern Mails unausgesprochenes Tabu. Er hatte ja recht, was sollte es. Ich würde nicht wieder nach Belgien gehen, und Claude würde nicht hierher kommen können. Warum sollte man einen Gedanken daran ver­schwenden, vielleicht realitätsferne Illusionen entwickeln? Warum sollten wir ihn und Linette nicht besuchen? Ich sagte Claude, dass ich es mit Lina bespre­chen müsse und ihn dann informiere.


Besuch in Liége


Claude wohnte mit Linette in einem kleinen Haus am Rande von Liége. Aus dem alten Haus hatte er ausziehen müssen. Seine Frau hatte ihn vor die Alter­native gestellt: Haus oder Sorgerecht. Als er mir das erzählte, schaute er mich mit fragenden Augen und skeptischem Mund an, als ob er sagen wollte: „Kann man sich das vorstellen?“. Ich streichelte ihm übers Haar, als ob ich ihn ver­ständnisvoll trösten wollte. Zum ersten Mal, dass ich ihn anfasste, aber es war selbstverständlich und wurde mir erst hinterher bewusst. Es war ein amüsan­tes Wochenende. Wir unternahmen Einiges und lachten viel. „Und mit der Lie­be tut sich immer noch nichts?“ fragte ich Claude bei einem Spaziergang, „Du wirst dich später als einsamer alter Mann von deinem Töchterchen pflegen las­sen müssen, wenn du da nicht mal bald etwas änderst.“ Er schmunzelte, schaute mich an „Und du?“ fragte er nur. Ich hätte ihn jetzt gern geküsst, traute mich aber nicht. Einige Schritte weiter tat ich es dann aber doch. Wir schauten uns lange an. Die anderen waren schon weit voraus. „Sandra ich lie­be dich einfach immer.“ sagte Claude, „Das wird nie wieder weg gehen. Das ist wie eingebrannt. Auch eine andere Frau wird das nicht auslöschen können. Auch wenn es gar keine Chance für die Realisierung gibt, es ist einfach da. Wie du deine Mutter liebst, was auch niemand verändern kann, bist du es mit der Liebe zu einer Frau in mir. Ich will es ja eigentlich gar nicht. Es würde ja vieles erleichtern, wenn es nicht so wäre, aber ich kann mich nicht dagegen wehren. Was ich dir damals in Bonn gesagt habe, warum ich dich für so eine tolle Frau halte, sehe ich zwar auch so, aber das ist es nicht, was es ausmacht. Da ist noch etwas anderes, was ich nicht benennen, was ich nicht fassen kann.“ Was sollte ich dazu sagen. „Puh,“ stöhnte ich nur. „Ich liebe meine Tochter. Wie Liebe zu einem Mann geht, weiß ich gar nicht mehr, Claude. Es ist mir ausge­trieben worden. Ich glaube, ich müsste es ganz neu lernen. Ob ich das will? Ich weiß es nicht genau. Ich mag dich schon sehr gern, Claude. Vielleicht wäre es ja nicht ganz falsch, wenn wir mal etwas in der Richtung versuchten.“ Claude lächelte und wir küssten uns nochmal, Jetzt ein wenig intensiver und länger.


Lina, Camille und Linette hatten von all dem nichts mitbekommen, sie erkun­digten sich nur, warum wir so gebummelt hätten. Ich hatte Lina auch noch nichts erzählt. „Mensch Sandra,“ meinte sie auf der Rückfahrt, „richtig verste­hen kann ich dich nicht. Der Claude ist so ein klasse Typ. Wie verliebt der in dich ist, kann der doch gar nicht verheimlichen. Dem würdest du niemals gleichgültig, der würde es nicht ertragen können, wenn du nicht glücklich wärst. Was hast du denn an dem auszusetzen, was stört dich denn an dem?“ Ich wusste nicht so recht, wie ich antworten sollte. „Lina ich sehe das alles ge­nau wie du und habe auch nichts an ihm auszusetzen, nur er in Lüttich und ich in Bonn, wie soll das denn gehen?“ antwortete ich schließlich. „Ha, welche Ent­fernung, Camille am Mittelmeer und ich in Bonn ging ja schließlich auch, oder?“ meinte sie, und Camille gab lächelnd zurück: „Ging ja doch nicht, oder?“


Neue Liebe


In meinen Mails mit Claude waren Beziehung und Amore jetzt nicht mehr aus­geklammert, sondern bildeten die Themenschwerpunkte. Unsere Briefwechsel wurden auch zunehmend häufiger, und bald durfte kein Tag mehr vergehen, ohne dass man nicht wenigstens eine kleine freundliche Notiz vom anderen be­kommen hätte. Ich fuhr Claude am Wochenende besuchen, nur für's gemein­same Bett brauche ich noch Zeit. Die Zeit ging schnell vorbei. Ich schlief wie­der mit einem Mann. Wie lange hatte ich das nicht gehabt, hatte ich es nicht gewollt, war es mir gar kein Bedürfnis gewesen. Es machte mich so happy, dass Linette am Samstagmorgen meinte, ich solle doch nicht so albern sein. Jetzt versuchte ich öfter nicht nur alle vierzehn Tage, sondern oft auch an den Wochenenden zwischendurch nach Liége zu kommen. Die ständige Fahrerei nervte mich zwar, aber Claude musste ja für Linette da sein. Warum brachte er sie nicht mit nach Bonn? Es würde ihr bestimmt gefallen, außerdem hatte sie ja auch als Fremdsprache Deutsch gewählt, und da nutzte es ihr ja sogar, mal öfter in Deutschland zu sein. Claude selbst lernte auch fleißig Deutsch. Er hat es mir erst erzählt, als er schon Einiges konnte und von mir etwas wissen wollte. Er müsse seine deutsche Geliebte doch wenigstens ein klein wenig verstehen können, aber warum man dazu einen Manager Intensivkurs brauchte, verstand ich nicht.


Wechselnde Besuche


Dass wir uns in unseren Besuchen abwechselten, schien Linette die meiste Freude zu machen. Sie fragte, ob ich nicht manchmal auch Lina mitbringen könnte, wenn ich zu ihnen käme. Linette war mein absoluter Schatz. Diese süße kleine Göre schien gierig nach Liebe, Zuwendung und Beachtung, konnte mich stundenlang mit Fragen aushöhlen und liebte es dabei ihren Kopf auf meinen Schoß zu legen, oder sonst wie mit mir zu schmusen. Bei ihren Fragen zu sexuellen Themen kam ich mir manchmal doch schon recht alt vor. Manches von dem, was sie aus dem Internet, oder Gesprächen der Schüler untereinan­der kannte, waren für mich spanische Dörfer. Ich erzählte ihr von meinen ers­ten sexuellen Kontaken in de Panne, und sie meinte, sie wolle auch noch war­ten, sie sei nicht so geil.


Ich war glücklich, und hatte es gar nicht richtig bemerkt. Ohne Gedanken an eine Perspektive hatte sie sich eingestellt, hatte sich einfach eröffnet, selbst­verständlich wie die Blütenkelche der ersten Blumen im Frühling. Allerdings das Fahren blieb schon eine Strapaze und ich hätte auch gern Montags, Diens­tags, Mittwochs und Donnerstags mit Claude zu Abend gegessen, mit ihm ge­frühstückt und mit ihm geredet, aber damit musste ich mich wohl abfinden, dass es dafür keine Perspektive gab.


Claude kommt nach Bonn


Eines Tages eröffnete mir Claude, er überlege, nach Deutschland zu gehen. Mit seinen Sprachkenntnissen werde er wohl zurecht kommen, an eine Praxis sei allerdings vorerst nicht zu denken. Da müsse er wieder im Krankenhaus arbei­ten. Er hoffe, dass ich das auch wolle, und mich darauf freuen würde. Mit Li­nette habe er das noch nicht besprochen, weil ja alles noch in den Sternen ste­he. Ich starrte Claude an, konnte es nicht fassen. Er lag auf dem Rücken im Bett, ich ließ mich auf ihn fallen und bedeckte sein Gesicht mit Küssen und konnte gar nicht wieder aufhören, ihn vor Freude abzuknutschen. Es machte mich so glücklich, dass ich nicht wusste, wo ich meine Freude lassen sollte. Ich setzte mich auf Claude und hätte ihn fast vor Freude vertrimmt. Der lachte sich tot über mich und bekam sich gar nicht wieder ein. Morgen früh werden wir es Linette erzählen, und wenn wir es richtig machen, wird sie sich be­stimmt darüber freuen. Es dauerte allerdings noch bis zum Schuljahrsende, und dann gab's keinen Sommerurlaub, sondern Umzug nach Bonn


Es verlief nicht alles so problemlos, wie wir es uns gedacht hatten. Die Lehrer und auch die Mitschüler in Linetts Schule waren nicht immer so rücksichtsvoll, wie wir uns das gewünscht hätten. Wir engagierten für sie eine Nachhilfelehre­rin, und um die Weihnachtszeit, war Linette soweit, dass es keine Probleme mehr gab, zumindest war sie sicher es zu schaffen. Sie hatte zwei Freundin­nen, die sie gut leiden mochte, mit denen sie sich gut verstand und mit denen sie per Handy fast in Dauerkontakt stand. Claude kam auch nicht immer glück­lich nach Hause. Die Arroganz mancher Kollegen machte ihm am Anfang oft zu schaffen, und es schien ihm härter, als er es sich vorgestellt hatte. Aber die Freude über unser Zusammenleben machte uns stark für den Umgang mit Pro­blemen und nahm ihnen viel von ihrer tatsächlichen und emotionalen Gewich­tung.


Frühlingsperspektive

 

Eine Perspektive hatte sich für mich ergeben, wie ich sie so nicht planen, ent­wickeln und vorausahnen konnte. Es hatte lange gebraucht, Umwege war ich gegangen und Ratlosigkeit hatte nicht selten in meinen Vorstellungen für die Zukunft dominiert. Jeder Tag war mir heute kostbar und wichtig. Es galt nicht nur darauf zu achten, das sich keine Entwicklungen einschlichen, die unser Glück hätten ruinieren oder gefährden können, ich wollte es jeden Tag neu er­leben, neu beleben, neu gestalten. Es war für mich kein Zustand, der sich selbstverständlich erhielt, wenn man ihn die Tage ablaufen lassend zu genie­ßen versuchte. Ich wusste, dass es ein Prozess war, der eine Entwicklungsten­denz hatte, und die galt es zu gestalten. Diese Frühlingsperspektive sollte nie herbtstzeitliche Züge bekommen, dass ich das jetzt zu verhindern wusste, des­sen war ich mir sicher.

 

Fin

 

Etwas hat mein armes
warmes Leben irgendeinem
in die Hand gegeben,
der nicht weiß
was ich noch gestern war.

"Die Liebende", Das Buch der Bilder,
Rainer Maria Rilke

„Du wirst dich später als einsamer, alter Mann von deinem Töchterchen pflegen las­sen müssen, wenn du dich nicht mal bald um eine neue Frau kümmerst.“ Machte ich Claude deutlich. Er schmunzelte, schaute mich an „Und du?“ fragte er nur. Ich hätte ihn jetzt gern geküsst, traute mich aber nicht. Einige Schritte weiter tat ich es dann aber doch. Wir schauten uns lange an. Die anderen waren schon weit voraus. „Sandra ich lie­be dich einfach immer.“ sagte Claude, „Das wird nie wieder weg gehen. Das ist wie eingebrannt. Auch eine andere Frau wird das nicht auslöschen können. Selbst wenn es gar keine Chance für die Realisierung gibt, es ist einfach da. Wie du deine Mutter liebst, was auch niemand verändern kann, bist du es mit der Liebe zu einer Frau in mir. Ich will es ja eigentlich gar nicht. Es würde ja vieles erleichtern, wenn es nicht so wäre, aber ich kann mich nicht dagegen wehren. Was ich dir damals in Bonn gesagt habe, warum ich dich für so eine tolle Frau halte, sehe ich zwar auch so, aber das ist es nicht, was es ausmacht. Da ist noch etwas anderes, was ich nicht benennen, was ich nicht fassen kann.“ Was sollte ich dazu sagen. „Puh,“ stöhnte ich nur. „Ich liebe meine Tochter. Wie Liebe zu einem Mann geht, ob ich das noch weiß, Claude? Vielleicht habe ich es in der langen Winterzeit völlig vergessen. Oder vergisst eine Frau so etwas nie? Ob wir das mal klären sollten? Sonst müsste ich es eben neu lernen. Würdest du mir denn dabei helfen? Ich mag dich nämlich auch schon sehr gern, Claude. Ob wir mal etwas in der Richtung versuchen sollten?“ Claude lächelte und wir küssten uns nochmal, Jetzt ein wenig intensiver und länger.

 

 

Liebe neu lernen – Seite 20von 20

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Tag der Veröffentlichung: 10.06.2013

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