Carmen Sevilla
Keine Liebe mit Viola
Claude, rationale Beschlüsse oder Gefühle?
Erzählung
Là où on s’aime, il ne fait jamais nuit.
Die Beziehung zu einer Frau, Liebe und Dergleichen, Claude spürte kein emotionales Verlangen mehr, betrachtete es jetzt unter rationalen Gesichtspunkten. Natürlich wäre jemand da, mit dem man sich unterhalten und Freude haben könnte, aber er wäre nicht mehr für sich allein gewesen. Er wollte sein Leben, sein eigenes Leben leben. Die ständige Anwesenheit einer Frau und die Rücksichtnahme auf sie in seiner Umgebung käme Claude eher lästig vor. Sein Leben aufzugeben, und es mit dem einer Frau zu verbinden, war nicht nur kein Wunschtraum für Claude. Er wollte es ausdrücklich nicht und würde es nicht tun. Zufrieden war er, so wie er lebte. Seine Arbeit füllte ihn aus. Er ging voll darin auf, und über mangelnde Freunde und Bekannte konnte er sich nicht beklagen. „Na, mein König der Selbständigkeit, Claude der Erste. Was bin ich denn jetzt, deine Königin oder die Königin von einem fernen Land? Der Eigenständigkeit vielleicht?“ fragte Viola lachend. „Claude, wir waren verrückt von Anfang an. Die Vorstellung, sein eigenes Leben zu führen, sich selbst zu verwirklichen, finde ich ja nach wie vor richtig, nur es war das erste, was wir tatsächlich abgebaut haben. Wir haben uns immer auf die Beziehung, die Liebe fixiert, und solange es die nicht gab, war alles in Ordnung. Sie war auch von Anfang an da, nur die konnte man ja leugnen. Aber was spricht denn gegen Liebe bei selbständiger Lebensführung? Wir haben es immer mit der Paarbindung in dem Beziehungsclinch der Kleinfamilie assoziiert. Claude, ich glaube, wir sollten uns mal richtige Gedanken machen und dabei auch gut zuhören, was unser Bauch und unser Herz uns sagen. Deine Vorstellung von Eigenständigkeit zum Beispiel, die permanente Anwesenheit einer Frau nicht ertragen zu können, hat sich durch deine eigene Praxis als eine theoretische Chimäre erwiesen. Unser Bewusstsein ist nicht nur eine nützliche Hilfe zur Bewältigung unseres Alltags, es kann uns auch mächtig in die Irre führen und zu dummen Einschätzungen und Handlungen veranlassen.“ analysierte Viola die Situation.
Keine Liebe mit Viola - Inhalt
Keine Liebe mit Viola 4
Ruf des Uni-Ecks 4
Sophie 4
Portugiesisch Kurs 5
Claudes Freunde 5
Violas Stimme 6
Grillabend 7
Viola Reichmann 8
Besuch bei Reichmanns 9
Marielles Cello 9
Claude und Marielle 10
Kein Ruf der Kneipe mehr 11
Bleib Claude 11
König der Selbständigkeit 12
Dessous 13
Claudes Umzug 14
American Breakfast 14
Beziehungsperspektive 15
Besuch der Töchter 15
Frau Lehner 16
Treffen Piano Violoncello 17
Julian 17
Neues gemeinsames Lernen 18
Revoluzzergruppe 19
Sagt mal, ihr liebt euch doch 19
Wir hatten Hunger 20
Süchtig? 20
Trennung? 21
Der Flügel 21
Julians neues Zuhause 22
Epilog 22
An einem Freitagabend war es ein wenig später geworden und kurz bevor Claude gehen würde, sagte Viola mit leiser, nicht ganz sicherer Stimme: „Bleib Claude. Bleib heut' nacht, bitte.“ Stille. Claude hatte es genau verstanden. Welten mussten in Bewegung gesetzt und neu sortiert werden. Dass Viola eine Frau war, die auch sexuelles Begehren in ihm wecken konnte, hatte sein Unbewusstes dem Bewusstsein bislang nicht mitteilen dürfen. Eine unmäßige Flut an Prozessen lief in großer Geschwindigkeit in Claudes Kopf ab. Fest stand nur, dass er 'ja' oder 'nein' sagen musste. Etwas erklären und diskutieren wäre völlig deplatziert gewesen. Viola hatte ihn die ganze Zeit fest angeschaut, als ob sie etwas erkennen wolle von dem, was in seinem Kopf ablief. „Mhm, Ja.“ sagte Claude nur und jetzt starrten sie sich nochmal so lange an. Die beiden, die keinesfalls eine Beziehung miteinander wollten, mussten zusammen ins Bett.
Mit Gott und Glaube und Kirche hatte Claude nichts zu tun. Natürlich hatte er sich als Jugendlicher intensiv damit beschäftigt, aber er war zu der Überzeugung gelangt, dass es so nicht nur am vernünftigsten sondern auch am praktischsten sei. Hin und wieder gab es jedoch Momente, die seine Überzeugung ins Wanken bringen konnten. Wer anders als der unbewegte Beweger sollte ihn, der gar kein Bier trank und keine Kneipen besuchte, motivieren, am Abend, wenn das letzte Buch und der letzte Aktendeckel zugeklappt waren, sich auf ein frisches kühles Bier im Uni-Eck zu freuen. Er hatte sich schon öfter gefragt, was ihn wohl zu diesem für ihn sonderbaren Vergnügen trieb. Nie in seinem Leben hatte ihn derartiges Verlangen befallen. Erst in den letzten Jahren war es plötzlich aufgetaucht. Vielleicht Reminiszenzen aus seiner Studentenzeit, die nur sein Unbewusstes noch kannte? Würde er in Zukunft noch mit dem Bedürfnis nach weiteren unerklärlichen Ritualen zu rechnen haben? Für einen Ruf als Professor war Claude mit seinen siebenundvierzig Jahren zwar zu alt, nicht aber für den Ruf der Kneipe zu einem frischen, kühlen Bier am Abend. Wozu würde es ihn noch rufen? Ihn, den sportlich völlig inaktiven, zur Teilnahme an Marathonläufen vielleicht? Mit Piet, einem alten Schulfreund, den er zufällig nach einer Besprechung hier getroffen hatte, und der jetzt auch öfter dazu kam, malten sie sich die skurrilsten Szenarien aus, wenn sie sich nicht gerade darüber stritten, wer sein Leben mehr oder weniger verpfuscht habe.
Natürlich hatte er einiges falsch gemacht. Er hätte zum Therapeuten gehen sollen, und seine Habilitation weiter betreiben. Aber Claude fragte sich auch, ob er damals in der Lage war, das zu erkennen. Alles schien ihm verworren. Frauen, eine neue Beziehung, eine neue Liebe hatten für ihn nach der Trennung von Sophie damals jahrelang außerhalb seines Interessenbereiches gelegen. Als er der Ansicht war, dass sich da unbedingt etwas ändern müsse, stellte er fest, dass er gar nicht konnte. Kontakte zu Frauen bekam er schon, sehr leicht sogar, doch wenn es begann intimer zu werden, wollte er nicht mehr. Das ging nur mit Sophie. Ihre fast lapidare Eröffnung, sie habe jetzt einen anderen Mann kennengelernt und wolle mit dem zusammen leben, hatte ihn damals völlig aus der Bahn geworfen. Er lebte für Sophie und die Kinder. Hatte schon überlegt, aus dem Wissenschaftsbereich auszuscheiden, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Von einem Tag auf den anderen war beides verschwunden, Sophie und die Familie. Sein Leben war verschwunden. Ein zusätzliches Psychologiestudium hatte er begonnen, wollte verstehen können, was da mit ihm geschehen war, wie sich so etwas entwickeln konnte, wie er damit umzugehen habe. Er verstand vieles, hatte sogar, weil es sich anbot, promoviert, nur aus seinen Emotionen war Sophie nicht verschwunden. Er musste zum Therapeuten. Der half ihm, Sophie auch zu seiner emotionalen Geschichte werden zu lassen. Sophie war nicht mehr präsent, aber ebenso das nicht mehr, was ihn an Sophie gereizt und gebunden hatte. Die Beziehung zu einer Frau, Liebe und Dergleichen, er spürte kein emotionales Verlangen mehr, betrachtete es jetzt unter rationalen Gesichtspunkten. Natürlich wäre jemand da, mit dem man sich unterhalten und Freude haben könnte, aber er wäre nicht mehr für sich allein gewesen. Er wollte sein Leben, sein eigenes Leben leben. Die ständige Anwesenheit einer Frau und die Rücksichtnahme auf sie in seiner Umgebung käme Claude eher lästig vor. Sein Leben aufzugeben, und es mit dem einer Frau zu verbinden, war nicht nur kein Wunschtraum für Claude. Er wollte es ausdrücklich nicht und würde es nicht tun. Zufrieden war er, so wie er lebte. Seine Arbeit füllte ihn aus. Er ging voll darin auf, und über mangelnde Freunde und Bekannte konnte er sich nicht beklagen.
„Ich mache die Arbeit eines Professors, darf mich aber nicht so nennen, während du es darfst, aber mit der Wissenschaft nichts zu tun hast, sondern es zum Money scheffeln benutzt. Nicht nur ungerecht, sondern verlogen ist es, was uns umgibt.“ meinte Claude zu Piet als plötzlich Myriam Sachse mit einigen weiteren Frauen die Kneipe betrat. Sie hätte man hier wohl am allerwenigsten vermutet. Claude und Myriam lachten einfach nur als sie sich zur Begrüßung umarmten. Myriam wollte Portugiesisch lernen und hatte dazu einen Kurs besucht. Mit ihrer Nachbarin hatte sie sich gleich während des Kurses so gut verstanden, dass man auf die Idee kam, sich doch noch ein wenig weiter zu unterhalten, und den anderen angeboten, sich ihnen anzuschließen. Als die anderen Frauen gingen, setzte man sich zusammen. Myriam, die eine Hausarztpraxis betrieb, konnte sich mit Piet dem Chirurgen gut unterhalten, während Claude mit Viola Reichmann, Myriams neuer Bekannten, sprach. Die fand Claudes Marotte überaus skurril und meinte lächelnd: „Da brauchen sie also, bevor sie zu ihrer Frau ins Bett krabbeln, noch was Kühles Blondes?“ „Ich hab' doch gar keine Frau.“ reagierte Claude und Frau Reichmann platzte los vor Lachen. „Entschuldigung, Entschuldigung, das ist mir sehr peinlich. Ich lache nicht über sie. Nur wie sie es sagten, sah es so urkomisch aus. So treuherzig, so lieb. Man müsste sie gleich trösten und ihnen eine geben.“ Frau Reichmann dazu. „Suchen sie denn eine Frau?“ fragte sie jetzt wieder ernst und Claude erklärte ihr seine Position. „Ich gebe ihnen da völlig recht.“ bestätigte ihn Frau Reichmann, „Dass Männer und Frauen sich magisch anziehen, ist ja evolutionsbedingt, aber dass sie auch gemeinsam leben können, dafür hat die Evolution keine Rezepte.“ Man wollte nach Hause, sich aber in der nächsten Woche nach dem Portugiesischkurs wieder hier treffen.
Sachses gehörten zu Claudes altem Freundeskreis. Die Freunde von damals waren bei Claude geblieben, nur sie kamen, seit die Kinder und Sophie fort waren, nicht mehr zu ihm. Auch die Kinder kamen immer seltener. Die Erinnerungen wurden unbedeutender, und sie wurden sich im Laufe der Entwicklung fremder. Ihr Leben spielte sich anderswo ab. Nur selten kam jemand Claude besuchen, aber es hatte sich langsam entwickelt. Claude hatte es nicht direkt wahrgenommen. Jetzt wahr es selbstverständlich so. Er besuchte andere oder wurde zum Essen, zu Partys oder Fèten eingeladen. Als er an diesem Abend träumend einschlafen wollte, hörte er immer wieder die Worte von Frau Reichmann. Nicht was sie gesagt hatte, war so gehaltvoll, dass Claude sich daran erinnerte, es war ihre Stimme. Wieder und wieder klang sie in Claudes Ohren. Sie wäre bestimmt Therapeutin, überlegte Claude, und könne mit ihrer Stimme leicht bei allen Zutrauen erwecken. Sie wirkte sehr elegant, aber ihre Bemerkungen verrieten auch, dass sie Lust an Schalkhaftem haben müsse. Vielleicht wäre sie Kindertherapeutin. Er würde es beim nächsten Treffen erfahren.
„Na, nicht schlecht.“ meinte Frau Reichmann lachend zu Claudes Vermutungen. „Eine sehr große Praxis betreiben wir und haben täglich etwa achthundert Patienten zu behandeln. Leibnitz Gymnasium heißt die Psychiatrie, die ich leite. Aber dass meine Stimme einen besonderen Klang habe, höre ich zum ersten mal. Ich war eher gegenteiliger Ansicht. Das müssen sie mir näher erläutern.“ Claude begann zu stottern. Seine einfache direkte Erklärung wäre gewesen, dass er sie erotisch fände, aber er faselte etwas davon, dass die Wahrnehmung einer Stimme immer auch individuell geprägt sei und Dergleichen. Frau Reichmann schaute ihn an und brach Claudes Erklärungen mit der Bemerkung: „Sie gefällt ihnen, ja?“ ab. „Na ja, ich habe sie ja auch extra ausbilden lassen, aber das ist eine Geschichte für einen anderen Abend.“ meinte Viola. Als einzige mit Frau Reichmann angesprochen zu werden, die auch die anderen mit sie anzureden hatte, das war umständlich und passte nicht. Piet war heute Abend nicht anwesend und Claude wollte scherzhaft wissen, ob sie denn schon etwas gelernt hätten. „Portugiesisch Sprechen wirst du dort in hundert Jahren nicht lernen.“ meinte Viola, „aber du lernst die Grundstrukturen, die Gramatik, wie man spricht, das sprachliche Denken.“ „Ich denke auch, dass du vieles wirst verstehen können, so dass du auch portugiesische Texte wie im Englischen oder Französischen mit einem Wörterbuch lesen kannst.“ unterstützte sie Myriam, „Ja, du könntest die Texte deiner geliebten Fados verstehen und sie nicht nur musikalisch erfassen.“ Dabei holte Viola einige lose Blätter aus der Tasche. „Schau mal! „Lagrima“ das ist ein Fado, den sie alle singen. So ganz verstehe ich den Text auch nicht, ist ja auch lyrischer Sprachgebrauch, aber einiges ist doch gut zu verstehen. Zum Beispiel diese Passsage hier:
Eu nao te quero
Eu digo
que nao te quero
E de noite
De noite sonho contigo
„Und das heißt?“ wollten die anderen beiden wissen, während Claude schon seine gesamte indogermanische Sprachdatenbank aktiviert hatte, um etwas zu entschlüsseln. Violas Mimik ließ erkennen, dass sie sich wohl leicht ziere, die Übersetzung einfach zu nennen. Aber in Fados gab es doch nichts Anstößiges. „Was heißt 'digo'?“ wollte Claude wissen. „Von 'dire' sagen reden“ antwortete Viola. „Ich hab's, ich hab's.“ verkündete Claude stolz:
Ich will dich nicht
Ich
sage, ich will dich nicht
Und in der Nacht
Nachts schlafe ich
mit dir
„Hey, hey, nicht ganz so verwegen. „Träume ich von dir“ sagt sie. Das ist doch auch schon was, oder?“ Viola dazu, während ihre Kollegin aus dem Portugiesischkurs Claude nur bewundernd anstaunte. „Ja, und jetzt stell dir vor, du hörst es gesungen und kannst es verstehen. Wenn es dazu kommt, hat der Sprachkurs sein Ziel mehr als erreicht.“ erklärte Myriam. Plötzlich intonierte Viola die Passage mit „Eu nao te quero.“. Zwar nicht sehr laut, aber natürlich schauten alle dort hin. Auf die fragenden Augen der anderen beiden meinte sie nur, dass es eine längere Geschichte sei, die sie jetzt gar nicht erzählen könne.
Vielleicht wäre dazu ja auf dem Grillabend bei Sachses Zeit, zu dem Viola natürlich auch eingeladen war. Claude war der einzige außer Myriam, den Viola kannte. Folglich unterhielten sich die beiden und stellten schnell fest, dass sowohl Viola als auch Claude an diesem neuzeitlichen Brauchtum, an warmen Sommerabenden auf Feuern gebratene Speisen zu sich zu nehmen nichts lag, es ihnen im Grunde eher zuwider war. Claude hatte mit seinem Bier eine Marotte entwickelt, aber dass sich kulturkreisübergreifend in nur kurzem Abstand ähnliche Bedürfnisse entwickelten, war mit banalen Oberflächlichkeiten nicht zu erklären. Es musste tieferliegend evolutionär den Mann als Hüter der Feuerstelle ansprechen. Viola amüsierte sich darüber, dass auch ihr Mann damals, dem doch als Immobilienhändler Derartiges eher wesensfremd hätte sein müssen, es sich nicht nehmen ließ, an warmen Sommerabenden im Garten rohes Fleisch von toten Schweinen zu braten. Mit ein wenig Salat setzten sich die beiden an eine Tischecke auf der Terrasse. Weil es aber zu laut war, zogen sie sich ins Haus zurück. Jetzt erfuhr Claude alles über die Gesangsausbildung und Violas kurzen Auftritt. Es war Teil ihres Lebens, ihres gemeinsamen Lebens mit Marielle, ihrer Tochter, und Marielles Cello. Aber Viola erzählte mehr. Berichtete über ihr für sie wohl immer ungeklärt bleibendes Problem mit ihrem Sohn, der älter und schon ausgezogen war. Es sei überhaupt nicht mehr präsent, nichts erinnere daran und trotzdem bleibe es immer für sie eine offene Wunde, sagte sie mit feucht werdenden Augen. „Weißt du, Claude, die Ereignisse, die deine Psyche stark beeinflusst haben, müssen sie ja nicht fortan bis an dein Lebensende täglich mitgestalten. Beklagen können musst du es schon, aber dann musst du wieder lachen können.“ meinte sie. Viola erzählte weiter, mehr und tiefer von sich. Claude wusste nicht, woran es lag. Fast alle Frauen taten es. Allerdings unterhielt er sich mit Männern auch gar nicht intensiver. Es handelte sich nicht um eine Art von Gesprächsführung, die er während des Psychologiestudiums erlernt hatte. Er tat gar nichts, meinte er, außer interessiert intensiv zuzuhören. Und da fragte er mal nach, bestätigte ein wenig, aber alles ohne eine irgendwie geartete Intention. Das bekam er auch als Reaktion. Zum ersten Mal höre ihr jemand zu, Claude sei der einzige, der sie verstehe, sie wisse gar nicht, warum sie das alles erzähle und Dergleichen. Dabei sagte Claude ja kaum etwas, aber sein Zuhören vermittelte wohl aufrichtiges Interesse an der Persönlichkeit der Frau, Interesse, das frei war von irgendwelchen Absichten. Zum Schluss kam es allerdings nicht selten vor, dass die Frau, die sich Claude so offenbart hatte, sich ihm so nahe wähnte, die Kommunikation auch gern körperlich fortgeführt hätte. Oft kannte er die Frau vorher ja nur flüchtig, das intensive ehrliche Zuhören musste wohl eine Vertrauensbasis schaffen, die Frauen den Wunsch vermittelte, Tiefstes von sich preiszugeben, was sie noch nie einem andern erzählt hätte, wie es eine Frau benannte. Nicht anders war es bei Viola, bis sie plötzlich, wie aus einer Trance erwachend leicht drohend „Claude!“ sagte.
Hinterher war das Verhältnis zu einer Frau, mit der sich Claude unterhalten hatte wundervoll. Zum Beispiel für eine Mitarbeiterin im Institut war Claude der vertrauenvollste Mensch dieser Welt. Alle hatten sie kleine menschliche Schwächen, ihr Ehemann, ihre Schwester nur Claude war absolut integer. Sie empfanden sich engstens verbunden, so dass ein Kollege ihn mal auf amouröse Beziehungen angesprochen hatte, aber Claude war nur der andere Mensch, den du suchst und eigentlich brauchst, der dich auch versteht und akzeptiert, außer dir selbst. Tiefes Vertrauen hatte Viola zu Claude sicher auch entwickelt, und Claude konnte Violas Stimme ständig lauschen. Zunächst wollte er aber Violas Stimme lauschen, wenn sie zu Marielles Cellobegleitung sang, und dem Cello so familiäre Integration vermittelte.
An diesem Abend dachte Claude im Bett auch ständig an Viola. Jetzt war es nicht ihre Stimme, die er immer wieder hörte. Er sah ihr Leben, ihre behütete, glückliche Kindheit und Jugend, wie ihre Eltern sie praktisch zum Selbständig werden gezwungen hatten, und wie sie darin aufgegangen war. Natürlich musste das Kapital der Arbeiterklasse seine Produktionsmittel zurückgeben, aber in Kämpfen? In Klassenkämpfen? Das wollte ihr gar nicht behagen. Vernünftig reden würde man mit ihrem Vater müssen, dann würde er es schon einsehen. Violas Versuche schienen das allerdings im Moment noch nicht bewirken zu können. Ständig hatte sie im Folgenden ein Leben geführt, das zwischen ihrer neuen Welt und der großbürgerlichen häuslichen Sozialisation schwankte. Die Zuneigung für Raoul, ihren Mann, beruhte sicherlich nicht zuletzt auf dem Versprechen der Sicherheit, ein bürgerlich gut situiertes Leben führen zu können. Zu wem Viola je so offen über sich selbst war, hatte Claude nicht gefragt. Zu Raoul, ihrem Mann, nach allem was Claude erfahren hatte, mit Sicherheit wohl nicht.
Ein guter alter Bekannter schien Claude zu sein, als er Reichmanns besuchte. „Unser Schatz hat das gar nicht so gerne, vorgeführt zu werden.“ erklärte Viola zu Marielles Ablehnung. „Ich kenne den Herrn Liebmann doch gar nicht. Ich weiß nur, dass du ihn kennengelernt, dich länger mit ihm unterhalten hast und ihn ganz nett findest.“ Marielle darauf. „Ich kann das gut nachempfinden.“ bestätigte sie Claude. „Beim Biersaufen haben ihre Mutter und ich uns kennengelernt.“ erläuterte Claude. Jetzt schmergelte Marielle und Claude erläuterte es näher. Dass er auch eine Tochter in ihrem Alter, aber seine Frau und beide Töchter plötzlich verloren habe. „Das tut weh, ganz weh, nicht wahr.“ fragte Marielle und Viola erläuterte, wie sie ihr damals als zehnjährige verdeutlicht habe, was es für sie bedeute, ihren Vater, einen geliebten Menschen, zu verlieren. Viola sei maßlos erstaunt gewesen und habe Marielle von da an mit ganz anderen Augen gesehen. „Ja, vorher war sie mein Mädchen, und seitdem ist sie meine beste Freundin.“ meinte Viola sinnierend.
„Na, was wir hier machen, ist ja eigentlich nur Spielerei, nein ein bisschen mehr ist es schon. Unser Hobby vielleicht. Vor allem macht es uns unendlichen Spaß.“ erklärte Viola. „Ja, da war ein Bruch in unserer Familie. Ich bin mit meinem Cello verwachsen, und Viola steht außen vor. Ich sollte mal Volkslieder spielen, und Viola wollte singen.“ berichtete Marielle. „Und da improvisierte sie fast fünf Minuten Variationen auf die erste Strophe vom Lindenbaum. Es war nicht nur zum Totlachen vom süßen Lindentraumbaum, ich war absolut fasziniert, dass Marielle so etwas konnte und wusste, dass es mit den Klampfengriffen für die monotonen Strophen der Wanderlieder so keinen Sinn hatte. Kunstlieder, nur sind die alle für's Klavier geschrieben. Das kannst du nicht einfach auf dem Cello spielen und Transkripte gibt es so gut wie gar nicht. Außerdem verlangen fast alle Lieder eine Baritonstimme, und ich konnte nicht mal frei singen, es klang verklemmt und im Kopf. Also Grundausbildung für den Hausgebrauch. Dann haben wir uns immer kurze Passagen auf CDs angehört, und beim vierten Mal hatte Marielle ihre Celloversion, ich kannte den Text, den ich zur Not ja auch noch schriftlich hatte, und konnte das klangliche passabel bringen. Das ist viel Arbeit und klappt nur selten auf Anhieb. Wir machen das immer noch so, sind aber mittlerweile schon sehr versiert.“ erläuterte Viola und lachte. „Sollen wir denn Claude nicht mal unseren Hit vorspielen?“ bettelte Viola. „Ach so, ich bin Marielle, und du Claude auch für mich?“ stellte Marielle noch etwas klar. „Unser Hit? Ach es ist einfach unser Liebling, mit dem wir angefangen haben und auf das viermalige „das Wandern“ kann Marielle sich auch in unendlichen Variationen austoben. Wir können es ganz, alles, auswendig.“ und auf ihre prahlenden Ankündigungen musste Viola selbst wieder lachen. Sie fühlte sich Claude gegenüber frei, zu Scherzen aufgelegt. Es kam ihr vor, als ob er selbstverständlich dazu gehöre.
Nach einer gewissen Zeit brachen sie ab. „Das ist nur für uns, nur zu unserem Vergnügen. Marielle spielt in einer ganz anderen Liga, aber da kann ich nur zuhören und meine Meinung abgeben, ob sie oder die CD besser ist. Zeig Claude doch mal irgendetwas, bitte, nur kurz.“ bat Viola und Marielle spielte. Claude, der im Grunde keine Ahnung hatte, stellte aber staunend fest, dass Marielles Spiel weit außerhalb gewöhnlichen Cellounterrichts liegen musste. „Marielle Gabetta oder Rostropowitsch?“ fragte Claude scherzend. „Marielle Reichmann, und sonst nichts.“ antwortete Marielle. Natürlich kannte sie alle berühmten Cellistinnen und Cellisten, hörte sie gern und bewunderte sie, aber bei einem Gedanken an die Geschichte war auch immer zwangsläufig das Schicksal von Jacqueline du Pré präsent, und daran wollte Marielle nicht denken müssen. Viola erzählte, das Marielle eigentlich Geige hätte lernen sollen, aber als Fünfjährige zum ersten mal ein Cello gesehen hätte und von da ab besessen sei. Mann habe es ihr auszureden versucht, weil es doch gar nicht möglich gewesen sei, aber Marielle habe fanatisch auf ihrem Cello beharrt und sei dabei geblieben, bis sie ihr endlich ein Viertel-Cello besorgt hätten. Grausige Zeiten seien es zu Anfang gewesen, nur Marielle habe das alles überhaupt nicht tangiert. Jetzt sei ihr das Cello ins 'Blut gewachsen', was ihre erste Lehrerin gefordert habe. Weil sie es nicht verstehen konnte, habe sie es nicht vergessen, aber schon lange sei das Cello neben der Sprache ein zusätzliches Organ für sie, mit dem sie nicht nur kommunizieren könne, sondern dass ihr auch Zugang zu ihrer eigenen Psyche vermittele. Das Cello war Teil von Marielles Psyche, Körper und Persönlichkeit. Was sie in der Schule lerne, könne sie mit dem Kopf behalten, aber Musik erfordere den ganzen Körper, die ganze Person, meinte sie. Wo sie einzuordnen sei, interessiere sie gar nicht. Sie wolle nur immer besser werden und bislang Nichtgekonntes spielen können.
Natürlich musste Claude auch von sich erzählen und Marielle war maßlos erstaunt, über das Bild von aufgeschlossenen, fortschrittlichen, intellektuellen Kreisen in den USA, das Claude ihren Vorstellungen gegenüberstellen konnte. Davon wollte sie mehr und Genaueres erfahren, und wer konnte ihr das besser vermitteln als ein Professor für Amerikanistik. Natürlich musste Claude bald wiederkommen. Beim nächsten Mal konnte die neueste Errungenschaft, ein Stück aus der Dichterliebe, vorgestellt werden. Jetzt hatten die beiden einen Zuhörer, einen Zuhörer, der Violas stimmliche Qualität objektiv überhaupt nicht beurteilen konnte, aber jedes mal berauscht davon war. Nachdem Marielle und Claude sich stundenlang durch's Internet gewühlt und Marielle ein ganz roten Kopf bekommen hatte, bot sie an, für Viola und Claude noch etwas zu spielen. Claude sollte zum Abendbrot bleiben.
Er war jetzt immer häufiger bei Reichmanns. Es war eine Welt, die ihm gefiel und von der er wusste, dass er dort gern gesehen war. „Ich glaube, Marielle mag dich sehr.“ sagte Viola eines Abends zu Claude, „Du wirst für sie so eine Funktion wie ein väterlicher Freund einnehmen. Ihre Seele wird es nicht vergessen haben, und ich könnte mir denken, dass sie zu dir so viel Vertrauen hat, dir diese Rolle anzutragen. Sie spricht oft von dir und redet mit mir darüber, was du gesagt hast.“ „Ja, ich glaube schon, dass ich ihr keinesfalls gleichgültig bin. Jeden Tag erkundigt sie sich, ob es heute eine Freude für mich bei der Arbeit gegeben habe, und rät mir, dass mir das nie gleichgültig werden dürfe. Sie ist ausgesprochen feinfühlig, einfühlsam und lustig. Eine wundervolle junge Frau. Ich mag sie sehr.“ äußerte sich Claude dazu.
Das Bedürfnis abends das Uni-Eck aufzusuchen, war so plötzlich, wie es entstanden war verschwunden. Piet, der sich schon erkundigte, teilte Claude lapidar mit, dass er das jetzt nicht mehr mache. Myriam wollte gar nicht wahr haben, dass es zwischen Viola und Claude nichts Amouröses gebe. „Myriam, wir wollen es beide ausdrücklich nicht. Wir mögen uns gut leiden, aber jeder möchte eigenständig bleiben, sein eigenes Leben selbständig führen und sich dabei nicht in Beziehungen verwickeln.“ erklärte Claude. „Das ist deine heere theoretische Position, Claude.“ meinte Myriam, „aber irgendwie wird das doch aussehen, was du für Viola empfindest, und welche Gefühle Viola für dich hat. Ich glaube eher, dass ihr euch beide ein wenig belügt. Alles auf der Welt darf passieren, nur dass ihr eine Beziehung eingeht, auf keinen Fall.“
Claude verbrachte seine gesamte freie Zeit bei Reichmanns, fuhr nur noch abends zum Schlafen nach Hause und wenn es in der Wohnung etwas zu regeln gab. An einem Freitagabend war es ein wenig später geworden und kurz bevor Claude gehen würde, sagte Viola mit leiser, nicht ganz sicherer Stimme: „Bleib Claude. Bleib heut' nacht, bitte.“ Stille. Claude hatte es genau verstanden. Welten mussten in Bewegung gesetzt und neu sortiert werden. Dass Viola eine Frau war, die auch sexuelles Begehren in ihm wecken konnte, hatte sein Unbewusstes dem Bewusstsein nicht mitteilen dürfen. Eine unmäßige Flut an Prozessen lief in großer Geschwindigkeit in Claudes Kopf ab. Eine Festplatte hätte man damit füllen können, nur es brachte ihm keine Klarheit. Fest stand nur, dass er 'ja' oder 'nein' sagen musste. Etwas erklären und diskutieren wäre völlig deplatziert gewesen. Eigentlich war es ja gar nicht schwer. Natürlich würde er sich darauf freuen, mit Viola ins Bett zu gehen, und die Folgen, wenn er nein sagte, wollte er nicht ertragen. Viola hatte ihn die ganze Zeit fest angeschaut, als ob sie etwas erkennen wolle von dem, was in seinem Kopf ablief. „Mhm, Ja.“ sagte Claude nur und jetzt starrten sie sich nochmal so lange an. Die beiden, die keinesfalls eine Beziehung miteinander wollten, mussten zusammen ins Bett. Sexuelles Verlangen? Nichts läge ferner. Ob Viola Sex wollte, wusste sie gar nicht. Sie hatte ja auch immer große Probleme damit gehabt. Was sie Claude erklären würde, hatte sie schon alles überlegt, hatte sogar daran gedacht, es ihm vorher zu sagen. Nur das schien ihr doch ein wenig pervers. Claude war ihr nahe, unendlich nahe und sie hatte Lust daran, ihn auch körperlich zu spüren. „Komm.“ sagte sie, nahm Claude an die Hand und zog ihn mit ins Schlafzimmer. Als sie nur noch ihr Set an hatte, spürte sie, wie Claude sie von hinten umarmte. Sie spürte seine Brust auf ihrem Rücken und die Hände der beiden Arme lagen auf ihrem Bauch. „Bleib so.“ hätte sie sagen wollen. Völlig neu war dieses Empfinden, die sie in Liebe umschlingenden Hände auf der Haut ihres Bauches zu spüren. Langsam schob Claude eine Hand tiefer, schob sie unter ihren Slip. Wie mit offenem Mund verfolgte sie jeden Millimeter, den er sich weiter vor bewegte. Claude hielt ihre Vulva umschlungen. Viola stöhnte auf und hauchte „Claude“ Alles war neu. Ein völlig neues Erleben. Jetzt sagte sie: „Bleib so.“ als Claude begann seine Finger zu bewegen. Ganz ausführlich wollte sie dieses neue Empfinden spüren. Mit dem was sie von Sex wusste, hatte das nichts zu tun. Alles, was sie sich überlegt hatte, war längst wie eine morsche, zu alte Tapete zerbröselt. Viola hatte ganz nahe bei Claude sein wollen, ihn streicheln, und mit ihm schmusen, jetzt erfuhr sie ihren Körper neu, wollte Claude, wollte sein Begehren spüren. An Schlaf war in dieser Nacht kaum zu denken.
Marielle war mies am anderen Morgen. Sie schien überflüssig. Da entwickelten die beiden etwas, und sie wurde nur mit den Ergebnissen konfrontiert. Sie verstand die Welt nicht mehr. Wie konnte man denn miteinander ins Bett gehen, wenn man sich keinesfalls lieben wollte. Viola versuchte sich in ziemlich widersprüchlichen Erklärungen. „Ganz schön durcheinander.“ kommentierte Marielle, „aber ist schon o. k.“, stand auf und gab Viola einen Kuss. „Und Claude?“ fragte die. „Wenn ich ja wüsste, dass er jetzt dein Freund ist, bekäme er auch einen.“ meinte Marielle. „Ein so guter Freund ist er schon.“ beruhigte Viola und Claude bekam auch einen. Viola stand auf und Claude zog sie zu sich. Die beiden Fürsten der Selbständigkeit hatten sich gegenseitig auf den Schoß genommen. Sie hatten zwar miteinander geschlafen, aber das jetzt war auch neu, sich ganz nahe sein und gegenseitig das Gesicht liebkosen. Bestimmt hatte Viola das früher mit Raoul auch schon erlebt, aber das war alles verschwunden, als ob es das nie gegeben hätte. Jetzt war alles Neu, was sie erlebte, alle Zärtlichkeiten bereiteten ein neu erfahrenes Glücksgefühl. Glücksgefühle aus einer neuen Welt, Claudes Welt, ihrer Welt, zu der auch Claude gehörte. Marielle staunte nur. Blieb ein Moment verharrend stehen, als ob sie das Unfassbare auf einem Polaroidfoto festhalten wollte und ging üben.
„Na, mein König der Selbständigkeit, Claude der Erste. Was bin ich denn jetzt, deine Königin oder die Königin von einem fernen Land? Der Eigenständigkeit vielleicht?“ fragte Viola lachend. „Claude, wir waren verrückt von Anfang an. Die Vorstellung, sein eigenes Leben zu führen, sich selbst zu verwirklichen, finde ich ja nach wie vor richtig, nur es war das erste, was wir tatsächlich abgebaut haben. Wir haben uns immer auf die Beziehung, die Liebe fixiert, und solange es die nicht gab, war alles in Ordnung. Sie war auch von Anfang an da, nur die konnte man ja leugnen. Aber was spricht denn gegen Liebe bei selbständiger Lebensführung? Wir haben es immer mit der Paarbindung in dem Beziehungsclinch der Kleinfamilie assoziiert. Claude, ich glaube, wir sollten uns mal richtige Gedanken machen und dabei auch gut zuhören, was unser Bauch uns sagt. Deine Vorstellung von Eigenständigkeit zum Beispiel, die permanente Anwesenheit einer Frau nicht ertragen zu können, hat sich durch deine eigene Praxis als eine theoretische Chimäre erwiesen. Unser Bewusstsein ist nicht nur eine nützliche Hilfe zur Bewältigung unseres Alltags, es kann uns auch mächtig in die Irre führen und zu dummen Einschätzungen und Handlungen veranlassen.“ analysierte Viola ihre Situation.
„Sag mal, wie fand'st du übrigens mein Set?“ fragte Viola ein wenig launig. Den Bruchteil einer Sekunde dauerte es, bis Claude klar war, dass sie damit ihren BH und den Slip gemeint haben musste. Was sollte er denn jetzt sagen? Er wusste gar nichts davon, nur dass sie so etwas trug, als er sie umarmte. „Ich habe nur dich gesehen, Viola.“ meinte Claude, „Von allem anderen weiß ich nichts mehr.“ „Das war ein ganz tolles. Ich habe gedacht, es würde dir gefallen.“ reagierte Viola. Dass Claude so etwas nicht beurteilen konnte, ja nicht mal zur Kenntnis nehmen konnte, davon sagte er nichts. Allenfalls wenn die Frau wollene Unterhosen getragen hätte, wäre es ihm aufgefallen. Er sagte es nicht, aber Viola schien es zu spüren und hielt es für ungeheuerlich. Wie konnte man nur ihren teuren Dessous keine Beachtung schenken? „Und warum wissen nur Designer in Paris und Milano was auf der Haut der Frau am besten aussieht?“ fragte Claude nach ausführlichen Lektionen über edle Dessous und ihre Bedeutung für die Frau. Trotzdem blieb er im Innersten überzeugt, dass die Frau, das Model und nicht die Dessous das Interesse weckten. Er würde sie bei Viola aber jetzt anders wahrnehmen und sah auch deutliche Unterschiede. Am schönsten fand Claude eines in smaragdgrüner Seide mit schwarzem Stickereibesatz. Wundervoll passte es zu Viola mit ihren schwarzen Haaren, das sah Claude jetzt auch. Sie küssten sich und schmusten. „Nicht jetzt.“ stoppte Viola, „Ich werde dich heute Abend darin verführen.“
„Ich habe das alles nicht gebraucht. Ich brauchte keinen Mann, der mich bewundert und toll findet. Das waren alles nur Trug und Wunschbilder einer Welt, in der es real ganz anders aussah. Ich hatte es selbst erlebt, wusste es theoretisch zu erklären und wollte das für mich nicht mehr.“ erläuterte Viola. „Aber darum ging es auch gar nicht, als wir uns kennenlernten. Da war einfach ein Empfinden, dass sich gut anfühlte. Dass dir meine Stimme gefiel, freute mich und als ich sang, kribbelte es, wenn ich daran dachte, was es wohl bei dir bewirke. Du, dein Empfinden war mir nicht gleichgültig und ich spürte, dass ich, meine Person, dir viel bedeutete. Wunderschön, dir die Tür zu öffnen und zu wissen, dass du dich auf mich freutest. Nicht bewundert werden, aber wissen, dass ich für Claude eine Freude bedeute, dass er mich liebt, mich begehrt, das sind Bedürfnisse, von denen du nicht einfach sagen kannst: „Ich brauche das nicht.“
Dass Viola fragte: „Bleibst du?“ war fast nur noch Routine. Zum Celloexperten, wie er es empfand, hatte sich Claude entwickelt, und während Viola nur hören konnte, besprach Marielle mittlerweile auch alle technischen Details mit ihm. Claude kam nicht aus musikfernen Welten. Er besuchte öfter Konzerte, vor allem aber liebte er Opern. Davon besaß er auch eine große CD Sammlung. Die Sopran- und Mezzosopranstimmen hatten es ihm angetan. Obwohl es ja bessere Sängerinnen geben sollte, gefiel ihm die Stimme der Maria Callas immer noch ausgesprochen gut. Vielleicht lag ja in Violas Timbre etwas Ähnliches wie in dieser Stimme. Aus unerfindlichen Gründen hatte das Gesangscelloduo Opern weniger interessiert. Das änderte sich. Sie konnten ja jetzt zu dritt gemeinsame Abendveranstaltungen besuchen, und davon machten sie regen Gebrauch.
„Claude, wenn du nicht bei mir bist, kann ich gar nicht gut schlafen.“ meinte Viola mit schalkhaftem Grinsen. „Ich komme dann immer ins Grübeln, weißt du, und mache mir dumme Gedanken. Besser wäre es schon, wenn du dann da wärst und ich könnte dich spüren.“ „Ja, ja, ich kann mir das gut vorstellen. Mir geht es ja nicht viel anders. Ich muss mir dich dann erträumen. Aber was ist eine erträumte gegen eine reale Viola?“ scherzte Claude zurück. „Du könntest sie ja real haben, sie wartet ja auf dich, nur dazu müsstest du hier sein, immer hier sein.“ Viola darauf. Dann redeten sie ernsthaft darüber, warum Claude eigentlich immer noch seine eigene Wohnung habe und nicht zu Reichmanns zöge. Marielle hielt es am anderen Nachmittag für eine längst fällige Regelung. Der jetzige Zustand sei lächerlich, nur sie habe sich wegen der kuriosen Selbständigkeitsvorstellungen der beiden da nicht einmischen wollen.
Claude lebte jetzt ganz bei Reichmanns und musste natürlich auch ein wenig mehr Verantwortung übernehmen. Die Situation beim Frühstück behagte Claude überhaupt nicht. Man träfe sich morgens, um gemeinsam den Tag zu beginnen, davon sei aber nichts zu spüren. Wie ein Fremdkörper komme er sich vor, ruhig bei seinem Kaffee und seiner Zeitung sitzend. Sowohl Viola als auch besonders Marielle seien zwar noch physisch anwesend, aber in Wirklichkeit seien sie schon längst in der Schule. Warum man das, was man zusammensuchen und vorbereiten müsse, denn nicht schon am Abend vorher tun könne, sondern das Frühstück dafür opfern müsse. Zwischen Einsammeln und noch mal schnell etwas Nachschauen, dabei ein paar Bissen kauen und ein wenig Kaffee trinken, bedeute für ihn, man suche die Hektik und wolle so seinen Tag erleben. Man wurde sich letztlich schon einig, aber dafür müsse man dann ja früher aufstehen. „Das kommt doch darauf an, was dir das Frühstück zu bieten hat. Für euer Frühstück würde ich auch keine Minute eher aufstehen. Das Frühstück kann aber auch ein Fest sein, zum Beispiel ein Osterfrühstück und ein American Breakfast steht dem kaum nach. Und das kannst du in viele Richtungen variieren. Jeden Morgen ein gemeinsamer Tagesbeginn mit Sonnenschein.“ erläuterte Claude. Unter der Bedingung, dass es auch Brownies, Crossies und Muffins geben sollte, obwohl das Gebäck war und mit Frühstück nichts zu tun hatte, wollte man es versuchen und dafür eine halbe Stunde früher aufstehen. Sachen zusammen suchen war dabei natürlich tabu. Das Frühstück wurde zum Renner. Man hatte es zusammen gestellt und wollte auch andere Variationen versuchen, während Marielles heiß geliebte Brownies, Crossies und Muffins langsam wieder in den Nachmittagsbereich rutschten. Ja, wie eine kleine morgendliche Familienfeier gestaltete es sich tatsächlich, und Marielle kam auf die Idee, es mit ein paar Takten Tafelmusik zu eröffnen.
„Claude es ist wunderschön und ich fühle mich absolut wohl. Die Tage müssten doppelt so lang sein, und sie würden nicht reichen, um unser Glück ausschöpfend erleben zu können. Ich mache mir nur Sorgen für die Zukunft. Raoul und ich hielten unsere beruflichen Bereiche völlig auseinander. Ich habe erkannt, dass es von Anfang an ein Fehler war, nur wir machen es jetzt kaum anderes. Marielle scheint zu spüren, wie gut es dir tut, mit dir über dein Berufliches zu reden, aber ich möchte gar nicht mit dir über die Schule reden. Nur die Schäfermusik über die Glückseligkeit des gemeinsamen Beisammenseins scheint mir eine sehr dünne, wenig fundierte Basis. Ich lebe ja in der Schule. Einen sehr großen Teil meines Tages. Sie wird meine Identität und Persönlichkeit beeinflussen, ob ich es will oder nicht. Das gehört auch zu meinem Sein, das mein Bewusstsein bestimmt. Ich werde eine neue Sichtweise gebrauchen, die es mich in mein Leben integrieren lässt, und nicht beim Verlassen der Schule das Empfinden vermittelt, ein für mein wirkliches Leben bedeutungsloses Intermezzo zu beschließen. Es muss Perspektiven, die mir Lust machen, mit dir darüber zu reden, geben, nur ich bin bislang zu stupid dafür, sie zu erkennen. Wie wir uns über deine beruflichen Aktivitäten unterhalten, kann mir Marielle ja vermitteln. Wir sollten nur das ganze, unser gesamtes tatsächliches Leben in unsere Beziehung integrieren. Das scheint mir sehr wichtig.“ überlegte Viola zur Perspektive ihrer Beziehung.
Zum ersten Mal kamen Claudes Töchter ihn in seinem neuen Zuhause besuchen. Ja, ganz früh um zehn zum Frühstück sollten sie schon da sein. „Du bist also der richtige Papa von allen beiden?“ fragte Marielle nach. „Ja, und warum begrüßt du sie dann nicht richtig?“ fügte sie hinzu. Man lachte und Natascha und Alissia wurden von Claude umarmend mit Küsschen begrüßt. Seine beiden Süßen, wann hatte er das zum letzten Mal getan? Schoß es Claude durch den Kopf. „Wouh!“ verkündete Natascha, die ältere, beim Anblick des Frühstücks, „Nur für uns, oder macht ihr das Sonntags immer so ähnlich.“. „Bei uns ist jeder Tag ein Sonntag, meine Liebe.“ reagierte Marielle, „Und deshalb machen wir das jeden Tag so. Morgen, und übermorgen, und überübermorgen, jeden Morgen. Und wenn's das mal an einem Morgen nicht gibt, sind wir sauer und gehen sofort wieder ins Bett.“ „Nicht schlecht.“ urteilte Alissa, „Und wer macht das alles fertig, deine Mutter?“ Die bließ die Luft durch die Lippen, als ob sie sagte: „So weit kommt's noch.“ „Nein, das machen wir alle zusammen, sonst dauert's ja zu lange, aber abräumen muss dein Papi schon meistens alleine, weil er ja später zur Uni muss.
„Marielle spielt sehr gut Cello und du spielst doch auch ganz gut Klavier.“ meinte Claude. Marielle erkundigte sich. „Alle Achtung,“ meinte Marielle, „da könnten wir gut zusammenspielen und zusammen lernen. „Ich bin ja auch das Piano-Girl bei uns im Orchester, und da musst du schon was bringen. Klavier spielen sie ja alle.“ verkündete Natascha stolz lächelnd. „Spielst du auch im Schulorchester?“ wollte Natascha von Marielle wissen. „Schulorchester? So etwas kriegt Madame doch nicht auf die Reihe.“ wobei ihr Daumen auf Viola wies. „Hör mal, dazu wird man doch noch jemanden brauchen, der das macht. Soll ich einen Konzertmeister einstellen?“ reagierte Viola empört. Natascha und Alissia verstanden nichts. „Frag doch mal beim Elly Heuss Knapp nach. Vielleicht wissen die, wie so etwas geht.“ schlug Marielle vor. „Meine Liebe, du wirst böse. Einen Musiklehrer brauchst du, und das haben wir nicht, außer diesem halb pensionierten Renser.“ reagierte Viola. Dass es eineinhalb Jahr später doch ging, konnte Viola nicht ahnen, sie kannte ja ihre neue Sichtweise noch nicht. „Was machen sie denn beruflich, wollte die verwirrte Alissia wissen. „Chefin vom Leibnitz bin ich.“ Viola kurz, „Ja, und das ist meine freche Tochter, schon von Geburt an und euer Daddy ist mein Liebster, aber noch nicht ganz so lange.“ Jetzt schienen alle beide nicht unbedingt verwirrt, aber vieles musste in ihren Köpfen sortiert werden. Das gefiel ihnen gut, das war nochmal genauso gut wie das Frühstück. Als ob sie mit ihrem Daddy und Marielle jetzt über allen Paukern stünden. Sie hatten noch nichts von Marielle gehört. Sie musste spielen. „Wouh, das ist ja Upper Class.“ staunte Natascha, „Hast du Gerd im Ohr?“ fragte sie ihre Schwester. Gerd war der Cellist in ihrem Schulorchester „Und wo spielst du? Hast du manchmal Auftritte?“ wollte Natascha wissen. „Bei Schulfeiern muss ich immer etwas vorspielen. Aber meine Cello-Lehrerin drängt mich auch schon.“ antwortete Marielle. „Aber ich habe auch hier Aufnahmen mit einem anonymen Klavierspieler. Willst'e mal hören? The Violoncello thats me.“ „Stark, du bist echt gut. Ob ich das Piano hinbekäme, weiß ich nicht. Aber du hast ja auch viel zu wenig Anreize. Sie wollten zusammen bei Natascha spielen, aber Sophie hatte etwas dagegen. Als sie beim nächsten Treffen darüber sprechen wollten, zogen die beiden die Augenbrauen nach oben. „Mami will dich wiederhaben.“ platzte Alissia plötzlich los. „Du spinnst ja.“ reagierte Natascha, „Aber besonders glücklich ist sie wohl nicht.“ Das zu hören, war für Claude ganze außen vor. 'Meine Sophie' gab es für ihn schon sehr, sehr lange nicht mehr.
Claude kam es manchmal vor, dass er mit Marielle Dinge besprach, die sie eigentlich mit ihrer Lehrerin hätte klären müssen. Er fragte, ob er nicht mal mit zum Unterricht kommen könne. „Sie braucht einen anderen Lehrer oder eine Lehrerin. Ich kann ihr nichts mehr beibringen. Das macht sie selber. Unsere Treffen haben eher die Form von Kolloquien, in denen wir gemeinsam etwas erörtern und ausprobieren. Sie brauchte auch Konzerterfahrung und über meine Klavierkapazitäten ist sie ja schon lange hinausgewachsen.“ klagte Frau Lehner, ihre Lehrerin. Marielle hatte davon nie erzählt. Frau Lehner war nicht nur ihre Cello-Lehrerin sondern ihre Cello-Mutter. Sie hatte sie über all die Jahre begleitet. Frau Lehner gehörte mit dazu, zu Marielle und zu ihrem Cello. Viola wusste auch nichts davon. Marielle hatte zwar öfter von Frau Lehner gesprochen, aber das war eben die Cello-Lehrerin. Nur so war es nicht. Da existierte eine tiefe persönliche Beziehung zu einem geliebten Menschen vermittelt über das Cello, das auch Marielle war. Da musste eine andere Lösung gefunden, als einfach die Lehrerin wechseln.
Viola hatte Geburtstag, und Sachses waren auch eingeladen. Man sprach über Marielles Cello-Entwicklung. „Hier, unser Revoluzzer spielt doch Klavier. Wie gut er objektiv ist, weiß ich gar nicht. Aber auf jeden Fall macht er's gern, sehr gern. Wir haben ihn nie zu etwas gedrängt. Aber am Flügel seine neuen Errungenschaften in die Tasten zu hauen, macht ihm offensichtlich Freude.“ erklärte Myriam. Man wollte einen Termin ausmachen, an dem sich Marielle und Julian mal treffen könnten. Marielle hatte ihr Cello mitgebracht und hörte Julian zu. Sie zog ein süßsauer skeptisches Gesicht. „Ganz schön, aber das ist die falsche Liga, mein kleiner Herr Horowitz.“ kommentierte sie Julians Darbietung und zog die Noten für ein Cello-Klavier Konzert aus der Tasche. Julian blies die Luft durch die Lippen. „Wie soll das den gehen?“ fragte er. „Lernen, Üben.“ Marielle darauf. „Ich?“ fragte Julian laut und ungläubig. „Ja natürlich,“ antwortete Marielle, „alle, die das spielen können, haben das durch üben gelernt. Kannst du nicht lernen und üben?“ Julian lächelte bitter, als ob er sich vor den Türen einer Folterkammer befände. Er hielt sich immer für ziemlich gut. Hatte auch keine Probleme mit dem Üben und die Differenz zwischen den Starpianisten und seinem Können störte ihn nicht. „Den Papageno, bekommen wir den denn hin?“ fragte Marielle und legte Julian die Noten hin. Natürlich klappte es schon nach wenigen Takten nicht mehr. „Ich lass dir die Noten hier. In der nächsten Woche komm ich wieder, da wird das gekonnt.“ befahl Marielle. Julian hätte weinen können. Wie sollte das denn gehen, aber er wollte es unbedingt. Sein Klavierlehrer, den es ärgerte, wurde verpflichtet. Er müsse sofort den Aufstieg in die nächste Liga schaffen, und der Musiklehrer schüttelte nur verständnislos den Kopf.
Julian spielte gern Klavier und übte auch gern, war stolz wenn er etwas gelernt hatte, nur er war auch ein vielbeschäftigter junger Mann. Er spielte Fußball in der Schulmannschaft. Das forderte nicht viel Zeit, und Julian meinte, das Training dafür schon als Kind auf dem kommunalen Bolzplatz absolviert zu haben. Das wichtigste aber war ihm die Theater AG. Durch seine Faszination für Kleist und Mutter Courage hatten sie eine Theatergruppe initiiert, die immer weitere Kreise gezogen hatte. Jetzt arbeiteten sie mit dem Theater zusammen und hatten sogar eine eigene Schulbühne. Dem gehörte Julians Herz. Eine Revoluzzer-Gruppe, wie Julians Eltern es nannten, gab es auch noch. In der Auseinandersetzung mit einem konservativen Deutschlehrer, der Brecht jegliche literarischen Qualitäten absprach, ihn als ein temporäres sozialistisches Phänomen bezeichnete, das man bald vergessen haben werde, hatten einige Schüler festgestellt, dass ihr Hintergrundwissen große Lücken enthielt. Die wollte man ausfüllen, und dazu traf man sich in einem Diskussionskreis in dem Unterlagen, auf die man sich geeinigt hatte, diskutiert wurden. Das alles und die Schule waren wichtig, Musik war schön.
Das würde nicht so bleiben können, wenn er mit Marielle zusammen spielen wollte. „Marielle, was tust du mir an. Ich habe geweint, mir die Finger verbogen. Ich dachte schon, ich hätte Rheuma.“ klagte Julian sein Leid, als Marielle in der nächsten Woche kam. „Dann machen wir erst mal etwas Lustiges.“ meinte sie. Julian wusste nicht, was er sich darunter vorzustellen hatte, aber er verstand sofort, als Marielle begann. Was ihr Kopf dachte, sprach ihr Cello und Julian reagierte mit dem Klavier darauf. „Absolut.“ äußerte sich Marielle staunend nach Abschluss der Papagenovariationen. „Du kannst also doch lernen und üben, sehr gut sogar. Das gehört jetzt uns, das ist unser Stück. So wie wir es gespielt haben, ist es Teil von uns. Das darf unser Körper nicht wieder verlieren. Das ist unser Juwel.
Alles was es an Partituren für Cello und Klavier auf dieser Welt gab, musste besorgt werden, und Marielle hatte vieles auf CD. Da musste Julian noch besser werden. Im Spielen nach Gehör war er nicht besonders sicher. Die Klaviatur war ihm noch nicht genug „Ins Blut gewachsen.“ Deshalb war der Klavier/Cello Jux, mit dem sie immer ihre Sitzungen begannen, für Julian nicht nur Spielerei. Darauf folgte gemeinsames Üben, das durch ihr Juwel, die Papagenovariationen abgeschlossen wurde. Was Julian am meisten faszinierte und erfreute war, wie Marielle zum Schluss sein gesamtes Klavierrepertoire improvisierend in Klavier/Cello Stücke transponierte. Meistens spielte sie einfach dazu, aber oft musste das Piano dem Cello auch kleine Pausen für einen Solopart geben. Wenn sie den „Fröhlichen Landmann“ auf immer wieder neu Art mit dem Cello nachäffte, veralberte und zerriss, lachte Julian sich tot. Sein Klavierlehrer fiel von einer Ohnmacht in die andere, wenn Julian ihm Noten mitbrachte und ihn aufforderte, ihm das beizubringen. „So geht das nicht. Das ist doch kein Klavierunterricht, ganz abgesehen davon, dass es jedes mal viel zu schwer ist, was sie lernen wollen.“ meinte er und wollte Julians Cellistin mal kennenlernen. „Alle Achtung.“ meinte er nach gemeinsamem Spiel mit Marielle, „Da muss sich der junge Mann schon ein wenig anstrengen. Ich werde ihm persönlich die Finger verbiegen und seine Läufe tunen.“ Jetzt erkundigte er sich immer bei Julian, was sie als Nächstes geplant hätten und gab ihm Tipps, was doch auch für Marielle eine Herausforderung darstellen könne. Traurige Augen machte Julian, wenn er ein Cello-Klavier Konzert sah oder hörte und meinte, dass dafür seine taktilen Kapazitäten nie ausreichen würden. „Das ist es nicht, Julian, es ist etwas anderes, es ist nicht die Beweglichkeit deiner Finger. Du bist es mit deinem ganzen Körper und der Klaviatur und wie sie gemeinsam die Sprache dieses Gedichtes sprechen können. Denk an die Papagenovariationen, du musst sie nicht spielen, du musst sie leben.“ erklärte Marielle.
Das Fußballspielen hatte Julian aufgegeben, und die „Theater Companie“, wie er die Gruppe scherzhaft nannte, funktionierte auch selbständig. Seinen Diskussionskreis wollte Julian aber keineswegs opfern. Marielle wollte wissen, was sie denn eigentlich genau dort besprachen. Sie schaute sich die Überschriften einiger Papiere an und schämte sich, kam sich vor, wie eine dumme Nudel, die nichts verstand und von nichts eine Ahnung hatte. Natürlich musste die Natur geschützt und die Umwelt erhalten bleiben, aber da war ihr politisches Verständnis auch schon fast am Ende. Sie wusste einfach platt nichts über das Entscheidende von Kapitalismus und Sozialismus. Gravierender Erziehungsfehler ihrer Mutter, die Geschichte/Politik unterrichtete, ihre eigene Tochter so verkommen zu lassen. Trotz Nachforschungen verstand sie die Texte nicht, die die Jungs lasen. Aber warum sollte man denn auch jetzt Trotzki lesen? War das nicht etwas für ein Seminar an der Uni. Sie kannte sich ja nicht aus, aber mit Sicherheit gab es doch Zeitschriften und Artikel, die sich auf etwas Aktuelles bezogen. Marielle hielt es für sinnvoller, Derartiges zu diskutieren. Sie nahm an dem Kreis teil und brachte es zu Sprache. Nach nicht enden wollenden Diskussionen war man allgemein dann doch ihrer Ansicht. Jetzt nahm sie auch an dem linken Bildungszirkel teil und konnte vor allem auch mit Julian darüber diskutieren.
Immer öfter mussten sie sich treffen. Julian musste ja noch so viel lernen, bis es schließlich unerlässlich war, das man sich täglich zum gemeinsamen Musizieren traf. Marielle blieb auch öfter über Nacht, und Viola erkundigte sich bei Myriam, was sich denn da eigentlich abspiele. „Ich denke schon, dass die beiden maßlos verknallt sind, aber keinerlei äußere Zeichen. Alles absolut keusch. Vielleicht mögen sie es ja auch, sich etwas vorzumachen, so wie ihr beide damals auch. Alles nur Musik, mit Liebe hat das nichts zu tun.“ erklärte Myriam und lachte laut auf. So völlig fehlten die äußeren Zeichen ja nicht. Sie hingen ja auch außerhalb des Musizierens permanent zusammen. Saßen am Tisch immer beieinander, machten ihre Hausaufgaben gemeinsam in Julians Zimmer, schauten sich gemeinsam etwas an diskutierten permanent zusammen. „Sagt mal, ihr liebt euch doch, ihr beiden, oder?“ erklärte Myriam sonntagmorgens platt am Frühstückstisch. Nie hatten die beiden untereinander je dieses Wort in den Mund genommen. Als eine Arbeitsbeziehung, um gemeinsam Musik machen zu können, hatte es begonnen. In gewisser weise war das wohl immer noch die offizielle Bedeutung im Bewusstsein, aber dass es mittlerweile ganz anders war, wusste auch jeder der beiden. Man sagte es nur nicht. Beide grinsten, als ob sie glücklich wären, dass Myriam endlich das Unaussprechliche benannt hätte. „Und warum küsst ihr euch dann nicht?“ bemerkte Lydie, Julians jüngere Schwester forsch. Ein „Halt die Klappe!“ bekam sie noch zu hören, während Marielles und Julians Gesichter sich langsam aufeinander zu bewegten. Nach kurzen Kuss und einem Lächeln standen sie auf und gingen in Julians Zimmer. Bei zärtlichen Liebkosungen erklärten sie sich, wie sich für sie die Liebe anfühle. „Im tristen Matheunterricht an dich denken, und die Sonne geht an.“ brachte Marielle eine Erfahrung. „Auf dich warten und denken, die Uhr geht zu langsam.“ scherzte Julian. So zeigten sie immer mehr Situation, wie sie gespürt hatten, dass sie sich liebten. „Komm!“ sagte Marielle und stand auf. „Was ist los?“ wollte Julian wissen. „Das war unser erster Liebesdate. Wir werden ihn musikalisch unserem ganzen Körper vermitteln müssen. Dann improvisierten sie, was stark an die elegischen Passagen im Adagietto von Mahlers fünfter Symphonie erinnerte. Marielle mischte sich leicht fließend in die sanften Anschläge von Julians Klaviervorgaben ein und Julian passte sich dem milden Wind von Marielles Cello Empfindungen an. Sie konnten sich mit Instrumenten gemeinsam ausdrücken, eine gemeinsame Sprache sprechen. Glücklich machte es sie. Zusammen musikalisch träumen, das würden sie demnächst öfter tun.
Sechs mal taten sie es noch, bis sie meinten, ihre Liebe habe jetzt einen so hohen Grad erreicht, dass sie auch der körperlichen Bestätigung bedürfe. Wie Engelchen verhielten sie sich. Sie habe keine Enthaltsamkeitsvorstellungen, meinte Marielle, nur sehr geliebt und absolut vertrauensvoll müsse es schon sein, dass sie sich wohlfühle und glücklich darauf freuen könne. Absolut so empfinde sie es jetzt. „Streichelst du deine Brust beim Masturbieren?“ fragte Julian. „Ja, so.“ und Marielle zeigte es ihm. „Hey, hey, stop.“ unterbrach sie Julian, „Ganz, ganz langsam machen wir alles, ja?“ erklärte Marielle. Sie war nämlich der Ansicht, dass nach dem Orgasmus jegliches Interesse am Partner erloschen sei. Nach endlosem Streicheln ließ sich die Erregung nicht weiter hinauszögern. Voll mit einer unendlichen Menge an Eindrücken empfand Marielle sich, aber sie hatte keine Lust etwas zu sagen, küsste Julian nur immer wieder und war glücklich. „Es kommt wieder.“ verkündete sie erstaunt, als Julian sie streichelte und Marielle merkte, wie es sie erregte. Sie schliefen nochmal miteinander und die völlig verschwitzte und abgekämpfte Marielle saß im Bett und war glücklich und sprachlos. „Ich hab' Hunger.“ verkündete sie. „Lass uns in die Küche gehen und uns etwas machen.“ Würstchen, Bratkartoffeln und aufgewärmte Frikadellen gab's. Plötzlich stand Myriam in der Tür. Sie war von den Geräuschen um halb vier in der Nacht aufgeweckt worden und wollte nachschauen. Entwurzelt starrte sie die beiden abgekämpften Lover mit ihren Tellern und der Bratpfanne auf dem Tisch an. „Wir hatten Hunger.“ erklärte Marielle. „Ganz viel gearbeitet haben wir.“ fügte sie hinzu. Der anfängliche Schock bei Myriam löste sich, und sie platzte laut lachend los. Immer noch lachend drehte sie sich wieder um und ging ins Bett zurück.
„Es kann sein, Julian, dass du die Stimme einer Frau hörst, und ihr Klang lässt dich nicht wieder los. Du hörst sie immer wieder und willst sie immer wieder hören. Wie süchtig bist du danach. In alten Märchen, Sagen und Mythologien wird das immer wieder beschrieben. Aber bestimmt gibt es ja auch anderes, was du wahrnehmen kannst und unbedingt brauchst, wie zum Beispiel ein Kind nicht schlafen kann, wenn es seinen Teddy nicht spürt. Könntest du dir vorstellen, dass es bei dir auch so etwas geben könnte.“ fragte Marielle. Julian grinste und erwartete gespannt, worauf sie hinaus wollte. „Ich befürchte, dass sich bei mir so etwas entwickelt.“ fuhr Marielle fort, „Es gibt mir so ein wundervolles Gefühl von Wärme, Zutrauen, Geborgenheit und Liebe, dass ich gar nicht wüsste, wie ich in Zukunft einschlafen sollte, ohne dich zu spüren. Kann es sein, dass man in so kurzer Zeit süchtig wird?“ „Marielle, ich bin es schon lange, selbst ohne deinen Körper spüren zu dürfen. Das verstärkt die Sucht nur. Wir sind ihr hilflos ausgeliefert. Das müssen wir akzeptieren. Aber wollen wir es den anders?“ Julian dazu. „Nein keinesfalls, wir werden unsere Sucht lieben und pflegen.“ war Marielles Ansicht. Aneinander gekuschelt schliefen die beiden Süchtigen ein.
„Was ist los, Marielle? Bist du jetzt ganz ausgezogen?“ erkundigte sich Viola. „Sei nicht böse, das hat mit dir nichts zu tun, nur Julian und ich, wir lieben uns.“ erklärte Marielle. Ja richtig, auch mit gemeinsam schlafen und jeden Abend müsse man das, erläuterte Marielle. „Dann kommst du ja nie mehr zu uns.“ schloss Viola erstaunt. Auf einen Kaffee könne sie schon mal kommen, aber sie könnten ja auch nicht gemeinsam üben, und das sei unverzichtbar, war Marielles Erklärung. Marielle kam, Viola umarmte sie und begann zu weinen. „Nichts wünsche ich mir mehr, als dass du so glücklich bist, wie es geht, aber du bist auch ein Teil von mir. Wir beide doch von einander, und wir können uns doch nicht einfach trennen, einfach verlieren. Wenn ich weiß, du kommst zurück, ertrage ich alles, aber die Vorstellung, Marielle wird es für dich nicht mehr geben, ist unerträglich für mich. Kannst du das ein wenig nachvollziehen?“ fragte Viola. Ja tatsächlich, Marielle hatte alles ausgeblendet. Nur noch ihre Liebe zu Julian hatte alles dominiert, schon lange bevor sie es sich offiziell erklärt hatten. Sie schaute lange sinnierend zur Wand und sah, dass da auch noch eine andere Marielle war. Eine Marielle, die glücklich, sehr glücklich gewesen war, bevor sie Julian kannte, und die sie eigentlich nicht verlieren wollte. Sie viel Viola um den Hals und begann zu weinen. „Ich will das nicht, ich will das so nicht, aber ohne Julian und Klavierspielen geht es auch nicht.“ sagte Marielle.
Mann wollte ein Klavier besorgen. Nein, das war albern. Ein Flügel musste es schon sein. Gemeinsam wollte man einen aussuchen. So einen, den Julian hatte, gab es längst nicht mehr. Man meinte einen passablen gefunden zu haben, nur der daneben, schien aus einer anderen Klasse zu kommen. Wundervoll, das erkannte auch Viola. Jetzt hörte sich der andere schlicht an. Nein, dieser sollte, musste es sein. „Nein, niemals.“ entfuhr es Viola, als sie den Preis vernahm. „Ich kann das nicht bezahlen. Der ist ja teurer als ein dickes Auto, und dann in einem Haus, in dem niemand Klavier spielen kann. Wer in aller Welt würde uns nicht für verrückt erklären?“ Julian und Marielle sagten nichts. Claude, der sich bislang völlig zurückgehalten hatte, mischte sich ein: „Du hast ja Recht Viola, nur es geht doch primär um etwas anderes, es geht doch um Marielle, deine Tochter. An den Kosten würde ich mich auch beteiligen wollen. Ich käme ja schließlich auch in den klanglichen Genuss. Ich will dich zu nichts überreden, aber wenn ich mich in deine Lage zu setzen versuche, würde ich mich dafür entscheiden und Marielle zeigen, dass sie mir das wert ist.“ Viola sprach nicht mehr. Erweckte den Anschein, als ob sie mit sich ränge, hatte sich aber wohl längst entschieden. „Aber nur unter der Bedingung, dass wir Julian ganz oft zu hören bekommen.“ gab Viola scherzend ihr Einverständnis.
Darauf brauchte nicht geachtet zu werden. Ein klangliches Wunder bedeute der neue Flügel für Julian gegenüber seinem alten, und den beiden zuzuschauen bei ihren täglichen Übungsritualen bedeutete für Viola und Claude jedes mal ein kleines Fest, das sie nicht selten zu Tränen rührte. Jetzt konnte Viola ihre Lieder auch direkt zum Klavier singen und Julian war begeistert. Begeistert war er von allem, nicht nur von dem Flügel und Violas Gesang, auch vom Frühstück und davon dass Marielles Bett größer war als seines. Hier waren sie allein mit den beiden Erwachsenen und standen im Zentrum. Julian überlegte, was ihn überhaupt noch an zu Hause binde, besprach es mit seinen Eltern und zog zu Reichmanns. Jetzt wohnte Marielle nicht nur mit ihrem kleinen Herrn Horowitz zusammen, sondern sie führten auch bei Schulfeiern ihre Kunststücke gemeinsam vor. Einen ganzen Cello-Klavierabend gestalteten sie und das anschließende Gespräch mit einem Vater, bildete den Ausgangspunkt zur Gründung eines Schulorchesters.
Vielleicht waren das alles die Hintergründe gewesen, die Claude in die Kneipe gerufen hatten. Für sich eine neue wundervolle Liebe finden und deren Tochter einer Liebe mit Sachses Sohn zuzuführen. Das alles zu erleben und damit leben zu dürfen, konnte so etwas ein Mensch planen? Da musste es jemanden geben, der so etwas in Bewegung setzen konnte, aber wer würde das beim Durst auf kühles Bier schon vermuten.
FIN
Làoù on s’aime, il ne fait jamais nuit.
Die Beziehung zu einer Frau, Liebe und Dergleichen, Claude spürte kein emotionales Verlangen mehr, betrachtete es jetzt unter rationalen Gesichtspunkten. Natürlich wäre jemand da, mit dem man sich unterhalten und Freude haben könnte, aber er wäre nicht mehr für sich allein gewesen. Er wollte sein Leben, sein eigenes Leben leben. Die ständige Anwesenheit einer Frau und die Rücksichtnahme auf sie in seiner Umgebung käme Claude eher lästig vor. Sein Leben aufzugeben, und es mit dem einer Frau zu verbinden, war nicht nur kein Wunschtraum für Claude. Er wollte es ausdrücklich nicht und würde es nicht tun. Zufrieden war er, so wie er lebte. Seine Arbeit füllte ihn aus. Er ging voll darin auf, und über mangelnde Freunde und Bekannte konnte er sich nicht beklagen. „Na, mein König der Selbständigkeit, Claude der Erste. Was bin ich denn jetzt, deine Königin oder die Königin von einem fernen Land? Der Eigenständigkeit vielleicht?“ fragte Viola lachend. „Claude, wir waren verrückt von Anfang an. Die Vorstellung, sein eigenes Leben zu führen, sich selbst zu verwirklichen, finde ich ja nach wie vor richtig, nur es war das erste, was wir tatsächlich abgebaut haben. Wir haben uns immer auf die Beziehung, die Liebe fixiert, und solange es die nicht gab, war alles in Ordnung. Sie war auch von Anfang an da, nur die konnte man ja leugnen. Aber was spricht denn gegen Liebe bei selbständiger Lebensführung? Wir haben es immer mit der Paarbindung in dem Beziehungsclinch der Kleinfamilie assoziiert. Claude, ich glaube, wir sollten uns mal richtige Gedanken machen und dabei auch gut zuhören, was unser Bauch und unser Herz uns sagen. Deine Vorstellung von Eigenständigkeit zum Beispiel, die permanente Anwesenheit einer Frau nicht ertragen zu können, hat sich durch deine eigene Praxis als eine theoretische Chimäre erwiesen. Unser Bewusstsein ist nicht nur eine nützliche Hilfe zur Bewältigung unseres Alltags, es kann uns auch mächtig in die Irre führen und zu dummen Einschätzungen und Handlungen veranlassen.“ analysierte Viola die Situation.
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2013
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