Carmen Sevilla
Die Frau am Nachbartisch
Quellnymphe für Julian
Erzählung
Aimer, c'est trouver sa richesse hors de soi
Am Nachbartisch war sie mir aufgefallen, schon mit ihrem Lachen und ihrer Art zu sprechen, aber mehr hatte Sophies gesamte Erscheinung in mir Assoziationen und Bilder geweckt, die ich nicht benennen konnte, die mich beim Essen immer wieder zu ihr hinüber schauen ließen. Ich musste Kontakt zu ihr bekommen, und wie und was dann? Keine Vorstellung gab es dazu bei mir. Sophie hatte hatte es mir abgenommen und dafür gesorgt, dass wir uns beim Kaffee unterhalten konnten. Ob der erste Blick auch ihr weiteres Verhalten gesteuert hatte? Jetzt konnte ihr Blick sagen, dass sie nach einigen Stunden mehr von mir wusste, mich besser kannte, als meine guten Freunde. Noch mehr wollte sie erfahren. Vielleicht auch, was ich selbst gar nicht von mir wusste. Manches davon hatte sie bestimmt schon erkannt. Am liebsten hätte ich sie angerufen. Ihre Stimme hören, erfahren, ob sie an mich denkt, gestern Abend noch an mich gedacht hatte. Dafür rief Valerie an. Nein, ich wollte sie nicht hören, und ich würde auch heute Abend nichts mit ihr unternehmen. Valerie war ein Problem. Wir liebten uns nicht, aber wir hingen immer zusammen. So würde es weiterlaufen, bis wir alt wären. Das entsprach nicht den Vorstellungen von meinem weiteren Leben. Jetzt wäre es noch am einfachsten gewesen. Ich hätte nur zu sagen brauchen „Valerie ich habe keine Lust, ich will es nicht mehr.“ Längst hatte ich das schon tun wollen, aber immer allein ins Konzert, ins Kino, ins Bett gehen war im Moment dann doch nicht sehr verlockend. Wir waren uns so oft sehr nahe, doch im Grunde blieb Valerie mir immer fern. Sollte ich ihr jetzt sagen, dass ich eine neue Freundin hätte? Nein, ich sagte nichts, nur dass ich heute Abend keine Zeit hätte. „Nein, Valerie auch später nicht.“ lehnte ich alles kurz ab. Ich konnte ihr ja nicht sagen, dass ich sie heute nicht sehen, überhaupt nicht an sie denken wollte, dass sie störte in meinen Gedanken und meinem Empfinden. Das tun, was ich zu erledigen hatte, wollte ich und ansonsten ein wenig mit Sophie spinnen. Mir Situationen mit ihr ausdenken und immer wieder ihr Gesicht sehen. Die schulterlangen blonden Haare mit einem ganz leicht gelblichen Touch umrahmten ein Gesicht, das man als offen, natürlich, vielleicht sogar unschuldig hätte bezeichnen können. Aber das traf nicht Sophie. Nicht nur zwischen Valerie und mir fehlte das, was ich unter Liebe verstand. Im Grunde konnte ich nichts zur Liebe sagen, denn so, wie man Verliebtsein beschreibt, hatte ich noch nie eine Beziehung zu einer fremden Frau oder einem Mädchen erfahren. Es war immer ganz nett gewesen, man hatte sich verstanden und mochte sich. Vielleicht war es auch am besten so. Wenig belastend und keine Verpflichtungen. Gestört hatte es mich jedenfalls nicht, und die Sehnsucht nach der großen Liebe? Ich denke nicht, dass sie mich quälte. Eine Frau oder ein Mädchen, an die ich ständig denken musste, das kannte ich eigentlich nicht. Aber ich konnte mich doch nicht in Sophie gleich beim ersten Gespräch verliebt haben. Es war ja auch gleichgültig, ob ich es als Liebe bezeichnete, was mich mit Sophie verband?
Die Frau am Nachbartisch – Inhalt
Die Frau am Nachbartisch 4
Angequatscht 4
Bin ich auch eine wunderschöne Frau? 5
Veränderte Welt 6
Aber gern mag ich dich schon 7
Sophie, ich glaube, dass ich dich liebe 8
Sophie war meine Prinzessin 9
Du liebst mich nur am Abend, wie? 10
Morgen wirst du wieder fort sein 11
Lauf der Dinge in der Welt mit Sophie 11
Und die Nächte waren zu kurz für die Liebe 12
Coming out 12
Nicht Hexe, sondern Engel 14
Jetzt nehme ich dir die Liebe weg 15
Willst du nicht meine Schwiegermutter sein? 16
Julian, wo bleibt der Champagner? 17
Meine Freundin eine Nymphe, meine Mutter eine Fee 18
Sophiechen, du brauchst doch Platz zum Tanzen 18
Was wir vielleicht suchen könnten 19
Sophie will Kommunistin werden 20
Sandra, die Liebe ist dahin 21
Die elegante, attraktive Diva 22
Jetzt sind wir alle Freundinnen 23
Irgendwann werden wir alle wieder gesund sein 23
Sie konnte nur eine Quellnymphe sein 24
„Studierst du nicht auch an der philosophischen Fakultät?“ fragte ich dümmlich. Ich musste es unbedingt versuchen. Jetzt oder nie. Während des Essens hatte ich immer wieder zu ihr hinüberschauen müssen. Sie sah schon gut aus, aber davon gab's viele. Wie sie sprach, und wie sie lachte. Ich musste sie unbedingt kennenlernen und war blockiert, wusste nicht was ich sagen sollte, nur diese Phrase fiel mir ein. Noch nie hatte ich eine Frau einfach angesprochen, weil sie mir äußerlich gefiel. Die junge Frau lächelte mich an. „Du wolltest mich ansprechen, nicht wahr? Gefalle ich dir?“ fragte sie. Jetzt wusste ich noch viel weniger, was ich sagen sollte. Sie merkte es und meinte: „Das ist doch ganz o. k.. Wie willst du's sonst machen. Was gefällt dir denn an mir, mein Hintern oder meine Titten?“ Meine Schwierigkeiten wurden kaum kleiner. Genauso kam ich mir vor. „Das ist doch Quatsch.“ kommentierte ich nur kurz. „Alle Männer schauen doch zuerst dort hin. Aber stimmt, davon konntest du ja nichts sehen.“ meinte sie. „Ich habe dich beim Essen gesehen, wie du sprachst und wie du lachtest, und das gefiel mir.“ erklärte ich leicht verlegen. Sie lächelte wieder, immer lächelte sie, nach jedem Satz, den sie sagte und besonders, wenn ich etwas sagte. Immer lächelte sie ein wenig anders und ließ ihre Mimik und ihre Augen dazu mitsprechen. Manchmal war es gut zu verstehen, aber oft blieb es mehr im Rätselhaften, und sollte es wohl auch. „Da hast du dir gedacht, die muss ich unbedingt mal kennenlernen. Vielleicht spricht sie mit mir ja auch und lacht dazu, oder?“ fragte die junge Frau. Ich konnte nur grinsend lachen, war verlegen und auch froh, dass sie nicht harsch ablehnend reagiert hatte. „Aber wenn du sprechen willst, dann lass uns das doch anderswo tun und nicht hier in der Mensa.“ meinte sie. „Bei einem Kaffee im Bistro, wäre das gut?“ fragte ich sie. Wir gingen ins Bistro. Sie hieß Sophie, und ich sagte ihr, dass ich Julian hieße. Wir suchten nach anderen Möglichkeiten, sich anzusprechen und platzten dabei jedes mal los vor Lachen, weil wir es auch ein wenig spielten, und doof waren sie ja alle. Man müsste es einfach ehrlich sagen können. Aber Sophie hatte schon Recht, dann würden die meisten sagen müssen: „Ich finde ihren knackigen Hintern so geil.“ oder Ähnliches. Sophie studierte BWL und das hätte außer ihr noch niemand am philosophischen Institut versucht, wenn ich sie da gesehen haben wollte. „Mein Herz hängt nicht daran. Wenn es so weiter gegangen wäre, wie in der Schule, nur ein wenig intensiver, hätte ich alles studieren können. Das Studium hat ja in kaum einem Bereich Anknüpfungspunkte zu dem, wie es in der Schule gelaufen ist. Meine Vorstellungen von den Studienfächern waren mit Unannehmlichkeiten bis Ekel verbunden. Ich musste etwas anderes machen. Bei Jura hatte ich auch Horrorvorstellungen. Von BWL wusste ich kaum etwas, nur dass man hinterher ein passables Einkommen haben würde.“ erläuterte Sophie und lachte wieder. Sie musste mir die Grausamkeiten der einzelnen Studienfächer beschreiben. Was sie zu Germanistik sagte, das ich studierte, empfand ich zum Teil berechtigt, nur da war noch vieles mehr, Positives, Schönes, das sie nicht gesehen hatte. Gegen Philosophie, mein zweites Fach, hatte sie nichts einzuwenden, sie hielt es nur für eine brotlose Kunst, die trotzdem mit viel Pauken verbunden war. Kunst- und Musikunterricht an der Schule empfand sie als Betrug, weil diese beiden Fächer mit dem Abitur nicht zum Studium befähigten. „Du musst ja schon eine tolle Künstlerin sein oder ein ganz ausgezeichneter Pianist, wenn du eine Chance haben willst. Aber das ist deine Privatangelegenheit. Die Schule bietet dazu keine Anlässe.“ meinte Sophie. Jetzt sei sie traurig, dass sie kein Instrument spielen könne, als Kind sehe man das gar nicht. Wir unterhielten uns über Musik, unsere Vorlieben, Konzert- und Opernbesuche und welche Stimmen uns am besten gefielen. Ein endloses Thema, bei dem man auch viel Persönliches vermittelte. Das tat Sophie sowieso, wenn man ihr beim Sprechen genau zuschaute. Ich wahrscheinlich auch, aber ich wusste ja nicht, wie intensiv sie mich betrachtete und wahrnahm.
Zu gefallen schien es ihr aber schon. Offensichtlich dachte sie nicht daran, unser Gespräch sehr bald zu beenden. „Weißt du, Julian, dieses ständige Sitzen und dabei Kaffee trinken entspricht auf Dauer nicht den Bedürfnissen der menschlichen Physiologie. Sollen wir nicht hier vorne im Park spazieren gehen und uns dabei weiter unterhalten?“ schlug Sophie vor. Na toll. Was fand sie denn wohl so interessant an mir, dass sie ein Seminar ausfallen ließ, um sich weiter mit mir zu unterhalten. Sie war es doch nicht, die mich angesprochen hatte. Rossinis 'Barbier von Sevilla' sei ihre liebste Oper, sie sei lustig und wunderschön. „Nur du musst sie auf italienisch hören, Julian, auf deutsch tut das immer weh. Aber das gilt ja für die ganzen italienischen Belcanto Opern. Die sind eben nicht für die deutsche Sprache geschrieben.“ war Sophies Ansicht. „Ja, das 'Una voce poco fa' mit Cecilia Bartoli hat sich mir unvergesslich eingeprägt. Da war sie noch jünger, eine wunderschöne Frau.“ ergänzte ich. „Findest du, dass ich auch eine wunderschöne Frau bin?“ wollte Sophie von mir wissen. Typisch für sie, soweit kannte ich sie schon. Ich konnte nur lachen, auch wenn Sophie gespannt lächelnd meine Antwort erwartete. „In meinem Schönheitswettbewerb bist du die Miss University und Miss Universe.“ reagierte ich schließlich. „Aber ich bin doch ein völlig anderer Typ als Cecilia Bartoli.“ meinte Sophie. „Na, vielleicht gibt es noch schönere Schwedinnen als Italienerinnen. Die schönsten sind sowieso die griechischen Quellnymphen. Von der Najade Aigle wirst du abstammen, das sieht man doch deutlich. Vergil hat sie in seinen Bucolica schon als die schönste lyrisch verehrt, heute würde er dir seine Verse widmen. Da bin ich ganz sicher.“ erklärte ich dazu. Jetzt zeigte Sophies Lächeln deutlich mokante Züge. Sophies Schönheit war nur ein Scherz und kein Thema, über das wir uns weiter unterhielten, wohl aber ihre Bio und meine natürlich auch. Sie war unter ungewöhnlichen Bedingungen als Einzelkind aufgewachsen, ich hatte zwei Brüder und eine Schwester, alle älter als ich und üblich waren die Bedingungen auch nicht gerade. Wir kamen immer wieder von konkreten Ereignissen ins Allgemeine und drehten dabei im Park eine Runde nach der anderen. „Jetzt mal wieder zum Aufwärmen einen Kaffee?“ schlug ich fragend vor. „Sophie, was tun wir eigentlich? Ich wollte nur die Chance nicht verstreichen lassen, dich eventuell kennenzulernen. Und jetzt …?“ wunderte ich mich. „Was tun wir anderes, als uns gegenseitig kennenlernen. Wie willst du dich anders kennenlernen als im gemeinsamen Gespräch?“ antwortete Sophie. Ich starrte in ihre wasserblauen Augen. „Kennst du schon sehr viel von mir?“ fragte sie. Ich nickte nur. „Möchtest du noch mehr von mir kennenlernen? Ich von dir schon. Sollen wir uns dazu mal treffen? Jetzt bleibt nicht mehr viel Zeit. Es geht schon auf den Abend zu.“ meinte sie. Wenn ich wieder zu Hause wäre, würde ich alles mal für mich detailliert sortieren und klären müssen. „Natürlich, wo denn? Wieder hier?“ stimmte ich zu. „Nein, wir wissen ja nicht, wie das Wetter sein wird. Du kommst zu mir, und dann überlegen wir, wie wir's machen. Spazieren gehen kann man bei mir auch, nur sind da mehr Mütter mit Kindern und so.“ schlug Sophie vor. Wir standen voreinander und starrten uns lächelnd an. Plötzlich war uns beiden klar, dass wir uns zum Abschied umarmen mussten. Anschließend wieder angrinsen und ein symbolischer Klaps vor meine linke Schulter.
Hat sich meine Welt verändert? In nur einigen Stunden? Eine Welt mit Sophie. Ich ahnte nichts von ihr, und jetzt lebt sie mit mir, in meinen Gedanken und meinen Emotionen. Eine fremde Frau, die mir fast plötzlich ganz nah ist. Erfassen, verstehen kann ich es nicht. Ich spüre nur, wie es sich warm und zart anfühlt, es mich mit wohliger Sanftheit erfreut, dass jetzt ein neuer Mensch bei mir wohnt, und dass dieser Mensch Sophie ist. Ganz viel Raum werde ich Sophie geben. Wie sie mich wohl sieht? Was ich ihr wohl bedeute. Ich möchte ihre Bilder sehen. Sicher wird sie mich mögen, aber ob sie es, wie ich auch, gar nicht abwarten kann, dass wir uns wieder treffen? Ob sie auch immer an mich und das Geschehen heute Nachmittag denkt? Im Schlaf würde sich alles sortieren, das Unbedeutende würde vergessen werden und das Wesentliche sich einprägen. Morgen früh sähe ich alles viel klarer, dachte ich, aber mein Kopf schien nicht so lange warten zu wollen. Schon jetzt drängten sich mir immer wieder andere Szenen auf, ich suchte nach Begründungen und Erklärungen, wollte Zusammenhänge herstellen und meine Assoziationen begründen. Das blieb den ganzen Abend so, und ich schlief damit ein. Meine ersten Gedanken am Morgen beschäftigten sich auch mit Sophie und unserem Zusammentreffen, nur klarer war mir in der Nacht nichts geworden. Es blieb ein Miracle.
Am Nachbartisch war sie mir aufgefallen, schon mit ihrem Lachen und ihrer Art zu sprechen, aber mehr hatte Sophies gesamte Erscheinung in mir Assoziationen und Bilder geweckt, die ich nicht benennen konnte, die mich beim Essen immer wieder zu ihr hinüber schauen ließen. Ich musste Kontakt zu ihr bekommen, und wie und was dann? Keine Vorstellung gab es dazu bei mir. Sophie hatte hatte es mir abgenommen und dafür gesorgt, dass wir uns beim Kaffee unterhalten konnten. Ob der erste Blick auch ihr weiteres Verhalten gesteuert hatte? Jetzt konnte ihr Blick sagen, dass sie nach einigen Stunden mehr von mir wusste, mich besser kannte, als meine guten Freunde. Noch mehr wollte sie erfahren. Vielleicht auch, was ich selber gar nicht von mir wusste. Manches davon hatte sie bestimmt schon erkannt. Am liebsten hätte ich sie angerufen. Ihre Stimme hören, erfahren, ob sie an mich denkt, gestern Abend noch an mich gedacht hatte. Dafür rief Valerie an. Nein, ich wollte sie nicht hören, und ich würde auch heute Abend nichts mit ihr unternehmen. Valerie war ein Problem. Wir liebten uns nicht, aber wir hingen immer zusammen. So würde es weiterlaufen, bis wir alt wären. Das entsprach nicht den Vorstellungen von meinem weiteren Leben. Jetzt wäre es noch am einfachsten gewesen. Ich hätte nur zu sagen brauchen „Valerie ich habe keine Lust, ich will es nicht mehr.“ Längst hatte ich das schon tun wollen, aber immer allein ins Konzert, ins Kino, ins Bett gehen war im Moment dann doch nicht sehr verlockend. Obwohl ich ihre Kinowünsche genau kontrollieren musste. Bei Filmen war ich sehr empfindlich. Die meisten konnte ich nicht ausstehen. Ich ging nur ins Kino, wenn der Film bei einem Festival Preise bekommen hatte, nominiert worden war, gute Rezensionen hatte oder von einem mir bekannten Regisseur stammte. Valerie interessierte so etwas nicht. Sie war mehr der allgemeinen öffentlichen Meinung zugeneigt. Wir waren uns so oft sehr nahe, aber Valerie blieb mir immer ganz fern. Sollte ich ihr jetzt sagen, dass ich eine neue Freundin hätte? Nein, ich sagte nichts, nur dass ich heute Abend keine Zeit hätte. „Nein, Valerie auch später nicht.“ lehnte ich alles kurz ab. Ich konnte ihr ja nicht sagen, dass ich sie heute nicht sehen, überhaupt nicht an sie denken wollte, dass sie störte in meinen Gedanken und meinem Empfinden. Das tun, was ich zu erledigen hatte, wollte ich und ansonsten ein wenig mit Sophie spinnen. Mir Situationen mit ihr ausdenken und immer wieder ihr Gesicht sehen. Die schulterlangen blonden Haare mit einem ganz leicht gelblichen Touch umrahmten ein Gesicht, das man als offen, natürlich, vielleicht sogar unschuldig hätte bezeichnen können. Aber das traf nicht Sophie. Ihr Gesicht änderte sich mit ihrer Mimik, die über tausend Variationen verfügte. Nicht nur zwischen Valerie und mir fehlte das, was ich unter Liebe verstand. Im Grunde konnte ich nichts zur Liebe sagen, denn so, wie man Verliebtsein beschreibt, hatte ich noch nie eine Beziehung zu einer fremden Frau oder einem Mädchen erfahren. Es war immer ganz nett gewesen, man hatte sich verstanden und mochte sich. Vielleicht war es auch am besten so. Wenig belastend und keine Verpflichtungen. Gestört hatte es mich jedenfalls nicht, und die Sehnsucht nach der großen Liebe? Ich denke nicht, dass sie mich quälte. Eine Frau oder ein Mädchen, an die ich ständig denken musste, das kannte ich eigentlich nicht. Aber ich konnte mich doch nicht in Sophie gleich beim ersten Gespräch verliebt haben. Es war ja auch gleichgültig, ob ich es als Liebe bezeichnete, was mich mit Sophie verband?
Wieder standen wir uns grinsend gegenüber, als Sophie mir die Tür öffnete. Wahrscheinlich hätten wir uns beide gern umarmt. Warum wir es nicht taten, weiß ich nicht, aber wir begrüßten uns französisch, als wenn es selbstverständlich wäre, nur das tat ich sonst nie. Ich umarmte jemanden oder gab ihm die Hand. Den Blicken muss doch wohl etwas Telepathisches innewohnen. „Sandra ist auch noch da, meine Freundin.“ sagte Sophie. Sandra schien mich zu kennen. Wie einem guten Freund lächelte sie mir zu, als sie mir ihre Hand gab. „Ich habe jetzt auch einen Freund.“ meinte sie sofort, „Da muss ich mich auch schon mal öfter drum kümmern und kann jetzt nicht mehr so oft mit Sophie zusammen sein. Aber wenn sie jetzt auch einen Freund hat, ist das ja nicht so schlimm.“ Ich schaute verdutzt aber Sophie lächelte nur. „Sandra,“ sagte sie dann, „ich habe dir doch gesagt, dass wir uns länger unterhalten haben und dass wir es fortsetzen wollen, sonst nichts.“ Jetzt schaute Sandra Sophie mit großen Augen an. Offensichtlich hatten die beiden es aus Sandras Sicht wohl ganz anders besprochen. „Eine große Ehre ist das, wenn Sophie so gern mit dir redet. Bei den meisten ist es schon nach einem kurzen Moment vorbei. Unsere Freundschaft hat auch so begonnen. Wir haben miteinander geredet, drei Tage und zwei Nächte. Reden, Wein trinken, Schlafen, Reden, Wein trinken und so weiter.“ erklärte Sandra. „Und dann, nach den drei Tagen wart ihr Freundinnen?“ vermutete ich. „Mehr, Julian, wir haben erkannt, dass wir Schwestern sein mussten, Zwillingsschwestern, siamesische Zwillinge, die an der Seele zusammengewachsen waren. Du kannst nicht Sophie weh tun, ohne dass es mich schmerzt.“ erläuterte Sandra dazu. „Werden wir jetzt auch drei Tage und zwei Nächte miteinander reden, Sophie? Und was sind wir dann?“ fragte ich. „Verheiratet.“ lautete Sophies knappe Antwort. „Sophie, zwei Tage und ohne Heirat würden mir auch reichen und wären mir zunächst sogar noch lieber.“ war meine Ansicht dazu. Sandra ging, große Umarmung mit Sophie und Küsschen auf die Stirn für mich.
Sophie erzählte noch etwas zu Sandra. Dabei erklärte sie: „Aber gern mag ich dich schon, Julian, sehr gern. Ich habe oft an dich denken müssen.“ Sie sagte es langsam, getragen und nur halblaut. Dabei glitten ihre Fingerkuppen zart über meinen Handrücken auf dem Tisch. Ich beugte meinen Kopf und berührte ihre Hand mit meinen Lippen. Sophie hielt mir ihre Hand entgegen und ich ließ Lippen und Zungenspitze jeden Finger erkunden. Mit der anderen Hand zog Sophie meinen Kopf zu sich und reckte mir ihren entgegen, damit unsere Lippen sich berühren konnten. Nach zarten Lippen- und Zungenspielen küssten wir uns richtig. Wir saßen immer noch zueinander gebeugt auf entfernten Küchenstühlen. „Komm, wir gehen zur Couch.“ schlug Sophie vor. „Oder hierhin?“ fragte sie, als wir an der offenen Schlafzimmertür vorbei kamen. Auf dem Bett wollten wir weiter küssen und schmusen. Alles blieb auf Gesicht und Hals beschränkt, aber unsere Hände waren längst anderswo am Körper. „Sophie, ich will das nicht und kann das nicht.“ erklärte ich. Sie starrte mich erschrocken an. „Sophie, ich glaube, dass ich dich liebe. Wir wollten mehr voneinander erfahren, uns noch besser kennenlernen, das tun wir nicht, sondern wollen miteinander schlafen. So gefällt mir das nicht.“ erläuterte ich. „Ich habe das auch keineswegs so geplant, Julian. Wir würden uns unterhalten, hatte ich gedacht, genau wie du. Vielleicht gibt es etwas in uns, das schneller ist als unsere Gedanken, und für das schon alles längst klar ist. Es wäre Zeit für das körperliche unserer Liebe, hat es uns vorhin am Tisch gesagt, dir auch. Du hattest Lust meine Finger zu küssen und meinen Mund. Alles andere kannst und willst du nicht?“ fragte Sophie. „Sophie, ich liebe dich, und möchte, dass Liebe und Verständnis uns tief durchdringen und fest werden, so wie zwischen Sandra und dir, und nicht, dass wir befreundet sind, weil's uns im Bett so gut miteinander gefällt.“ erklärte ich. „Grundsätzlich möchtest du schon, nur du siehst eine Gefahr darin, wenn alles so schnell geht. Wir sollten uns lieber erst noch mal ausführlich unterhalten.“ interpretierte Sophie mich. Mit „Dann lass uns mal einen neuen Kaffee machen.“ stand sie auf und kam kurz darauf zurück. Jetzt redeten wir über Sex und Liebe. Grundsätzlich entstamme die Lust auf Sex dem Fortpflanzungstrieb und habe originär mit Liebe, die zur Kategorie des Sozialen gehöre, nichts zu tun. Die sexuelle Präferenz könne aber individuell sehr unterschiedlich sein und sei für die Mehrheit an die Sozialform der Zuneigung und vertrauensvollen Liebe gebunden, lautete unsere gemeinsame Schlussfolgerung. Wir wollten auch darüber sprechen, was uns beim Sex gut gefiel, wobei sich herausstellte, dass Sophie schon über vier Jahre nicht mehr mit einem Mann geschlafen hatte. Man ging davon aus, dass fast jede und jeder jemanden haben würde, mit dem er ins Bett ging, nicht so Sophie. „Na ja, was soll ich machen? Mit jemanden ins Bett gehen, den ich nicht mag, das kann ich nicht. Da mach ich's mir lieber selber, wenn's sein muss.“ erklärte Sophie. Bei Erörterungen über Liebe und Freundschaft vertieften wir diese, nicht zuletzt dadurch, dass wir bei jedem Satz, der uns gefiel, Küsse austauschen durften. Wir unterhielten uns weiter auf dem Bett sitzend, standen zum Abendbrot auf, und anschließend beim Wein auf der Couch fragte Sophie mit einem süffisanten Anklang im Lächeln, wie ich den Stand unserer gemeinsamen Kennenlerngespräche beurteile.
Weil ich nur grinste, erläuterte sie weiter: „Ja, ich meine, ob du ihn schon für so weit fortgeschritten hältst, dass er jetzt auch ein wenig mehr Körperlichkeit als gegenseitiges Küssen verträgt.“ Selbst wenn es mir zu einem späteren Zeitpunkt lieber hätte sein sollen, der erste Mann seit über vier Jahren zu sein, mit dem Sophie ins Bett wollte, hätte mich auch heute Nachmittag schon einverstanden sein lassen. Sophie war meine Prinzessin, es war ihr Abend. Aber sie sagte nichts und wollte nichts, sie wartete auf mich, wenn ich ihr jedoch etwas vorschlug, entwickelte sie Leidenschaft. „Julian, ich bin ein wenig, na ja, ungeübt, du hilfst mir, ja?“ Alle uns bekannten Möglichkeiten von Zärtlichkeiten und Liebkosungen probierten wir aus. Sophie lachte immer, wenn sie nicht gerade vor Wonne schmolz. Unser erster Sex gestaltete sich zu einer langen Nacht der freudigen Lust und körperlichen Liebe. Als der Morgen nicht mehr fern war, glänzte Sophie vor Freude. „Schön, nicht war?“ sagte sie, und weil ich so lachen musste, wollte sie wieder auf mich los gehen. Mit „Ach, ich kann nicht mehr.“ brach sie es ab. Sie streichelte meinen Kopf, der auf ihrer Schulter lag. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, hörte nur, wie sie sagte: „Wenn wir noch länger gewartet hätten, wäre es bestimmt noch viel schöner geworden.“ „Sophie, wenn man ganz schlapp ist, darf man nur noch liebe Worte formulieren, und nicht solche Frechheiten ablassen.“ reagierte ich darauf. „Ich freue mich schon darauf, zu sehen, wer wir uns morgen früh sein werden. Hast du schon ein Bild?“ fragte Sophie. „Ich bin völlig schlapp und müde und habe nur Bilder vom Schlafen in deinen Armen.“ war meine Ansicht. „Ich glaube, ich bin viel zu aufgekratzt zum Schlafen, aber wenn der Schlaf zu dir kommt, wir er mich bestimmt auch mitnehmen.“ Sophie dazu.
Am folgenden Mittag war die Nacht noch nicht aus unseren Gesichtern gewichen. Wir sprachen kaum, sondern warfen uns immer nur verständnisvolle Blicke zu. Ich verstand sie aber nicht. Sophies Blicke wirkten immer ein wenig stolz, sich selbst anerkennend, als wenn sie sagen wollte: „Wir waren ganz schön gut, nicht wahr?“ oder „Wir wissen eben, wie man Liebe macht.“ Ich glaube schon, dass sie tatsächlich auch ein wenig stolz war auf die letzte Nacht. Sie fand es überwältigend, wie sie es erlebt hatte, obwohl sie sich vorher wegen der langen Vakanz als ein bisschen unsicher empfunden hatte. „Julian, du darfst mich heute nicht zu oft ansprechen.“ meinte Sophie. Auf meinen fragenden Blick erklärte sie, dass sie ihr Glück genießen müsse. „Ich gehe ja sowieso gleich, dann kannst du es völlig ungestört genießen.“ ich darauf. „Wieso das denn? Du bleibst, oder wartet deine Freundin auf dich?“ Sophie barsch. „Sophie, du bist entsetzlich, eine Freundin gibt es nicht mehr.“ reagierte ich. „Na gut, obwohl ich ja eigentlich erst mit ihr sprechen wollte. Das bleibt schon ein dunkler Punkt im Bild von dir, auch wenn du's eingesehen hast. Aber dein machohaftes Verhalten scheint sich bei dir ja wohl nur auf die ungeliebte Freundin bezogen zu haben. Was willst du denn zu Hause, während ich hier bin?“ fragte Sofie. „Na, Einkaufen und so etwas. Es ist ja Wochenend.“ antwortete ich. „Julian, das Wochenende gehört doch uns, was du zum Essen brauchst, ist alles schon hier. Du könntest höchstens noch zwei Liter Milch holen.“ meinte Sophie. „Und am Montagmorgen sind wir verheiratet?“ erkundigte ich mich. „Wahrscheinlich schon. Unsere Hochzeitsnacht hatten wir ja schon.“ antwortete Sophie und fiel mir um den Hals, küsste und streichelte mich und erweckte nicht den Eindruck, als ob sie es bald beenden wollte. „Nicht jetzt, Sophie, heute Abend.“ meinte ich. „Du liebst mich nur am Abend, wie?“ meinte sie lachend. „Deine Quellnymphe ist heute Nacht bestimmt ein wenig nyphomanisch geworden. Meinst du, dass es sich morgen wieder gelegt haben wird?“ „Sophie, meine Allerliebste, du wolltest doch heute still für dich genießen. Möchtest du denn gern, dass wir jetzt ins Bett gehen?“ fragte ich. „Nein, es ist schon gut. Ich werde mich in Beherrschung üben.“ reagierte sie. Am Abend schien es Sophie aber nicht sehr stark ins Bett zu drängen. Wir hatten die Nachrichten geschaut und waren über eine Meldung zu einer Aktivität der Peoples Global Action (PGA) ins diskutieren geraten. Sophie hatte sich auf die Couch und ihren Kopf auf meinen Schoß gelegt. „Sieh mal, da weiß ich überhaupt nichts von, die kenne ich überhaupt nicht, obwohl ich im nächsten Jahr mein Examen habe. Aber davon will auch niemand etwas hören. Ich habe völlig unkritisch angefangen zu studieren, und muss feststellen, dass ich sehr naiv bin, eine tumbe Maus, die sich fleißig Friedman, Keynes und die Neocons eintrichtern lässt und sich um das wirkliche Geschehen in der Welt nicht kümmert. Das will ich nicht mehr. Ich schäme mich vor mir selbst. Ohne persönliches Interesse habe ich angefangen und pflichtgemäß gepaukt, wie in der Schule auch. Was mich persönlich interessieren könnte, habe ich nicht gesucht und nicht gefunden. Jetzt erst fangen bei mir die Lichter langsam an, zu leuchten. Wir unterhielten uns weiter über Globalisierungskritik, alternative Wirtschaftskonzepte und Initiativen, und Sophie überlegte, wie sie sich weiter kundig machen könne. Wir sprachen allgemein darüber, wie unkritisch die meisten der Studenten, die doch über höhere Bildung verfügen sollten, ins Studium gingen. Wir hätten ewig weiter diskutieren können, bis Sophie plötzlich meinte: „Miteinander reden erzeugt nicht das Bedürfnis nach Liebe, nicht wahr?“ „Das weiß ich nicht.“ antwortete ich, „Das ist bei allen Menschen unterschiedlich. Bestimmt gibt es auch welche, die gemeinsames Reden erotisch finden, wie ich zum Beispiel.“ Jetzt hatte Sophie sich aufgerichtet und schaute mich fragend an. „Ja, nicht allgemein, aber bei dir, wenn ich dir zuschaue, deine Stimme höre, dein Gesicht und seine Mimik sehe, dann habe ich das Empfinden dich zu erleben, dich, wie du mein Begehren weckst und mein Verlangen steigerst.“ erläuterte ich. „Ja, das stimmt, wenn ich dich nur anschaue, ist es auch immer mit Assoziationen verbunden, die mich Lust verspüren und fühlen lassen, dass ich dich begehre. So ist das bei der Liebe zwischen Mann und Frau. Sollen wir dies Thema im Bett mal näher erörtern?“ schlug Sophie vor.
Schon am Sonntagmorgen kam es mir vor, als ob wir jetzt verheiratet wären. Alles war selbstverständlich, dass wir zusammen am Frühstückstisch saßen, dass ich wie zu Hause in Sophies Wohnung agierte. Am Mittag gingen wir spazieren. Mütter mit Kindern trafen wir in dem kleinen Park mit Spielplätzen am Sonntag nicht. „Morgen wirst du wieder fort sein, und wir werden unsere Tage allein leben. Freust du dich darauf, Julian?“ fragte Sophie. Ich antwortete nicht. Mein Blick war Antwort genug. „Es kommt mir selbstverständlich vor, dass du da, dass du bei mir bist. Warum soll das nicht mehr sein. Ich möchte das nicht.“ fügte Sophie hinzu. „Ist es für dich anders?“ fragte sie noch. Immer mit Sophie zusammen sein, also doch verheiratet, schoss es mir durch den Kopf, aber konnte ich mir denn einen Tag, der ohne Sophie schöner wäre, vorstellen? „Du meinst, wir sollten uns eine gemeinsame Wohnung suchen?“ erkundigte ich mich. Sophie machte ein Gesicht, als ob sie nachdächte. „Warum so umständlich? Du kommst einfach zu mir. Das Schlafzimmer wird dein Raum, und das Bett kommt in den Wohnraum. Das Bett gehört zum Leben, es stört mich sowieso, dass es in diesem abgesperrten Raum steht.“ antwortete Sophie.
Verwirrt hätte ich sein müssen, wenn ich gesehen hätte, was mit mir geschah. Ich hatte eine Frau getroffen, traf sie zum zweiten mal, um weiter mit ihr zu reden. Eher ich sie verließ, beschlossen wir, ab sofort zusammen zu leben. Es erschien mir aber wie der selbstverständliche Lauf der Dinge, der Dinge in Sophies Welt, in der Welt mit Sophie. Zunächst hatte ich sie nur in meinen Gedanken und Emotionen gesehen, jetzt sollte ich gemeinsam mit ihr in einer Welt leben und ich wollte es. Wir mussten schnell nach Hause, um alles zu organisieren. Die innenarchitektonischen Probleme mit dem Bett im Wohnraum schienen unlösbar, bis es schließlich doch gelang. Wir holten das Bett rüber, mussten aber noch zweimal umräumen, bis alles ansprechend arrangiert war. Gleich Montag sollten meine Sachen rübergeholt werden. Sandra und mein Freund Max konnten helfen. Wir fuhren noch am Abend zu mir, um zu klären, was zu Sophie mit rüber sollte und könnte. Sandras Freund half auch noch mit. Am Abend bei der kleinen Feier wurde es lustig. „Sophie hat's ja gewusst, verheiratet. Und wann findet die Hochzeitsfeier statt?“ erkundigte sich Sandra. „Jetzt, Sandra. Du gehörtest zu den wenigen geladenen Gästen.“ antwortete ich. „Nein, nein,“ Sophie darauf, „wir machen schon eine richtige Fète, aber später.“
Die Tage waren zu kurz, für alles, was es zu klären, zu bereden und zu organisieren gab, und die Nächte waren zu kurz für die Liebe. Eine wundervolle neue Erfahrung, nach Hause kommen und wissen, jemand erwartet dich in Liebe und ist gespannt auf das, was du zu erzählen hast. Oder du bist noch schnell zur Konditorei gerannt, hast Kuchen besorgt und bereitest den Kaffee für deine Liebste, die gleich aus dem Seminar zurückkommen wird. Wir freuten uns an uns selber und konnten damit ganze Tage gestalten. Am meisten beschäftigte Sofie aber der neue, kritische Blick auf ihr Studium und die Auseinandersetzung mit alternativen Konzepten und Ansichten. Bei Attac war sie sofort Mitglied geworden. Die erste Befragungsinstanz für Sophie war immer ich, dann das Internet und dann nochmal ich. Alle paar Tage kam Sandra zu einem spätnachmittäglichen Kaffee mit der Begründung, sie habe es nicht mehr ausgehalten, ohne das 'junge Glück' wieder zu sehen.
Wir wollten es unseren Eltern mitteilen, dass wir jetzt mit dem Freund, beziehungsweise der Freundin zusammenwohnten. Mit hochgezogenen Augenbrauen und breiten, gepressten Lippen kam Sophie vom Gespräch mit ihrer Mutter zu mir. Sie umarmte mich kurz und erklärte ärgerlich: „Warum rege ich mich auf? Was habe ich denn anderes erwartet? Es will einfach nicht verschwinden, dieses dumme, sinnlose Bedürfnis nach Zuneigung. Warum will ich sie ausgerechnet immer wieder von der, die sie mir noch nie gegeben hat?“ Emotionen habe ihre Mutter nicht, lästerte Sophie weiter über sie. Anerkennung für ihre Schulleistungen habe sie stets bekommen, vielleicht sei sie deshalb immer so fleißig gewesen. Ohne ihren Vater und ihre Tante Henny wäre sie bestimmt längst in der Psychiatrie gelandet. Die beiden und ihre Freundinnen hätten ihr trotz allem das Empfinden einer glücklichen Kindheit vermittelt. Solange sie sich erinnern könne, habe sie von ihrer Mutter ein Bild gehabt, dass sie als sonderbar gezeigt habe, trotzdem habe sie immer auf Liebe, auf ein nettes Wort, auf Freundlichkeiten von ihr gewartet. „Und das ist immer noch so. Wenn ich ihr sage, dass ich einen Freund habe, den ich liebe, und mit dem ich zusammen wohne, dann kann ich es nicht ertragen, wenn sie reagiert, als ob ich es der Verwaltung mitgeteilt hätte. Jedenfalls soll ich dich mitbringen, wenn ich wieder nach Hause komme.“ berichtete Sophie.
Selbst Prüfungssituationen haben nicht den Anstrengungseffekt wie distanzierte, stundenlange Konversation in Smaltalkphrasen. Sophies Vater ließ sich mal zu kleinen Scherzchen ermuntern, aber sonst nur Fragen, was man denn beruflich plane, wie die Chancen denn da stünden etc.. Ohne Emotionen sei sie und nicht zur Liebe fähig, mir schien es eher, dass bei Frau Rosemann die Probleme anderswo lagen. Sie konnte ihre Gefühle und Empfindungen nicht kommunizieren. Aber was sind Anerkennung, Vertrauen, Liebe anders als Formen und Dimensionen von Kommunikation? Sophie würde die Zuneigung ihrer Mutter bestimmt gespürt haben, auch wenn sie nie liebkosend von ihr in den Arm genommen worden war. Jetzt riet Frau Rosemann mir, ich solle mich gut um Sophie kümmern und dafür Sorge tragen, dass unsere Liebe nicht erkalte. „Fangen Sie heute schon damit an.“, hatte sie mir ans Herz gelegt. Vielleicht sagte Frau Rosemann vieles nicht, was sie eigentlich hätte sagen müssen, aber sicher überhörte Sophie auch manches, was nicht in ihr Bild von der kalten Mutter passte.
Mir lag es fern, Sophies Verhältnis zu ihrer Mutter ändern zu wollen, ich machte ihr nur deutlich, dass ich Skrupel hätte, nein es einfach gar nicht könnte, über meine Mutter so pauschale Urteile zu fällen. Urteile über meine Mutter fällte ich überhaupt keine, erklärte ich. „Und warum nicht? Tut ein braver Junge so etwas nicht?“ wollte Sophie wissen. „Sophie, ich beurteile dich auch nicht. Mit 'braver Junge' hat das nichts zu tun, sondern mit Liebe. Ich kann dich fragen, wenn ich etwas nicht verstehe, aber urteilen? das trennt und ist der Liebe wesensfremd. Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich meine Mutter sehr liebe. Sie ist die einzige Frau, außer dir, für die ich je Liebe empfunden habe. Allein das Wort „urteilen“ mag ich schon nicht hören.“ meinte ich dazu. „Ein wenig Ödipus, wie? Da wirst du wahrscheinlich später meine Mutter doch lieber mögen als mich.“ scherzte Sophie. „Ach, es ist ja viel schlimmer.“ kommentierte ich Idiot. Warum musste ich so etwas sagen? Was zwang mich dazu? Was hatte mich veranlasst? Jetzt hatten die Worte meine Lippen verlassen. Sie gehörten mir nicht mehr. Sophies Ohren hatten sie aufgenommen und ihr Gehirn verarbeitete den Sinn. Verwundert blickte sie mich an. „'Viel schlimmer' heißt, deine Mutter und du, ihr habt's wirklich miteinander gemacht?“ interpretierte sie. „Nein, Sophie, sag so etwas nicht. Das ist ein übles Wort, und das war es nicht. Wir haben uns intensiv und ausführlich geliebt, und dabei kam es dann eben auch zu der Körperlichkeit. Aber ich habe versprochen, niemals irgendjemandem etwas davon zu erzählen.“ reagierte ich. „Und von wem ging es aus, von dir oder deiner Mutter?“ wollte Sophie wissen. „Sophie, du verstehst das nicht.“ antwortete ich darauf, „Wir haben nicht zusammen auf dem Bett gesessen, und einer hat gedacht: „Wär' doch mal schön, miteinander zu ficken.“ Wenn einer von uns beiden so gedacht hätte, wäre es niemals dazu gekommen, oder es hätte alles zerstört. Da war auch nichts mit Ödipus. Ich habe nie irgendein sexuelles Empfinden bezüglich meiner Mutter gehabt. Wir haben uns gegenseitig getröstet, erklärt, wie viel wir uns bedeuten, wer wir füreinander sind und wie sehr wir einander lieben. Eine verbale Liebesorgie in all ihrer farbig, sinnlichen Poesie. Deine Emotionen füreinander glühen ohne jede Möglichkeit, Einschränkungen erfahren zu können. In einer anderen Welt bist du, in der Liebe nicht ein Wort ist, sondern wo du meinst sie materiell spüren zu können. Und dabei ist dann gegenseitig das Bedürfnis entstanden, es auch körperlich zu erfahren. Ach, Sophie, wenn meine Mutter meint, du dürftest es erfahren, soll sie's dir erzählen, ich habe schon viel zu viel gequatscht.“ „Habt ihr es denn dann …, Entschuldigung, habt ihr euch denn dann öfter geliebt?“ erkundigte sich Sophie. „Ich konnte es auch nicht verstehen. Es war so berauschend gewesen, und ich wollte es unbedingt wiederholen, bis ich meine Mutter dann endlich richtig verstanden habe. Ein singuläres Ereignis sei es gewesen, das man nicht wiederholen könne. Versuche man es trotzdem, sei es etwas völlig anderes und würde wahrscheinlich die Bedeutung und den Wert des originären Erlebnisses zerstören. „Wie ich dich liebe, weißt du und ich. Was müssen wir dazu wiederholen? Wir haben uns geliebt, aber ich möchte nicht Sex mit meinem Sohn haben. Wir haben einen Kontinent entdeckt, und das kann man nicht zweimal oder dreimal tun.“ hat sie gesagt. Unser Verhältnis hat sich dadurch aber völlig verändert, und vor allem hat meine Mutter sich danach total verändert.“ erläuterte ich es Sophie. Sie war gespannt darauf, Lou, meine Mutter, kennen zu lernen.
Zur Begrüßung umarmten und küssten wir uns wie üblich. Sophie wurde zunächst französisch begrüßt, aber Lou umarmte und küsste sie dann auch. Sie hielten sich immer noch und ihre Gesichter standen sich grinsend gegenüber. „Ja, Lou, das ist sie. So sieht sie aus.“ kommentierte ich ihre Begegnung. „Er wollte mir ja nichts erzählen. Dabei war ich doch so neugierig. Es sei unhöflich und verletzend, mit mir über eure Liebe zu tratschen. Ich solle dich selber fragen, meinte er.“ erklärte Lou. „Ganz schön anständig, dein Junge, nicht wahr? Hast du ihm das beigebracht?“ meinte Sophie dazu. Ich erzählte, dass wir häufiger, seit unser Bett im Wohnraum stünde, auf dem Bett Kaffee trinken würden. „Das ist eine tolle Idee. Dann machen wir das jetzt hier auch.“ fand Lou, und alles wurde vom Tisch aufs Bett transportiert. Als wir beginnen wollten, fiel Lou mir um den Hals. Wenn ich sie besuchte, war sie immer schon high und jetzt zum ersten mal mit meiner Liebsten, das überstieg ihre Kräfte. Lachend mit nassen Augen schaute sie wieder auf. „Ja, Sophie, das ist zu viel für mich und mein empfindliches Seelchen. Die anderen haben Freundinnen und Freunde, ich freue mich, wenn sie glücklich sind, aber mehr weiß ich von ihrer Liebe nicht. Bei Julien (Sie benutzte immer die französische Namensform. So hatte sie ihn auch nennen wollen, aber ihr Mann hatte ihn am Standesamt einfach als Julian angemeldet.) ist alles ganz, ganz anders. Wir lieben uns sehr, und was sein Herz bewegt, lässt meins nicht unberührt. Ich bin glücklich, das Julie bei mir ist, und dazu ist auch noch seine Liebe, sein Glück, bist du Sophie, direkt bei mir. Es bewegt mich, euch beide einfach nur gleichzeitig zu sehen.“ erklärte sie. „Aber, Lou, du kennst Sophie doch überhaupt noch nicht. Vielleicht magst du sie gar nicht, hältst sie für eine Hexe und möchtest nichts mit ihr zu tun haben.“ gab ich zu bedenken. Darauf erhielt ich keine Antwort, sondern nur den Blick einer mokanten Mimik und Sophies Lachen. Wir sprachen darüber, warum und wodurch wir so beschäftigt seien. Lou reagierte angeregt auf Sophies Darstellungen und diskutierte mit ihr. Sollte ich mich kneifen, um zu wissen, dass ich mich in der Wirklichkeit befand und auch dort vernahm, was gesagt wurde. Meine Mutter sprach über Wirtschaft, das hatte noch nie jemand gehört. Sie hatte Volkswirtschaft studiert mit abgeschlossenem Diplom, gearbeitet hatte sie aber nie. Vor allem aber hatte sie nie ein Wort darüber verloren und stets jedes Gespräch über wirtschaftliche Belange verweigert. Warum? Das wusste niemand. Vielleicht hatte sie eine Phobie entwickelt, oder es gab ein Trauma, von dem niemand etwas erfahren hatte. Mitreden konnte ich nicht, nur andächtig lauschen. Ein Wunder war es allemal. Nicht Hexe, sondern Engel schien Sophie meiner Mutter zu sein.
Kein Wunder war es, dass Lou sofort davon begeistert war, auf dem Bett Kaffee zu trinken. So hatte sie mehrere Jahre verbracht: Auf dem Bett sitzen, Kaffeetrinken, Rauchen, Lesen und Musik hören. Nur meine Schwester und ich hatten sie noch so erlebt. Sie sei nicht depressiv, sondern leide an Antriebsschwäche, habe der Arzt gesagt. Es fing damit an, dass ihr Mann es nicht mehr mitmachen wollte und auf Trennung bestand. Nur ihn hat sie geliebt, sonst niemanden, aber nach dem Spiel mit anderen Männern war sie süchtig. Mit der Trennungsentscheidung war auch das vorbei, Lou lebte nur noch in ihrer melancholischen Lethargie. Es ging uns schon mächtig auf die Nerven, dass meine Schwester und ich uns um alles kümmern mussten, und Madame rauchend auf dem Bett Mahlers fünfte genoss. Ich durchblickte nicht, was sich bei meiner Mutter abspielte. Mitleidsgefühle für sie hatte ich nicht, aber ich konnte ihr auch nicht böse sein wegen ihres Verhaltens. Wann und weswegen hätte ich meiner Mutter denn böse sein sollen? Das ging überhaupt nicht. Meine Schwester war am ersten Tag nach dem Abitur ausgezogen und ein halbes Jahr später hatten Lou und ich unser Liebesfest. Das änderte alles. Ich bin der Ansicht, dass die Liebe, die sie für ihren Mann in sich trug, von da an mir gehörte.
„Ich versuche mir gerade vorzustellen, ich hätte meiner Mutter einen Klaps auf den Po gegeben.“ sagte Sophie und brachte uns dadurch beide zum Lachen. „Das ist der falsche Ansatz, Sophie.“ meinte Lou, „Was tust du, wenn Julien dir auf den Po haut?“ Sophie dachte kurz nach. Das hatte sie noch nicht erlebt, nur Streicheln und die Konsequenzen, die es gehabt hatte, wollte sie zwischen Lou und Julian jetzt lieber doch nicht erleben. „Ihr seid richtig verliebt, nicht wahr?“ fragte Sophie. „Ja, gleich von Anfang an. Er war eben der Jüngste, mein letztes Produkt, und da ist er direkt etwas Besonderes, schon im Bauch. Die anderen fanden den Kleinen ja auch süß, aber als Mutter hast du eine spezielle, liebende Beziehung zu deinem kleinen Prinzen. Julien hat es tausendfach zurückgegeben. Na, und durch die langen Jahre und vielfältigen Ereignisse in unserer Beziehung zueinander hat sich die Liebe auch immer stärker entwickelt.“ erläuterte Lou. Elegant formuliert, nicht falsch, nichts verschwiegen und nichts verraten. „Und jetzt nehme ich dir die Liebe weg, oder zumindest musst du sie mit mir teilen.“ Sophie darauf lächelnd. „Das wird nicht gehen.“ meinte Lou, „Unsere Liebe lässt sich nicht spalten und aufteilen, Atome vielleicht, nicht aber unsere Liebe. Unsere Liebe ist eine Idee, die ohne mit uns zu sein, keinen Sinn ergibt. Ebenso wird es mit eurer Liebe sein. Aber Liebe ist sehr vereinigungsfreudig. Eure und unsere Liebe könnten eine gemeinsame Idee bilden, eine Liebe zwischen dir, Julien und mir.“ Sophie schaute Lou skeptisch prüfend an, danach ebenso mich, darauf fiel sie Lou mit breiten Lippen lachend um den Hals. „Ich mag dich, Lou. Du bist mir außerordentlich sympathisch, aber Liebe? Wir kennen uns gerade, müssen wir das nicht erst entdecken, ob wir uns auch lieben?“ meinte Sophie. Wie lernt man sich besser kennen, als durch miteinander reden? Dass Lou und Sophie dies ausführlich praktizieren würden, garantierten die Persönlichkeiten der beiden. Da, wo Lou jahrelang gesessen hatte, am oberen Ende ihres Bettes mit einem Kopfkissen im Rücken, saß jetzt nicht nur sie, sondern auch Sophie. Allerdings hörten die beiden nicht Musik, sondern unterhielten sich emphatisch, zeitweilig unterbrochen durch schallendes Lachen. Dass Lou ihre Unterhaltung nicht wegen der Zubereitung des Abendbrotes beenden würde, war zu erwarten, ihnen die Dinge, die sie wünschten ans Bett zu bringen, lehnte ich jedoch ab, und Sophie wollte auch aufstehen.
Vereinbart war, dass wir am Abend wieder nach Hause führen. Lou gab sich völlig überrascht, als Sophie nach dem voraussichtlichen Zeitpunkt fragte. „Nein, nein, ihr müsst bleiben.“ ordnete sie an, „Wenn ihr jetzt fahrt, zerstört das doch alles.“ Wir sollten in ihrem großen Bett schlafen, aber das lehnten Sophie und ich ab. Nach dem Abendbrot saßen wir wieder bei Wein und den Resten von Lous Käseplatte auf dem Bett. Ständig wurde gelacht. Alles Gesagte bot spätestens nach Zusätzen oder Kommentaren Anlass dazu. Plötzlich fiel Sophie Lou um den Hals. Ein wenig zu heftig, sodass sie Lou aufs Bett warf. Sophies Vermögen zur Koordinierung und Feinabstimmung ihrer physischen Aktivitätspotentiale hatte wohl auf Grund des bisherigen Weingenusses schon Einbußen erlitten. Sophie selbst störte das nicht. „Lou, du bist eine tolle, wunderbare Frau, die aller, aller wundvollste, die ich kenne.“ sagte sie, schwieg einen Moment und schaute die grinsend unter ihr liegende Lou tief an, „Willst du nicht meine Schwiegermutter sein?“ brachte Sophie noch an. Das ließ uns beide so schrecklich lachen, und Sophie lachte auch. Lou hatte sie sich gekrallt, gedrückt und auf den Rücken gedreht. „Hör mal, meine kleine Schwägerin,“ sagte sie, „kann es sein, dass du ein wenig zu viel gesüffelt und einen kleinen Schwips hast?“ „Zu schnell, das ging zu schnell.“ kommentierte Sophie noch und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Kurz darauf stand sie auf, zog sich aus, hob die Bettdecke an und schlüpfte darunter. Alles völlig kommentarlos. Lou und ich mussten lachen, und ich erklärte Sophie, dass dies Lous Bett sei. „Ist doch noch Platz genug.“ sie dazu. „Komm, sie hat Recht.“ meinte Lou, „Es ist genug Platz für alle.“ Lou kam in einem Camisolhemdchen und Höschen aus dem Bad und ich behielt meinen Slip an. „Anfassen!“ reminiszierte Sophie, von der wir dachten, sie schliefe schon, noch. 'Anfassen' war eine lustige Kuriosität aus unserer ersten Liebesszene. „Fass mal an.“ hatte Sophie gesagt und meine Hand auf ihre Brust gelegt. Ich fand es so süß und kurios. Wir lachten und machten immer wieder Scherze damit. Aber Sophie liebte es tatsächlich mehr, meine ruhende Hand irgendwo auf ihrer Haut zu spüren, als gestreichelt zu werden, und zum Einschlafen war meine 'anfassende' Hand unverzichtbar.
Lou war als erste wach geworden und hatte zu lesen begonnen. Als sie merkte, dass ich begann, meine Augen zu öffnen, bekam ich einen Kuss auf jedes Auge und einen auf den Mund. „Lou, es ist viel zu lange her, dass ich von dir wachgeküsst worden bin.“ kommentierte ich wonnevoll. „Wann bist du denn eigentlich zuletzt wachgeküsst worden?“ fragte ich. „Von dir, wenn du hier warst, hast du mich öfter geweckt. Erinnerst du dich denn nicht?“ antwortete Lou. „Ja, ja, natürlich.“ war meine Reaktion, „aber ich hatte an etwas anderes gedacht.“ „Julien, woran du denkst, das ist vorbei. Ich habe es dir ja schon mal gesagt. Ich habe bestimmt genauso große Probleme, meine Liebe zu finden wie du, und in meinem Alter werden die Chancen dazu noch rapide geringer. Das andere kann es für mich nicht mehr geben. Ich ekele mich vor mir selbst, wenn ich daran denke. Dass sich jemand findet, ist zwar prinzipiell nicht ausgeschlossen, aber so unwahrscheinlich wie ein Wunder.“ erklärte Lou. Während Lou und ich uns unterhielten, merkte ich, wie Finger an meinem Rücken krabbelten. Ich warf mich plötzlich rum, umfing Sophie und legte sie in die Mitte zwischen uns. Sie bekam auch Küsse von Lou, damit sich ihre kleinen Äuglein öffneten. Wonnestrahlend genoss sie die verbalen Liebkosungen und kleinen Zärtlichkeiten. „Sie ist doch meine kleine Schwägerin.“ behauptete Lou und stupste sie mit ihrer Nasenspitze. „Sie ist doch deine Schwiegertochter, wenn du ihre Schwiegermutter sein willst.“ versuchte ich zu korrigieren. „Julian, halt dich da raus.“ wurde ich von Sophie zurecht gewiesen. „Hast du eine Schwägerin?“ fragte sie Lou, die grinsend mit „Nein“ antwortete. „Siehst du, sie hat keine Schwägerin, hätte sie aber gern. Jetzt kann sie sie bekommen. Julian, du solltest ihr das nicht ausreden. Die staatlich festgelegten Verwandtschaftskonstruktionen sind anachronistische, realitätsferne Gebilde und verletzen Lous emotionalen Wünsche.“ „Sophie, aber deine Schwiegermutter würde ich trotzdem nicht so gerne heißen. Kann ich nicht deine Freundin sein? Würde es dazu auch reichen? Das wäre mir viel lieber und würde mich sehr freuen.“ meinte Lou dazu. „Lou, mein Herz wird warm, wenn ich höre, dass du wünscht, meine Freundin zu sein. Noch größer ist mein Glück, wenn ich weiß, dass ich auch deine sein kann.“ sprach Sophie und hatte sich schon, ohne Lous Reaktion abzuwarten, auf sie geworfen. Nachdem sie ausgelacht hatten, küssten sie sich, berührten gegenseitig ihre Wangen, rieben ihre Nasen aneinander und betasteten gegenseitig ihre Gesichter mit den Fingern. Sophie drehte sich und nahm Lou dabei mit, sodass sie jetzt auf ihr lag. „Es ist ganz anders, Lou. In der Schule hatte ich viele Freundinnen und jetzt habe ich nur eine richtige. Die Freundinnen aus der Schulzeit haben woanders studiert, und selbst zu denen, die hier studierten, schlief das Freundschaftsverhältnis sehr rasch ein. Es ist eine andere Lebensphase, in der du vielleicht viele Bekannte hast, aber Freundschaft hat für dich eine andere Bedeutung und Gewichtung erhalten. Du bist erwachsen geworden, siehst und bewertest Beziehungen deutlicher, umfänglicher und tiefer. Sie haben für dich einen anderen Stellenwert bekommen. Dass wir beide Freundinnen sein können, bedeutet mir ungewöhnlich viel. Das müssen wir in der Tat feiern. Heute ist ein Feiertag. Julian, wo bleibt der Champagner?“ deklamierte Sophie. Gefeiert sollte schon werden, aber nicht jetzt, da wir heute Mittag nach Hause führen. Lou war für's nächste Wochenende zu uns eingeladen. Dann sollte die Feier stattfinden, aber auf Champagner wollten die beiden jetzt nicht verzichten.
Auf der Rückfahrt sinnierte Sophie träumend vor sich hin. „Ein kleines Wunder ist es schon mit deiner Mutter.“ erwähnte sie. Ich antwortete nicht, ließ sie weiter nachdenken. Wahrscheinlich entsprach Lou Sophies Wunschbild einer offenen, modernen Frau, die ihre Mutter sein könnte. Durch ihre Zuneigung, ihre bedingungslose Anerkennung und die völlige Offenheit in der Kommunikation hatte sie Sophie dieses Bild erfahren lassen, ihr gewiss etwas von dem Geborgenheitsempfinden einer Mutter vermittelt und gleichzeitig die Wärme einer gleichrangigen Freundin gegeben. „Julian, jetzt kommt es mir vor, als ob ich ein wenig in einer Märchenwelt gewesen wäre. Deine Mutter, und alles was sich mit ihr und um sie ereignet hat, war so viel in so kurzer Zeit. Sie muss eine Fee sein. Siehst du das auch so?“ wollte Sophie von mir wissen. „Ja, natürlich, meine Freundin eine Nymphe, meine Mutter eine Fee, dann werde ich wahrscheinlich ein Faun sein, und am nächsten Wochenende wird zu den Lupercalien geladen.“ deutete ich die Zusammenhänge.
Lou hatte zum Treffen des Triumvirats d'amour diverse leckere französische Käse mitgebracht, da unser Käseverzehr auf Grund ihrer minimalen Käseplatte zu kurz gekommen sei. Alles wurde ihr gezeigt. Sophie, demonstrierte ihr, womit sie sich beschäftigte, sie hatte auch Filmausschnitte von Demonstrationen und Kundgebungen. „Ich kann nur E-Mails schreiben, sonst benutze ich den PC überhaupt nicht. Ganz schön dumm, nicht wahr?“ erklärte Lou. Dann machten sie einige gemeinsame Fotos mit der Webcam und schickten sie an meine E-Mailadresse. Lou wollte mehr kennenlernen, aber Sophie vertröstete sie auf später. Natürlich war der Wohnraum mit dem Bett erster Begutachtungspunkt. Dass wir auf dem Bett Kaffee tranken, war klar. Ob Sophie jetzt mehr Lous kleine Schwägerin, ihr Freundin oder ihre Liebe war, blieb unerheblich. Ein altes verschworenes Trio, eine lang vertraute Dreierbande, so kamen wir uns vor. Dass wir uns erst am letzten Wochenende kennengelernt hatten, war niemandem gegenwärtig. „Ich finde es schnuckelig bei euch. Mit euren Arbeitszimmern und der Küche, das ist ja auch o. k., nur im Grunde frisst das Bett den Wohnraum auf. Sophiechen, du musst doch noch Platz zum Tanzen haben.“ meinte Lou zu unseren Wohnbedingungen. „Dass Gäste immer auf den Couchen in euren Arbeitszimmern übernachten müssen, kann ja eventuell noch akzeptabel sein. Hängst du denn sehr an dieser Wohnung, Sophie?“ fragte Lou. Natürlich hing Sophie nicht daran. Sie hätte lieber mit einer Freundin zusammen gewohnt, aber die gab's ja damals nicht. Lou initiierte Überlegungen zu neuen Wohnmöglichkeiten. Gleich morgen früh sollten Makler angerufen und in den Zeitungen nachgeschaut werden. Das innenarchitektonische Design von Sophies Bett hielt Lou auch nicht gerade für ausgesprochen wohnraumtauglich. Wir wollten schauen, welche für uns passable Wohnung zu finden sei und dann weitere Entscheidungen treffen. Ans Geld dachte ich nie, das organisierte Lou in einer für mich immer zufriedenstellenden Weise. Sie organisierte und verwaltete das von meinem Vater zur Verfügung stehende oder zu stellende Geld. Wir wollten ja die neue Freundschaft feiern, wussten aber gar nicht genau wie und wann.
Nach dem Kaffee gingen wir erst mal spazieren, weil es dem menschlichen Körper besser behage, in dieser Bewegungsform zu kommunizieren. Seit letztem Wochenende sprach Lou nicht auch mal über Wirtschaft, sondern fast ausschließlich. Nicht über irgendetwas, sonder über Ansichten und Themen, die in Sophies Interessenhorizont liegen konnten. Sie sprach auch wohl mit anderen darüber und hatte in der letzten Woche die Zeitschrift: „Blätter für deutsche und internationale Politik“ bestellt. „Sophie die braucht ihr auch, unbedingt. Das ist die Welt. Über alle politischen Bereiche ließt du dort Artikel von namhaften linken oder linksliberalen Wissenschaftlern und Autoren. Da entgeht dir nichts mehr, wovon du unbedingt etwas wissen müsstest.“ Sie hatte ihr erstes Heft mitgebracht und zeigte es Sophie. Die erkannte unter den Herausgebern manche Namen, von denen sie in den letzten Wochen erfahren hatte. „Es ist richtig spannend.“ meinte Lou, „Ich möchte jetzt nochmal mit Sophie studieren, aber nein, so ist es auch schon gut. Nur Julien, du solltest dich da mal ein wenig mehr involvieren und Sophie stärker unter die Arme greifen. Ökonomische Analysen und damit verbundene politische Lehren sind doch immer mit philosophischen Gedankengängen zu verbinden, auf denen sie basieren und in denen sie ihre Wurzeln haben. Neutralität gibt es nicht. Die ihre Basis nicht deklarieren, sind besonders verdächtig. Herr Philosoph, womit beschäftigst du dich zur Zeit denn eigentlich?“ fragte Lou mich. Direkt antworten konnte ich nicht. Ohne irgendeine Ankündigung fragt sie mich einfach, was ich gerade im Studium mache. Das hatte es noch nie gegeben. Ich hatte ihr öfter über etwas berichtet, was ich über Literatur erfahren hatte, da sie gern und viel las und literarisch interessiert war, aber gefragt hatte sie noch nie. Sophie ging in der Mitte und hatte uns beide im Arm. Ich musste zu Lou wechseln. „Was ist geschehen, Lou? Noch nie hast du mich so etwas gefragt. Was hat sich für dich verändert?“ wollte ich von ihr wissen. „Für mich auch, aber besonders viel hat sich für dich verändert. Du hast Sophie kennengelernt, ihre liebt euch, wohnt zusammen. Jetzt ist alles geregelt? Julien, wenn ihr euch liebt, handelt es sich doch nicht um eine einmal zu regelnde Aktion, es ist doch ein Prozess, der nicht einfach verharren kann. Wenn du ihn nicht entwickelst, verkümmert er, wird trocken und farblos. Dass es nicht nur ums gemeinsame Vergnügen im Bett geht, sondern die ganze Person umfasst, weißt du auch. Ich glaube, ich mochte Sophie vom ersten Moment an. Jedenfalls hatte ich Lust, ihr eine Freude zu machen, indem ich mich für ihre Belange interessierte. Das war kein bisschen aufgesetzt und jetzt hat es mich selbst erfasst. Ich wollte nur wissen, inwieweit du dich mit dem was du weißt oder wissen könntest für Sophie verwendest.“ erläuterte sie mir. „Lou, Sophie hat jetzt neue Welten für sich aufgetan, die umfänglicher sind als ihre bisherigen Studieninhalte. Man kann sagen, sie hat jetzt erst den Bereich des Politischen entdeckt, den sie bislang ausgeklammert hatte. Jetzt sieht sie ihn als zentral, ein neues, zusätzliches Studium sozusagen. Ich habe mir mit Philosophie einen Klotz ans Bein gebunden, der mich aufzufressen droht. Ich habe nicht nur die Wirklichkeit denkend zu betrachten, wie Hegel es wünschte, sondern ich muss wissen, wie sie, die man Philosophen nennt, dies seit Beginn des Denkens getan haben. Es gefällt mir trotzdem, aber es ist einfach unendlich viel. Philosophie ist deshalb weniger ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache, wie Wittgenstein es sah, sondern die Verhexung der freien Zeit meines Alltags durch die Mittel des Philosophiestudiums. Ich habe die Schwerpunktbereiche Politische Philosophie und Philosophie der Neuzeit gewählt, da gibt es viele Berührungspunkte zu dem, womit Sophie sich beschäftigt, und wir ergänzen uns gut. Lou, ich bemühe mich doch permanent um unsere Liebe. Ich gieße und dünge sie ständig.“ erklärte ich es. „Ja, ja, Lou, das ist schon wahr. Mit ihm bin ich ja erst auf die Idee gekommen, und im Moment weiß er meistens noch mehr als ich, weil er sich immer schon stärker politisch interessiert hat.“ meinte Sophie dazu. „In München gibt es einen Studiengang 'Philosophie Politik Wirtschaft' für Führungskräfte, aber da wird wohl sicher nicht das vermittelt, was Sophie sucht.“ ergänzte ich. „Aber ich habe mir gedacht, was wir vielleicht suchen könnten.“ meinte Lou, „Ich wollte euch gern wegen unserer neuen Freundschaft zu einem leckeren Essen einladen, wenn ihr Lust dazu hättet. Ich habe nämlich vorsichtshalber einen Tisch im Restaurant des Vier Jahreszeiten reserviert. Wenn ihr nicht wollt, müssten wir das abbestellen. Aber so oft geht ihr da sicher sonst nicht hin.“ Sofie und ich waren beide noch nie im Haerlin essen, na ja, wenn Mutter Lou bezahlt. Sophie war angetan. „Lass uns doch hier demnächst mal öfter hingehen.“ scherzte sie. Ihr variationsreiches Lächeln war heute Abend einem einem kontinuierlichen Wonnestrahlen gewichen. Auch noch zu Hause, als wir wieder auf dem Bett saßen und bei Wein Lous mitgebrachten Käse probierten. Die kleine Schwägerin saß wieder zwischen uns. Das gefiel ihr nicht nur gut, wir mussten ja auch Obacht geben, dass sie nicht wieder zu schnell trank. So schliefen wir auch, wieder alle drei im großen Bett mit Sophie in der Mitte. Auch am nächsten Morgen, als wir uns die sogenannte „Studiowohnung“ mit Dachterrasse ansahen und beschlossen sie zu nehmen, lag auf Sophies Gesicht wieder dies Wonnestrahlen. „Das ist Luxus.“ war Sophies knapper Kommentar. Jedes mal wenn wir mit Lou zusammen waren, schien sich das Märchenland aufzutun, eine Fee eben. Drei Wochen zog es sich noch hin, bis wir komplett in der neuen Wohnung mit neuem, riesigen Wohnraumbett wohnten.
Die neue Wohnung befreite uns aber nicht von der ständig zunehmenden Arbeit. „Hättest du etwas dagegen eine kommunistische Freundin zu haben?“ fragte Sophie verschmitzt lächelnd. „Und dann willst du die vierte kommunistische Internationale gründen, oder?“ fragte ich nach. „Nein, ich wollte jetzt 'Das Kapital' lesen. Alle zitieren oder verwenden Begriffe daraus, nur ich habe keine Ahnung und muss immer nachschauen.“ antwortete Sophie. „Oh, oh, Sophie, weist du wie viel und wie schwer es ist? Wann willst du das denn machen? Es gibt Einführungen dazu, die würde ich auf jeden Fall lesen, damit man's überhaupt versteht.“ gab ich zu bedenken und fügte hinzu, „Es gibt doch auch heute marxistische Philosophen, die geben dir doch mehr als Berichte über die Lage der arbeitenden Klasse in England zu Beginn der Industrialisierung.“ „Nein, nein, das ist ja 'ne extra Sache, die steht da gar nicht drin. Es geht mir um die Grundgedanken, und die will ich im Original kennen lernen.“ meinte sie. Ich wollte Sophie ja nicht davon abbringen, aber das hätte ich auch überhaupt nicht gekonnt, wenn sie es sich einmal vorgenommen hatte. Für Sophie hatte eine neue Lebensphase begonnen, mit mir als ihrer Liebe, mit der Fee Lou als ihrer Freundin, vor allem aber dadurch, dass sie sich jetzt mit ihre Arbeit identifizierte und nicht mehr nur unbedacht, fremdbestimmt ökonomisches Gedankengut paukte. „Julian, es kommt wir vor, als ob ich eine andere geworden wäre. Ich freue mich über mich selber. Meine eigene Wertschätzung ist gestiegen. Du lässt mich nicht nur meine Liebe mit dir leben, sondern hast mir auch Impulse gegeben und neue Wege gezeigt. Es ist viel Arbeit, aber es stört und belästigt mich nicht, es fordert mich heraus und reizt mich. Ich glaube, so glücklich und zufrieden war ich noch nie.“ erklärte Sophie ihre Position.
Sandra kam jetzt immer öfter, nicht wegen der schicken neuen Wohnung, sondern weil es mit ihrem Freund kriselte. „Sandra, du erzählst immer wieder dies und das. Was soll ich tun? Dir immer Recht geben und dich darin bestätigen, dass Ralf etwas falsch gemacht hat? Wenn ich mich bei dir über Julian beschweren würde, dann sagte ich: „Die Liebe ist dahin.“. Wo ist sie denn bei euch noch, erzähl mir davon etwas.“ meinte Sophie. „Na ja, wir vertragen uns ja meistens wieder, wenn wir uns streiten und wir schlafen auch noch miteinander.“ Sandra dazu. Kaum mehr war die Basis ihrer Freundschaft gewesen. Sie hatten auf einer Party lange miteinander getanzt, Spaß gehabt und waren anschließend gemeinsam ins Bett gegangen. Ralf hatte wegen Sandra seine Freundin verlassen und sie hatten gedacht, verliebt zu sein. Sophie versuchte ihr im Vergleich zu ihrer beider Verhältnis deutlich zu machen, das ihre Beziehung mit Liebe im Grunde kaum etwas zu tun gehabt habe. „Wenn du nur die vielen Fehler siehst, anstatt Lust zu haben ihn glücklich zu sehen, wo soll denn da die Liebe sein?“ fragte Sophie, „Vielleicht könnt ihr euch zur Zeit noch ertragen, aber wie lange noch?“ Es dauerte noch zwei Monate, dann war es soweit. Jetzt war Sandra in ihrer freien Zeit ständig bei uns. Viel Freizeit hatte sie allerdings nicht. Sandra war sehr eifrig und hatte schon nach einem Jahr Berufspraxis eine Stelle bei einem renommierten Consulting Unternehmen bekommen. Sie wollte für ihre Arbeit wenigstens möglichst viel Cash erhalten. Ich unterhielt mich meistens mit ihr, da Sophie immer zu tun hatte. Wir diskutierten viel über Menschenbild, das Verhältnis zur Arbeit und selbstbestimmtes Leben, was sie für eine Illusion oder einen Wunschtraum hielt. „Mag ja sein, dass es so etwas gibt, aber dann würde ich Violine spielen können wie Anne-Sophie Mutter oder singen können wie Anna Netrebko. Kann ich aber nicht, und deshalb muss ich wie 99 % der Menschen irgendetwas fern von mir tun, damit ich etwas zu essen habe.“ erklärte es Sandra. Ich diskutierte gern mit ihr.
Psychisch hatte sie schon viel Ähnlichkeit mit Sophie, obwohl diese verständnisvolle Milde in ihrem Beruf doch völlig unangebracht sein musste. Vielleicht wechselte sie das auch wie ihre Kleidung. Äußerlich war sie eine völlig andere Frau als Sophie. Nicht nur ihre schwarze Zottelhaarfrisur machte den Unterschied aus, sondern sie war auch das, was Männer gemeinhin als sehr attraktiv bezeichnen würden, und ihre Freizeitkleidung bei uns betonte das noch einmal besonders. Eine schöne Frau ließ mich auf Grund der Harmonie ihrer Gesichtszüge schon hinschauen, aber entscheidend war, was das Gesicht sagte, welche Assoziationen es weckte. Dass mich ein großer Busen und praller Po für eine Frau interessieren könnten, wie Sophie es damals scherzhaft bemerkt hatte, hielt ich für lächerlich und ausgeschlossen. Bei Sandra schien sich das aber nicht ganz so zu verhalten. Ich merkte, dass ich den Blick von ihrem Po nicht abwenden konnte, wenn sie in ihren hautengen Jeans durch die Küche stöckelte. Wenn sie bei uns war, trug sie keinen BH, und man konnte ihre ausgeprägten Brüste jede Bewegung mitvollziehen sehen. Bestimmt kamen da männliche, triebhafte Urinstinkte bei mir zum Tragen, denn diese Arsch und Titten Pornokultur widerte mich eigentlich an. Aber es war ja auch Sandra, mit der ich gern diskutierte und die ich mochte und nicht irgendeine fremde Frau. Sandra war nur bei uns und machte alles mit uns. Die elegante, attraktive Diva ging mit uns in die Oper, wir besuchten gemeinsam Ausstellungen oder gingen zusammen spazieren. Bei uns zu sein, das war Sandras Leben. „Sandra, wie willst du denn so mal einen neuen Freund kennenlernen? Bei uns geben sich die jungen Männer ja nicht gerade die Klinke in die Hand. Sollten wir mal öfter jemanden einladen?“ fragte ich sie scherzhaft. „Ich habe doch hier alles, eine wundervolle Freundin und einen herzallerliebsten Freund. Was will ich denn mehr?“ antwortete sie. „Hast du denn keine Lust auf einen Mann mehr? Hat dir das mit Ralf für dein Leben gereicht?“ fragte ich. Sandra antwortete nicht, schaute zum Fenster und sinnierte: „Julian, sei mir nicht böse, aber ich mag dich sehr. Ich glaube schon vom ersten Moment an, und mit Ralf das lag auch sicher ganz viel an dir. Er bedeutete mir nicht mehr viel, weil ich von dir geträumt habe. Das ist immer noch so, aber ich muss eben damit leben, dass du mich magst und dass ich dir gefalle, dass du dich freust, wenn ich bei dir bin, wenn wir miteinander reden und lachen, wenn wir gemeinsam das Abendbrot zubereiten, wenn ich dir zuschauen kann, wie du etwas erzählst. Sonderbar, neidisch oder eifersüchtig auf Sophie bin ich überhaupt nicht, aber ich wünschte mir schon, dass wir uns auch mal liebten.“ Jetzt wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. „Sandra, du weißt, dass ich dich auch sehr mag. Vielleicht kann man es sogar Liebe nennen, was uns verbindet, aber auch wenn ich dich als Mann begehrenswert finde, du musst meine Schwester bleiben, nicht mehr.“ antwortete ich ihr. „Ich akzeptiere das ja auch, aber ich würde Sophie doch nichts wegnehmen. Das müsste sie doch verstehen können.“ Sandra darauf. „Doch schon,“ meinte ich, „das hast du als Baby schon gelernt, dass du die Liebe und Aufmerksamkeit deiner Mutter nicht teilen willst. Mit bürgerlichem Besitzdenken, wie man sagt, hat das nichts zu tun, dass ist tief in deinen Emotionen verankert. Versuch dich doch mal in Sophies Lage zu versetzen. Sie liegt allein im Bett und weiß, dass wir uns nebenan miteinander vergnügen. Ich will das nicht, Sandra, das zerstört.“ Trotzdem hatte Sandra es mit Sophie besprochen, die ihr aber klar gemacht hatte, dass sie so etwas nicht könne. Andere könnten das vielleicht, aber das könne und wolle sie bei sich nicht ändern. Es gäbe für sie kein erträgliches Bild, in dem sie sich so etwas ausmalen könne. Sie ginge nicht davon aus, dass wir beide es trotzdem täten, aber sie wisse nicht, was das in ihr zerstören würde.
Sophie und ich überlegten, ob wir nicht mal öfter Leute einladen oder Fèten machen sollten, da fände Sandra bestimmt wieder jemanden zum Tanzen. Sandra tanzte in der Tat gerne, und unser Wohnraum bot ja Platz dazu. Bei der zweiten Fète war auch Lou anwesend. Die beiden Freundinnen von Sophie wurden mit viel Scherzen gegenseitig bekannt gemacht und schienen sich auf Anhieb zu verstehen. Den ganzen Abend unterhielten sie sich ausschließlich miteinander und öfter hörte man sie Lachen. Sophie und ich gingen schlafen, als die letzten Gäste unsere Wohnung verließen, nur Lou und Sandra saßen noch bei Wein und Käse diskutierend am Küchentisch. Sie kannten sich ja aus und würden schon einen Schlafplatz finden. Ich machte wohl ein äußerst erstauntes Gesicht, als ich am Morgen die beiden eng umschlungen nackt im Gästebett antraf. Lou war schon wach, aber Sandra schlief noch. „Nein, nein, nicht was du denkst. Wir sind heute Nacht nicht lesbisch geworden. Wir haben nur beschlossen, dass wir auch Freundinnen sein werden. Darauf haben wir noch etwas getrunken und gemeint, dass es schön sein müsse, mit einander zu schmusen. Sonst nichts.“ erklärte Lou. „Und war's das?“ wollte ich immer noch irritiert wissen. „Jetzt sind wir alle Freundinnen.“ erklärte Sandra, die mittlerweile wach geworden war, halb schlaftrunken und vielleicht noch ein wenig beschwipst. Sandra besuchte jetzt auch öfter Lou und einen Monat später beschloss sie zu ihr zu ziehen. Jetzt unternahmen Sandra und Lou immer beide etwas und luden uns oft dazu ein. „Nein, wir haben keinen Sex miteinander, wollen wir beide nicht. Sandra ist ja noch immer in dich verliebt. Du seist der tollste Mann der Welt, sagt sie, und deshalb findet und will sie auch keinen anderen.“ erklärte Lou mal, als sie allein bei uns war. „Sie hat eine gespaltene Persönlichkeit. Du musst sie mal erleben, wenn sie morgens zur Arbeit fährt und wenn sie sich nachmittags bei uns austobt. Sandra ist ja richtig musikbesessen. Da hat man bei ihr als Kind bestimmt etwas übersehen. Hast du denn keinen Freund, der dir ähnlich ist, sonst wird sie hinterher ihre unerfüllte Liebe noch mit ins Grab nehmen müssen. Sie ist eine so wundervolle Frau.“ meinte Lou als wir uns über Sandra unterhielten. „Die Männer haben bestimmt Angst vor ihr, weil sie ihnen überlegen ist.“ wand ich ein. „Ach, sie kümmert sich ja nicht, hat überhaupt kein Interesse, sieht nichts, erzählt immer nur Märchengeschichten von dir.“ beklagte Lou. „Mein Prinz ist er ja auch.“ erklärte Sophie.
„Ja, irgendetwas haben muss er wohl schon. Ich habe ihn ja auch immer abgöttisch geliebt. Viel zu sehr sogar.“ sinnierte Lou leicht träumerisch. Sophie blickte mich an, und wir wussten woran Lou dachte. „Hast du Sophie etwas davon erzählt?“ vermutete Lou, „Ach, das kannst du ja ruhig, sie gehört ja zu uns.“ „Er hat nur ganz wenig erzählt, aber ganz lieb.“ erklärte Sophie, „Wenn du es wolltest, könntest du es mir ja erzählen.“ „Ja, Sophie, ganz lieb das war es, nicht als ob ich Sex mit meinem Jungen gehabt hätte. Eigentlich ist diese Trennung von Körper und Seele krank und pervers. Das Christentum hat diese Gedankenwelt unserer Kultur aufgezwungen, um uns in der Hand zu haben. Die Leute denken aber immer noch nach diesem Schema, und du kannst auch vorsätzlich noch gar nicht anders empfinden. Unsere Liebe kam mir vor wie eine Erscheinung, ein ekstatisches Erlebnis, in dem wir die Aufhebung dieser verlogenen Trennung erfahren haben. Ich empfand mich durchdrungen von der ursprünglichen Harmonie zwischen Körper und Geist. Alles war Liebe. Irgendwann werden wir alle wieder gesund sein, diesen kulturellen Ballast vergessen haben und eins sein mit uns selber. Es hat sich zufällig so entwickelt. Wir haben uns außerordentlich unsere gegenseitige Liebe erklärt, und wie selbstverständlich gehörte plötzlich auch das Körperliche mit dazu. Sex gewollt hat keiner, das hätte ja auch dem getrennten Denken entsprochen. Ich habe es als ein Wunder empfunden und so reminisziere ich es auch.“ erklärte Lou. Sophie war ganz gerührt und musste Lou umarmen. Jetzt waren bestimmt die letzten Reste inzestuöser Vorstellungen in ihr beseitigt. Lou schlug vor, gemeinsam in Urlaub zu fahren, aber Sophie schrieb an ihrer Diplomarbeit und plante ihre Dissertation. Für mich hielt ich das auch für sinnvoll, nur ich hatte noch ein Semester länger Zeit.
Sophie war eine rastlose Arbeitsbiene geworden und hatte mich auch neu motiviert. Dass es dahin führen musste, hatte der Mann, der noch nie eine Frau geliebt hatte, bei seiner ersten großen Liebe nicht erwartet und beabsichtigt. Trotzdem hatte Sophie ihr Lächeln nicht verloren und meine Augen konnten sich nicht satt trinken, sie zu betrachten und zu beobachten, wenn sie mit mir sprach und mir etwas erklärte. Wieso konnte ich sie zufällig in der Mensa treffen, wieso hatte ich ausgerechnet bei ihr den Mut, sie anzusprechen? War es das Fatum, nach dem wir beide zwangsläufig zusammentreffen mussten? Sophie konnte nur eine Quellnymphe sein, die Zeus ausschließlich für mein Glück zu mir geschickt hatte.
FIN
Aimer, c'est trouver sa richesse hors de soi
Am Nachbartisch war sie mir aufgefallen, schon mit ihrem Lachen und ihrer Art zu sprechen, aber mehr hatte Sophies gesamte Erscheinung in mir Assoziationen und Bilder geweckt, die ich nicht benennen konnte, die mich beim Essen immer wieder zu ihr hinüber schauen ließen. Ich musste Kontakt zu ihr bekommen, und wie und was dann? Keine Vorstellung gab es dazu bei mir. Sophie hatte hatte es mir abgenommen und dafür gesorgt, dass wir uns beim Kaffee unterhalten konnten. Ob der erste Blick auch ihr weiteres Verhalten gesteuert hatte? Jetzt konnte ihr Blick sagen, dass sie nach einigen Stunden mehr von mir wusste, mich besser kannte, als meine guten Freunde. Noch mehr wollte sie erfahren. Vielleicht auch, was ich selbst gar nicht von mir wusste. Manches davon hatte sie bestimmt schon erkannt. Am liebsten hätte ich sie angerufen. Ihre Stimme hören, erfahren, ob sie an mich denkt, gestern Abend noch an mich gedacht hatte. Dafür rief Valerie an. Nein, ich wollte sie nicht hören, und ich würde auch heute Abend nichts mit ihr unternehmen. Valerie war ein Problem. Wir liebten uns nicht, aber wir hingen immer zusammen. So würde es weiterlaufen, bis wir alt wären. Das entsprach nicht den Vorstellungen von meinem weiteren Leben. Jetzt wäre es noch am einfachsten gewesen. Ich hätte nur zu sagen brauchen „Valerie ich habe keine Lust, ich will es nicht mehr.“ Längst hatte ich das schon tun wollen, aber immer allein ins Konzert, ins Kino, ins Bett gehen war im Moment dann doch nicht sehr verlockend. Wir waren uns so oft sehr nahe, doch im Grunde blieb Valerie mir immer fern. Sollte ich ihr jetzt sagen, dass ich eine neue Freundin hätte? Nein, ich sagte nichts, nur dass ich heute Abend keine Zeit hätte. „Nein, Valerie auch später nicht.“ lehnte ich alles kurz ab. Ich konnte ihr ja nicht sagen, dass ich sie heute nicht sehen, überhaupt nicht an sie denken wollte, dass sie störte in meinen Gedanken und meinem Empfinden. Das tun, was ich zu erledigen hatte, wollte ich und ansonsten ein wenig mit Sophie spinnen. Mir Situationen mit ihr ausdenken und immer wieder ihr Gesicht sehen. Die schulterlangen blonden Haare mit einem ganz leicht gelblichen Touch umrahmten ein Gesicht, das man als offen, natürlich, vielleicht sogar unschuldig hätte bezeichnen können. Aber das traf nicht Sophie. Nicht nur zwischen Valerie und mir fehlte das, was ich unter Liebe verstand. Im Grunde konnte ich nichts zur Liebe sagen, denn so, wie man Verliebtsein beschreibt, hatte ich noch nie eine Beziehung zu einer fremden Frau oder einem Mädchen erfahren. Es war immer ganz nett gewesen, man hatte sich verstanden und mochte sich. Vielleicht war es auch am besten so. Wenig belastend und keine Verpflichtungen. Gestört hatte es mich jedenfalls nicht, und die Sehnsucht nach der großen Liebe? Ich denke nicht, dass sie mich quälte. Eine Frau oder ein Mädchen, an die ich ständig denken musste, das kannte ich eigentlich nicht. Aber ich konnte mich doch nicht in Sophie gleich beim ersten Gespräch verliebt haben. Es war ja auch gleichgültig, ob ich es als Liebe bezeichnete, was mich mit Sophie verband?
Die Frau am Nachbartisch – Seite 23 von 23
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2013
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