Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

Ungewohnte Zärtlichkeiten

Antigone ist nie gestorben

 

Erzählung

 

 

Sie stammen nicht von heute oder gestern,
Sie leben immer, keiner weiß, seit wann.

Antigone über die ungeschriebenen Gebote

Wir wur­den immer heftiger und intensiver, bis wir beide erlöst ausatmend unsere ver­schwitzten, miteinander verflochtenen Körper trennten. Erstaunt und völlig verwirrt, erschlafft auf dem Rücken nebeneinander liegend waren wir glücklich. „Was war das denn?“ schauten wir uns fragend an. Keine hatte das gewollt, ja hätte es überhaupt für möglich gehalten. Mir war es gar nicht wie Sex vorge­kommen, obwohl es das ja ganz offensichtlich war. Ich empfand es ehr wie eine außerordentlich enge, tiefe Begegnung zwischen uns beiden, die unser bei­der Beziehung entsprach. So hatte ich Sex noch nie erfahren. Sonst war es im­mer eine allgemeine Lust, die Lust, sich erregen zu lassen, zu Ficken und einen Orgasmus zu erle­ben. Natürlich dachtest du dabei an Sex. Derartige Lustvorstellungen hatten jetzt gar nicht existiert. Nachdem wir unsere Körper spürten, und es angenehm fanden sie aneinander zu reiben, be­kam ich einfach Lust auf Nina, was genau, ich wusste nicht, ich wollte einfach alles von ihr. Ich war gierig auf Nina insgesamt. Eine sonderbare Form von sexueller Lust, aber wie rein sexuelle Lust kam es mir auch gar nicht vor, die Frau, die ich mich so massiv berührte, mit der mich in der kurzen Zeit so vieles tief verbunden hatte, die wollte ich jetzt körperlich auch voll erleben, zu einem Teil von mir werden lassen, wollte ganz mit ihr verbunden sein. Keine von uns beiden hätte das gewollt oder überhaupt für möglich gehalten. Unsere tiefe Zuneigung hatte es einfach mit uns gemacht. Wie es dazu kam, und was sich für Miriam und Nina weiter daraus ergab, weiß die Geschichte.

 

 

Ungewohnte Zärtlichkeiten - Inhalt

Ungewohnte Zärtlichkeiten 4

Der König von Kolchis 4

Hagen und meine Beziehung zu ihm 4

Besuch bei Hagen 5

Antigone stirbt nicht so schnell 7

Bei Nina zu Hause 7

Miriam bleib noch 8

Ninas Verunsicherung 9

Ninas Talk 10

Sanfte Berührungen 11

The Mirakle 12

Nach der Tat 13

Misha die Genderforscherin 14

Misha bei uns 16

Schülertheater 17

Der zerbrochene Krug 17

Kinder- und Jugendtheater Gruppe am Großen Haus 19

No Money 20

Die Dramen 20

Wir brauchen Urlaub 21

Urlaub in Schweden 22

Differenzen und Konsequenzen 22

Frauengesprächskreis 23

Evas Geschichten 24

Veränderung im Gesprächskreis 25

Wiedergeburt verlorener Interessen 26

Antigone lebt 27

 

 

Ungewohnte Zärtlichkeiten

Obwohl natürlich die Grundfor­derung, für den Arbeitgeber verwertbare Arbeit abzuliefern, weiterhin unum­stößlich bestand, hatten wir doch viele Wege gefunden, unsere eigenen Inter­essen dabei einzubringen, und zu verwirklichen. Darüber hinaus wurden wir fleißig unterstützt von unserer mittlerweile pubertierenden jungen genderfor­schenden Halbtochter, die uns jeden Tag neue Spannung und Freude vermit­telte. Ich hätte zufrieden sein können, ruhig gelassen? Keineswegs, ich war süchtig. Ich wollte jeden Tag mehr davon, neu oder in anderen Variationen. Ich fühlte mich stark und glücklich, jung und tatkräftig, wie nie zuvor. Antigone ist nie gestorben, sie hat uns nur ihr Leben gegeben, ein neues Leben für zwei Frauen, die sich Nina und Miriam nennen, und ihre Einstellung heute gemein­sam für sich weiterleben. Dass es Freude und Glück bringen kann, sich frem­den Machtansprüchen und Denkgewohnheiten zu widersetzen, zeigen unsere Erfahrungen.

Der König von Kolchis


Der König von Kolchis freute sich. Heute kam Besuch. Seine frühere Lebens­partnerin, Miriam, wollte zu ihm kommen. Sie stand dem Anderen, dem Neu­en, dass er sich zu suchen bemühte näher. Ihm war alles genommen worden, seine Firmen, sein Geld, seine Rechte. Die goldenen Zeiten, die sein Leben ge­prägt hatten, waren abgelaufen. Zunächst hatte er immer wieder seine fehler­haften Handlungen und Entscheidungen gesucht, und sich gefragt, was er hät­te anders machen können und müssen, um den Niedergang seines Imperiums zu verhindern, bis ihm deutlich wurde, dass er selbst das Problem darstellte. Das, wofür er sich hielt, wie er sich sah, war naiv und wertlos, und nicht nur, um heute viel Geld scheffeln zu können. Sein Bild hatte aus kleinen Allmachts­fantasien in Geschick und Cleverness verbunden mit seinem chemikalischen Wissen und seinen kompetenten Vermarktungsstrategien bestanden, die er durch seine Geschäftserfolge verifiziert sah. Er hatte sich für den Sonnyboy ge­halten, der immer ein wenig schlauer und raffinierter als die anderen war. Um etwas zu erreichen, musste er es nur ernsthaft wollen, dann fände er auch einen Weg, war seine unausgesprochene Überzeugung. Alles andere war dar­unter subsummiert, oder dem als nachrangiges Additivum zugeordnet. Diese Einstellung und Meinung über sich, war sein Lebensbild, dass sich ihm schon seit der Kindheit angeschmiegt hatte. Nicht nur, weil er sah, dass es ja offen­sichtlich nicht mehr funktionierte, sondern weil es ihm zum ersten Mal in sei­nem fast fünfzigjährigen Leben Anlass bot, über sich selbst und seine Vorstel­lung von sich nachzudenken, wurde ihm deutlich, wie wertlos dieses Bild, die­ses Selbstverständnis eigentlich gewesen war. Was waren denn die Kriterien, nach denen Menschen, die sich nicht permanent auf der Sonnenseite des Le­bens wähnten, ihr Leben betrachteten, einschätzten und bewerteten? Die Ge­bote der Kirche waren es sicher nicht. Was hatte sie denn geprägt, und zu de­nen werden lassen, als die sie sich heute verstanden? Ähnlichen Einflüssen war er ja auch ausgesetzt gewesen, aber was sie bei ihm bewirkt haben sollten, was er außer dem cleveren, geschäftstüchtigen Chemiker sein könnte, er wusste es nicht. Er rätselte über sich, und wo denn die Werte zu finden seien könnten, die ihm ein anderes, ein neues Leben lebens- un liebenswert gestal­ten würden. Zugänge zeigten sich ihm nicht. Er empfand sich als ratlos und müde.


Hagen und meine Beziehung zu ihm


Der König heißt nicht Aietes sondern Hagen Wienand, und Kolchis lag nicht am Schwarzen Meer sondern in Düsseldorf und über den Rest der Welt verstreut. Die persönliche Villa, das einzige was ihm noch geblieben war, stellt jetzt den Rest seines Reiches im Essener Süden dar. Über vier Jahre hatte ich mit ihm gelebt. Na ja, die große berauschende Liebe hatte sich zwischen uns zwar nicht entwickelt, aber als Mangel empfand ich das damals keineswegs. Ich mochte ihn schon sehr gern. Er war charmant, höflich, nett, zuvorkommend, und konnte vor allem sehr lustig sein. Sein Geld war für meine Zuneigung unbe­deutend, obwohl er mich natürlich aus arger Bedrängnis rettete. Ich bekam als Schauspielerin keine Rollen mehr. Warum hat mir nie jemand verraten. Schlechte Kritiken hatte ich keine gehabt. Zum Theater zurück wollte ich auf keinen Fall. Diese mörderische Arbeit wollte ich mir nicht mehr antun. Vielleicht hätte ich es gemacht, wenn ich bei jeder Premiere lobpreisend in allen Feuille­tons erwähnt worden wäre, aber das war noch viel illusionärer als überhaupt eine Stelle zu bekommen. Ich würde Hagen heute nach viereinhalb Jahren zum ersten Mal wiedersehen. Telefoniert hatten wir einige Male, um Organisatori­sches zu regeln, sonst nichts. Wir hatten uns gar nicht streitend, oder mit ir­gendwelchen Vorwürfen getrennt. Gestritten hatten wir uns nie, nicht vorstell­bar. Es war mir nur so erschienen, dass wir uns gegenseitig immer mehr aus dem Wege gehen würden. Er machte stets einen genervten Eindruck, wenn wir uns unterhielten, und meinte einmal sogar, ob ich solche Themen nicht lieber mit anderen Leuten diskutieren wolle. Welche Themen? Was mit Menschen­rechten und Humanität zusammenhing. Dieser liebe freundliche Hagen meinte bestimmen zu können, worüber wir gemeinsam zu reden hätten. Ich beachtete die Zensur, aber es war mehr als nur die Atmosphäre gestört. Mit der Freude verschwand auch die Lust aneinander, und als für mich nach einem Theaterbe­such ein kleines Wunder zelebriert wurde, konnte ich ihm ohne jegliche Ver­lust- und Schmerzempfindungen zwei Tage später mitteilen, dass unsere ge­meinsame Zeit zu Ende sei, da ich jemand anders kennengelernt habe. Ich hatte den Eindruck, dass Hagen sich auch eher erleichtert als verletzt oder ge­kränkt fühlte, keine Äußerung des Bedauerns, geschweige denn ein Versuch, meine Entscheidung beeinflussen zu wollen. Ich war ihm keinesfalls böse, die weitaus überwiegende Zeit hatte ich als sehr angenehm empfunden, und mein­te auch glücklich gewesen zu sein. Jetzt hatte ich von seinem beruflichen Miss­geschick erfahren, und war besorgt darum, wie er wohl damit zurecht kommen würde. Als ich ihn am Telefon fragte, ob ich ihn besuchen kommen solle, mein­te er: „Nichts ist mir lieber.“


Besuch bei Hagen


Hagen war ausgesprochen gut gelaunt, als ob sich überhaupt nichts Bewegen­des ereignet hätte. Er machte mir Komplimente, und wollte wissen, ob ich im­mer noch mit meinem Freund zusammenlebe, und glücklich mit ihm sei. „Mit welchem Freund?“ fragte ich verwundert. Der damals der Grund gewesen sei, wegen dem ich ihn verlassen hätte. Hagen wusste nichts von meinen wunder­samen Erlebnissen, dass ich nach der Antigone noch mit der Regisseurin gere­det hatte, wir die ganze Nacht redend und trinkend verbrachten und uns in der nächsten Nacht ineinander verliebt hatten. Als ich ihm sagte, dass ich mit einer Frau zusammenlebe, wollte er natürlich wissen, ob ich jetzt lesbisch sei. „Ha­gen, ich bin ein ganz normaler Mensch geblieben wie du. Ich habe dich ja zur Begrüßung auch nicht gefragt, ob du immer noch hetero seist. Ich bin immer noch ganz normal wie vorher auch. Ich habe nie einen Beschluss gefasst, keine normale Frau mehr zu sein, sondern eine Lesbe werden zu wollen. Ich habe auch nichts gemerkt, als ich mich in meine Freundin verliebt habe. Es war alles ganz normal. Das einzige was nicht normal ist, sind Menschen, die Frauen als Sonderwesen betrachten, wenn sie eine andere Frau lieben, und ihnen eine Spezialbezeichnung verleihen.“ Ich hätte Recht, er verstehe was ich meine, aber dass die meisten Menschen sich anders verhielten, und dächten, das sei für ihn typisch für eine dieser Einstellung und Sichtweisen, von denen wir gar nicht wüssten, dass wir sie hätten, nicht wüssten, wer sie uns vermittelt habe und warum. Wir würden aber bedenkenlos danach leben, handeln, und uns unsere Meinung bilden. Was bekam ich denn da von meinem Hagen zu hören. Ich schaute ihn erstaunt mit großen Augen an, und reagierte darauf: „Hagen, wenn das was du verloren hast, dazu geführt hat, dass du so sprechen kannst, hast du für dich selbst sicher sehr viel gewonnen.“ Ich wollte natürlich wissen, wie er auf derartige Überlegungen gekommen sei, und er erklärte mir die Zweifel an seinem Selbstverständnis, an seiner Selbstwahrnehmung, und seiner Suche nach einer Antwort, nach einer neuen Identität. In diesem Moment fand ich ihn toll und süß. Ich hätte mich neben ihn setzen, und ihn streicheln können. Aber Gott bewahre. Ich war der Meinung, dass Männer mich nicht mehr interessieren würden, keine emotionalen Reaktionen mehr in mir bewirken könnten, aber ich glaube auch nicht, dass es sich dabei um Hagen als Mann handelte, sondern um den guten Freund, den ich jahrelang sehr gemocht hatte. „Und wenn ich mir etwas vorzustellen versuche, weiß ich gar nicht ob es sich dabei um die Realität handelt, oder ob ich mir wieder etwas konstruiere mit Hintergedanken, die von anderswo herstammen.“ erläuterte Hagen seine Identitätsprobleme, „Als unser Verhältnis endete, hatte ich vorher das Empfinden, du würdest mich schrecklich oft nerven. Ich habe mir sogar gewünscht, dass du dich doch mal in jemand anderen verlieben würdest, und als du weg warst, stand ich am nächsten Tag in der Küche, und habe geheult. Das einzige Mal in meinem ganzen erwachsenen Leben. Warum? Ich konnte es mir überhaupt nicht erklären, warum ich traurig sein sollte. Nach meinem Verständnis hätte ich doch Freudentänze aufführen müssen. Ich habe es einfach unter unerklärlich abgelegt, statt Mal auf den Gedanken zu kommen, dass etwas mit meiner eigen Einschätzung nicht stimmen könnte, dass ich eine andere Sichtweise von mir bräuchte, in der Hagen traurig ist, wenn Miriam ihn verlässt. Im Grunde habe ich nie über meine Selbstwahrnehmung nachgedacht, hab mich einfach für o. k. Gehalten, und unbewusst gelebt. Dass ich dieses Leben verloren habe, ist kein Verlust, es ist tatsächlich Glück. Nur wo und wie finde ich welches neue?“ „Wie dein altes wird auch dein neues aus Vorstellungen und Fantasien bestehen, die von anderswo her zu dir gekommen sind, oder zumindest davon beeinflusst sind. Etwas anderes gibt es nicht, ist jedenfalls nicht denkbar. Das ist bei jedem Menschen so, und das macht die Welt aus. Die Wirklichkeit, das sind die Bilder, die Vorstellung, die Fantasien. Grundsätzlich ist das ja weder gut noch schlecht, entscheidend ist, wie damit umgegangen wird. Dass du ganz anders damit umgehen kannst als bislang, weiß ich. Wenn ich das jetzt alles aufzählen würde, käme es fast einer Liebeserklärung gleich. Vielleicht habe ich vieles an dir gesehen, was dir selbst verborgen blieb. Ich hatte sicher ein ganz anderes Bild von dir als du selbst. Dein altes Selbstbild war nicht nur wertlos, es hat dir auch geschadet, indem du dich gegen vieles gesperrt hast, was dir gut getan hätte. Wenn du zugelassen hättest, zu empfinden, was dir eine Beziehung bedeutet, hättest du dir deine Tränen sicher erklären können. Mir tut es im Nachhinein noch gut, zu erfahren, dass ich dir unbewusst doch so viel bedeutet habe.“ versuchte ich ihm zu erklären. Hagen lächelte, und meinte, er müsse sich jeden Tag mit mir unterhalten können, dann würde er sich bestimmt bald wieder sicher fühlen und einen neuen Weg gefunden haben. Ich wollte ihm zwei Bücher von mir schicken, aus denen ihm vieles darüber klar werden würde, was seine Identität sei, wie sie sich entwickle und welche Bedeutungen und Auswirkungen sie habe. Er würde sie wahrscheinlich nicht als einfach empfinden, aber wenn er sich da durchgeackert habe, würde er sich bestimmt hinterher wieder einen Kick schlauer fühlen als alle anderen. Wir lächelten uns zu. Ich bot ihm an, mich jederzeit anrufen zu können, wenn er irgendwelche Probleme habe. Zum Abschied schaute er mich sanft und verliebt an, als wenn er nichts lieber gehabt hätte, als dass ich wieder zu ihm zurückkommen würde, aber so etwas war nicht mal mehr fantasierbar, da es dazu ja der Vorstellungsmöglichkeit zweier Personen bedarf, was bei mir aber nicht mehr gegeben war.


Antigone stirbt nicht so schnell


Vor viereinhalb Jahren hatte sich ein ganz sonderbarer Zufall ereignet. Nach der Aufführung der Antigone von Sophokles bestand noch die Möglichkeit zu einem kurzen Gespräch mit der Regisseurin und einigen Schauspielern. Ich un­terhielt mich noch angeregt mit der Regisseurin, als alle anderen bereits gin­gen. Wir könnten uns ja nebenan in der Gaststätte weiter unterhalten, schlug Frau Sander, die Regisseurin, vor. Antigone war schnell abgearbeitet, und wir unterhielten uns über unsere Lebenswege, wobei wir alle Themen dieser Welt streiften. Es war nicht nur interessant sich auszutauschen, wir stellten auch viele Gemeinsamkeiten in unseren Sichtweisen und Überzeugungen fest, vor allem aber wurde es immer lustiger. Wir hatten uns zwar gerade erst kennen­gelernt, aber unser Umgang miteinander entsprach eher dem von seit Jahren verbrüderten Kneipenfreundinnen. Natürlich redeten wir uns längst mit Vorna­men an, und gerade als Nina darüber sprach, wie unerklärlich für sie ihr Ver­halten gewesen sei, als ihr Freund sie verlassen habe, sollte die Kneipe ge­schlossen werden.


Bei Nina zu Hause


„Miriam, ich seh' dir an, dass du noch unbedingt einen ganz leckeren Rotwein brauchst.“ klärte Nina mich auf, obwohl wir schon weit mehr als genug davon durch unsere Kehlen den Verdauungsorganen zugeführt hatten, „Ich habe nämlich so etwas bei mir zu Hause. Sitzen kann man da auch, sogar ganz be­quem, und vielleicht finden wir ja auch noch etwas genießbares zum Essen. Dein Mann ist sicher froh, wenn du ihn so wenig wie möglich belästigst.“ Wir waren schon so weit, dass wir bei fast jedem Satz lachen mussten. Der Taxi­fahrer schien sich über die zwei besoffenen Hühner zu amüsieren. Das hielt uns aber keineswegs davon ab, bei Nina leckere Rotweine auszusuchen, und neben dem unverzichtbaren Spiegeleierbraten, und albernsten Gesprächen eif­rig davon zu kosten. Wir sprachen schon noch über ernsthafte Themen, aber meistens so, dass es in unserem Zustand ständig etwas zu lachen gab. „Den Traum von der großen ekstatischen Liebe mit allem Tingel-Tangel habe ich sel­ber nie gehabt. Wie Aschenputtel hab ich mich nie gefühlt, ich brauchte keinen Prinzen, ich war der König.“ posaunte Nina über ihr persönliches Verhältnis zur Liebe, und wir lagen uns wieder lachend in den Armen. Worüber wir zuletzt noch gesprochen haben, hat die Alkoholbarrieren vor meinen Gedächtniszen­tren nicht mehr überwunden. Als es gar nicht mehr ging, haben wir uns aufs Bett fallen lassen, und sind eingeschlafen.

Am darauf folgenden Morgen wurde ich zwischen zehn und elf Uhr wach, nicht lebensfähig auf einer Folterbank. „Nina, ich muss sterben. Bete für meine so früh dahingeschiedene Seele. Ist bestimmt noch ganz voll Alkohol, wie alles unter meiner Schädeldecke. Nina ich brauche zwei Aspirin. Ich war noch nie so besoffen.“ jammerte ich in die Wohnung. Nina lachte sich halb tot, und brachte mir Aspirin und Wasser. Sie hatte auch einen Kater, aber wohl erträglicher als ich. Welch eine kuriose Situation. Vor wenigen Stunden kannten wir uns noch gar nicht. Jetzt saß ich mit meinem Abendkleid von gestern auf Ninas Bett, und sie saß vor mir und reichte mir die Tabletten und das Wasser. Ungewohnt fand ich es aber überhaupt nicht. Ich fühlte mich vertraut, wie zu Hause. Alles kam mir selbstverständlich vor. Wir wollten später beide zum Theater fahren. Unse­re Autos standen da noch, und Nina wollte noch einiges erledigen.


Miriam bleib noch


Durch diese ASS waren die hämmernden und meißelnden Gesellen von ihren Arbeitsplätzen in meinem Kopf vertrieben worden, und ließen meine Gedanken, Empfindungen und Vorstellungen wieder ungehemmt agieren. Wir redeten schon wieder so intensiv miteinander, als ob jede ein dringendes Verlangen verspürte, die andere alles von sich wissen zu lassen, und ihre Sichtweise und Einschätzung dazu zu erfahren. Diesmal ging's auch ohne Wein, und zu lachen hatten wir trotzdem. Wir besprachen so vieles Persönliche, mit ausgedehnten Hintergründen und erläuternden Zusatzgebieten, dass es mir vorkam wie eine Geschichte zum Leben von zwei Menschen, die nie enden würde. Plötzlich kam Nina auf die Idee, ich solle doch noch bleiben. Was sie zu erledigen habe könne sie auch morgen machen, da sei sie sowieso den ganzen Tag im Haus. Meine Bemerkung, dass ich ja nichts bei mir habe, außer den Sachen, die ich gestern Abend im Theater getragen hätte, ließ sie als Argument, um nach Hause zu fahren nicht gelten. „Du bist genauso groß wie ich, genauso dick, wie ich, und dass meine Haare länger sind als deine, stört ja nicht dabei, wenn du etwas von meinen Klamotten anziehst.“ meinte Nina. Also gab's zunächst mal Moden­schau mit großem Amüsement und Lacheinlagen. Anschließend legte ich mich in die Wanne, und sann darüber nach, was sich für mich zugetragen hatte und gerade abspielte. Konnte ich in einer gemeinsam durchsoffenen Nacht so etwas wie eine 'allerbeste Freundin' gefunden haben. Ich hatte gute Freundinnen ge­habt, aber eine dem Bild einer Freundin mit übermäßig hoher Übereinstim­mung entsprechende, der man alles mitteilen kann, die das vollste Vertrauen genießt, war mir bislang versagt geblieben. Ein Bedürfnis war es mir aber auch nicht gewesen. Bei Nina und mir schien es sich aber so zu entwickeln, oder schon entwickelt zu haben, ganz schnell und völlig unbeabsichtigt. Dass ich morgen wieder nach Hause fahren würde, und dann nichts mehr mit ihr zu tun hätte, war unvorstellbar. Dass unsere weitere Beziehung nur aus einigen Tele­fonaten bestehen sollte, konnte ich mir auch nicht denken. Was würde sich aus uns beiden ergeben? Ich hatte keinen Plan, keine Muster, so etwas hatte ich bislang noch nicht erlebt. In Ninas Jeans und Pullover gefiel ich mir gut. Nina begutachtete mich, und platzierte noch eine kleine Brosche an der rechten Sei­te über meiner Brust nahe am Kragen. Mit „Dir stehen meine Klamotten viel besser als mir.“ quittierte sie lachend die Begutachtung meiner Erscheinung.


Ninas Verunsicherung


Dass Nina auch bei all ihrem selbstsicheren Auftreten und ihrer keinesfalls ge­spielten Fröhlichkeit, Einsamkeit und eine gewisse Art Traurigkeit, in sich emp­fand, blieb mir nicht verborgen. Nicht weil sie allein lebte und zur Zeit keine Beziehung hatte. Ihre Reaktion, als ihr Freund sie nach vier gemeinsamen Jah­ren verließ, hatte sie in starke Selbstzweifel geführt. Die große Liebe war ihr Beruf. Kaum ein Drama kam ohne sie als Haupt- oder Nebenthema aus, und bei ihrem Studium in Theaterwissenschaften, hatte die Beziehungsebene zwi­schen den Menschen immer eine Hauptrolle gespielt. Über Liebe hätte sie gan­ze Opernwochen singen können, für sich selbst aber hatte sie Erklärungsnöte. Sie war sehr selbstbewusst aufgewachsen, und war ihrem älteren Bruder ge­genüber immer die Burschikosere, die Willens- und Durchsetzungsstärkere ge­wesen. Ihren Eltern hatte das gefallen, mehr als das zurückhaltend sensible Wesen ihres Bruders. Benachteiligungen weil sie ein Mädchen war, und eine Frau werden würde? Für Nina konnte es das nicht geben, da würde sie schon für sorgen. Mit dem süßen niedlich verträumten Schmusemädchen wollte sie nichts zu tun haben, Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertochter vermittelten ihr schon eher Bilder, denen sie sich nahe fühlte. Von dem wunderschönen großen Alleskönner, der so gnädig war, sie in seine Arme zu nehmen, hatte sie nie geträumt. Das hielt sie für Schmus, für nicht real. Mädchen und Frauen, die so etwas glaubten, hielt sie für unselbständig, für Menschen, die freiwillig Ab­hängigkeit suchten. Freundschaft zu netten Menschen und Sex wollte sie auch, aber nicht diese liebesversponnenen Abhängigkeiten mit all ihren Konflikten. Im Grunde hatte sie später immer wieder in neuen Erklärungsmustern Bestäti­gungen für diese kindlichen und jugendlichen Positionen gesucht. Die große Liebe in ihrem heutigen Verständnis sei ein Produkt des Bürgertums, bei der Beziehungs- und sonstige Sehnsüchte mit sexuellen Begierden zu einem un­heilvollen ekstatischen Konglomerat verschmolzen seien. Verzückungen und Ekstasen hätte man auch, wenn man meinte, mit der Gottesmutter zu spre­chen. Das könne man auch bleiben lassen, und sei kulturspezifisch bedingt. Genauso sei das, was man heute als große Liebe lobpreise, die jede und jeder brauche, ein kulturspezifisches Produkt, das sie nicht brauche, da es ihrer An­sicht auf Imaginationen beruhe, die mehr Probleme als Erfüllungen versprä­chen. Vor allem war es ihr wichtig, sich durch derartige Gefühle nicht in ihrer Selbständigkeit und Unabhängigkeit beeinflussen zu lassen. Bei der Trennung von einem Partner wollte sie immer empfinden können: „Schade, war schön, aber dann ist es eben so.“ mehr nicht. Dass es zu etwas anderem kommen konnte, zu großen Sehnsüchten und berauschenden Versprechen, das hatte sie immer verhindert. Als ihr Partner ihr erklärte, es sei alles wunderschön gewe­sen, aber er habe sich in eine andere Frau verliebt, was er nicht ändern könne, habe sie gedacht: „Wenn er so verrückt ist und das glaubt, soll er schnell ge­hen. Ich hatte ihn für vernünftiger gehalten.“ Solange er noch anwesend war, hätte sie keine Probleme gehabt, aber am zweiten Tag, nachdem er ausgezo­gen war, habe sie sich ratlos in der Wohnung stehen sehen. Sie sei sich vorge­kommen, als ob sie mit offenem Mund da gestanden habe, und nicht wisse, was sie tun solle. Als ob ein Leben ohne Dirk, ihren Freund, gar nicht möglich sei. Es war zwar schön, wenn Dirk da war, aber sie führte ihr eigenes Leben. Ihre Bestätigung bezog sie aus ihrer Arbeit und ihrem eigenen Selbstwertemp­finden, aber nicht aus ihrer Beziehung zu Dirk. Es konnte nicht sein, dass sie jetzt ratlos herumstand und nicht wusste, was sie machen sollte. Dass es aber so war, und sich nicht abstreiten ließ, verwirrte sie zusätzlich. Natürlich hätte Nina es lieber anders gehabt, wie sie auch bei früheren Beziehungen empfun­den zu haben glaubte, aber mit Dirk verhielt es sich ganz offensichtlich anders. Seine Nichtanwesenheit vermittelte ihr das Gefühl eines großen Hohlraums, ei­ner Leere, die er ausgefüllt hatte. Hatte er auch ohne große Liebes- und Treue­erklärungen etwas in ihr bewirkt, das sie eigentlich verhindern wollte? Was war es, wodurch war es entstanden, hatte sie es eventuell sogar selbst gesucht. Ihr Bild von sich selbst konnte so keine Gültigkeit mehr haben. Sie meinte alles über Beziehungen der Menschen untereinander, ihre Bedeutung und ihre Wert­schätzung zu wissen. Sie konnte erläutern, wie sich Wüsche und Bedürfnisse produzierten. Jetzt versuchte sie es verstärkt auf sich selbst zu beziehen, und die ganze Ansicht über ihre Sozialisation kritisch zu hinterfragen. Das hatte arge Zweifel an der Sicherheit ihres Selbstbildes zur Folge. Liebe war für sie heute ein vielschichtiger unspezifischer Begriff, unter den man allerdings auch für den einzelnen sehr bedeutsame Aspekte persönlicher Beziehung subsumie­ren konnte. Und da gab es auch für sie einiges, was sie nach geänderter Sicht­weise für sich suchte und sich wünschte. Wenn man es Liebe nennen wollte. D'accord, aber es war ihre Liebe, Ninas Liebe, und nicht die Liebe, wie man sie allumfassend allgemeingültig zu deklarieren versuchte, das war eine Chimäre. Nina hatte wieder zu sich gefunden, aber wie sie weiterhin konkret damit um­gehen sollte und würde, und wie anders sich ihre Erfahrungen zu gestalten hätten, war ihr noch völlig unklar.


Ninas Talk


Es faszinierte mich, Nina zuzuhören. Nicht nur, weil viele ihrer Gedanken, Vor­stellungen und Erlebnisse, mich selber zum Nachdenken anregten, auch die gesamte Art ihrer Darstellungen glichen kleinen Inszenierungen. Wie sie es sprach, und wie sich das was sie vermitteln wollte textual in ihr komponierte. Als sie über ihre Begegnung mit feministischen Ideen während des Studiums sprach, hörte sich das so an: „Mir war schon klar, warum die meisten Regis­seure, die meisten Dirigenten, alle die etwas Leiten und Vorsitze führen, Män­ner sind. Dass es sich ändert, war auch mein zentrales Anliegen, aber meine Identität, wie ich fühlte, wie ich empfand, worin meine Lust bestand, das wollte ich nicht ändern. Sollte ich mir etwas verbieten, weil es zur weiblichen Identi­tät in einer patriarchalen Gesellschaft gehörte? Sollte ich mir eine andere künstliche korrekte Identität zulegen? Wie sollte die denn aussehen, konnte es die denn überhaupt geben? Würde mich eine männliche Rolle aus der Gemein­schaft der benachteiligen Frauen befreien? Sollte ich mir die Haare abschnei­den, weil das sonst so typisch für eine Susi war? So ein Unsinn. Es gibt keine falsche Identität im Gegensatz zu einer richtigen. Es gibt meine subjektive Identität, die sich verändern kann und wird, aber mich zu Veränderungen zwingen, obwohl ich sie nicht mag, lasse ich mich nicht. Vielleicht machte es den Frauen im Matriarchat ja noch viel mehr Spaß, den Wind mit ihren langen Haare spielen zu lassen als mir.“ Ich hatte nicht nur verstanden, was Nina da­mals über welche feministischen Vorstellungen dachte, sie hatte mir nicht nur gezeigt, wie sie sich damals wahrnahm, ich hatte auch viel von der Nina heute gesehen. Ich liebte es, Nina gefiel mir außerordentlich. Sie gefiel mir auch, wenn sie über ihre Probleme klagte. Wir konnten gemeinsam darüber wehkla­gen, wie wenig Anerkennung allen am Theater Beteiligten zuteil wurde, wie ge­ring eine breite Resonanz sei, und der Starkult dem Theater insgesamt schade. Wenn wir beide Theater machen könnten wie wir wollten, es würde wahr­scheinlich alles geschehen, worüber wir uns selbst totlachen könnten. So sah es zumindest bei der gemeinsamen Entwicklung unserer Phantasmen aus. Wir gingen früh zu Bett und wollten uns dort bei einem Glas Wein noch weiter un­terhalten.


Sanfte Berührungen


Wir sprachen über unsere Wahrnehmung von anderen Frauen, und konstatier­ten, dass wir uns lieber Frauen anschauten, weil sie objektiv einfach auf einer ästhetisch höheren Stufe anzusiedeln seien als Männer. Auch erotisch besäßen Frauen in der Regel eine höhere Ausstrahlung, bei Männern spüre man die erst, wenn man sie anfasse. Sexuell erregend konnte der Anblick anderer Frau­en aber nicht wirken. Was gleichgeschlechtliche Paare animierte und was sie empfanden, blieb uns verschlossen. Dann tauschten wir uns darüber aus, was uns bei Zärtlichkeiten, Schmusen und Sex besonders gut gefiel, und als Nina meinte, sie habe es immer sehr schön und zärtlich empfunden, wenn Dirk ihr Gesicht ganz sanft mit seinen Fingern befühlt habe, meinte ich: „Das würde ich auch gerne tun.“ Was ich gesagt hatte, war mir selbst nicht ganz klar. Ich woll­te ja nicht der Mann sein, der Nina zärtlich verwöhnt. Ich hatte für mich das Bedürfnis sie zu berühren. Wir hatten uns zwar schon häufig berührt, zum Bei­spiel, wenn wir uns gegenseitig um den Hals gefallen waren, oder bei anderen Gelegenheiten an Rücken oder Schulter, der Körper der anderen galt keines­wegs als untouchable, aber Ninas Gesicht tastend zu erfahren, war mir ein Be­dürfnis, weil so unsere Beziehung auf einer Ebene noch tiefer erlebbar sei. Wir schauten uns an, grinsten und Nina reckte mir auffordernd ihr Gesicht hin. Meine drei mittleren Finger bewegten sich zunächst zögerlich über ihre Stirn. Mit dem Mittelfinger zeichnete ich sanft ihre Augenbrauen nach, und tastete mich weiter bis zu ihren wohlig lächelnden Lippen. Ich erlebte Ninas Gesicht nicht nur näher als je zuvor, ich meinte auch vieles von ihr selbst zu spüren, von der Persönlichkeit dieser wundervollen Frau. Nina schien es einfach zu ge­nießen. Sie strahlte wonnig und führte meine Hand zu ihrem Hals. Als ich sie an den Schultern und dazwischen streichelte, zog sie die Bettdecke bis über ihre Brüste runter. Einerseits verunsicherte es mich, aber andererseits genoss ich es, ihre Brüste anzufühlen und zu streicheln. Nina strahlte immer weiter. Wir schauten uns fragend an. „Das war schön, nicht wahr?“ Nina nickte zu meiner Frage, und wollte wissen, „Für dich auch.“ Wir unterhielten uns darüber, dass das ja mit Sexualität originär nichts zu tun habe. Streicheln und Gestreichelt werden empfinde man einfach als schön, sei ein Zeichen von besonderer Nähe und Zuneigung. Man liebte es ja sogar, seine Katze zu streicheln. Darauf erfuhr ich Ninas Streichelkünste. Es war schon ein sonderbares Erlebnis von einer anderen Frau gestreichelt zu werden, auch wenn es Nina war. Trotzdem empfand ich es herrlich. Ihre Finger glitten nicht nur äußerst sanft und zartfühlend über meine Haut, wie ich es noch nie erlebt hatte, sie gaben mir auch das Gefühl, das Nina mich tief mochte und ich ihr kostbar war. Ihre Finger tasteten nach mir wie nach einem Diamanten von unsäglichem Wert. Wir versuchten uns noch unsere Beziehung und was sie für jede von uns bedeute zu erklären, wurden aber wegen der vorangegangenen Nacht bald müde, und gaben uns einen Gute-Nacht-Kuss, ungewöhnlich zärtlich und ungewöhnlich lang. Wir schauten uns noch einmal an, und legten uns schlafen.


The Mirakle


In der Nacht räkelte sich Nina und wurde wach. Ich war durch ihre Aktivitäten auch aufgewacht, und schlaftrunken erklärte Nina: „Ich habe etwas Komisches geträumt. Bist du noch da Miriam? Komm ganz nah zu mir, bitte.“ Wir umarm­ten uns, und drückten unsere Körper aneinander. „Du musst bei mir bleiben, liebe Miriam, versprich es mir.“ forderte sie mich auf. Ob sie dabei mehr im Traum oder Wachsein sprach, konnte ich nicht entziffern. „Ich bin doch hier bei dir, ganz nah, ich kann alles von dir spüren.“ versuchte ich sie zu beruhigen. Nina presste mich noch enger an sich. Wir spürten gegenseitig die Wärme der anderen überall an unseren Körpern. Wir begannen uns in diesem Zustand leicht zu bewegen, und während sich unsere Brüste leicht drückend gegenseitig massierten, kitzelte Ninas Schamhaar meine Venus. Wir rieben uns stärker an­einander, und ich merkte, wie wir beide begannen, immer intensiver zu atmen. Jede hatte ein Bein zwischen die Beine der anderen geschoben, und unsere Hände griffen nach allem was in ihrer Reichweite lag. „Soll ich das Licht an ma­chen?“ fragte Nina zwischendurch. „Nein, ja, ich weiß nicht, vielleicht.“ lautete das Ergebnis meines Quick-Brainstormings. Nina reichte das für eine Entschei­dungsfindung. Die kurze Unterbrechung durch's Lichtanzünden, konnte die Lust an der Fortführung unserer Aktivitäten aber keineswegs beeinflussen. Wir wur­den immer heftiger und intensiver, bis wir beide erlöst ausatmend unsere ver­schwitzten, miteinander verflochtenen Körper trennten. Erstaunt und völlig verwirrt erschlafft auf dem Rücken nebeneinander liegend waren wir glücklich. „Was war das denn?“ schauten wir uns fragend an. Keine hatte das gewollt, ja hätte es überhaupt für möglich gehalten. Mir war es gar nicht wie Sex vorge­kommen, obwohl es das ja ganz offensichtlich war. Ich empfand es ehr wie eine außerordentlich enge tiefe Begegnung zwischen uns beiden, die unser bei­der Beziehung entsprach. So hatte ich Sex noch nie erfahren. Sonst war es im­mer die Lust, sich erregen zu lassen, zu Ficken und einen Orgasmus zu erle­ben. Derartige Lustvorstellungen hatten jetzt gar nicht existiert. Nachdem wir unsere Körper spürten, und es angenehm fanden sie aneinander zu reiben, be­kam ich einfach Lust auf Nina, was genau, ich wusste nicht, ich wollte einfach alles von ihr. Ich war gierig auf Nina insgesamt. Eine sonderbare Form von sexueller Lust, aber wie rein sexuelle Lust kam es mir auch gar nicht vor, die Frau, die ich mich so massiv berührte, mit der mich in der kurzen Zeit so vieles tief verbunden hatte, die wollte ich jetzt körperlich auch voll erleben, zu einem Teil von mir werden lassen.


Nach der Tat


An Schlafen war natürlich nicht mehr zu denken. Trotz sexueller Entspannung hatte uns das Ereignis beide tief aufgewühlt. Erst mal holte Nina mitten in der Nacht noch noch frischen Wein. Wir saßen auf dem Bett, und Nina berichtete dass sie manchmal Angstträume mit Verlustängsten habe. Ein Geschenk von Dirk zum Auszug. Trotz ihrer geänderten Einstellung verschwänden sie nicht. Sie wisse gar nicht mehr, was sie genau geträumt habe, aber da ich Geliebte gerade anwesend gewesen sei, habe sie bei mir Schutz und Sicherheit suchen wollen. Als sie meinen Körper so weich und warm gespürt habe, sei alles wie von selbst weitergelaufen, wie sonst eben auch. Du willst immer mehr bis zur Erlösung. Das ich, Miriam, es gewesen sei, hätte es sie empfinden lassen, als ob sie mit der Sonne vögele. Genussvoll schön war es für uns beide gewesen. Das was wir vorher beide für unmöglich gehalten hatten. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte ja gar nicht gewusst, wie so etwas ging, was ich da zu tun haben würde. So ein Firlefanz. Wenn du dich erregst und deine Freundin auch erregen willst, tue einfach dass, wozu es dich drängt. Bei uns hatte es sich jedenfalls so abgespielt, und zwar ohne jedes Wissen, erfolgreich. Würden wir das jetzt auch absichtlich wollen und wiederholen, oder würde es bei die­sem einen ungewöhnlichen Ereignis bleiben. War das grundsätzlich für jede Frau möglich, auch wenn sie sich gar nicht durch andere Frauen angesprochen fühlte. War die Tiefe der gegenseitigen Beziehung ausschlaggebend. Wir hatten gemeint, das sei unsere grundsätzliche genetische sexuelle Festlegung: hetero, mit einer anderen Frau geht nicht. Möglicherweise war das aber auch mehr eine gesellschaftliche Festlegung, die man gern bereit war schnell für sich zu übernehmen, wenn man einmal befriedigend mit einem Jungen gefickt hatte. Für alles andere wurden die Tore geschlossen. Vielleicht waren wir ja durch un­sere Beziehung so sicher und frei, dass wir sie ohne Ängste offen stehen lassen konnten, nicht in der Sprache, wohl aber im Verhalten. Wenn wir Lust aufein­ander bekamen, lebten wir sie aus, gleichgültig, ob wir vorher erklärt hatten, dass es nicht möglich sein könne.

Wir waren durch unsere Praxis schon wieder ein Stückchen schlauer geworden, auf die Frage, wie wir denn weiter damit umgehen sollten, fehlte uns aber jede Antwort. Sicher war für mich nur, dass ich diesem Gequäle mit Hagen sofort ein Ende setzen würde. Ich brauchte nur ganz schnell eine andere Wohnung, aber wie sollte ich die bezahlen. Ich hatte ja keinerlei Unterhaltsansprüche. Nina meinte, wenn ich nicht allzu viele Möbel mitbringen wolle, könne ich ja vorübergehend bei ihr wohnen. Vor allem brauche ich aber wieder Arbeit. Von der Künstlersozialkasse oder Hartz IV wolle ich ja wohl nicht leben. Auch wenn alles ganz traurig ausschaute, war ich glücklich, ein neues Leben beginnen zu können. Auch wenn keine wusste, wie sich was weiterentwickeln würde, das wir beiden, die sich seit knapp vierzig Stunden kannten, uns wieder aus den Augen verlieren könnten, hielten wir für unmöglich.

Der Kavalier Hagen war so generös, dass er mir, ohne dass ich irgendetwas er­wähnt hatte, und ohne das ich den geringsten Anspruch hatte, stillschweigend monatlich eine beträchtliche Summe überwies, von der ich gut leben konnte. Natürlich wollte ich mir eine neue Wohnung besorgen, aber Nina musste ja et­was zu essen haben, wenn sie nach Hause kam, und Einkaufen, Müll runter bringen und Derartiges konnte sie bei ihrem stressigen Beruf doch nicht alleine machen. Sie brauchte doch eine Hausangestellte, und die lebte als Concierge eben bei ihr mit in der Wohnung. Völliger Unsinn natürlich. Die Wahrheit be­stand darin, dass es für uns unhinterfragt immer selbstverständlicher wurde, dass wir zusammenwohnen wollten. Getrennte Wohnungen? Ausgeschlossen. Wir wollten uns beide einfach ständig. Wenn Nina abends eine Aufführung hat­te, war ich immer mit dabei, und auch tagsüber bei den Proben besuchte ich sie öfter. Die Massenwaren an Lebensmitteln und die Getränke schleppte ich zwar meistens allein heran, aber ansonsten liebten wir es, gemeinsam einkau­fen zu gehen. Was wir zu zweit machen konnten, praktizierten wir auch so, und über's Müll runterbringen stritten wir uns, wie in einer WG, nur hauptsäch­lich aus Spaß am Lächerlichen. Nach Aufführungen mussten wir meistens we­nigstens noch kurz in die Theaterkneipe, in der wir uns dann als Erinnerung dann unser Kennenlernen zunächst scherzhaft als Frau Kühn und Frau Sander anredeten. Wir küssten und streichelten uns auch öffentlich, und die wenigsten Probleme dieser Welt, schienen Ninas Kolleginnen vom Theater damit zu ha­ben. Sie meinte sogar, dass zu mehreren die Beziehung dadurch besser gewor­den sei. Tina, eine Schauspielerin, kam uns häufig besuchen und besprach ihre Beziehungsprobleme mit uns. Sie hatte ständig Probleme mit Männern, und häufig wechselnde Partner. Sie meinte, dass sie vielleicht zu einem Mann gar keine richtige tiefe Beziehung eingehen könne, eventuell sei das zu einer Frau für sie auch eher möglich. Sie wisse nur überhaupt nicht, was sie dazu tun sol­le, um das zu erfahren. Wir rieten ihr ab, probeweise mit einer anderen Frau ins Bett zu gehen, um das zu erfahren. Umgekehrt sei der Weg, eine außerge­wöhnlich tiefe Beziehung erleben, die dann auch nach gemeinsamer sexueller Erfahrung verlange. So habe es sich zumindest bei uns entwickelt. Wir hätten festgestellt, dass wir schon stark verliebt ineinander waren, als wir noch mein­ten, sexuell ginge das gar nicht mit uns.

Wir beide waren sicher, eine derartig erfüllende Beziehung noch nie erlebt zu haben, ob es daran lag, dass wir derartiges nur mit einer anderen Frau erleben konnten, war uns wurscht. Wir genossen ein­fach das Leben, wie es sich uns bot, und fanden es wundervoll. Ob mich auch noch mal ein anderer Mann rei­zen könnte. Welch abstruse Frage, was sollte ich mit einem Mann, wenn ich mit einer Frau glücklicher war, als je zuvor in mei­nem Leben? Was könnte er mir versprechen, das ich nicht schon längst viel besser hatte. Ich liebte mein Leben, und das hieß mein Leben mit Nina.


Misha die Genderforscherin


Besonders liebte ich aber auch ihre kleine Nichte Misha, die Nina häufig und gern besuchen kam. Sie war ein aufgeweckter Fratz, obwohl man ja so eigent­lich nicht von einer kleinen Frau denken sollte, war neun Jahre alt, und eine große Tragödin, wenn sie eine ihrer ungeheuerlichen Geschichten erzählte. Sie wollte natürlich auch wissen, ob wir beide ineinander verliebt seien, und ob Nina jetzt lesbisch sei. Wir versuchten ihr zu erklären, dass unser Leben ganz normal sei, warum das so sei, und das die Bezeichnung lesbisch frauendiskri­minierend verwendet werde. Gar nicht so einfach, das einer neunjährigen ver­ständlich klar zu machen. Aber Misha war mächtig interessiert, als ob sich für sie ganz wichtige neue Welten auftäten. Mit hochrotem Kopf fragte sie immer weiter nach, und brachte uns dazu, ihr Dinge erklären zu müssen, von denen wir meinten, dass man sie in ihrem Alter noch gar nicht verstehen könne. „Wenn ich also sage, so das, und das, und das, das ist Misha, dann bin ich das gar nicht selbst, sondern dann sage ich etwas, das ich irgendwo mal mitbe­kommen habe, und auf mich anwende, weil's mir aus irgend einem Grund, der auch nicht von mir selber kommt, gut gefällt. Ist schon klar, etwas anderes kann ich ja auch nicht sagen, als was ich irgendwie mitbekommen habe. Ich kann ja auch keine Wörter sprechen, die ich nicht irgendwo gelernt habe. Aber komisch ist das ja schon. Wer bin ich denn dann eigentlich wirklich? Wie kann ich das denn erfahren. Da muss ich, glaube ich, noch viel drüber nachdenken.“ Dann ging es aber immer noch weiter und tiefer, bis Misha schließlich mit neun Jahren den unumstößlichen Beschluss fasste, später einmal Genderforscherin zu werden. Wir machten ihr klar, dass das Frauen wären, die absolut viel drauf hätten. Der Wunsch reiche da nicht aus, dazu müsse sie auch in vielen anderen Gebieten top fit sein.

Zwei Tage später kam sie wieder mit einem Paket von Unterlagen, die sie sich aus dem Internet ausgedruckt hatte. „Die versteh ich alle nicht. Außer dem Pa­pier über Gender, da habe ich das meiste verstanden, aber da hatten wir ja auch vorgestern schon drüber gesprochen. Nur was die Judith Butler eigentlich will, das verstehe ich auch nicht.“ Die anderen Papiere waren zum Identitäts­begriff, zum Poststrukturalismus, zur Dekonstruktion, zur Diskursanalyse, und weitere in ähnlichen Preislagen. Nina und ich schauten uns an. „Misha, was willst du denn alles für Dinge verstehen können. Das ist ja toll, aber ich glau­be, da musst du dir einiges für später aufbewahren. Ich glaube nicht, dass es bei euch in der Oberstufe viele Schüler gibt, die das alles verstehen. Ich selbst habe auch meine Schwierigkeiten.“ versuchte Nina ihr klar zu machen, dass sie sich dabei übernehme. „Ich will aber wissen, wer ich bin, und warum ich meine das zu sein, und auch was das für mich zu bedeuten hat.“ erklärte Misha fast trotzig ihren Rechtsanspruch postulierend. „Du bist meine heiß geliebte Misha, die tollste junge neunjährige Frau die ich kenne, das stimmt, und das bist du wirklich.“ reagierte Nina sie lachend in die Arme schließend, und Misha lachte auch, „Nein wir wollen ja helfen, es dir zu erklären. Soweit wir es selber über­haupt können. Aber was machst du damit, wenn du so komplizierte Dinge ver­standen hast?“ „Dann weiß ich Bescheid über mich, und das trifft dann ja auch für alle anderen zu. Dann hab ich den Überblick oder den Durchblick.“ antwor­tet sie. Also sollte Misha der Durchblick vermittelt werden. „Wie willst du das denn machen Nina? Bei der Butler muss ich auch bei jedem Wort nachdenken und bei jedem zweiten nachschlagen. Und dann einem neujährigen Mädchen, das ist doch unmöglich.“ meinte ich. Wie sollte das nur einer neunjährigen zu vermitteln sein. War es, wenn auch vereinfachend, anscheinend doch. Bis zum fortgeschrittenen Abend Judith Butler. Wegen ihr musste sie bei uns schlafen, und ich brachte sie morgens zur Schule. Ninas Schwägerin wusste nur, dass die doch eine bekannte Feministin sei. „Puh,“ meinte Misha abschließend, „toll, ich glaube, ich hab das ungefähr verstanden, aber leben kann ich so nicht. Ein Tisch wird für mich einfach ein Tisch sein, weil es einer ist. Wenn mich jemand fragt, warum das ein Tisch ist, kann ich's ihm aber, glaube ich, richtig erklären. Doch beim Tisch, ist das ja auch egal, aber wenn es um Jungen und Mädchen, um Männer und Frauen geht, dann macht es ja schon viel aus, wie man das sieht, und wie man versteht, warum man das so sieht. Warum es ganz normal sein muss, wenn man als Frau eine Frau liebt, ist mir jetzt noch viel, viel klarer geworden. Und ich liebe euch alle beide noch dazu.“ Nach der harten Arbeit brauchten wir erst mal einen Wein. Misha wollte am liebsten Cola, aber um 21:30 Uhr gab's nur noch Bionade. Was war das für ein Mädchen. Gerade auf's Gymnasium gekommen, fragt sie sich zäh kämpfend durch die schwierigsten Themen, fragt immer wieder nach, bis sie es wirklich verstanden hat, bis sie fundierte Antworten auf ihre Fragen gefunden hat. Oberflächliche Pauschalie­rungen akzeptiert sie nicht. Wie war ich in dem Alter? Im Vergleich mit ihr eine dumpfe Maus. Was würde aus Misha wohl einmal werden, wenn sie sich nicht irgendwo verlöre. Mir kam sie fast vor wie ein Wunderkind. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand anderes aus ihrer Klasse zu so etwas in der Lage sein sollte. Im Bett unterhielten Nina und ich uns noch über die phänomenale Misha, und Nina hätte sich das auch gar nicht vorstellen können. Sie habe sie immer als tolles Mädchen mit den großartig erzählten Geschichten gesehen und geliebt, jetzt habe sie regelrechte Hochachtung vor ihr bekommen. Um sie so erfahren zu können, war unsere Liebe der Anlass gewesen.


Misha bei uns


Misha war immer häufiger bei uns. Was wir ihr vermittelt hatten, und wie wir uns um sie bemüht hatten, bedeutete ihr wohl sehr viel. Wir waren die Kompe­tenzen, die mit ihr schwierigste Fragen offen klären konnten, die sie zu wichti­gen neuen Erkenntnissen bringen konnten, und weil wir sie liebten, ernst nah­men und bewunderten, liebte sie uns. Sie schien sich bei uns wohler zu fühlen als zu Hause. Dirks Zimmer war jetzt ihr Zimmer, weil sie auch immer häufiger bei uns übernachtete. Bevor sie kam, rief sie immer an und fragte, ob jemand zu Hause sei, später bekam sie einen eigenen Schlüssel. Wenn eine ihrer Freundinnen wissen wollte, ob wir lesbisch seien, bekamen sie eine energische ernsthafte Belehrung. Sie war nicht nur bei ihren Freundinnen hoch angesehen wegen ihrer absolut verblüffenden Kompetenz in Fragen zur Persönlichkeit und des eigenen Befindens, ihre Schulleistungen verbesserten sich auch insge­samt deutlich. Zu Anfang hatten ihre Noten im oberen Mittelfeld gelegen. Jetzt schi­en ihr das nicht mehr zu reichen. Sie arbeitete einfach insgesamt engagier­ter und gezielter. Alles was mit Gender, Identität und deren gesellschaftlichen Be­dingungen und Auswirkungen zu tun hatte, blieb aber stets privates Interes­sengebiet Nummer eins. Die Erkenntnis, dass sie ein Produkt ihrer sozialen und kulturellen Umgebung war, konnte man ja nicht einfach so auf sich beruhen lassen, das warf ja überall und in allen Zusammenhängen wieder neue Fragen auf. Das würde immer so bleiben, müsse so sein, und wäre auch gut so, mein­te Misha dazu.

Wir fanden es absolut interessant und erfrischend mit ihr, unserer jungen Freundin, unserer Tochter, unserer geliebten kleinen Frau. Als was sah sie uns? Als große Freundinnen, als ihre sichere Basis, als diejenigen, die ihr ein Nest bauten, und es für sie warm hielten? Als Tanten jedenfalls nicht, und das nicht nur weil Nina nicht so genannt werden wolle. Als wir Misha mal selber fragten, meinte sie, es gar nicht erklären zu können. Es gefalle ihr einfach saugut bei uns. Was sie auch sagen würde, als was sie uns ansähe, es stimme immer nicht. Es gebe eben keine Bespiele dafür. Wir seien einfach einmalig.


Schülertheater


Als wir mal auf Schülertheater zu sprechen kamen, und meinten, das müsse doch etwas für Misha sein, erklärte sie, dass es bei ihnen so etwas nicht gebe. „Wer soll das denn machen. Die Deutschlehrerinnen und -lehrer sind doch alles alte Muffel. Da muss man doch Lust und Spaß dran haben, das kann ich mir bei keinem von denen vorstellen.“ meinte Misha resignierend. Wir kamen auf die Idee, das man so etwas ja mal vom Theater aus unterstützen könne. Es sei gut zu begründen, warum sich das Theater um die Jugend kümmern müsse, und die Unterstützung einer Theater AG an einer Schule dazu ein geeignetes, Beispiel gebendes Mittel sei. Doch wie an die Schule kommen? Einfach die Chefin anrufen, die dann eventuell nicht wollte? So klappte es nicht. Mishas Mutter sollte sich am Elternsprechtag beim Deutschlehrer beschweren, dass es an ihrer Schule so etwas nicht gab. Alle guten und wichtigen Argumente, sowie Fangfragen wurden ihr eingetrichtert, so dass sie sich richtig stark fühlte, und Lust darauf hatte. Ein anderes Gegenargument als Lehrermangel war nicht denkbar. Da würde die Schwägerin vom Theater doch sicher gern unterstüt­zend aushelfen. Konnte er sich da noch ablehnend verhalten? Nachdem sich das dann tatsächlich so abgespielt hatte, rief einige Tage später die Chefin des Sophie Scholl Gymnasiums bei Nina an. Sie hätte gehört ..., und ob es tatsäch­lich zutreffend sei, dass …?“ Selbstverständlich gern, nur habe sie oft auch un­abkömmliche Verpflichtungen am Theater. Sie würde das Projekt zusammen mit ihrer Assistentin, einer regieerfahrenen Schauspielerin betreuen wollen. In der Schule wurden in einer Umfrage Theater-AG Interessierte gesucht. Die weitaus überwiegende Anzahl waren Schülerinnen und Schüler der Oberstufe. Warum? Einen schlüssigen Reim konnten wir uns darauf nicht bilden, nur Mut­maßungen äußern. Wir mussten etwas für und mit den jungen Frauen und Männern machen. Misha konnte leider nicht mitspielen.


Der zerbrochene Krug


Beim ersten Treffen waren Nina und ich gemeinsam anwesend. Wir tauschten unsere Vorstellungen aus, und ließen uns von den jungen Leuten erkläre, was sie motiviert habe. Die meisten hatten schon mal Schultheater von anderen Schulen gesehen, oder Interessantes davon gehört, und hatten Lust, es mal selber auszuprobieren. Ein junger Mann wollte später Schauspieler werden. Da war er ja bei einer Theaterwissenschaftlerin und Regisseurin und einer Schau­spielerin in der besten Schule. Einigen jungen Damen, lag der Wunsch sicher auch nicht ganz fern, sie äußerten ihn aber nicht. Wir stellten die Rahmen- und Zeitbedingungen vor und wollten beim nächsten Mal ein Stück auswählen. Der zerbrochen Krug wurde ausgewählt. Wir wollten das Stück in der Jetztzeit spie­len lassen, aber mit Kleists Sprache, bei der viele Begriffe und Bezeichnungen der heutigen Situation angepasst werden sollten. Das Regiment wird zu Bun­deswehr, Ostindien zu Afghanistan, der Dorfrichter zum Amtsrichter mit dem Evchen natürlich gefickt haben soll, und deshalb für ihren Freund statt Verlob­ten zur Nutte und nicht Meze wird. Zuerst mussten wir aber mächtig streichen, damit das Stück für die Schüler erlernbar und spielbar wurde. Jeder sollte sa­gen, welche Szenen er für das Spiel als essentiell ansehe. So hatte sich jeder schon einmal intensiv mit dem Stück befasst.

Ich hatte auch viel Arbeit die Gestaltungsübersicht zu behalten, und die AG-Sitzungen richtig wie Unterrichtsstunden vorzubereiten. Der Zeitplan musste eingehalten, und die Schüler bei Laune gehalten werden. Wir wollten so bald wie möglich mit den ersten Proben beginnen können. Aber davor stand ja noch das Casting. Wunderbar, nicht nur weil es oft etwas zu Lachen gab, sondern hauptsächlich wegen der ausführlichen intensiven Diskussionen darüber, was die Person in dem Stück zu verkörpern habe, und wie und wer dem wodurch am besten entsprechen könne. Die Schülerinnen und Schüler diskutierten so offen, ehrlich und engagiert, dass mir erst jetzt klar wurde, wie sehr sie sich mit der Theateraufführung identifizierten, und ich sie jetzt als ersthaftes ge­meinsames Team sah. Mühselig, aber mit viel Spaß kamen unsere Proben vor­an. Unser Verhältnis war inzwischen so gut, das ich mich nicht scheuen musste die Dar­stellung zu kritisieren, die Akteure erwarteten förmlich meine Verbesse­rungsvorschläge, um authentischer ihre Rolle verkörpern zu können. Als Nina, die natürlich immer von mir auf dem Laufenden gehalten wurde, mal vorbei kam, meinte sie „Toll, Miriam, klasse,“ und fügte dann korrigierend hinzu, „Es ist jammerschade, dass ihnen bislang noch nie die Möglichkeit geboten wurde, ihr Können unter Beweis zu stellen. Wenn sie das so zu Ende führen, und die Rah­menbedingungen halbwegs stimmen, ist ein Erfolg garantiert. Es gefällt mir wirklich ausgesprochen gut.“ Rahmenbedingungen hieß Kulissen und Kostüme. Der Bühnenbildner sollte einen schlichten kleinen Amtsgerichtssaal für die Aula der Schule besorgen, und bei den Kostümen musste geklärt werden, wo wel­ches Private passte, und was aus dem Theaterfundus besorgt werden musste. Riesige Anspannung vor der Generalprobe, trotzdem nur drei Versprecher, und das bei Kleist. Alle Achtung, tolle Kompanie! Die Premiere fand nur vor den Oberstufenschülern, der Schulleiterin und einigen Lehrkräften statt. Die Auf­führung wurde manchmal von Applaus auf offener Szene unterbrochen, und die johlenden Ovationen beim Schlussapplaus kannten keine Grenzen. Zur Ver­neigung auf der Bühne erschienen nicht nur die Akteure, sondern alle, die in der Theater-AG zum Gelingen der Aufführung beigetragen hatten. Die Chefin war überzeugt, das wollte sie für ihre Schule, nur bei ihnen wisse keiner, wie man so etwas hinbekommen könne. Nina solle doch mal Anleitungen für Lehrer durchführen. Wir hatten unser Vorgehen ja auch nur selbst gestrickt, hatten uns allerdings vorher ein wenig kundig gemacht, und dabei festgestellt, dass es eine breite vom Kultusministerium geförderte Schülertheaterbewegung, mit regelmäßigen Treffs und Seminaren gab. Nina verwies die Chefin darauf, und sie würde sicher dafür sorgen, dass einer ihrer Germanisten sich darum küm­merte. Das Stück könne selbstverständlich so vor allen Schülern aufgeführt werden, das sei ja Kunst, und es gebe sicher keinen Schüler an ihrer Schule, der diese Begriffe nicht kenne. In der ungeheuerlichen Anzahl von 50 Auffüh­rungen mussten die Schülerinnen und Schüler ihr Können an anderen Schulen, bei Vereinen und Organisationen präsentieren. Es hatte sich herumgesprochen, dass es mehr als billiges Laientheater war. Überall erhielten sie Anerkennung, manchmal auch Geld für eine imaginäre Theaterkasse. Einige der Schülerinnen und Schüler hatte die ganze AG völlig fasziniert. Ihr tollstes Erlebnis an der Schule sei es gewesen und habe sie völlig verändert. Sie sähen jetzt Filme ganz anders und gingen gespannt ins Theater. Aus dem einen Schüler, der Schauspieler werden wollte, waren mehrere geworden, die sich überlegten, ob sie nicht etwas aus den Bereichen, die mit Film oder Theater zu tun hatten, studieren sollten. Es hatte sie nicht nur mit Freude erfasst, sondern sie waren auch der Ansicht, außerordentlich viel gelernt zu haben, und es sei ihnen ein tieferer Zugang zu Welten erschlossen worden, die sie sonst nur oberflächlich gesehen hätten. Das war für uns die größte Anerkennung unserer Arbeit. Von außen erhielt Nina das Lob für ihre hervorragende Arbeit. Nur hatte ich die ja fast ganz allein gemacht, und mich hat außer Nina nie jemand dafür gestrei­chelt. Es störte mich aber nicht wirklich. Wir überlegten viel mehr, ob wir dar­aus nicht etwas anderes aufbauen könnten.


Kinder- und Jugendtheater Gruppe am Großen Haus


Wie wäre es denn, wenn wir am Theater selbst so etwas anbieten würden, das wäre doch zur Weckung von Interesse für's Theater noch viel effektiver. Wer da mit gemacht hat, wird doch sein Leben lang Theaterbesucher bleiben. Wir müssten dann nur zwei Gruppen anbieten, eine für die Kleineren, die Kinder, und eine für die Älteren, die Jugendlichen. Nina brauchte dazu aber eine Assis­tentin, und das war ich natürlich. So spannen wir vor uns hin. Nina sollte das mal mit dem Leiter des Hauses besprechen. „Der Jugend fehlt nicht das Inter­esse am Theater, es wird ihr nur nie nahe gebracht. Wir beklagen das fehlende Interesse, wissen was wir dagegen tun können, tun es aber nicht. Das ist wie Hinsetzen und warten, bis das Theater geschlossen wird.“ hatte Nina erklärt, als er ablehnend reagierte. „Wie Recht sie haben Frau Sander, das steht völlig außer Frage, trotz alledem müssen wir es finanzieren können, und das können wir ganz offensichtlich nicht.“ so der Chef „Dann muss die Stadt eben mal et­was dafür springen lassen.“ entgegnete Nina. Lautes Gelächter. „Die lachen sich ja tot, wenn ich komme, und sage, ich will mehr Geld für's Theater. Die wollen noch mehr solcher Witze von mir hören.“ erklärte ihr der Chef. „Thea­ter, Theater, das ist doch nicht für's Theater. Indirekt, langfristig und werbend schon, aber vorrangig geht’s doch um die Jugendlichen. Wer in einer AG am Theater mitarbeitet, wird wohl kaum auf dumme Gedanken kommen, andere kulturelle Werte werden ihm wichtig, die er so erst kennen lernen kann. Wer allein auf einer Bühne vor großem Publikum zu agieren gelernt hat, ist ein an­derer Mensch, das vergisst er nie wieder, selbst wenn er nicht mehr ins Thea­ter geht.“ korrigierte ihn Nina. Der Chef war von seiner pauschalen Ablehnung zum Nachdenken übergegangen, und fragte: „Sie meinen also etwas primär im Bereich Jugendkulturförderung Angesiedeltes. Ja ja, keine schlechte Idee. Da­für gibt es auch, soweit ich weiß, noch andere Töpfe, aber ich kenne mich da zu wenig aus. Hören sie sich doch auch mal um, wo sich da etwas machen lie­ße. Ich fände es ja fantastisch, wenn so etwas bei uns am Hause laufen könn­te. Nur wie gesagt, Finanzierung über den Theateretat, ohne jede Chance.“. Nina fühlte sich gar nicht enttäuscht nach dem Gespräch, sie hatte ja ein ganz positives Votum vom Chef bekommen, musste sich nur eben selbst um's Geld kümmern.


No Money


Wie sollten wir an Geld kommen? Hagen sollte es sponsern. „Nein, das ist gar keine schlechte Idee.“ meinte Nina, „Es gibt doch eine ganze Reihe Firmen, die das aus der Portokasse finanzieren könnten, und bestimmt auch tun würden, aber ich weiß gar nicht, wie an die ran zu kommen ist.“ Was man über diese Stadt wissen konnte, wusste Dirk. Er war seit langen Jahren Chefredakteur der Lokalredaktion. Er lebte allein. Sein Traum war nur von kurzer Dauer gewesen. Noch vor einem Jahr hatten er und seine Traumfrau sich wieder getrennt. „Dirk, ich wollte nicht mit dir darüber reden, ob wir's nicht doch noch mal ver­suchen sollten. Ich rufe an weil ich Geld brauche.“ erklärte ihm Nina. Nachdem Dirk ausgelacht hatte, verdeutlichte sie ihm die Situation. Dirk war völlig ange­tan von der Idee, und ließ sofort viele zusätzliche eigene sprudeln. Ein Treffen bei uns wurde ausgemacht, um einen pressegestützten Schlachtplan zu ent­werfen. 'Förderung der Kinder- und Jugendkultur eine der wichtigsten kulturel­len Aufgaben', unter dieser Devise sollte alles laufen. Das Theater will dem mit kompetentesten Fachkräften entgegen kommen, aber keiner bezahlt's, unhalt­bar. Alles rollte viel schneller als wir erwarteten, und nach nur zwei Monaten war ich schon Ninas Regieassistentin für den Kinder- und Jugendbereich. Ich hatte in meinem Leben nie mit Kindern oder Jugendlichen zu tun gehabt. Mit den Jugendlichen hatte es ja auf Anhieb sehr gut funktioniert. Und mit Kin­dern? Na ja, mit Misha kam ich ja wunderbar klar, die würde ja garantiert da­bei sein, und mir helfen können.


Die Dramen

Die Jugendlichen wollten unbedingt Romeo und Julia spielen. Wie sollten wir das nur hinbekommen? Wir verfuhren nach unserem bewährten Schulmuster und bekamen's hin, sogar hinreißend. Mit den Kleinen erfanden wir selbst ein Stück, in dem eine Gruppe von Kindern ausgerissen war, weil die Eltern immer unfreundlich zu ihnen waren. In ihrem selbstgewählten Exil gingen ihnen dann langsam die freundlichen und positiven Seiten der Eltern und die schönen Er­lebnisse mit ihnen auf. Unter der Bedingung, dass lieben und schimpfen nicht zusammen passten, kehrten sie erleichtert nach Hause zurück. Die Ideen der Kinder waren wundervoll. Ich schrieb ein Drehbuch daraus, und wir wählten während der Proben die Personen aus, und lernten die Texte durch Sprechen in der Praxis. Misha war natürlich Peer Leader, animierte die anderen durch ihre Ideen und Einfälle, und da sie auch natürliche theatralische Begabung hatte, bekam sie selbstverständlich die tragende Rolle, wozu sie allerdings auch eini­ges an Text lernen musste. 'Nie wieder nach Haus' sollte das Stück heißen und am gleichen Abend mit Romeo und Julia vor der Pause gegeben werden. Große Premiere vor ausverkauftem Haus, mit überschwänglichsten Lobeshymnen, so­wohl beim anschließenden Empfang, als auch in der Presse. Nina war eine große Regisseurin, die Kinder zu ungewöhnlichsten Leistungen führen konnte. Diesmal wurde ich allerdings auch öfter erwähnt. Sogar überregional fand un­sere Arbeit Anerkennung. Bezahlt wurde alles aus einem Sonderfond des Thea­ters, der aus mehreren unterschiedlichen Töpfen gespeist wurde. Finanzielle Probleme waren uns fremd. Meine Stelle als Regieassistentin wurde auch dar­aus finanziert.


Wir brauchen Urlaub


„Weißt du Nina, wenn du sonst keine Aufführung hattest, sind wir zum Beispiel gemeinsam bummelnd etwas einkaufen gegangen, haben im Café gesessen, uns das Abendbrot zubereitet, und anschließend am Abend bei einem Gas Wein miteinander geredet, oder manchmal auch gemeinsam Fernsehen geschaut. Dann fühlte ich mich wohl, dann war ich glücklich. Für mich war das unsere ge­lebte Liebe. Heute gibt es so etwas viel seltener, ja fast kaum noch. Ich bin nicht unglücklich mit dem, was ich tue, im Gegenteil. Ich mache es mit großer Freude und es gibt mir immer wieder neue Bestätigung, nur es kann das ande­re nicht ersetzen. Ich will das Glück, unsere Liebe zu erfahren, auch unbedingt nicht ersetzen lassen. Wir haben öfter zusammen Sex als früher, aber mir kommt es vor, als ob es eine Substitution für das sein sollte, was eigentlich fehlt, die Freude am gemeinsamen Leben miteinander.“ stellte ich Nina meine Auffassung dar. Wir gingen immer relativ früh ins Bett, was nicht besagte, das wir früh schliefen. Hier konnten wir einfach alles entspannt genießen. Lesen, Fernsehen schauen, und vor allem sich unterhalten, fand alles im Bett statt. „Miriam, wenn ich dich recht verstanden habe, bist du der Ansicht, dass wir uns langsam in Richtung Alltagsehe bewegen. Das will ich auch nicht, keines­falls. Die Gefühle in den Tagen als wir uns kennenlernten, werden wir nicht wieder zurückholen können, aber ich möchte so leben, dass ich immer daran erinnert werde, das das Gefühl wach bleibt. Das ist viel zu selten geworden, da gebe ich dir Recht. Das sehe ich auch so. Aus der Freude, miteinander leben zu können, ist eher eine Art Zufriedenheit mit der Situation geworden. Das ist nicht gut.“ bestätigte mich Nina in meiner Auffassung. Was sollten, mussten wir tun, um das zu ändern? Wie konnten wir da heraus kommen. Es war ja wahrscheinlich nicht nur eine Frage, die sich organisatorisch lösen ließ, indem wir zum Beispiel versuchten, mehr Zeit miteinander zu verbringen, es hing wohl auch mit Einstellungen, mit Bedürfnissen, mit Emotionalem zusammen. Ich war zwar in der Lage, zu konstatieren, dass es weniger dieser mir ange­nehmen Situationen gab, aber warum veranlasste ich sie nicht selber. Sonst hätte ich selbstverständlich Nina vorgeschlagen, ins Café zu gehen, anstatt mich darüber zu beklagen, dass wir so etwas viel zu selten machten. Hatte sich eventuell die Lust daran, das Bedürfnis danach gemildert? War es eher einer Saturiertheit gewichen, die gar keine Sehnsucht mehr hat, weil ja alles in Ord­nung ist, weil die Bedürfnisse erfüllt sind, und die Klage eigentlich darüber lau­tet, kein Begehren, keine Sehnsucht, keine Träume mehr zu haben, und dieses Angenehme nicht mehr stattfindet. War mir Nina zu vertraut, zu selbstver­ständlich, zu wenig reizvoll geworden, und traf das für Nina auch in Bezug auf mich zu? Wir wussten nicht woran es lag. Vielleicht hing es ja auch mit der Ar­beit zusammen, die uns auch emotional okkupierte, und dadurch unsere priva­ten Sphären beeinflusste und beschnitt. Wir brauchten Urlaub. Dann hätten wir Zeit und Muße, alles klärend zu besprechen, und durch die neuen Eindrücke auf andere Gedanken zu kommen.


Urlaub in Schweden


Nein, nein Frauenurlaub, Lesbentours, so etwas wollten wir nicht. Ich wollte ja gar nicht in einer Welt aus lauter Frauen leben. Für mich waren Frauen auch nicht prinzipiell bessere Menschen, in deren Anwesenheit ich mich wohler fühl­te. Abends Frauendisco hatte ich kein Bedürfnis nach, ich wollte mit meiner Frau selbstverständlich tanzen können, wie alle anderen auch. Ich weiß nicht, wie man sich als Lesbe fühlen muss, ich fühlte mich einfach ganz normal. Wenn man mich nach meiner Sexualität fragte, ich wusste es nicht. Ich hatte es mit einem Mann nie unangenehm empfunden, nur jetzt mit meiner Freundin war's noch besser. Ich empfand es einfach als ganz normal, weil's mir so ge­fiel, so wollte ich es auch empfinden, und so war es auch. Wo gibt es Strände, die im Sommer nicht überfüllt sind? Am ehesten im Norden, also Schweden. Das Wetter war wie im Frühherbst, leicht kühl und heftiger Wind, aber das hat­ten wir ja auch nicht ausgeschlossen.

Im Bett sprachen wir darüber, wie wir die Situation unseres Kennenlernens emotional erlebt hätten. Nina berichtete, dass sie ein dringendes Bedürfnis ge­habt hätte, mich bei sich zu behalten. Es sei ja albern gewesen, ich hätte ja nach Hause fahren, und später wiederkommen können, aber sie habe mich nicht weggehen lassen können. Ja dieses direkte Verlangen nach dem andern, das habe das Prickelnde, das Spannende an der Situation damals ausgemacht, und das gebe es heute nicht mehr, meinte ich. „Vielleicht müssten wir Bedin­gungen schaffen, dass es wieder möglich wird. Wir sind uns viel zu selbstver­ständlich geworden. Wir erfahren es als nichts Besonderes mehr. Dir zuzuhö­ren ist etwas Alltägliches geworden. Es fasziniert mich nicht mehr, erzeugt kei­ne Spannung mehr in mir. Das ist es was mir fehlt, was ich mit dir erlebt habe, und wieder erleben möchte. Vielleicht müssten wir erfahren können, dass das Leben so nicht selbstverständlich ist. Vielleicht sollten wir uns mal trennen.“ meinte ich. Nina sprach nicht mehr viel. Sie erklärte sie sei müde, drehte sich weg, und zog sich die Decke über den Kopf.


Differenzen und Konsequenzen


Am nächsten Morgen beim Frühstück war Nina wenig gesprächig. Auf meine Frage erklärte sie, dass sie noch müde sei. Als ich ihr vorschlug, gemeinsam einen Strandspaziergang zu machen, meinte sie, da müsse ich schon alleine gehen, sie wolle lesen. Was hatte sie, warum schnitt sie mich, was sollte das bedeuten. Jetzt im Haus rumzulaufen, während Nina schweigend im Sessel saß, das ertrug ich auch nicht, also ging ich allein raus. Aber auch am Spazie­rengehen hatte ich keine Lust. Ich rekapitulierte, was sich denn gestern Abend genau ereignet hatte, und Nina verletzt haben könnte. Nichts. Ich versuchte mir jede Situation detailliert vorzustellen. Es quälte mich. „Wie kann eine er­wachsene Frau, du Nina, denn auf die Idee kommen mit ihrer Allerliebsten nicht mehr zu reden?“ Mir kamen die Tränen, ich weinte und wollte nach Hau­se. Als ich mich zu Hause ein wenig frisch gemacht hatte, erklärte mir Nina in Jacke und Schal, dass sie jetzt spazieren gehen wolle. „Die ist doch verrückt. Ich lass mich von ihr scheiden. Das ist doch nicht normal.“ schoss mir die Wut durch den Kopf. Laut schluchzend heulend warf ich mich aufs Bett. „Ich hab doch nichts gemacht. Ich hab ihr doch nichts getan. Sie ist doch meine Aller­liebste. Was tut sie mir denn da an.“ brüllte ich weiter. Als sie zurückkam hatte ich mich beruhigt. „Nina, Allerliebste, sprich mit mir. So geht das nicht. Wenn du nicht wieder mit mir sprichst, fahre ich sofort nach Hause, und beginne mit dem Auszug.“ erklärte ich ihr deutlich. „Vielleicht kommst du so ja noch schneller dazu, als du vorhattest.“ meinte Nina und fing still und dann laut an zu weinen. „Was soll das denn heißen? Was hat das zu bedeuten, was du sagst, Nina?“ bat ich sie um Erklärung. „Na, du wolltest doch, dass wir uns trennen. Wahrscheinlich besitze ich irgendwelche Trennungsviren, die in mei­nen Partnern das Bedürfnis wecken, sich von mir trennen zu wollen.“ erklärte sie unter Tränen. „Ich mich von dir trennen wollen? Wie kommst du denn auf so etwas?“ fragte ich. „Du hast es doch gesagt, dass es wohl das beste wäre, wenn wir uns trennen würden. Meintest du denn etwas ganz anderes damit, oder was?“ beantwortete sie meine Frage. „Wann soll ich das denn gesagt ha­ben? Solange wir miteinander gesprochen haben, war ich ganz wach, und da habe ich das nicht gesagt.“ meinte ich dazu. Dann half Nina mir ein wenig auf die Sprünge. „Nein, nein so habe ich das nicht gesagt.“ erklärte ich dann und erläuterte den Kontext. „Wie konntest du denn meinen, dass ich mich von dir trennen wollte, meine Liebste, wie sollte ich das denn wohl zustande bringen? Wie konntest du so etwas von mir vermuten. Dass du mir so etwas zutrauen würdest, hätte ich von dir nicht erwartet.“ „Wenn du wüsstest was ich dir alles zutraue, nur verraten werde ich's dir natürlich nicht.“ erwiderte mir Nina wie­der lächelnd. Damit war nicht nur das Eis wieder geschmolzen, sondern ein al­berner Mädchenfrühling zwischen zwei vierzigjährigen Frauen war angebro­chen. Wir machten nicht nur immer Unsinn und Albereien, aber die Lust war wieder da. Vielleicht weil wir Angst gehabt hatten, bedrohliche Angst, in der die andere nicht mehr selbstverständlich war, wussten wir nicht, wohin wir mit so­viel Freude sollten, dass wir uns wieder hatten. Wir wussten aber auch, dass wir nicht stumpfsinnig sicher sein konnten, dass wir uns selbstverständlich im­mer haben würden. Unsere Beziehung hatte wieder Lust und Spannung be­kommen, ganz anders als wir es durch Gespräche zu regeln beabsichtigt hat­ten. Das setzte sich zu Hause natürlich fort. Wir wollten dafür sorgen, dass wir uns nicht nur um unsere Arbeit kümmern mussten, sondern auch etwas Locke­res, Entspannendes hätten.


Frauengesprächskreis


Einen Frauengesprächskreis, nicht Stammtisch, am Theater wollten wir einrich­ten. Abends? Wenn die Mädels mal spielfrei hatten, waren sie froh, dass sie mal nichts zu machen brauchten, oder sich mit etwas anderem als Theater be­schäftigen konnten. Ja, das wäre auch wohl ein zusätzliches Problem, die Ge­sprächsthemen wären dann immer wieder Theater, Theater. Also wenn Ge­sprächskreis, dann bunt gemischt. Wir suchten unter den Bekannten Frauen aus, die dafür in Frage kommen könnten, und die wir ansprechen wollten. Es wurde tatsächlich ein sehr bunter gemischter Verein, aber alle schienen es in­teressant zu finden und waren guter Laune. Die meisten kannten sich unterein­ander bis jetzt nicht näher. Verbindend war nur, dass wir sie alle kannten. Wir waren zu acht Frauen, und wir beide waren die einzigen, die als Frauen zusammen lebten. Nach der gegenseitigen Vorstellung mit langen Nachfragen und Erläute­rungen ergab sich der weitere Gesprächsverlauf von selbst. Es wurde schnell sehr vertraut, denn die meisten hatten sehr Persönliches von sich preisgege­ben. Beim zweiten Treffen war unsere Lebenssituation dann Gesprächsthema, und nachdem wir dargestellt hatten, wie uns das 'passiert' war, wollte man na­türlich wissen, was es denn mit einem selber mache, ob man sich dann anders wahrnehme, empfinde. „Für dich selbst verändert sich nur, dass du dich auf einmal in einer anderen sozialen Umgebung befindest, die plötzlich Erklärungs­bedarf zu deinem Sexualleben zu haben scheint.“ antwortete ich, „Als ich mit einem Mann zusammenlebte, hat niemand gedacht: 'Ah mit einem Mann, als hetero, wie das wohl ist?'“ Außer einem Lachen bot es natürlich Anlass für ver­tiefte Diskussionen, in deren Zusammenhang es sehr offen wurde. Jede erzähl­te über sich und ihre Empfindungen, über ihre Beziehungen und ihre Verhält­nisse zu einer 'besten Freundin'. Es wurde fast zu einem intimen Gesprächs­kreis über Beziehungen, Wünsche und Erfüllungen. Manchmal war eine über­rascht über sich selbst, wie offen sie sprach, und meinte, das habe sie noch nie erzählt.

Es hatte sich sehr schnell eine so starke Vertrautheit miteinander eingestellt, dass eine Kneipe nicht mehr der richtige Ort war, um sich zu treffen. Die be­treffende Frau, bei der wir uns trafen, sollte möglichst wenig Aufwand haben, also wurde soviel wie möglich von allen organisiert. Wenn wir zwischendurch Hunger bekamen, brutzelten wir gemeinsam etwas in der Küche, und hatten unseren Spaß daran. Ines fragte, ob ich nicht mal etwas vorlesen könne, sie höre so gern zu, wenn vorgelesen werde. Bei öffentlichen Lesungen sei es meistens so unpersönlich und voll. Ich ließ mir selber gern vorlesen, abends im Bett von Nina. Ich las einige kurze lustige Geschichten einer Hamburger Auto­rin. Es gab zu lachen und alle fanden's gut. Das wollten wir jetzt bei jedem Treffen machen, zu Beginn etwas vorlesen, allerdings abwechselnd. Die Texte boten meistens Anlass für weitere Gespräche.


Evas Geschichten


Am fünften Abend mit Vorlesung rückte Eva schüchtern damit raus, dass sie selbst auch Geschichten schreibe, aber nur für sich. Es habe noch nie jemand etwas davon erfahren. Natürlich musste davon etwas vorgelesen werden, auch wenn sie dieses anfänglich energisch zu verhindern suchte. Sie hatte uns zwar gewarnt, dass die Storys nicht lustig und versöhnlich seien, aber sie waren das Grauen selbst. In spannendem Krimi-Stil ließ sie ein großes persönliches Un­glück auf eine Person zukommen, und beschrieb dann, wie der Mensch damit umging, wie es ihn langsam immer mehr zerstörte, seine gesamte Personalität völlig destruierte. Sehr gut hatte sie es geschrieben, aber es ließ den Zuhörer aufgewühlt, verwirrt und fragend zurück. Es gab keine Perspektive keinen Aus­blick, einfach der beschriebene persönliche Tod eines Menschen bei lebendem Körper, verursacht durch ein zufälliges Unglück. „Eva, warum schreibst du so etwas? Was motiviert dich dazu, was befriedigt dich dabei?“ war der Grundte­nor der erstaunten anderen Frauen. „Es hilft mir, es ist wie eine Therapie für meine eigene unspezifische Angst, die ich oft habe. Wenn ich das geschrieben habe, oder daran schreibe, macht es mich freier, erleichtert mich, nimmt mir die Angst vor der Angst.“ erläuterte Eva, und erklärte, dass sie selbst manch­mal völlig irrationale Angst vor Ereignissen hätte, die sie selber schwer treffen könnten, und sie sich nicht vorstellen könne, wie sie das bewältigen würde. Wenn sie zum Beispiel der Ansicht sei, ihr Sohn habe schon lange nicht ange­rufen, steigere sich ihre Vorstellung ihm sei etwas Tragisches zugestoßen bis zu der Gewissheit, dass er nicht mehr leben könne. Sie rufe dann an, und sei überglücklich, dass er doch noch lebe. Sie sei sich während der Steigerung sol­cher Angst auch bewusst, welcher Unsinn sich da in ihr entwickle, es habe aber überhaupt keinen Einfluss auf die Angst selbst, die sei rationalen Argumenten nicht zugänglich. Einmal habe sie den Ablauf eines dieser irren Vorgänge doku­mentieren wollen, und habe gemerkt, wie positiv es sich auf ihr Befinden aus­wirke. Sie hätte immer schon ganz gern geschrieben, und jetzt habe sie nicht mehr nur eine Story von sich dokumentiert, sondern habe die Angst begründet sein lassen, und das beschrieben, was hinter ihrer Angst stehe. So könne sie ganz passabel mit ihren potentiellen Angstanfällen umgehen und leben. Ein Psychotherapeut habe in ihrer ganz frühen unbewussten Kindheit nach großen Angsterlebnissen suchen wollen, aber sie habe so etwas ähnliches ja in ihrem ganzen Leben nie gehabt. Die erste bewusste Erinnerung an eine solche Si­tuation sei die Entführung ihrer Tochter aus dem Kindergarten durch eine die­ser Kindersexualbestien gewesen, von der sie überzeugt war, weil ihre Tochter fünf Minuten zu spät zurück kam. Sie hätte zu der Zeit von einem tatsächlich geschehenen solchen Fall gehört, und habe sich vorzustellen versucht, wie un­erträglich es für die Mutter sein müsse. Sie selber hätte derartiges wahrschein­lich völlig zerbrochen. Sie sähe es so, dass sie durch ihre Verpflichtungen und Einbindung in die Familie völlig angreifbar geworden sei. Früher habe sie es empfunden, als sei die Welt ein Geschenk für sie, und sie dürfe sich darin aus­leben, dann habe sie einen Vertrag mit ihr geschlossen, und jetzt werde etwas von ihr gefordert, mit der Androhung schlimmster persönlicher Konsequenzen für sie, wenn sie dem nicht entspreche. Sie empfinde sich nicht mehr frei, son­dern eher bedroht. Wenn sie es aufschreiben könne, ertrotze sie sich dadurch ein Stückchen Freiheit auch mit Familie zurück, zumindest in ihrer Fantasie.


Veränderung im Gesprächskreis


Nach anfänglicher Betroffenheit kam es bald zu heftigen Diskussionen, die durch Evas Einführungen für unseren Kreis außergewöhnlich ernsthaft geführt wurden. Nur waren sie trotzdem sehr chaotisch, weil immer wieder die unter­schiedlichsten Bereiche, die sich auf Familie, Freiheit oder Angst im Allgemei­nen oder konkreten Fall bezogen, angesprochen wurden. Jeder Beitrag war in­teressant, aber insgesamt hatte es doch eigentlich nichts gebracht, auch wenn wir bis in die Nacht heiß diskutiert hatten. Evas Text, ihre Darstellung und die Diskussion darüber hatten allerdings eine Veränderung unseres Gesprächskrei­ses zur Fol­ge, die mehr als eine klimatische Innovation war. Aus dem lockeren Ge­sprächskreis über durchaus ernsthafte Themen, war eine Gruppe von Frauen geworden, die sich selbst und ihre eigenen Fragen wiederentdeckt hatten, und selbstbewusst nach Antworten suchten, und Freude dabei empfanden, sie zu fordern. Wir wollten Autoren einladen, die in ihren Büchern, Essays oder wis­senschaftlichen Arbeiten sich zu bestimmten, uns interessierenden Fragen ge­äußert hatten, und mit ihnen Veranstaltungen durchführen. Als beste Möglich­keit wurde entsprechend Sylvias Vorschlag, die Professorin für Romanistik war, der Uni-Rahmen ausgewählt. Die anderen sollten aber auch in den ihnen zu­gänglichen Institutionen dafür werben. So hatte sich unser lockerer Gesprächs­kreis zu einem Frauenverein für Bildung, Wissen und Kultur von unten entwickelt. Ebenso erkenntnisreich, wie die Veranstaltungen selber, waren für uns auch die Diskussionen unter uns darüber, zu welchem Thema wer warum eingeladen werden sollte. Unsere Veranstaltungen wurden zu Magneten, besonders für junge Menschen, was uns selbst freudig bestärkte.


Wiedergeburt verlorener Interessen


Evas Bemerkung, dass sie immer schon gern geschrieben habe, hatte auch noch eine Diskussion über geliebte Interessen, die man verloren oder beerdigt hatte, ausgelöst. Silke hatte gern Flöte gespielt, aber aufgehört, weil ihr die Zusammenhänge, in denen es zu praktizieren war nicht gefielen. Heute holte sie die Querflöte nur noch Weihnachten hervor, um ihren Mann am Klavier zu begleiten, wenn sie mit den Kindern Weihnachtslieder sangen. Traurig! Wir wollten unsere vergessenen und verschütteten Lieben wiederentdecken, und neu mit Freude beleben. Folglich gab's nicht nur Vorgelesenes, sondern zum Beispiel auch einen Solo-Föten Vortrag. Ich, was hatte ich eigentlich früher gern gemacht? Mir fiel nur Lesen ein, dass mir sehr am Herzen lag, es waren nicht nur die Informationen, die ich dabei erhielt, es war vor allem die Sprache und die Formulierungen, in denen ich mich schon als Kind wohlig aalen konnte. Sie waren wie das, was mich umgab, wenn meine Mutter mir abends vorgele­sen hatte, bunt, lustig, rund und schmiegten sich warm und freundlich um mich und meine Gedanken. Ich hatte auch Lust daran, privat für mich Gedichte auswendig zu lernen, sie waren wie Lieder, die ich nicht vortragen oder etwa aufsagen konnte, sondern die man vorsingen musste. Nina wusste auch nichts davon, und wollte ab jetzt jeden Abend von mir ein Gedicht, bitte, hören, gleichgültig ob ich sie darüber informierte, was 'nächtlich am Busento gelispelt' wurde, oder ob ich sie aufforderte 'Steh auf, wir wollen nach Kevlaar', Nina war immer selig. In der Gruppe hatte ich 'Die Füße im Feuer' von 'Conrad Ferdi­nand Meyer' vorgetragen. Es hatte mich als Kind tief beeindruckt, und gefiel mir gut zum Deklamieren. Obwohl es fast jeder bekannt war, standen doch ei­nigen Frauen beim Schlussatz,


"Du sagst's! Dem größten König eigen! Heute ward
Sein Dienst mir schwer ... Gemordet hast Du teuflisch mir
Mein Weib! Und lebst ... Mein ist die Rache, redet Gott."


Tränen in den Augen. Dann hatte ich es wohl ganz gut gemacht. Heute las ich nur noch selten Gedichte, und lernte keine mehr auswendig. Warum nicht? Je ne sais pas pourquoi. Ich würde es wieder mal versuchen.


Antigone lebt

 

Ninas und mein Leben war anstrengend, aufregend und bunt geworden. Wir hatten wesentlich mehr miteinander verwobene Bezugspunkte als Arbeit und die davon relativ getrennte Beziehungsebene. Obwohl natürlich die Grundfor­derung, für den Arbeitgeber verwertbare Arbeit abzuliefern, weiterhin unum­stößlich bestand, hatten wir doch viele Wege gefunden, unsere eigenen Inter­essen dabei einzubringen, und zu verwirklichen. Darüber hinaus wurden wir fleißig unterstützt von unserer mittlerweile pubertierenden jungen genderfor­schenden Halbtochter, die uns jeden Tag neue Spannung und Freude vermit­telte. Ich hätte zufrieden sein können, ruhig gelassen? Keineswegs, ich war süchtig. Ich wollte jeden Tag mehr davon, neu oder in anderen Variationen. Ich fühlte mich stark und glücklich, jung und tatkräftig, wie nie zuvor. Antigone ist nie gestorben, sie hat uns nur ihr Leben gegeben, ein neues Leben für zwei Frauen, die sich Nina und Miriam nennen, und ihre Einstellung heute gemein­sam für sich weiterleben. Dass es Freude und Glück bringen kann, sich frem­den Machtansprüchen und Denkgewohnheiten zu widersetzen, zeigen unsere Erfahrungen.

Von alten glücklichen Zeiten träumen? Die gab es nicht. Ich hatte sie zwar da­mals als angenehm empfunden, aber aus meiner derzeitigen Sicht waren sie von Anfang an trostlos und müde. Ich war nur blind, und hatte es nicht erken­nen können. Der König von Kolchis war nicht erst jetzt müde geworden, er hatte immer schon ein langweiliges, ermüdendes Leben geführt.

FIN

 

Sie stammen nicht von heute oder gestern, Sie leben immer, keiner weiß, seit wann.

Antigone über die ungeschriebenen Gebote

Wir wur­den immer heftiger und intensiver, bis wir beide erlöst ausatmend unsere ver­schwitzten, miteinander verflochtenen Körper trennten. Erstaunt und völlig verwirrt, erschlafft auf dem Rücken nebeneinander liegend waren wir glücklich. „Was war das denn?“ schauten wir uns fragend an. Keine hatte das gewollt, ja hätte es überhaupt für möglich gehalten. Mir war es gar nicht wie Sex vorge­kommen, obwohl es das ja ganz offensichtlich war. Ich empfand es ehr wie eine außerordentlich enge, tiefe Begegnung zwischen uns beiden, die unser bei­der Beziehung entsprach. So hatte ich Sex noch nie erfahren. Sonst war es im­mer eine allgemeine Lust, die Lust, sich erregen zu lassen, zu Ficken und einen Orgasmus zu erle­ben. Natürlich dachtest du dabei an Sex. Derartige Lustvorstellungen hatten jetzt gar nicht existiert. Nachdem wir unsere Körper spürten, und es angenehm fanden sie aneinander zu reiben, be­kam ich einfach Lust auf Nina, was genau, ich wusste nicht, ich wollte einfach alles von ihr. Ich war gierig auf Nina insgesamt. Eine sonderbare Form von sexueller Lust, aber wie rein sexuelle Lust kam es mir auch gar nicht vor, die Frau, die ich mich so massiv berührte, mit der mich in der kurzen Zeit so vieles tief verbunden hatte, die wollte ich jetzt körperlich auch voll erleben, zu einem Teil von mir werden lassen, wollte ganz mit ihr verbunden sein. Keine von uns beiden hätte das gewollt oder überhaupt für möglich gehalten. Unsere tiefe Zuneigung hatte es einfach mit uns gemacht. Wie es dazu kam, und was sich für Miriam und Nina weiter daraus ergab, weiß die Geschichte.

 

 

Ungewohnte Zärtlichkeiten – Seite 26 von 26

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.06.2013

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