Cover

Introduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Camilla
Liebesrausch nach achtzehn Jahren

 

Fabia und Timm Erfolgloses Verkuppeln

 

Erzählung

 

Your hights are never scaled

Als ich wieder in mein Zimmer kam, saß Timm doch noch da. Mit leicht
betretenem Gesicht meinte er: „Es ist alles klar, Fabia, ich bleibe.“
„Nein, nein, Timm, das brauchst du nicht. Ich bin ein bisschen
durchgedreht. Entschuldige. Selbstver­ständlich gehen wir erst
zusammen ins Bett, wenn du es auch möchtest. Ob nächste Woche
oder in zwei, drei oder vier Wochen, was spielt das für eine Rol­le.
Es gibt Paare die lieben sich schon ein ganzes Jahr und haben noch
nicht miteinander geschlafen. Wichtig ist doch, dass wir beide es wollen,
und du sagst mir, wenn es soweit für dich ist, o. k.? Ich war vorhin
verrückt. Rege mich tierisch auf, dass du es nicht willst, meinte wohl,
wenn man sich liebt, ist es selbstverständlich, dass man auch gleich
miteinander ins Bett geht. So ein Unsinn. Wir können doch warten.
Das ist doch ganz normal. Da muss man ein wenig Geduld haben.“
verdeutlichte ich ihm. „Hör auf, Fabia, ich bleibe doch heute Abend.“
stoppte Timm mich. „Nein, Timm, du fühlst dich gedrängt. Das ist
keine gute Basis. Wir machen es, wenn du soweit bist und es von dir
aus gerne möchtest. Es drängt uns doch nichts.“ reagierte ich. Timm
lachte: „Fa­bia, ich bin jetzt so weit und möchte von mir aus, dass wir
die heutige Nacht zusammen verbringen. Warum willst du mich
los werden und wegschicken?“ Jetzt fiel mir nichts anderes mehr ein,
als ihn einfach nur kräftig zu drücken.

 

Camilla - Inhalt

 

Camilla 4

Terrasse 4

Harald 4

Liebestraum 5

Mein Mädchen 6

Gewöhnungsbedürftig 8

Fremder Mann 10

Neuigkeiten von Timm 11

Timms Eltern 12

Männer für Camilla 13

Aber Lust hast'e schon 14

Klärungen 15

Partnervermittlung 15

Neue Familie 17

Julianes Geburtstag 17

Neuer Bekanntenkreis 18

Leonard 19

Keine Treffen 20

Klärendes Gespräch 21

So läuft das nicht, Camilla 22

 

 

Camilla Liebesrausch nach achtzehn Jahren

„Weiß du Mami, Timm wird das zuviel, dass du so verknallt bist in ihn.“ nachdem wir ausgelacht hatten, fuhr ich fort, „Er meint, du solltest dich doch mal an eine Partnervermittlung wenden.“ Jetzt lachte nur Camilla. „Ich könnte ja auch eine Annonce aufgeben: „Einsame Fünfundvierzigjährige sucht die Arme eines treuen Mannes, die sie liebend umfangen.“ oder so“ schlug Camilla vor und lachte wieder. „Du lachst, Mama, aber so ganz abwegig ist das doch auch nicht. Wenn du nichts machst, passiert auch nix.“ meinte ich dazu. „Aber Fabia, ich bin doch nicht krampfhaft auf der Suche nach einem Mann. Wenn sich etwas ergibt, könnte das vielleicht ganz schön sein, aber wenn nicht, dann nicht. Oder haben mir die achtzehn Jahre ohne Mann etwa geschadet? Haben sie mich verbittert oder verhärmt?“ so Camilla. „Aber Lust hättest'e schon. Das kannst du doch nicht verbergen. Dann musst du auch etwas machen.“ war meine Ansicht.

Terrasse


In jedem Herbst kam immer die Zeit, in der Mama es nicht wahrhaben wollte, dass es irgendwann zu kalt würde, um auf der Terrasse zu sitzen. „Komm doch rein. Du bist gleich ganz durchgefroren, und lesen kannst du doch drinnen ge­nauso gut.“ versuchte ich sie hereinzulocken. Camilla kam nicht etwa vom Bauernhof oder dergleichen und musste sich ständig draußen bewegen. Nur bei ausgeglichenen Tätigkeiten liebte sie es, auf der Terrasse zu sitzen. Wenn sie einen Knopf annähte, Kaffee trank oder las, geschah das auch bei beginnender Kühle noch draußen. Auf der Terrasse essen genoss einen besonderen Vorzug. Ich weiß nicht, wie oft ich schon mit dicker Jacke beim Abendbrot gesessen habe, weil ich es ihr nicht immer abschlagen wollte. Ob sie als Kind immer draußen gespielt habe, hatte ich sie gefragt. Aber sie musste ja auch nicht per­manent raus, ging kaum spazieren, nur das Leben auf der Terrasse kannte ich seit den achtzehn Jahren, die ich allein mit meiner Mutter zusammen lebt. An die drei Jahre vorher mit meinem Vater konnte ich mich nicht erinnern.


Etwas anderes war es ja schon, auf der Couch zu lesen oder in einem Sessel auf der Terrasse sitzend, wobei man immer seine Gedanken zum endlos weiten offenen Himmel fliegen lassen konnte. Und für Camilla brauchten Gedanken und Träume weite offene Räume. Meine Mutter schien mir nicht träumerisch und gedankenverloren. Ich empfand sie als agil und kregel, nur die Terrasse war für sie ein Ort, der zur Beschaulichkeit anregte, und ihrer Mimik eine Weichheit verlieh, die stets zu einem besinnlichen Lächeln bereit war.


Es waren die Sommerabende mit Harald, ihrem Freund und späteren Mann, die sie emotional so tief erfasst hatten. Als pures Glück musste sie sie erlebt ha­ben. Es war kein beibehaltenes Ritual und Harald spielte dabei heute nach achtzehn Jahren keine Rolle mehr, aber so hatte sie wonniges Glück erlebt, und wenn es auch heute nicht immer ebenso wonnig wurde, der Ort und Raum bil­deten die Bühne, auf der das Stück von den Glückserfahrungen gespielt wurde. Wenn sie träumend vom Buch aufschaute, dann sah ihr Blick in der Weite manchmal Szenen daraus.


Harald


Aber Harald war nicht nur das Glück auf der Terrasse gewesen. Als er Camilla damals sagte, er habe Probleme und wolle sie ihr nicht verschweigen, habe sie im Moment das Bedürfnis verspürt, ihm helfen zu wollen. Er müsse für sich al­les neu sortieren und wolle ausziehen. Sortieren bedeutete, Camilla gegen eine andere Frau, eine Mitarbeiterin aus dem Betrieb, austauschen. Das war nicht denkbar in Camillas damaliger Welt und der Sichtweise des Stellenwerts ihrer Beziehung. Immer noch warnte sie mich: „Es gibt Bereiche und Tiefen in deiner Seele, die gehören nur dir, dir ganz allein. Lass da nie jemanden anders hin. Das bringt dich um.“ Sie sei damals völlig durchgedreht und habe öfter mit dem Gedanken gespielt, sich umzubringen. Ich und ihre Mutter hätten sie davor bewahrt. Sie habe ihre Arbeit aufgeben müssen. Als sie halbwegs wieder beisammen gewesen sei, habe sie einen Schulungskurs besucht und eine völlig neue Arbeit begonnen. Ihr Leben sei dadurch ein anderes geworden, und als anderer Mensch könne sie wieder leben. Sie erwähnte den Namen Harald nie. Sie sagte, wenn sie von ihm sprach, „dein Vater“. Ich hatte kaum etwas über meinen Vater wissen wollen, es interessierte mich nicht. Emotional herrschte weitgehend Gleichgültigkeit mit der Fußnote, dass er ja Mami verlassen hatte. Das wirkte sich nicht gerade förderlich aus. Jetzt, als Erwachsene bekam ich öfter hilfreiche Tips und weise Ratschläge für Beziehungen und Liebesangelegenheiten. Sie mussten ja auf ihre Beziehung zu Harald rekurrieren. Ich hätte sie gern mal näher gefragt. Auch wenn es ihr heute sicher nichts mehr bedeutete, vergessen haben würde sie es ja nicht. Ich kann es nicht benennen, welches Empfinden mir riet, es nicht zu tun.


Liebestraum


Ich redete gern mit ihr über Beziehungen und Männer. Für mich und für Camil­la wohl auch war es vorrangig lustig und verblieb im Allgemeinen. Ob ich Be­ziehungsprobleme hatte? Ich weiß es nicht. Ich hatte zwar immer einen Freund, doch die Warnungen vor allzu großer und tiefer Liebe waren bei mir absolut überflüssig. Bei mir kam es immer nur zu einer Arbeitsliebe. Ich moch­te den jungen Mann schon, war mit ihm im Bett gewesen, und ab jetzt war er mein angestellter Freund. Zur sehnsüchtigen Julia schien ich überhaupt nicht zu taugen. In der Regel dauerte es nicht lange, bis es zu irgendwelchen Mei­nungsverschiedenheiten kam, und dann war's vorbei. Recht hatte meine Mutter schon, wenn's nur an der Oberfläche bleibt, tut's auch gar nicht weh. Gewollt hätt' ich ja eigentlich schon ganz anders. So richtig romantisch, voll verknallt. Nur wie soll das denn funktionieren? Das kannst du doch nicht organisieren. Daher gab ich mich mit meiner Situation notgedrungen zufrieden. Hatte aber kein Leidens- oder Entbehrungsempfinden deshalb.


Beim Abendbrot diskutierten wir über Selbstbild und Selbstwertempfinden. Wir kamen darauf, weil ich gerade an einem Referat zur emotionalen Kompetenz arbeitete. „Das bist doch du, deine Geschichte, die dein Bild malt. Da kannst du doch nicht einfach nachträglich retuschieren, etwas wieder ungeschehen machen.“ meinte Camilla. „Das ist wahr, ungeschehen machen kannst du's nicht, aber du kannst deine Sichtweise, deine Bewertung, deine Interpretation ändern, und das ist immer die von heute und nicht von damals.“ reagierte ich. Camilla schaute versonnen ins Leere. „Aber es gibt doch Tatsachen die sind einfach so gewesen, die hast du so empfunden, und da kannst du doch nicht im Nachhinein kommen und sagen: „Nein, nein, in Wirklichkeit war das alles ganz anders.“, nur weil's dir heute besser passen würde. Das glaubst du dir doch selber nicht.“ Camilla darauf. „Du denkst an etwas Bestimmtes.“ reagierte ich. „Ja, natürlich. In der Zeit mit Harald bin ich absolut glücklich gewesen, wie sonst noch nie in meinem Leben, habe erfahren, wie wundervoll Liebe sein kann. Soll ich das denn jetzt einfach abstreiten? Es leugnen? Sagen das war gar nicht so? Diese Erfahrung wird immer da bleiben, wo sie ist. Sie ist ein Teil von mir.“ antwortete sie. Oh je, Camilla hätte doch lieber zum Psychotherapeu­ten gehen sollen. Soweit ich wusste, war sie nur beim Hausarzt in Behandlung gewesen. Die ganzen achtzehn Jahre war sie wohl an diesen Traum vom Glück gefesselt gewesen. Dass sie sich in dem Verursacher des Glücks maßlos ge­täuscht haben musste, das Glück ihr eigener Traum vom Glück gewesen war, schien unerheblich. Die Erinnerung an die wundervollen Emotionen war das Entscheidende. Dass Harald ein übler Betrügerteufel gewesen war, stand zwar außer Zweifel, aber dadurch wurden die Erlebnisse nicht ungeschehen ge­macht.


Jetzt sprachen wir öfter über die 'zu große Liebe' und den anderen, den man 'zu tief in seine Seele' lässt. Ich sah das völlig anders. Sie habe nicht Harald zu tief in ihre Seele gelassen, sondern in liebend okkupiert, bis sie sehr schmerz­haft feststellen musste, dass er doch nicht ein Teil von ihr, sonder ein selbstän­diger anderer Mensch war. So unvermittelt direkt habe ich es nicht gesagt, zu­mal Camilla alles immer noch sehr stark zu berühren schien. „Mami, versteh, bitte, nichts falsch. Ich will dir keinesfalls ausreden, dass es für dich wunder­schön gewesen ist, nur ich denke, dass sich für dich in deiner Interpretation und auch in deiner Psyche ganz viel verknotet hat, was dir dein Leben äußerst erschwert. Wie junge Männer mit einem Ödipuskomplex ihre Schwierigkeiten haben, so ähnlich ist es für dich mit deinem Haraldkomplex. Harald kann's nicht sein, aber ein anderer darf's auch nicht sein. Du hast deiner Seele eine ganz sonderbare Fixierung auflegen lassen. Ich habe bestimmt auch meine Probleme, aber mit deinen würde ich zum Therapeuten gehen, wenn sich da nichts ändert.“ meinte ich. „Aber ich habe doch sonst keine Macken, oder?“ er­kundigte sich Camilla. „Ne, aber du träumst von der großen Liebe, hast wun­dervolle Vorstellungen davon, aber mit einem Mann, der nicht Harald ist, wie er mal war, geht das nicht. Ist das denn nicht Macke genug?“ suchte ich Bestäti­gung. Camilla lächelte. Sie wurde aktiv. Schaute im Internet nach, las etwas zu Obsession und Fixierung, zu Kommunikation und Anerkennung und wühlte sich natürlich durch das unendliche Thema Liebe. Wir diskutierten häufiger, tiefge­hender, emotional engagierter. Ein verliebtes Duo waren wir beide immer ge­wesen, aber jetzt kamen wir uns noch näher. Als angehende Kommunikations­wissenschaftlerin hätte mich das nicht verwundern dürfen, dass Art und Gehalt der Kommunikation die Beziehung vertiefen und die Zuneigung intensivieren können. Jetzt bekam ich schon liebevolle Gefühle, wenn ich Camilla nur sah.


Mein Mädchen


Ob es liebevolle Gefühle waren, die mich einen Kommilitonen fragen ließen, ob wir das Referat gemeinsam schreiben wollten, weiß ich nicht. Empfunden habe ich jedenfalls nichts davon. Als wir uns zum ersten mal bei uns trafen, und ich mit dem Kaffee aus der Küche kam, sagte er irgendetwas und beschloss seinen Satz mit: „Mein Mädchen“. Zunächst musste ich mich so kringeln, dass ich den meisten Kaffee verschüttete. „Was ist das denn? Was bist du denn für einer? Wie komme ich denn zu der Ehre, dein Mädchen sein zu dürfen?“ wollte ich von ihm wissen. Mein Opi sagte das auch immer. Er sagt es heute noch, und es fühlt sich für mich immer gut an. Als ob er mich auf den Schoß nähme und ein wenig streicheln würde. Bei Opi gefiel es mir, das kleine Mädchen zu sein. Nur welcher Macho sagt denn zu einer so gut wie fremden Frau „Mein Mädchen“? Das machen die nicht mal. Timm, so hieß der junge Mann, erläuterte, warum er das für eine freundliche und auch höfliche Anrede halte. In allen Sprachen gebe es das, freundliche Benennungen für junge Frauen. In Frankreich sei die Bezeichnung Mademoiselle keineswegs herabwürdigend oder unhöflich. Aber Fräulein, welche junge Frau wolle hier denn gern so angesprochen werden und junge Frau sei eine ebenso unbeliebte Floskel, weil damit an der Fleischtheke auch noch Siebzigjährige angesprochen würden. Die Bezeichnung Mädchen hingegen würde von niemandem als diskriminierend empfunden. Ich musste immer lachen, während er dozierte. „Im ersten Moment habe ich dich für einen Macho gehalten, aber jetzt weiß ich, dass du ein Spinner bist.“ erklärte ich ihm. „Ist auch alles nur Brause.“ sagte Timm, „Ich hatte einfach Lust, dich durch einen Joke zu provozieren.“ Offensichtlich hatte ich mir den richtigen ausgesucht. Der Typ gefiel mir. „Kannst du denn auch ernsthaft arbeiten, ohne Jokes?“ wollte ich selbst nicht so ganz ernsthaft wissen. Eine Antwort bekam ich auch nicht, sondern nur ein freundliches Grinsen. Die Arbeit mit Timm machte nicht weniger Freude, als über seine Späße zu lachen. Er dachte krea­tiv, bestand aber nie rechthaberisch auf seinen Ansichten und hatte auch nicht die Allüren vieler Männer, den Naseweis zu spielen. Seine kommunikative Kom­petenz beförderte das Fortkommen an und die Zufriedenheit mit unserer Ar­beit. „Jetzt musst du noch etwas Lustiges für dein Mädchen machen.“ bat ich ihn bevor er nach unserem dritten Treffen gehen wollte. „Bestellte Komik kann ich nicht. Das muss sich situativ ergeben. Ich bin doch nicht dein Witzeerzäh­ler, oder siehst du mich so?“ antwortete Timm. „Nein, nein, ich würde dir gerne erzählen, wie ich dich sehe, aber das machte dich nur übermütig.“ sagte ich, obwohl ich es nachdem es meinen Mund verlassen hatte, so am liebsten nicht gesagt hätte. „Ein Kompliment war das, nicht wahr?“ fragte Timm. „Ich mag dich, Timm.“ antwortete ich ihm darauf, aber das war auch wieder falsch. Ich wollte ihm nur sagen, dass ich ihn sympathisch fände. Nein, das war ja auch zu billig und zu wenig. Als Timm gegangen war, plagte ich mich damit zu über­legen, wie ich ihn wohl fände. Am Zeitungsrand auf dem Küchentisch notierte ich alle mir einfallenden Eigenschaften und Einschätzungen.


Beim Abendbrot grinste Camilla mich an. „Haste 'nen neuen Freund?“ „Nö, wie­so?“ fragte ich. „Dann haste notiert wie du dir deinen Freund wünscht?“ wollte sie wissen. Jetzt endlich klickte es bei mir. „Meinste so kann man nur seinen Freund beschreiben?“ fragte ich nach. „Na, ich bitte dich. Haste mal überlegt, wie viel da von deinen Wunschvorstellungen drin ist?“ meinte Camilla. Ich kramte die Zeitung nochmal raus und überflog meine Notizen. Ja, Camilla hatte Recht. Ein toller Typ musste er schon sein, aber ich sah ihn ja tatsächlich so. Nicht ein toller, ein freundlicher, kompetenter, verständnisvoller, aufmerksamer Typ war er, das waren eher seine charakteristischen Eigenschafen. Ja gut lei­den musste ich ihn schon können, und das tat ich ja auch. Ob ich ihn das mal wissen lassen müsste, oder ob er es schon bemerkt hatte. Vielleicht hatte er ja auch eine dicke Freundin. Bei so einem netten Jungen konnte man da fast sicher sein.


„Sagst du deiner Freundin eigentlich immer, dass du zu mir gehst, wenn du herkommst?“ fragte ich Timm bei unserem nächsten Treffen. Er verzog seinen Mund zu einem Grinsen, und ich grinste ebenfalls, weil ich mich ertappt fühlte. „Ich habe keine Freundin mehr. Wir haben uns getrennt.“ antwortete Timm. Mein Blick sagte wohl, dass ich gern Näheres wissen möchte. „Wir haben uns immer gezankt, und da hatten wir beide keine Lust drauf, und das hat auch die ganze Lust darauf, zusammen zu sein, zerstört.“ erklärte es Timm. Die Kinder hatten sich gezankt? Das konnte ich mir bei Timm gar nicht vorstellen. „Fabia, ich weiß nicht, wo meine Schuld daran liegt. Mir schien Anetta immer schreck­lich launisch, trotzig und rechthaberisch wie ein verzogenes kleines Mädchen, würde man sagen. Mir kam es vor, als ob sie noch gar nicht erwachsen gewor­den wäre. Es hat mich nur ständig mehr und mehr genervt.“ erläuterte Timm näher. „Anscheinend stehst du auf kleine Mädchen.“ reagierte ich darauf. Tim grinste. „Und das Mädchen fängt auch gleich an, mir Kopfzerbrechen zu berei­ten.“ mein fragender Blick veranlasste ihn, sich zu erklären. „Fabia, ich hatte nicht daran gedacht, ein gemeinsames Referat zu schreiben, aber im Moment als du mich fragtest, habe ich mich anders entschieden. Seitdem macht mir un­sere Arbeit zunehmend Freude und genauso oder mehr die Tatsache, dass ich dich treffe. Ich habe bestimmt Minderwertigkeitsgefühle. Du schienst mir im­mer in unerreichbaren Höhen. Vielleicht habe ich mich ja auch an Anetta orien­tiert. Beim letzten mal hast du so ein verschlüsseltes Kompliment gemacht und gesagt, dass du mich magst. Da weiß ich auch nicht wie ich das interpretieren soll.“ sagte Tim dazu. „Ich wusste's ja selbst nicht, Timm. Ich musste es erst mal genau analysieren, und bin zu dem Schluss gekommen, dass du, wenn du ein wenig feinfühlig wärest, es eigentlich schon gemerkt haben müsstest, wie sehr ich dich mag. Aber allem Anschein nach müssen sich angehende Kommu­nikationswissenschaftler auch manches einfach platt sagen.“ reagierte ich. „Und was sagt mir mein Mädchen?“ fragte Timm. „Dass du ein wenig stupid bist. Gib mir einen Kuss.“ ich dazu. Mein großer Macho grinste verlegen, kam mit seinem Mund auf mich zu und schlang im letzten Moment dann doch seine Arme um meinen Hals. „Fabia, meinst du, wir würden auch noch zum Arbeiten kommen?“ wollte Timm in einer Kusspause wissen. „Ist das keine Arbeit, was wir machen? Sieben Kilojoule sind nötig um die Köpfe zum Küssen zusammen zu führen. Bei der Zungenarbeit sind die Wegstrecken schwer berechenbar. Reine Arbeit ist Liebe, nichts als Arbeit.“ bekam Timm von mir als Antwort. „Ja, lieben wir uns jetzt schon?“ fragte Timm. „Warum denn nicht? Oder findest zu Liebe nicht gut?“ meine Gegenfrage. „Schon, schon, nur das kommt alles so überraschend. Ich muss mich erst mal daran gewöhnen.“ meinte Timm und ich musste lachen. „Weißt du was, Timm, wir arbeiten jetzt noch fleißig an unse­rem Referat, und wenn du dann nach Hause gehst, hast du eine ganze Woche zum gewöhnen. Wenn du schon vorher meinst, dich genug gewöhnt zu haben, rufst du einfach an und kommst vorbei.“ erklärte ich. Timm rief aber nicht vor­her an.


Gewöhnungsbedürftig


„Ziemlich gewöhnungsbedürftig bin ich ja anscheinend schon.“ empfing ich ihn. „Fabia, verstehe das, bitte, nicht falsch. Wir kennen uns ja nur aus unserer ge­meinsamen Arbeit und sonst eigentlich gar nicht. Dass ich Angst hätte, kann ich zwar nicht sagen, aber gewöhnlich erlebt man sich doch auch in anderen Zusammenhängen.“ versuchte Timm zu erläutern. Was er redete, machte mich wütend. „Und welche anderen Institutionen der Partnervermittlung müssten wir deiner Meinung nach durchlaufen haben? Gemeinsame Disco- und Kinobe­suche, oder was gehört heute sonst noch dazu. Müssen wir auch mal in der Kneipe zusammen einen trinken, oder was darf's sonst noch sein, bevor du weist, ob du mich liebst. Du Hirni, wer sagt dir denn, ob du mich liebst oder nicht? Deine eigenen Emotionen sagen es dir dir selber und sonst nichts. Wie es dazu kommt, ist doch piep egal und kein Stückchen davon abhängig, ob du irgendetwas von dem gemacht hast, wodurch sonst Beziehungen zustande kommen. Du sagst, ich wäre dir von Anfang an begehrenswert aber unerreich­bar erschienen. Dann such dir doch eine von den Erreichbaren und geh mit ihr in die Disco. Vielleicht wird ja im Laufe der Zeit mal etwas draus.“ schimpfte ich. „Fabia, bitte, so meinte ich das doch nicht. Ich habe mir nur unsere Bezie­hung vorzustellen versucht, und da sah ich immer nur das Bild, wie wir ge­meinsam arbeiteten, andere waren nicht da, gibt es ja nicht. Und da fragte ich mich natürlich, ob das reicht.“ Timm dazu. „Mein Trottelchen, und bei deinen Eigenschaften hatte ich gemeint, du seist intuitiv und kreativ, aber du scheinst massive Blöcke und Abstraktionsprobleme zu haben. Wenn dir beim Arbeiten mein Lächeln gefällt, wenn du beim Arbeiten meine Stimme gern hörst, wenn ich dir beim Arbeiten zuhöre, wird dann außerhalb der Arbeit alles ganz anders sein? Werde ich dann eine andere Frau sein, die du gar nicht kennst? Mein lie­ber Timm, ich will dich keineswegs zu irgendetwas drängen, aber die Gewöh­nungszeit hat dir offensichtlich nicht gut getan. Sag mal, gibt es irgendetwas, vor dem du Angst hast?“ fragte ich ihn. Timm gab gar keine Antwort, sondern schaute zum Fenster. Offenbar schien da etwas zu existieren. Ich wartete. „Nein, Angst direkt nicht.“ begann Timm, „aber der Unterschied zwischen An­netta und dir ist riesig, obwohl ihr wahrscheinlich beide etwa gleich alt seid. Nur Annetta war ein Kind und zu dir passt eher das Bild einer weisen Dame. Ich habe dich von Anfang an für überlegen gehalten, und obwohl ich in unserer Arbeit erfahren habe, dass es dafür überhaupt keine Berechtigung gibt, ist das Bild geblieben. Ich hätte dir von mir aus auch nie gesagt, wie sehr du mir ge­fällst. Ob da Liebe entstehen kann, wenn einer immer das Empfinden hat, den anderen bewundern, zu ihm aufblicken zu müssen? Da bin ich skeptisch.“ äu­ßerte sich Till. „Das muss so sein, Till, einer muss schließlich immer der Chef sein, und in diesen fortgeschrittenen feministischen Zeiten natürlich die Frau. Till, ich möchte nicht, dass du zu mir aufschaust. Du sollst mich lieben, mich begehren. Da bleibt gar keine Zeit zum Aufschauen mehr.“ war meine Meinung dazu. Die Gewöhnungsphase schien zu ihrem Ende zu kommen. Timm war nä­her gerückt, saß schräg an mich gelehnt und streichelte mir Gesicht und Ober­körper.


„Bleibst du heute Abend?“ fragte ich sanft als die übliche Zeit zum Aufbruch näher rückte. „Wieso? Ist etwas Besonderes?“ Timm darauf. „Nein, ich meine nur ob du heute Nacht bei mir bleiben wolltest?“ erklärte ich es und hatte es im Grunde schon abgehakt. Timms Blick sagte mir, dass ich mich eigentlich wie eine Nymphomanin oder Nutte zu empfinden hätte. „Timm es ist alles o.k.. Fahr schön nach Hause und gewöhn dich wieder eine Woche an den Gedanken, dass Frauen und Männer, die sich lieben manchmal auf die Idee kommen, mit­einander ins Bett zu gehen und nächste Woche besprechen wir dann die Ängs­te, die bei dir dabei aufgetaucht sind. Ich weiß gar nicht, ob ich das alles noch will, Timm. Möglicherweise hast du ja Recht, und es gibt da wirklich noch et­was Entscheidendes, was bei der Arbeit nicht evident geworden ist.“ machte ich ihm erbost klar.


Ich lief in die Küche und hätte am liebsten in die Tischplatte gebissen. Sie war zu dick. Mit meinen Fäusten trommelte ich auf sie ein. Timm würde sich wahr­scheinlich davon schleichen. Camilla kam wegen meines Getöses. „Es ist be­stimmt alles vor bei, bevor es begonnen hat.“ meinte ich und erklärte Camilla, was gelaufen war. Sie fixierte mich mit einem süß saueren Lächeln. „Du bist ein bisschen durcheinander, meine Liebe, nicht wahr? Sonst beschwerst du dich immer, und jetzt rastest du aus, wenn er nicht sofort mit ins Bett will, anstatt dich zu freuen, mal so jemanden gefunden zu haben.“ bewerte sie meine Si­tuation. „Sofort? Wir kennen uns immerhin schon anderthalb Monate. So lange hat es sonst noch nie gedauert.“ reagierte ich. „Aber dass du ihn liebst, das ist dir doch erst letzte Woche klar geworden.“ erwiderte Camilla. „Mhm,“ meinte ich kopfschüttelnd, „vor vierzehn Tagen habe ich so eine Charakteristik entwor­fen, aber dass ich ihn sehr gern mochte? Ich weiß gar nicht genau, wann das begonnen hat. Klick hat's nicht gemacht, aber mehr, oder etwas anderes als ein fremder Kommilitone war er fast sofort bei unserer ersten Begegnung. Timm sagt das von sich ja auch. Du musst etwas spüren, das sofort woanders landet, als bei den üblichen Bekannten. Wahrscheinlich notiert deine erste Be­gegnung direkt hohe Sympathiewerte. Ich werde Timm morgen, oder nein, jetzt gleich noch anrufen und mich entschuldigen. A little bit disturbt, ja, das bin ich wohl schon.“


Als ich wieder in mein Zimmer kam, saß Timm noch da. Mit leicht betretenem Gesicht meinte er: „Es ist alles klar, Fabia, ich bleibe.“ „Nein, nein, Timm, das brauchst du nicht. Ich bin ein bisschen durchgedreht. Entschuldige. Selbstver­ständlich gehen wir erst zusammen ins Bett, wenn du es auch möchtest. Ob nächste Woche oder in zwei, drei oder vier Wochen, was spielt das für eine Rol­le. Es gibt Paare die lieben sich schon ein ganzes Jahr und haben noch nicht miteinander geschlafen. Wichtig ist doch, dass wir beide es wollen, und du sagst mir, wenn es soweit für dich ist, o. k.? Ich war vorhin verrückt. Rege mich tierisch auf, dass du es nicht willst, meinte wohl, wenn man sich liebt, ist es selbstverständlich, dass man auch gleich miteinander ins Bett geht. So ein Unsinn. Wir können doch warten. Das ist doch ganz normal. Da muss man ein wenig Geduld haben.“ verdeutlichte ich ihm. „Hör auf, Fabia, ich bleibe doch heute Abend.“ stoppte Timm mich. „Nein, Timm, du fühlst dich gedrängt. Das ist keine gute Basis. Wir machen es, wenn du soweit bist und es von dir aus gerne möchtest. Es drängt uns doch nichts.“ reagierte ich. Timm lachte: „Fa­bia, ich bin jetzt so weit und möchte von mir aus, dass wir die heutige Nacht zusammen verbringen. Warum willst du mich los werden und wegschicken?“ Jetzt fiel mir nichts anderes mehr ein, als ihn zu umarmen.


Fremder Mann


Timm war ein fremder Mann wie Jan und Dirk und Thomas auch gewesen wa­ren, aber da war etwas, was es bei den anderen nicht gegeben hatte. Ja, frem­de Männer waren die anderen und waren es im Grunde durchgängig geblieben. Timm verursachte mir ein irrationales Kribbeln, als ob er ein neues Familien­mitglied wäre. Es fehlte die Distanz. Beim Abendbrot sprachen wir, als ob er dazu gehöre, selbstverständlich seinen Platz hier hätte. Timm war mir sehr nah, näher als je ein anderer zuvor. Er hätte mein Bruder sein können, obwohl ich gar nicht wusste, wie sich ein Bruder anfühlen würde. Ich freute mich kind­lich auf unser gemeinsames Erleben im Bett. „Aphrodite? Für mich ist die Lie­be, das Schöne und das Begehren durch Fabia auf die Welt gekommen.“ erklär­te Timm lachend. Er lachte immer. „Ah, du schummelst. Du verstehst ja doch etwas.“ sagte ich. Er hatte gemeint, von meinem Love-Talk nichts verste­hen zu können, wollte aber auch nicht dass ich anders spräche. Ich war es ge­wohnt, dass man miteinander schmuste, sich küsste, sich erregte und dann fickte. Jetzt schien alles ganz anders zu sein. Dass Beziehung und Sexualität zu zwei verschiedenen Kategorien gehören, hätte ich abgestritten. Wir über­schwemmten uns mit Zuneigung- und Liebeszeichen. Meine Seele musste ganz weit offen sein, dass Timm auch bestimmt in die Tiefen hätte vordringen kön­nen, wo ich doch niemanden hinlassen sollte. Ich wusste nicht, was ich stärker spürte, unsere Liebe oder Timms Körper.


Neuigkeiten von Timm


Timm musste am Morgen schon früh fort. Ich saß mit Camilla beim Frühstück. „Mama, der ist einfach süß, ich könnte den ganzen Tag mit ihm spielen.“ mein­te ich und wir platzten los. „Er würde kein Wort von dem verstehen, was ich sagte, meinte er. Ich hatte ihm etwas vorgesäuselt, so ähnlich, wie du das frü­her auch bei mir gemacht hast. Nein, lauter sprechen sollte ich nicht. Ich wür­de alles so zusammen schleifen. Er lachte immer. Ständig lacht er im Bett. Prä­ziser artikulieren sollte ich auch nicht. Er wolle das gar nicht verstehen. Beim Gesang der Elfen sei es ja auch so, den verstehe man ja auch nicht und trotz­dem sei er wunderschön. Genauso empfinde er das bei mir.“ erzählte ich. „Mama, bei Timm ist das nicht so, wie das mit einem Mann ist. Mit Timm wird die Nacht zum Fest. Bevor es zum Sex kommt, hätte ich ihn schon vor Glück auffressen können. Sonst hast du ein bisschen Unterhaltung, ein bisschen Zärtlichkeit und dann merkst du: „Aha, jetzt fängt Sex an.“. Bei Timm empfin­de ich alles wie eins. Du weißt gar nicht, ob es jetzt mehr Liebe oder mehr Sex ist, und das ist auch völlig egal. Du würdest wahrscheinlich sagen, der wäre ganz tief in deiner Seele, ich sage: „Timm ist ganz nahe an mir dran.““ schwärmte ich weiter.


Neuigkeiten von Timm waren jetzt wohl unser häufigstes Thema, wenn Camilla und ich zusammensaßen. Camilla wollte es gerne hören und ich erzählte es gern. „Jetzt haste ja deine große Amore, was du dir immer gewünscht hast. Und du dachtest, du hättest keine Anlagen dazu.“ scherzte sie. „Gleichgültig ob große Amore oder was, Mama das ist einfach das Schönste, was es gibt auf der Welt. Das Timm und ich uns lieben, verändert mein Lebensgefühl. Die Welt sieht für mich anders aus. Aber das weißt du ja von dir früher. Dass du dir so etwas bis heute vorenthältst, ist unverzeihlich. Es ist doch deine Liebe, die du geben kannst. Die bleibt immer bei dir ganz alleine. Du hast sie nicht an dei­nen früheren Mann verkauft.“ erklärte ich. „Ich weiß, ich weiß,“ bestätigte mich Camilla, „aber selbst wenn ich etwas anderes wollte, ich fühlte mich völlig rat- und hilflos.“ So hatte ich sie ja noch nie gehört. Anscheinend hatte sie es doch schon mal in Erwägung gezogen, etwas zu verändern.


Camilla hatte zwei Freundinnen die auch geschieden waren, ansonsten hatte sie auch keinen größeren lockeren Bekanntenkreis. Sie lege da auch keinen Wert drauf, zu irgendwelchen Fèten oder Partys mit stundenlangem Smalltalk eingeladen zu werden. Nur wie sollte sie denn irgendwelche Bekanntschaften machen, wenn sie sich aus allem raushielt. Früher hatte sie mir als Begrün­dung, dafür dass sie keinen neuen Mann hätte, gesagt. Eine alleinstehende Frau mit Kind die wolle doch niemand. Ich kannte natürlich mittlerweile die wahren Gründe. Jetzt war sie fünfundvierzig und das Kind konnte nun auch ab­solut kein Grund mehr sein. Nur wenn sie außer zum Einkaufen und Cafébesu­chen mit ihren Freundinnen nicht unter Leute kam, wie sollte sie denn da je­manden kennen lernen.


Timms Eltern


„Timm, wir müssen einen Mann für Camilla suchen.“ sagte ich lachend. „Ja, der Siemer wär doch klasse. Oder find'ste nicht. Also ich mag den unheimlich gut leiden.“ Herr Siemer war ein Professor bei uns. Dass Timm ihn mochte, ver­stand ich sehr gut. Timm hätte sein Sohn sein können. „Nein, alles Quatsch.“ sagte ich, „Camilla hat zum ersten mal Andeutungen gemacht, dass sie viel­leicht wohl für sich etwas ändern wollte. Nur sie kennt ja überhaupt keine Leu­te. Da könnten wir uns ja vielleicht mal drum kümmern, dass sich in dem Be­reich etwas ändert.“ Wir überlegten Stationen und Wege, wie sich da für sie et­was ändern ließe, nur die erste befand sich gar nicht in unserem Konzept und ergab sich zufällig. Timms Eltern quälten ihn damit, dass sie unbedingt mal seine neue Freundin kennenlernen wollten. Da wollten wir Camilla gleich mit­nehmen. Ja, selbstverständlich sollte auch die neue „Schwiegermutter“ mit­kommen, umso besser. Camilla wollte zuerst nicht, wir konnten es ihr aber lus­tig vermitteln, dass wir ohne sie nicht fahren würden. Timms Vater war Chef­arzt am örtlichen Krankenhaus und seine Mutter hatte eine HNO Praxis. Ich habe immer gedacht, Timm muss eine glückliche Kindheit gehabt haben, als ich seine Eltern kennenlernte, erklärte sich mir vieles fast beim ersten Kontakt. Seine Eltern waren aufgeschlossen und lustig, und ich konnte mir vorstellen, dass sich bei seinem Vater das Hand auflegen erübrigte, weil er die Patienten schon durch einen Blickkontakt heilen konnte. Seine Mutter sah ich mit dem kleinen Timm im Bettchen scherzen, und er kugelte sich vor Lachen. Das mussten glückliche Verhältnisse gewesen sein, anders konnte ich es mir gar nicht vorstellen. „Sie haben es gut.“ sagte Timms Mutter zu Camilla, „Sie haben ihr Töchterchen bei sich behalten können. Was meinen sie, wie schwer es mir geworden ist, meinen Süßen abzugeben.“ „Ich glaube, ich hätte es gar nicht überlebt, Fabia fortgehen zu lassen.“ kommentierte Camilla. „Ja, nun ist ihre Situation auch noch mal besonders strukturiert.“ meinte Timms Mutter. Und dann erzählte Camilla, was ich für sie bedeute und bedeutet hätte. Natürlich sprach sie auch die Trennung von Harald an und die Konsequenzen, die es für sie gehabt habe. Frau und Herr Bohringer, Timms Eltern, unterbrachen nur manchmal durch kleine Nachfragen. Ich konnte nur staunen. Camilla erzählte offen und detailliert und vor allem so, wie ich es noch nie von ihr gehört hatte. „Sie hätten Hilfe gebraucht.“ meinte Timms Vater, „Sie sind zwar am Leben geblieben, aber der Mann hat doch ihr gesamtes Leben destruiert. Heute noch. Wie stehen sie denn da, wenn ihre Tochter mal fort geht?“ „Ja, in ihrer Tochter müssen sie eine wunderbare Therapeutin gehabt haben. Timm, was hast du für ein Glück. Aber haben sie denn keine Angst, dass sie sich auch mal bis über beide Ohren verlieben könnte?“ fragte Timms Mutter lächelnd Camilla. Timm und ich schauten uns grinsend an und auch Camilla lächelte und antwortete: „Bis über die Ohren? Die beiden sind voll in der Liebe versunken. Aber ich habe keine Angst. Fabia sieht es anders und hat ein anderes Verhältnis dazu. Hätte ich das damals auch schon gehabt, hätte es mir nicht mein ganzes Leben verdorben.“ „Ganzes Leben? Frau Gassner. Sie stehen doch mitten drin. Sie sind eine wundervolle intelligente, aufgeschlossene und kluge Frau. Ihnen steht doch noch alles offen. Das Leben wartet darauf, von ihnen gelebt zu werden.“ reagierte Timms Mutter. Die Zeit reichte nicht, um sich alles Lustige von den Kindern mitzuteilen. Es gab viel zu lachen, bis zum Abendbrot duzte man sich und ich wusste gar nicht mehr richtig, wer sich denn jetzt mehr liebte, Timm und ich, oder die Bohringers und Camilla. Es wurde spät, und wir sollten unbedingt übernachten. Camilla hatte Angst gehabt, dass Timms Eltern sich nur für mich interessieren würden, und sie wie ungebeten daneben säße. Umgekehrt war es. Die Alten beschäftigten sich miteinander. Das schien höchst interessant und amüsant. Wir beide, Timm und ich, waren ziemlich überflüssig. Wir fuhren raus, und Timm zeigte mir etwas aus seiner Jugend und Geschichte. Das Bohringers und Camilla sich nicht auch in Zukunft öfter treffen würden, war undenkbar.


Männer für Camilla


„Das bringt doch alles nichts, Timm. Wir sind jeden Abend unterwegs, schlep­pen Camilla zu allen Volksaufläufen. Es ist ja schön gemeinsam ins Theater oder ins Ballett zu gehen, aber laufen da denn alleinstehende Männer zwischen vierzig und fünfzig rum, die eine Frau suchen. Ist Camilla jemals angesprochen worden?“ klagte ich, „das ist unser Wunsch. Ein netter Herr in ihrem Alter spricht sie in der Konzertpause an. Sie unterhalten sich gut. Beide treffen sich und verlieben sich. Theoretisch unmöglich ist das nicht, aber so unwahrschein­lich wie sonst was auf der Welt.“ „Ja, aber was willst du denn tun. Wo sind denn die alleinstehenden Männer in ihrem Alter, die eine Freundin suchen?“ wollte Timm wissen. „Aber es muss in diesem Alter doch viele geben, die sich getrennt haben oder geschieden sind.“ war meine Meinung. „Ja, wegen einer anderen Frau, und mit der leben sie jetzt zusammen.“ Timm dazu. „Ach wo, du erkennst sie ja nicht, und dein Blickfeld ist ja sehr beschränkt. Bei dem Siemer zum Beispiel, da vermutest du selbstverständlich, dass er verheiratet ist und Frau und Kinder hat. Vielleicht er ja bislang immer so fleißig gewesen, dass er dafür gar keine Zeit hatte, und jetzt merkt er, was ihm fehlt.“ war meine An­sicht. Timm lachte, aber er wusste es ja auch nicht. „Die beiden mal bekannt machen. Vielleicht trennt er sich ja wegen Camilla von seiner Frau.“schlug Timm blödelnd vor. „Das ist echt ein Problem. Wo und wie willst du denn je­manden finden. Bei den Partnervermittlungsagenturen, da tummeln sie sich.“ meinte ich dazu. „Ja natürlich, warum sollte Camilla das nicht mal versuchen. Da gibt es doch ganz seriöse wie Akademikervermittlung oder so ähnlich. Da bestünde doch 'ne Chance.“ Timm dazu. „Das wird Camilla niemals machen, und das kann ich gut nachvollziehen. Warum haben wir beide uns denn nicht über die Partnervermittlung kennengelernt? Du hattest keine Freundin und ich keinen Freund, wir wollten aber beide. Ich habe dich noch nicht mal kennenge­lernt, weil ich einen Freund suchte und dachte du könntest so etwas sein oder werden. Mit Partnervermittlung läuft das nicht. Camilla läuft auch nicht mit Sti­laugen rum und sucht einen Freund. Wenn sich so etwas ergeben würde, dann wäre sie dafür offen, und sie würde sich freuen.“ war meine Ansicht. „Dann muss sie weiter träumen. Wenn sie sich nicht aktiv bemühen will, wird sie mit achtzig immer noch da sitzen und warten.“ Timm hoffnungslos.


Aber Lust hast'e schon


Der hoffnungslose Timm, war ständig bei uns. Wir hatten ihm schon das soge­nannte Bügelzimmer eingeräumt, damit er unter vernünftigen Bedingungen, und nicht am Küchentisch, arbeiten konnte. Die Frage kam auf, wozu er sein Apartment noch brauche. Camilla klärte, natürlich völlig rational, aber dafür zu emphatisch, dass die derzeitige Situation pervers sei, und Timm doch auch of­fiziell zu uns ziehen solle. Camilla mochte Timm sehr gut leiden und Timm Ca­milla auch. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte es mit den beiden sicher ge­klappt. Aber wie hätten sie zueinander kommen, sich kennenlernen sollen? Das war's, wir mussten öfter passende Leute zu uns nach Hause einladen. Zuerst musste geklärt werden, wie's um unseren Idealkandidaten Professor Siemer stand. Volle Enttäuschung, natürlich verheiratet. Leider mussten wir feststel­len, dass wir auch niemanden kannten, den wir als potentiellen Kandidaten hätten einladen können. Wir sprachen mit allen darüber, dass wir einen Mann für meine Mutter suchten. Vielleicht kannte ja jemand anders einen Mann auf der Suche. Sie brauchte dringend einen eigenen. Ständig mit Timm schäkern, das ging doch zu weit. Aber immer sprachen die Bekannten von Partnerver­mittlung, als ob anderes Sich-kennen und lieben-lernen, out oder zumindest ungewöhnlich wäre. Obwohl es ja eine irrationale Diskussion war, redeten wir doch häufig darüber, ob Timm offiziell zu uns ziehen sollte. Er war ja immer da, aber mit meinem Freund zusammen ziehen? Das kam für mich einer Festlegung gleich, so etwas wie eine Vorstufe zur Familiengründung. Es widerstritt sich in mir. Natürlich wollte ich Timm behalten, ihn nie wieder verlieren, aber meine Freiheit wollte ich auch behalten und sie nicht abgeben. Camilla meinte, ich sei nicht clean. Das Pärchen, die sich liebten zusammenlebten, sei doch die Regel. Heiraten oder Kinder kriegen, sich auf ewig binden habe damit doch überhaupt nichts zu tun. Timm war auch nicht besonders begeistert von dem Gedanken. Er meinte auch etwas Eigenes für sich zu gebrauchen. Vielleicht bewahrte er ja die Tiefen seiner Seele, wo ich nicht hin durfte, in seinem Apartment auf. Aber er neigte schon dazu, es rational zu klären. „Weiß du Mami, Timm wird das zuviel, dass du so verknallt bist in ihn.“ nachdem wir ausgelacht hatten, fuhr ich fort, „Er meint du solltest dich doch mal an eine Partnervermittlung wenden.“ Jetzt lachte nur Camilla. „Ich könnte ja auch eine Annonce aufgeben: „Einsame Fünfundvierzigjährige sucht die Arme eines treuen Mannes, die sie liebend umfangen.“ oder so“ schlug Camilla vor und lachte wieder. „Du lachst, Mama, aber so ganz abwegig ist das doch auch nicht. Wenn du nichts machst, passiert auch nix.“ meinte ich dazu. „Aber Fabia, ich bin doch nicht krampfhaft auf der Suche nach einem Mann. Wenn sich etwas ergibt, könnte das vielleicht ganz schön sein, aber wenn nicht, dann nicht. Oder haben mir die achtzehn Jahre ohne Mann etwa geschadet? Haben sie mich verbittert oder verhärmt?“ so Camilla. „Aber Lust hättest'e schon. Das kannst du doch nicht verbergen. Dann musst du auch etwas machen.“ war meine Ansicht.


Klärungen


Juliane Bohringer, Tims Mutter, kam zu Besuch und war ausgelassen happy. So empfindsam sei sie, sagte sie. Wenn ihre Nachbarin Seelenpein habe, leide sie mit. Wieviel mehr freue sie sich da mit, wenn Tim, der nicht nebenan, sondern in ihrem Herzen wohne, glücklich sei, oder Timm? Timm stand auf, um Mutti einen Kuss zu geben. Alles wurde geklärt. Wir, Timm und ich, seien realitäts­ferne Mimosen. Timm solle zu uns ziehen und Camilla zöge zu ihr. So schade empfand sie es, das die Entfernung so groß sei. Ihre Freundinnen seien alle so lahme Enten. Einfach der Gedanke daran, nachmittags mit Camilla etwas zu unternehmen, mit ihr auf Shopingtour und Männerjagd zu gehen, bereite ihr schon ausgesprochen Spaß. Uns nicht weniger als ihr selbst. Mit Camilla litt sie auch, wahrscheinlich sogar mehr als diese selbst. Sie überlegte und wägte al­les ab, versuchte sich selbst in ihre Lage zu denken, kam aber letztendlich auch zu dem Schluss, dass es wohl außer Partnervermittlung keine realistische Chance gebe. Camilla bestritt ständig, dass sie konkret einen Mann brauche, während wir ihr das Gegenteil zu beweisen versuchten. Juliane meinte zwar auch, dass eine Frau grundsätzlich auch ohne Mann komplett sei und leben könne, aber das sei theoretisch und individuell sicher auch praktisch möglich, aber für sie zum Beispiel seien das auch realitätsferne Gedankenspiele. „Ich kann ja auch allein im Bett ohne Bernd, Timms Vater, einschlafen, aber ich weiß er kommt nach dem Kongress wieder. Nur immer allein, und gerade abends im Bett, da fehlt deiner Seele doch Entscheidendes. Dazu ist der Mensch doch nicht geschaffen.“ erklärte Juliane und Camilla grinste. „Genau,“ bestätigte Timm, „der Mensch ist seine Kommunikation und besonders die abends im Bett. Da reden immer Stimmen mit dir, die du tagsüber gar nicht zu hören bekommst.“


Partnervermittlung


In Camilla verdichtete sich langsam die Überzeugung, dass es doch wohl nicht abwegig sein könne, sich einen Mann zu suchen. Ob sie neidisch auf Timm und mich war? Das glaube ich eher nicht, aber einen Wunsch, nein bestimmt auch eine Sehnsucht nach ähnlichen Bedingungen für sie selber, war bestimmt ge­wachsen. Wie freundlich, liebevoll und zärtlich sie sich oft gegenüber Timm verhielt, verriet ihr Bedürfnis, nur konnte Timm ja keine Perspektive bieten. Gemeinsam starteten wir das Unternehmen Partnervermittlung. Der beste Ser­vice wurde ausgesucht und Camillas Profil erstellten wir gemeinsam. „Nein, nein, das ist Schwachsinn. Du musst das Altersspektrum erweitern. Fünfund­vierzig bis fünfzig, das ist doch viel zu eng. Wenn du Timm kriegen könntest, würdest du den doch auch nehmen.“ meinte ich. „Red' nicht so einen Unsinn.“ Camilla darauf, „Ich will doch keinen alten Mann, mit dem es noch zwei Jahre ganz schön ist, und dann kann ich ihn pflegen.“ „Du solltest vierzig bis sechzig angeben.“ schlug ich vor, nur konnte man das nicht einfach mehr so ändern. Da musste man Mitglied werden und Beiträge bezahlen. Also neue Anmeldung unter anderem Namen. Wir meinten, den Persönlichkeitstest genauso beant­wortet zu haben, wie zuvor, nur hatte Camilla jetzt ein ganz anderes Profil. Das Angebot der Männer, die zu ihr passen sollten, war riesig. Da würde bestimmt einer drunter zu finden sein. Einen ganzen Nachmittag verbrachten wir damit, welche auszusuchen, auf die sie reagieren sollte, wenn sie sich angemeldet hätte. Ihr E-Mailpostfach war schon voll mit Männern, die Interesse an ihr hat­ten. Auch die klickten wir alle an. Wir wollten ja schließlich nicht den ultimati­ven Lover übersehen. Serienmäßig teilte Camilla den potentiellen Kandidaten mit, dass ihr Profil sie interessiert habe, und sie gerne mehr von ihnen hören würde. Bis jetzt sei es schon viel Arbeit gewesen, dachten wir, aber fast alle Angeschriebenen reagierten mit mehr oder weniger langen Erklärungen. Nicht nur Liebe ist Arbeit, ihre Anbahnung ist mit noch viel mehr Mühen verbunden. „Da siehst du es, wie unbedeutend der Text in der Kommunikation ist. Du kannst dir bei jedem Brief fünf verschiedene Männer vorstellen, wie sie es sprechen und dann sind es immer ganz andere Typen.“ meinte Timm. „Trotz­dem müssen wir unsere Schlüsse daraus ziehen. Etwas anderes haben wir ja nicht.“ reagierte ich. Timm und ich, wir konnten uns stundenlang über unter­schiedliche Interpretationen streiten, Camilla selbst schien die Bewertung ihrer potentiellen Partner weniger zu interessieren. Mit zwölf sollten letztendlich die Kontakte intensiviert werden. Zwei von ihnen schieden in der Mailkommunika­tion noch aus. Zehn waren übrig geblieben, bei denen man einen Date für sinn­voll erachten würde. Den Top—Kandidaten aus unserer Rankingliste sollte sie zuerst treffen. Das spannt dich an, da bist du doch aufgeregt. Für uns war das so, nicht so für Camilla. Es schien sie völlig kalt zu lassen, und das konnte nicht gespielt sein. Als ob sie noch ein wenig Aufschnitt holen müsse, nahm sie als Angestellte den Termin unseres Partnerdienstes war. So kam sie auch zurück. Wir platzten vor Spannung und wollten alles wissen, aber es gab nichts. Nur Lappalien. „Das ist doch Unfug. Stell dir vor, du gehst in die Verwaltung, sitzt einem fremden Mann gegenüber, und denkst, der ist ganz nett. Wenn du dir aber vorzustellen versuchst, du solltest ihn liebkosen und küssen, dann entwickelst du Aversion oder lachst über so einen Unsinn. Nichts anderes war das jetzt. Was habe ich mit diesem fremden Typen zu tun? Wenn du dann noch merkst, wie er sich einzuschmeicheln versucht, wird’s absolut lächerlich.“ so Camilla zu ihrem ersten Date. Wir versuchten ihr klar zu machen, dass sie eine völlig falsche Einstellung habe. Sie treffe sich doch, weil sie ihn interessant fände und ihn kennenlernen wolle. Ob sie ihn umarmen und küssen solle, stehe doch gar nicht zur Debatte. Sie wolle ihn nur näher kennenlernen. Trotzdem gaben wir es nach drei weiteren Dates auf. Camilla hatte zwar versucht, mit den Männern näher ins Gespräch zu kommen, aber die Barriere blieb. Ein Horror davor, das diese fremden Typen mal etwas von ihr wollen, sie anfassen könnten. Camilla war offen und kommunikativ, konnte mit allen gut reden, nur wenn die Absicht dahinter stand, es eventuell zu einer näheren Beziehung kommen zu lassen, blockierte sie und wurde arrogant. „Du bist nicht clean, Mami, du willst es doch selber, behandelst aber Männer, die es auch wollen, despektierlich, obwohl du gerade diese suchst.“ machte ich ihr deutlich. „So läuft das nicht, Fabia. Deine Augen sind doch nicht frei. Bei dieser organisierten Liebesvermittlung nimmst du doch den Mann nicht unvoreingenommen wahr. Da hast du doch eine dicke Brille auf, die dir sagt, woran du bei der Begegnung zu denken hast.“ erklärte Camilla sich. Es hatte offensichtlich keinen Zweck. Auch wenn die Partnervermittlung ein probates Mittel war, für Camilla traf das nicht zu.


Neue Familie


Im Grunde war ich ganz froh, dass dieser Partnerzirkus vorbei war. Er hatte uns massiv in Anspruch genommen, und immer stärker konnte ich Camillas Vorbehalte nachempfinden. So konnte man einen Betrieb organisieren, aber nicht die Beziehung unter Menschen. Wollte ich denn eine Beziehung, die sich nicht aus der kommunikativen Praxis des Lebens ergeben hätte? Ich saß nicht auf der Terrasse, sondern in meinem Zimmer und ließ meinen Blick nicht in die Weite des Himmels schweifen, sondern starrte auf mein Bücherregal. Das war mein gewohntes Mantra, wenn ich sinnierte, träumte, nachdachte. Meine Be­ziehung hatte sich spannend aus dem Leben entwickelt und tief in meiner See­le lebte Timm bestimmt. Aber ich hatte ihn auch in mein Leben gelassen und das hatte er verändert. Vorgesehen und gewünscht war das nicht. Das Leben mit meiner Mutter gefiel mir hervorragend. Unsere Zweisamkeit war beschau­lich und äußerst vertrauens- und liebevoll. Da brauchte nichts geändert zu wer­den, wir waren beide glücklich damit. Der Gedanke an einen Mann war für Ca­milla außen vor und für mich unbedeutend. Dass je ein Freund von mir bei uns wohnen und mit uns leben könnte, der Gedanke war so irrational, dass er gar nicht gedacht wurde. Der Status quo unserer Welt gehörte nur uns beiden, und für Änderungen bestand kein Bedarf. So war die Welt nicht mehr für mich. Mit Wehmut erfüllte es mich schon, aber wir hatten es beide ja nicht nur zugelassen, sondern fördernd unterstützt. Seitdem ich Timm kannte, hatten wir es ja zugelassen, dass unser duales Beziehungssystem aufgebrochen wurde und ein dritter es zu einer Gruppe umfunktionieren konnte. Es hat sich einfach so ergeben, geplant und gewollt hatten wir es nicht. Das Leben selbst und wie wir damit umgehen bewirkt die entscheidenden Veränderungen und nicht voluntaristisch konstruierte Handlungsabläufe. Selbstverständlich können und müssen wir Segmente planen, aber für tiefgreifende psychosoziale Veränderungen ist es zu komplex. Alles hatte sich wieder beruhigt. Wir genossen es richtig. Camilla liebte wieder ihre Neckereien mit Timm, und der freute sich immer, wenn er sich mit ihr gegen mich solidarisieren konnte. Bei der Terrasse unterstützte er nicht nur Camillas Ansicht, sondern überbot sie in Lobpreisungen und Elogen über die Vorzüge des Sitzens im Freien, auch wenn er dabei selbst schon fast vor Kälte blaue Lippen bekam. Er funktionierte unsere Terrasse verbal zu einem Luftkurort um, und Camilla musste immer so lachen, dass es ihre gewöhnlich beschauliche Stimmung auflöste.


Julianes Geburtstag


Juliane fand unser Zusammenleben idyllisch und wenn Camilla kein dringendes Bedürfnis verspüre, sei ein weiterer Mann doch nicht erforderlich. Aber zu­nächst mal hatte Juliane Geburtstag. Sie wurde auch fünfundvierzig und das sollte gar nicht idyllisch gefeiert werden. Der fünfundvierzigste Geburtstag sei im Leben einer Frau ein bedeutendes Datum, darüber hinaus könne sie sich nicht erinnern, eine großartige Geburtstagsfeier gemacht zu haben. Jetzt sollte es so sein. Alles war mit Camilla telefonisch ausgeheckt und die Party fand bei Bohringers in Haus und Garten statt. Es waren heiße Sommertage und vom Wetter war nichts Böses zu befürchten. Wir fuhren schon am Freitagnachmit­tag, um bei der Vorbereitung für Samstagabend zu helfen. Achtzig Leute hatte Juliane eingeladen, Kreti und Pleti, alle, denen sie nicht ganz böse war. Juliane hatte ihr zwar viel zu den Personen erklärt, aber das konnte Camilla ja nicht behalten. Am Abend selbst schien Juliane total high zu sein. Sie versuchte Ca­milla möglichst vielen vorzustellen, nannte sie primär ihre beste Freundin und lobte sie über den grünen Klee. Camilla hatte gedacht, immer ein wenig zu hel­fen, doch jetzt war sie permanent in Gespräche eingebunden und viele fragten sie, als ob sie die eigentliche Gastgeberin wäre. Die Dämmerung setzte schon ein, als die letzten Gäste gingen. Camilla hatte einen leichten Schwips und Ju­liane wohl auch. Sie erzählten sich immer etwas, lachten sich tot und fielen sich gegenseitig um den Hals. Wir drängten sie, ins Bett zu gehen, doch Julia­ne reagierte, dass es sich nicht zieme, seinen Müttern Vorschriften zu machen. Und die beiden lachten sich wieder schief. Am nächsten Morgen war Juliane im­mer noch ganz glücklich. Es sei das schönste Fest in ihrem Leben gewesen. So unbeschwert frei, so offen glücklich habe sie sich seit ihrer Schulzeit nicht mehr empfunden. Camilla interpretierte es so, dass fünfundvierzig ja den Ab­schied von der Jugend bedeute und da müsse man sie noch einmal wieder er­leben. Sie durchforstete ihr Notizbuch und wollte sich mit Julianes Hilfe verge­wissern, dass sie zu den aufgeschriebenen Telefonnummern und E-Mailadres­sen auch die richtigen Zuordnungen traf. Über einen Leonard Schüssler wollte sie gern Näheres wissen, aber Juliane wusste auch nur, dass Bernd ihn wohl näher kennen würde. Der wusste jedoch nicht mehr, als dass er irgendetwas in Köln an der Uni mache. Er habe ihn kurz vor der Féte wiedergetroffen, sie hät­ten allgemein geredet, und weil er ihn ganz sympathisch fand, habe er ihn zur Party eingeladen. Die Identität der anderen Achtzehn war schnell geklärt. Ca­milla war anscheinend nicht nur eine interessante Gesprächspartnerin gewe­sen, sondern hatte auch wohl sehr sympathisch gewirkt. Na, und die beste Freundin von Frau Bohringer und zukünftige Schwiegermutter von Timmy musste man doch mal näher kennenlernen.


Neuer Bekanntenkreis


Camilla registrierte erst zu Hause, was sie da angestellt hatte. An einem Abend fast zwanzig neue Freunde, na ja Bekannte gewonnen. Überwiegend Frauen, aber drei Männer waren auch darunter. Das hatte mit irgendwelchen amourö­sen Tendenzen überhaupt nichts zu tun. Sie hatten sich gut unterhalten, sich gegenseitig interessant gefunden und wollten den Kontakt aufrecht erhalt. Nur bei den neunzehn Leuten musste sie sich ja auch mal melden. Bislang hatte sie nur einen E-Mail Kontakt zu einer Cousine, mit der sie alle paar Monate mal ein Briefchen wechselte. Sie gab nicht nur die E-Mailadressen in ihren Computer ein, sondern notierte sich auch Gesprächserinnerungen zu den einzelnen Per­sonen. Es wäre interessant gewesen, zu untersuchen, wie sich aus einem einzi­gen Gespräch per E-Mail die Kontakte weiterentwickelten oder auch zerbrach. Das war aber bei Camilla bislang noch nicht geschehen. Sie gab sich außeror­dentliche Mühe ihre Briefe zu gestalten, fragte uns oft nach unserer Einschät­zung und war vor allem permanent damit beschäftigt. Für einen Mann hätte sie jetzt gar keine Zeit mehr gehabt. Außer mit uns lebte sie hauptsächlich in den vielfältigen Welten ihrer Kommunikationspartner. Jetzt saß sie auch mit ihrem Laptop auf der Terrasse und laß in den vorbeifliegenden Wolken, was sie unbe­dingt Sandra noch wissen lassen musste.


Zu zweien hatten sich die Kontakte besonders intensiv entwickelt und mit ih­nen telefonierte sie auch öfter. Ulrike meinte, sie brauche wenigstens ein wö­chentliches Gespräch mit Camilla. Es gebe ihr die nötige Energie und Freude, die sie brauche, wie andere einmal in der Woche die reinigende Kraft einer Beichte bräuchten. Ulrike war die Schwester von Timms Vater, also seine Tante. Sie ließ Timm nicht immer nur grüßen, sondern einen Kuss von ihr geben und ihn streicheln. Bis ihr irgendetwas auffiel. „Allegorisch hast du es verstanden, nicht wahr?“ wollte sie sich vergewissern. „Nein, warum sollte ich?“ fragte Ca­milla. „Du hast ihn also jedes mal richtig geküsst und gestreichel?“ fragte Ulri­ke nach. „Wieso nicht, Timm gefällt es und ich tue es gern.“ antwortete Camil­la. Ein „Oh je!“ stieß Ulrike aus, bevor sie beide schallend lachten. Das Bild vom Sodom und Gomorrah, das sich ihr beim 'Oh je' gezeigt hatte, war wohl im Moment des Auftauchens verschwunden. „Hat der's gut, der Timm.“ meinte sie. Bei ihr zu Hause lief alles wohl überhaupt nicht gut. Deshalb waren ihr die Gespräche mit Camilla auch so hilfreich. Ihr Mann sei ein absolutes Arschloch, meinte Timm, und die Kinder bewunderten ihn auch noch. Warum solche Idioten nicht einfach verschwinden würden. Größeres Glück könne seine Tante überhaupt nicht haben. Aber die Blödmänner verlassen ihre Frauen nicht, nur die Netten, meinte Timm.


Leonard


„Nein, nein, nein und nochmals nein, Leonard.“ bekamen wir mit. „Lass es, all deinen Erklärungen und Versicherungen wird kein Erfolg beschieden sein. Es bleibt dabei, was ich gesagt habe.“ Leonard Schüssler war Patient im Kranken­haus bei Timms Vater gewesen. Da hatte er wahrscheinlich noch gewusst, dass er Professor für Anglistik hier an der Uni war, während ihm später nur in Erin­nerung geblieben war, dass er irgendetwas an der Uni mache. Über Berufliches wollten sich Leonard und Camilla aber in ihren Mails nicht unterhalten. Völlig ausschließen konnten sie es jedoch zumindest indirekt nicht. Camilla hatte Amerikanistik studiert und früher Englisch und Geschichte in der Schule unter­richtet, bevor sie sich dann beim Regierungspräsidenten um Beamtenangele­genheiten kümmern musste. Stellenbesetzungen, Einstellungen und Versetzun­gen von Lehrern waren ihre Aufgaben. Obwohl Englisch ihr Hauptfach gewesen war, schien sie sich jetzt mehr für Geschichte und Politik zu interessieren. Von entsprechenden Büchern quoll unsere Bibliothek über. Leonard hatte wohl auch ihre alte Liebe zum Englischen wieder erweckt. Da das Gespräch bei der Fète auch auf kulturelle Entwicklungen in England gekommen war, hatten sie neben den hohen Sympathiewerten sich auch wohl gegenseitig reiche Bildungskompe­tenzen attestiert. Von den Hintergründen wussten sie ja nichts. Jetzt kannten sie die natürlich, aber unabhängig davon hatte sich ihr Mailaustausch für beide wohl höchst amüsant entwickelt. Camilla freute sich darauf, Leonard zu schrei­ben und Mails von ihm zu erhalten. „Leonard hat eine Joyce Exkursion nach Ir­land organisiert und meinte ich solle mitfahren. Der spinnt doch wohl.“ echauf­fierte sich Camilla, „Er ist ein sehr netter Mensch, das ist es und dabei bleibt es und kein Fitzelchen mehr. Der ist doch verheiratet und ich soll mit ihm in Ur­laub fahren. So etwas ausgerechnet mir. Er will mir klar machen, dass es sich nur um das literarisch Interessante handelte. Oh man!“ Camilla hatte einen neuen Bekanntenkreis gewonnen, mit dem sie per E-Mail korrespondierte. Die jeweiligen Beziehungen hatten schnell unterschiedlich intensive Formen ange­nommen. Verheiratet oder liiert waren alle. Zu ihrer damaligen Männersuche hatte es keinerlei Bezug. Nur seine Mails interessant finden, ihn nur für einen netten Menschen halten? Camilla hatte sich nicht nur in früherem Mann ge­täuscht, jetzt schien sie sich selbst täuschen zu wollen. Jeder Satz, den sie mit Leonard sprach, auch die strikte Absage war von einem Lächeln begleitet. Er werde ihr nachher alles exklusiv berichten, hatte Camilla Leonard am Telefon vorgeschlagen und solche Berichte schien Camilla wohl häufiger zu erhalten. Ihre Telefonate nahmen zu und wurden immer länger. Während sie zu Beginn noch dort telefoniert hatte, wo sie sich gerade befand, ging sie jetzt immer mit dem Telefon in ihr Zimmer.


Keine Treffen


„Ich werde mich nicht mit ihm treffen.“ sagte Camilla. Es klang wie eine trotzi­ge Warnung an sich selbst. „Leonard möchte es aber gern, oder?“ fragte ich rhetorisch. „Ja, natürlich.“ Camilla darauf. „Und du selbst möchtest es gar nicht, Camilla, oder?“ fragte ich sie provozierend. Camilla grinste. „Ich glaube, ich mag ihn schon sehr. Aber die Vorstellung, dass ich es bin, die die Beziehung zu seiner Frau zerstört, ist für mich unerträglich. Solange wir uns schreiben und telefonieren kann nichts passieren.“ meinte sie. Ich blickte sie skeptisch an und bließ meine Luft prustend durch die Lippen. „Mami, wenn du es willst, kannst du ganz schön naiv sein. Wo hat Leonard denn die Liebe zu seiner Frau? In seinen Augen, weil er sie sehen kann? In seinen Händen, damit er sie anfas­sen kann? In seinen Lippen zum Küssen oder in seinem Schwanz zum vögeln? Jedes Kind weiß, dass die Liebe sich im Herzen, respektive im Kopf befindet. Und ob du ihn triffst oder nicht, seine Frau hast du möglicherweise längst von ihrem Platz vertrieben.“ erklärte ich zu Camillas Ansicht. Sie hatten wohl schon oft darüber gesprochen und Camilla war über die Beziehung von Leonard zu seiner Frau bis ins Detail informiert. Die große Liebe sei es auch mal gewesen, aber in letzter Zeit ein wenig ermüdet. Er liebe sie schon, schätze und achte sie. Über seine Empfindungen für Camilla habe er sie vom ersten Moment an informiert, wahrscheinlich wisse sie mehr als Camilla selber. Sie sähen es beide sehr nüchtern und seien ratlos, was aus ihrer Beziehung werden solle. So zog es sich noch lange. Sie blieben ratlos und Camilla traf sich nicht mit Leonard.


Müde wurde die Beziehung zwischen Leonard und Camilla aber nicht. Timm und ich empfanden es so, dass unsere Bedeutung als Camillas Kommunikati­onspartner abnahm. Camilla brauchte ihre tägliche Dosis Leonard. Was sie jetzt sah, wenn sie träumend auf der Terrasse in die Ferne blickte, waren be­stimmt nicht mehr ihre Glückserfahrungen mit Harald.


Klärendes Gespräch


Camilla war immer quirlig und lebendig gewesen, redete gern und hatte Lust zu scherzen. Sie hatte sich verändert Etwas Ernstes schien sie zu beschäftigen, und wenn man sie ansprach, hatte man oft den Eindruck, dass sie erst aus ei­ner anderen Welt umschalten musste. „Was wird denn jetzt eigentlich aus euch?“ wollte ich wissen. „Wir müssen schauen.“ solche Antworten bekam ich. Wie Idioten kamen wir uns manchmal vor. Camilla lebte offensichtlich primär in einer anderen Welt, in der wir ziemlich unbedeutend waren und nur einen ge­ringen Stellenwert hatten. Wir witzelten untereinander. Camilla war auf's Tiefs­te verknallt. Das hatte man sich nicht ausmalen können. Einerseits war es ja wundervoll und auch in gewisser weise lustig, wie es die Bedeutsamkeit ihrer Welten verschob, aber andererseits ging es uns auch auf die Nerven und stimmte ärgerlich, wie sie sich unseren Zusammenhängen entzog. „Camilla, du bist maßlos verliebt. Nichts hätte ich dir mehr gewünscht. Du hast achtzehn Jahre von Harald geträumt, obwohl er dich betrogen hat, willst du jetzt acht­zehn Jahre von Leonard träumen, der doch bei seiner Frau geblieben ist? Wenn er dich so liebt, wie du ihn, wird er klare Verhältnisse schaffen und sich für dich entscheiden, aber das tut er ja ganz offensichtlich nicht. Fragst du dich denn gar nicht, was dahinter stehen könnte?“ wollte ich ernst wissen. „Nein, nein, nein, das siehst du völlig falsch.“ korrigierte Camilla mich, „So wie es jetzt läuft gefällt es uns beiden. Er weiß von mir, dass ich nicht möchte, dass er meinetwegen seine Frau verlässt. Und was wäre, wenn sie sich trennen würden, wissen wir gar nicht. So ist es schön, aber ob ich mit Leonard zusammen leben wollte, weiß ich doch gar nicht.“ Ich schaute sie skeptisch an. Wovon träumte sie denn, wenn sie versonnen beim Kaffee saß? Von Leonards letzten schmeichelnden Worten? Von seiner wie auch immer gearteten Stimme, die in ihren Ohren klang. Camilla redete Unfug. Natürlich wollte sie in den Arm genommen werden, ihn anschauen, ihn berühren, seine Hände und Lippen spüren, merken wie ihre Körper sich berührten. „Du machst dir selbst etwas vor Camilla. Du willst mit ihm sprechen, verliebte Worte wechseln, aber sehen, umarmen willst du ihn nicht, kein Bedürfnis danach. Wenn er hier bei uns am Tisch säße, wüsstest du gar nicht, ob du das auch möchtest. Kannst du dir so etwas denn selber glauben? Wenn es Leonard tatsächlich so wichtig wäre, mit dir zusammen zu sein, hätte er seine Frau längst verlassen, mit welcher Begründung auch immer. Bei aller Liebe scheint ihr euch gegenseitig zu belügen.“ meinte ich dazu. Camilla schwieg. Unberührt schien es sie nicht zu lassen. Nur zwei Wochen später hatten Leonard und seine Frau die Trennung beschlossen. Camilla meinte, sie hätten mal ein klärendes Gespräch geführt.


Jetzt braucht Leonard sofort eine Wohnung in Köln. Wenn die beiden nicht ge­rade ausgegangen waren, wohnte Leonard aber in seiner freien Zeit bei uns. Timm hatte sich in die Beziehung zwischen Camilla und mir eingebracht. Wie Camilla und Leonard Zärtlichkeiten austauschend beieinander saßen, gab ein wundervolles Bild. Camilla leidenschaftlich küssend, das hatte ich mir nie aus­mahlen können, reine Wonne strahlte ihr Gesicht nur vernünftig reden konnte man mit ihr kaum. Aber sie sprach ja auch kaum mit so Leuten wie Timm und mir. Die beiden hockten immer zusammen und unterhielten sich untereinander. Selbst beim Abendbrot kamen wir uns manchmal wie Fremde vor, die sich auch einfach an den Tisch geschlichen hatten. Wir belächelten die Situation, meinten sie ginge vorüber und freuten uns riesig für Camilla. Es dauerte aber nicht lange, da kam Camilla nach dem Konzert nicht mehr nach Hause, son­dern übernachtete bei Leonard. Sie würde ja kaum in seinem Gästezimmer ge­schlafen haben. Kommentare von Camilla hörte man dazu nicht. Nach der drit­ten Nacht fragte ich sie: „Was ist eigentlich los? Sprichst du jetzt nicht mehr mit mir. Du gehst mit Leonard ins Bett und verlierst kein Wort darüber.“ „Wie­so, was soll man denn dazu sagen?“ fragte sie und fügte mit einem kindlich schelmisch Gesicht hinzu, „Ja, gut ist es.“ Ein aufstöhnendes „Oh, Camilla“ brachte ich nur hervor. Sie lebte anscheinend gar nicht mehr mit uns sondern komplett in ihrer neuen Liebeswelt. Wir gingen davon aus, dass es mit der Zeit nachlassen würde, und unser Leben wieder zu den gewohnten Bahnen zurück­finden würde.


So läuft das nicht, Camilla

 

Das Gegenteil war aber der Fall. Oft fuhr sie von der Arbeit aus direkt zu Leo­nard. Wir bekamen sie oft tagelang nicht zu sehen. Es würde sicherlich nicht lange dauern, bis sie sich fragte: „Was soll ich überhaupt noch zu Hause?“ Im Grunde war es schon gar nicht mehr ihr Zuhause. Mit Till und mir hatte sie ge­lebt. Wir waren ihr Zuhause gewesen, und Camilla war Teil dessen, was für Till und mich das Zuhause bedeutete. So war es nicht mehr. Sie hatte sich einfach davon geschlichen, als ob Timm und ich ihr nichts mehr bedeuteten. „So läuft das nicht, Camilla.“ begann ich unser Gespräch, zu dem wir extra einen Termin vereinbart hatten. Camilla begann im Verlaufe des Gesprächs zu weinen. „Ich mache das doch nicht vorsätzlich. Ich habe das doch nicht geplant. Könnt ihr denn nicht verstehen, dass mich meine neue Situation einfach völlig überwäl­tigt hat. Wie eine Sucht ist es. Ja Liebe ist eine Sucht. Wenn es dir Liebe ver­spricht, kannst du dem nicht widerstehen. Alles andere verschwimmt im Nebel. Du willst nur das.“ versuchte Camilla sich zu erklären. Selbstverständlich wollte sie mit mir zusammen bleiben und auch mit ihrem Timmy. Sie liebe uns wie eh und je, nur habe ihr Leonard den Blick dafür verstellt. Alle gemeinsam, auch Leonard, berieten wir, wie wir zukünftig damit umgehen wollten. Wir wollten Zeit- und Organisationspläne aufstellen, aber konnten immer nur darüber la­chen. „Wenn das Haus ein wenig größer wäre, könnten wir doch alle zusam­men wohnen, dadurch wären doch alle Probleme gelöst.“ meinte Leonard und dachte daran, vielleicht am Dach etwas auszubauen. Das war aber kompliziert und brachte nicht viel. Wir brauchten ein neues, größeres Haus. „Aber nur eins mit Terrasse erklärte Timm und Camilla schmunzelte.

 

 

FIN

 

 

 

Your hights are never scaled

 

Als ich wieder in mein Zimmer kam, saß Timm doch noch da. Mit leicht betretenem Gesicht meinte er: „Es ist alles klar, Fabia, ich bleibe.“ „Nein, nein, Timm, das brauchst du nicht. Ich bin ein bisschen durchgedreht. Entschuldige. Selbstver­ständlich gehen wir erst zusammen ins Bett, wenn du es auch möchtest. Ob nächste Woche oder in zwei, drei oder vier Wochen, was spielt das für eine Rol­le. Es gibt Paare die lieben sich schon ein ganzes Jahr und haben noch nicht miteinander geschlafen. Wichtig ist doch, dass wir beide es wollen, und du sagst mir, wenn es soweit für dich ist, o. k.? Ich war vorhin verrückt. Rege mich tierisch auf, dass du es nicht willst, meinte wohl, wenn man sich liebt, ist es selbstverständlich, dass man auch gleich miteinander ins Bett geht. So ein Unsinn. Wir können doch warten. Das ist doch ganz normal. Da muss man ein wenig Geduld haben.“ verdeutlichte ich ihm. „Hör auf, Fabia, ich bleibe doch heute Abend.“ stoppte Timm mich. „Nein, Timm, du fühlst dich gedrängt. Das ist keine gute Basis. Wir machen es, wenn du soweit bist und es von dir aus gerne möchtest. Es drängt uns doch nichts.“ reagierte ich. Timm lachte: „Fa­bia, ich bin jetzt so weit und möchte von mir aus, dass wir die heutige Nacht zusammen verbringen. Warum willst du mich los werden und wegschicken?“ Jetzt fiel mir nichts anderes mehr ein, als ihn einfach nur kräftig zu drücken.

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 15.05.2013

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