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Introduction und Inhalt

 

Elvi Mad

Seraphina
Eine Schülerin und ihr Lehrer

 

Erzählung

 

When I saw you, it was like I saw an angel.
When I got closer, my heart pounded more and more,
and I knew that I would be in love with you
for the rest of my life.
Just a touch of your skin, and my whole world changed.
Now, all I want is to be your side.

 

„Einiges habe ich sicher mitbekommen, aber du weißt bestimmt viel mehr. Verrätst du's mir?“ bat ich Sera. „Ist doch klar, einen anderen, den du magst, zu berühren, ist mehr als nur schöne Worte sagen. Wenn ich dich höre, beglückt das meine Ohren, wenn ich dich lächeln und sprechen sehe, beglückt das meine Augen, und wenn ich spüre, wie du mich umarmst, beglückt das alle meine Gefühle.“ erläuterte Sera. „Du magst mich sehr, Sera, nicht wahr?“ kommentierte ich. „Na klar, Thomas. Bei allem, was Menschen tun, kalkulieren sie, fragen sich: „Was bringt mir das?“ „Was habe ich davon?“. Wenn Maria Gutes über mich in der Schule hört, dann freut sie das in erster Linie, weil sie dadurch für sich eine Anerkennung als fähige Pflegemutter erhält. Du bist dir selbst immer der Nächste und der Wichtigste. Bei dir ist das nicht so. Du fragst mich, hörst mir zu, willst mich verstehen. Was hast du davon? Du interessierst dich für mich, versuchst dich in mich hineinzuversetzen. Was bringt dir das? Du nimmst mich ernst, schenkst mir Anerkennung. Wozu nützt dir das? Zu überhaupt nichts. Du tust es einfach nur, weil ich Sera bin. Nur für mich tust du es und es macht dir offensichtlich Freude. Ist so etwas nicht ganz wundervoll, Thomas. Ich habe Ähnliches in meinem ganzen Leben noch nie erfahren. Es ist völlig neu und malt für mich ein anderes Bild von mir selbst. Wie du zu mir bist, wie du mich verstehst und mich akzeptierst, ist mein Wichtigstes. Es steht über allem. Wenn ich daran denke, bin ich glücklich, dann ist alles für mich in Ordnung.“ stellte Sera ihre Beziehung zu mir da.

 

 

Seraphina - Inhalt

 

Seraphina 4

Donnerstags ist immer passend 4

Sera, mach das doch 5

Du willst mir schmeicheln 6

Alles war immer korrekt 8

Sera ist eine Elfe 9

Ach, Tommy, wenn du wüsstest 9

Der richtige Therapeut 11

Sera ist ein Kind 12

So ein mickriger Mathe-Pauker 12

Seras Träume 13

Schöner Mann und schöne Frau 15

Nur Begierde 17

Ich bin auf dem Gipfel 18

Halbe Liebe 21

Keine Ménage-à-trois 22

Harmoniestifterin 23

Vêtement angélique 24

 

 

Seraphina

Serapina kam uns häufig besuchen. Mich schätzte sie ganz besonders.

Donnerstags ist immer passend


„Sera, du brauchst Hilfe. Das kann dir den Hals brechen. Du musst sicher sein, dass so etwas nicht nochmal und nochmal passieren kann. Wir können das nicht, Monique und ich haben das auch nicht mehr drauf.“ verdeutlichte ich Se­raphina, einer Schülerin, die in diesem Jahr ihr Abitur zu bestehen hatte und die uns öfter besuchte. „Aber du hast das doch alles gemacht und alles wieder vergessen? Ich werde mich quälen und das auch alles wieder vergessen? Das motiviert mich ja noch mal zusätzlich.“ meinte Sera und lachte. „Wenn du mir's erklären würdest, vergäße ich es bestimmt nicht.“ fügte sie noch hinzu und schmunzelte. Wir beide mochten uns gut leiden. So war es auch dazu gekom­men, dass Sera uns öfter besuchte und wir uns zu Hause duzten. Sera war eine nette, freundliche junge Frau, bei der mir aufgefallen war, dass sie öfter, gemein hin würde man sagen, verträumt in die Gegend blickte. Aber es waren keine selig verträumten Augen, die da ins Leere starrten. Dann schien Seraphi­na, die alle nur Sera nannten, viel ernster als sonst. Die Bereitschaft, immer ein Lächeln zu zeigen, fehlte ihrer Mimik jetzt. „Seraphina, hast du Probleme oder Kummer?“ hatte ich sie mal darauf angesprochen. Dass sie keine Eltern hatte und bei einer alleinstehenden Frau lebte, wusste ich. Sera hatte mir auch immer Tips gegeben, was ich Maria, so hieß die Frau, am Elternsprechtag sa­gen sollte. Wenn es etwas zu kritisieren gebe, könne ich das ja Sera selbst sa­gen, aber Maria mache das traurig. Der sollte ich nur schöne Sachen erzählen, dann freue sie sich. „Ach, nichts Besonderes, ist schon alles o. k.“ reagierte sie auf meine Frage und lächelte wieder. „Sera, willst du mir nicht doch etwas er­zählen, mich ein Stück in deinen Gedanken mitreisen lassen. Ich würde dir gern helfen, wenn ich kann.“ ich darauf. So hatte ich die sanftmütige, zarte Sera noch nie erlebt. Als ob meine Worte ätzend eine offene Wunde getroffen hätten. „Helfen, helfen, wenn ich das schon höre. Sie sind ein sehr freundlicher Mensch, Herr Kaufmann, aber helfen wollen sie mir alle, die ganze Welt, solan­ge ich denken kann. Einem normalen Menschen braucht man nicht zu helfen, der ist im Stande, selbst zu leben, aber ich bin nicht normal, immer hilfsbe­dürftig. Es geht nicht darum, dass man mir hilft, sondern dass man mich als normal empfindet, und das tun sie nicht.“ echauffierte sich Sera. Ich konnte ihre Worte nicht nachempfinden. „Wieso, wer hält dich denn nicht für normal?“ erkundigte ich mich. „Wissen sie, Herr Kaufmann, manchmal komme ich mir wie eine Aussätzige vor. Niemand sagt etwas oder kritisiert etwas, alle wollen mir nur immer helfen und freundlich zu mir sein, aber zur Freundin will mich niemand haben. Als ob es eine Barriere gäbe, vielleicht habe ich komische Ge­danken, spreche die falschen Worte. Ich scheine nicht wie die anderen zu sein.“ erläuterte Sera. Ich schwieg und dachte nach. Möglicherweise gibt es unter Jugendlichen unausgesprochene Vorurteile, die massiv ausgrenzend wir­ken können, ich erinnerte mich an meine eigene Schulzeit, da gab es auch einen Jungen, mit dem keiner etwas zu tun haben wollte. Warum nicht, weiß ich bis heute nicht. Aber es ist dir wohl unmöglich, wohlwollende, freundliche Empfindungen zu entwickeln, wenn du weißt, dass alle anderen ihn nicht mögen. Da beginnst du schon, deine Gefühle und Empfindungen der Allgemeinheit anzupassen, dich ihr emotional unterzuordnen. Eine ganz übliche Teeny Tussi war Sera ja auch nicht. Sie war nachdenklicher und tiefer. Ihre Fragen waren echt und trafen meistens sehr Bedeutsames. Für den Deutschunterricht war sie ein großer Gewinn. Mathematik hingegen bezeichnete sie als wesenlos, als Kinderei für Erwachsene, die nirgendwo den Menschen persönlich betreffe. Sera hatte offensichtlich ein weiteres Blickfeld und einen tieferen Durchblick als ihre Mitschülerinnen. Sie spielte sich aber nie in den Vordergrund, sondern lächelte zurückhaltend freundlich. In sofern war Sera schon ungewöhnlich, aber ungewöhnlich angenehm. „Sera, was du gesagt hast, stimmt mich nachdenklich. Ich würde gern weiter mit dir darüber reden, aber hier in der Pause geht das ja nicht. Willst du uns nicht mal zum Kaffee besuchen? Lea und Sascha kennst du ja, und meine Frau ist, glaube ich, auch sehr nett.“ erklärte ich. Sera schmunzelte, warum genau hat sie nicht gesagt. „Ich, zu ihnen nach Hause zum Kaffee kommen?“ fragte sie skeptisch lächelnd. „Ist das nicht in Ordnung? Möchtest du lieber nicht?“ ich darauf. „Doch, doch, sehr gern. Wann denn? Haben sie schon einen Termin im Kopf?“ wollte Sera wissen. „Donnerstags ist immer passend, also Donnerstag Nachmittag.“ erklärte ich und Seras Lächeln umspielte jetzt ein versonnenes Strahlen.


Sera, mach das doch


„Sie sind Frau Auersbach, nicht wahr?“ empfing meine Frau Sera. „Nein, Sera heißt die.“ fuhr Sascha, mein Sohn dazwischen. „Das geht aber nicht.“ meinte meine Frau, „Frau Auersbach ist eine erwachsene Frau, dann müssen wir uns beide duzen. Sera und Monique, wäre ihnen das Recht?“ fragte meine Frau. „Ich soll sie mit Monique anreden, und was ist mit ihrem Mann?“ fragte Sera ungläubig erstaunt. „Müssten wir ihn ja eigentlich selbst fragen, nicht wahr, aber ich werd's ihm schon verklickern. So eine Regelung wie in der Schule hal­te ich für pervers.“ lautete Moniques Ansicht. „Er duzt sie ja sowieso schon, da kann er sich nicht herausnehmen, hier der einzige zu sein, der mit Herr Kauf­mann angesprochen wird. Hier ist keine Schule, das werden wir ihm schon klar machen.“ Ich hatte den Kaffeetisch gedeckt und kam in dem Moment herein. „Das ist der Herr Kaufmann. Nur hier heißt er Thomas oder Tommy, wie du willst, Sera.“ stellte mich meine Frau scherzend vor. Ich hatte Monique natür­lich erklärt, warum ich Sera eingeladen hatte, Lea und Sascha wussten nur, dass ich mich mal in Ruhe mit Sera unterhalten wollte. „Mich hat noch nie eine Lehrerin oder ein Lehrer zu sich nach Hause eingeladen.“ beschwerte sich Sa­scha beim Kaffee, und ließ dem nach kurzem Sinnieren folgen, „Ist wohl auch besser so.“ Ein außergewöhnliches Ereignis war es schon für beide, obwohl sie Sera ja jeden Tag in der Schule sehen konnten. Freundinnen von Lea waren sonst auch öfter bei uns, aber eine Schülerin aus zwei Klassen über ihr und dann vom Papa eingeladen, das kam sonst nicht vor, war kein Altgasgesche­hen. Lea wollte Sera auch sofort beschlagnahmen, fing schon an, ihr alles zu zeigen und von ihr begutachten zu lassen. „Sera, du kannst doch öfter mal vorbei kommen, nicht nur mit Einladung zu Kaffee und Kuchen.“ schlug meine Frau vor, die ein wenig von Sera wusste. „Und was soll ich dann machen?“ fragte Sera erstaunt lächelnd. Meine Frau schien es auch nicht genau zu wissen. „Na, so hier ein wenig helfen oder auf die Kinder aufpassen.“ schlug sie wohl absichtlich auf Grund der zu erwartenden Reaktion vor, die auch prompt erfolgte. „Aber wenn Sera öfter mal käme, das fändet ihr doch sicher auch nicht schlecht.“ Man sah, das Lea nachdachte, erfreuliche Gedanken mussten es nach ihrer Mimik sein. Das wäre ja dann so etwas wie eine ältere Schwester und nicht mehr allein mit dem kleinen frechen, pubertierenden Bruder. Ob sie wohl an so etwas dachte, denn sie sagte: „Ja, Sera, mach das doch. Komm öfter vorbei, einfach so.“


Du willst mir schmeicheln


Während meine Frau abräumte und die Kinder sich in ihre Zimmer verzogen hatten, kamen wir ins Gespräch. „Du hast gesagt, dass die anderen dich nicht als normal empfinden. Ist das denn etwas Wünschenswertes, so zu sein, was die anderen als 'normal' bezeichnen? Ich empfinde dich auch nicht als normal, normal ist grauer Durchschnitt, konturlose Oberfläche, das bist du gewiss nicht. Ich halte dich für außergewöhnlich klug, deine Augen sind nicht normal, sie blicken tiefer. Eine wundervolle junge Frau bist du, und kein alltäglicher Durchschnitt.“ erklärte ich. Sie hätte bestimmt rote Wänglein bekommen, wenn sie der Typ dafür gewesen wäre. Verlegenheit und Stolz mischten sich in Seras Grinsen. „Das ist aber auch nicht normal, was du gerade gesagt hast, Thomas. Du willst mir schmeicheln.“ reagierte sie darauf. Ich holte tief Luft, blies sie hörbar aus und erklärte: „Sera, was für ein Unsinn. Kannst du mir mal verraten, welchen Grund ich haben sollte, dir schmeicheln zu wollen? Nichts als meine ehrliche Überzeugung ist das. Eine junge Frau wie dich würden sich alle Eltern zur Tochter wünschen.“ „Komplimente sind das ja auch, Thomas, nicht wahr? Dann danke ich dafür, aber brems dich doch mal ein wenig. Du weißt doch sicher von diesem Brief, den damals so ein Kirchenfürst an die Korinther geschrieben hat. Da zählt er alles auf, was man sich zu der Zeit wünschen und erträumen konnte, und er sagt bei jedem, dass es Müll sei, wenn man die Lie­be nicht hätte. Ich verstehe das überhaupt nicht. Das Geld von Bill Gates ist nichts wert, wenn er die Liebe nicht hat, meine Klugheit ist nichts wert, wenn ich die Liebe nicht habe? Habe ich sie denn, die Liebe, und woran merke ich es, ob ich sie habe oder nicht? Also Thomas, der Mensch mit den tollsten Fähigkei­ten, nichts wert. Auf die Liebe kommt es an, von der ich gar nicht weiß, was sie überhaupt ist.“ erwiderte Sera. Oh je, was sollte ich Sera denn jetzt von der Liebe erzählen. Ich fühlte mich immer ganz wohl, und da musste Liebe auch bestimmt dabei sein, nur ständig daran denken, tat ich eher nicht. „Dass eine Mutter ihr Kind liebt, sagt dir doch sicher etwas.“ begann ich. „Ja, die Arme, die Brust und das Lächeln der Mutter sind für das Baby die Heimat, hier fühlt es sich wohl, sicher und geborgen. Dann dehnt es langsam mit Hilfe der Mutter seine Heimat immer weiter aus. Das Dorf, die Stadt, das Land werden dem Menschen zur Heimat, in seiner Sprache, seinem Denken und seinem Verhalten fühlt er sich zu Hause. In der Bibel steht, dass Gott Adam und seine Frau aus dem Paradies geworfen hat. Das Paradies war ihr Zuhause, jetzt hatten sie es nicht mehr, kein Zuhause mehr. Nicht viel anders komme ich mir vor. Ich habe in dieser Welt kein Zuhause, bin in sie hineingeworfen worden, bin ein ungebe­tener Gast, vagabundiere unbehaust durchs Leben. Verstehst du jetzt, Tommy, warum da Freundlich sein und Helfen nicht viel bringt?“ antwortete Sera dar­auf. „Ein Zuhause für Sera suchst du also. Ein Haus für deine Psyche, wo deine Persönlichkeit sich nicht mehr unbehaust empfindet, bei dem du sagen kannst, hier ist meine Heimat.“ reagierte ich. „Tommy, ich suche gar nichts. Das wird es nicht mehr geben. Dafür ist es zu spät. Ich betrachte nur die anderen. Auch in der Literatur geschehen ja die schlimmsten Dinge, aber du merkst immer, dass der Autor von einem Zuhause aus schreibt.“ meinte Sera. „Sera, das hast du hervorragend beobachtet, aber es stimmt nicht mehr ganz. In der moder­nen Literatur ist die menschliche Unbehaustheit schon vertreten. Auch wie du es darstellst mit der Erweiterung der Heimat bis die ganze Welt dein Zuhause ist, das war früher sicher in der Regel so, aber in unserer heutigen Welt, die sich in all ihren Erscheinungsformen an der hohlen Oberfläche bewegt, finden viele Menschen nicht mehr ihr Zuhause. Sie kommen sich vagabundierend, un­behaust vor, benennen es nur nicht so und machen sich keine Gedanken dar­über, sondern flüchten meistens in irgendwelche Ersatzbefriedigungen.“ wider­sprach ich Sera. „Und welche Ersatzbefriedigung schlägst du für mich vor? Soll ich anfangen zu saufen?“ wollte Sera wissen. Ich musste entsetzlich lachen. Diese zarte Person und dann das grobschlächtige Wort 'saufen' bildeten allein Anlass genug. „Aber schau dir doch mal viele dieser Leute mit ihrer Fußballob­session an, was steckt denn dahinter, als für fehlendes Leben einen Ersatz, einen Sinn, eine Heimat suchen.“ meinte ich. „Also nicht nur Fußball ist unser Leben, sondern Fußball ist der Sinn unseres Lebens.“ ergänzte Sera. Wir lach­ten und ich meinte: „Ja, das sagt zwar keiner, aber ich glaube, dass nicht weni­ge danach leben.“ „Du siehst es also auch so, dass ein Mensch als Erwachsener kein wirkliches Zuhause mehr finden kann, sondern nur Oberflächen Ersatzbe­friedigung?“ hatte Sera mich verstanden. „Nein, Sera, keineswegs. Wie kommst du darauf? Ich geh auch überhaupt nicht konform mit deiner Ansicht, dass es für dich zu spät sei. Zu spät ist es nie. Einmal Vagabund immer Vaga­bund, das trifft nicht zu. Aber wie ist es denn mit Maria? Gibt dir das kein Ge­fühl von Zuhause? Ihr beide liebt euch doch.“ wollte ich von Sera wissen. Sera überlegte und atmete einige male tief durch. „Tommy, Maria ist ein ganz lieber Mensch. Sie tut alles für mich und gibt bestimmt mehr Geld aus, als sie für mich bekommt. Wir mögen uns auch, kuscheln miteinander und streicheln uns. Wenn du Maria fragtest, würde sie bestimmt sagen: „Wir lieben uns.“ Ich habe Maria ja alles zu verdanken. Ich war schon auf der Hauptschule, als sie mich rausgeholt, zu sich genommen und zum Gymnasium geschickt hat. Dass ich heute bei dir sein kann, habe ich also auch Maria zu verdanken. Das müsste doch Liebe sein, was mich mit ihr verbindet. Mag sein, dass es das ja auch ist, und ich verstehe es nur nicht. Maria ist eine bewundernswerte Frau, nur ich empfinde sie fern von mir. Das kannst du nicht verstehen, Thomas, nicht wahr?“ erklärte es Sera. „Was gibt es da zu verstehen? Wenn du es so empfin­dest, dann ist es so. Deine Empfindungen gehören dir, sind immer berechtigt, gleichgültig, ob ein anderer sie versteht.“ meinte ich dazu, „Aber kannst du es denn ein wenig erläutern?“ Sera überlegte anscheinend, wie sie es formulieren sollte und sagte dann: „Im Grunde ist es doch bei jedem so. Du hast eine Di­stanz zum Gegenüber, weil er nicht wie du, sondern der andere ist. Diese Di­stanz kannst du verringern, indem du dich besser kennenlernst. Es kann aber auch sein, dass irgendwo eine Grenze ist, weil eure Wesens- und Charakterzü­ge nicht gut genug miteinander harmonieren, dann ist dir in deinem Gegen­über der andere immer sehr deutlich sichtbar. Ich bin der Ansicht, wenn du sa­gen willst: „Wir lieben uns.“ müsste es besser harmonieren. So wie wir mitein­ander reden, könnte ich mit Maria nie sprechen. Ihr Zuhause ist in einer ande­ren Welt, die nicht meine ist. Mir kommt es zum Beispiel so vor, als ob wir bei­de, obwohl wir uns doch gar nicht kennen, uns viel näher sind, als Maria und ich.“ erläuterte Sera.


Alles war immer korrekt


Was wollte sie mir denn damit sagen? Im Grunde war es ja auch in der Schule so. Für mich war Sera keine übliche Durchschnittsschülerin, an der man sein Verhaltensrepertoire als Lehrer erprobte. Ich bemühte mich sowieso, die Schü­lerinnen und Schüler als Erwachsene zu sehen und zu behandeln, aber manche waren so idiotisch, dass sie einem die Chance dazu nicht ließen. Wenn jemand gesagt hätte, Sera sei meine Lieblingsschülerin, strikt abstreiten hätte ich es nicht können. Wir verstanden uns menschlich auch in der Schule gut. Sera fragte noch, wie das denn gemeint sei, wann sie denn wiederkommen dürfe. „Sera, komm, wann du Lust hast. Unseretwegen kannst du jeden Tag kommen, es wird sich nur nicht immer jemand um dich kümmern können. Kinder aufpas­sen, du hast es ja gehört.“ scherzte ich und ließ uns lachen. Zu Lia musste Sera aber noch unbedingt. Weil sie sich alles Mögliche vorführten, erzählten und beratschlagten dauerte es. Darauf konnte Sascha natürlich nicht verzich­ten und beanspruchte Sera ebenso zu ausgedehnten Konsultationen für sich. Monique rief zum Abendbrot, und selbstverständlich blieb Sera. Nein, Fisch möge sie nicht so gern, erklärte Sera. Am liebsten überhaupt keine toten Tiere. Dass man Tiere zum Leben bringe, sie aufwachsen ließ mit der vorher festste­henden Absicht, sie umzubringen, fand sie menschenunwürdig. „Das geschieht aber schon, seitdem die Menschen keine Jäger mehr sind, sondern sesshaft wurden und Haustiere hielten.“ meinte Monique. „Ja, stimmt, seitdem die Tiere dem Menschen vertraut haben und bei ihm zu Hause geblieben sind, hat er sie umgebracht. Hat das eigentlich schon mal jemand in die Betrachtung des Men­schen einbezogen, wie brutal er mit dem ihm entgegengebrachten Vertrauen umgeht?“ erkundigte sich Sera. „In welche Betrachtung muss das denn einbe­zogen werden, das ist doch auch heute erlebte Alltagspraxis. Vertrauen ist ein Wort, das sich so schön anhört, nur meistens wird es wie Dummheit verstan­den und ausgenutzt.“ lautete mein Kommentar dazu. Ob Sera denn auch schon häufig derartige Erfahrungen gemacht hätte. „Nein, nein, das kann ich über­haupt nicht sagen. Ich kann mich nicht an Situationen erinnern, in denen ich ungerecht behandelt oder getäuscht worden wäre. Alles war immer korrekt. Worüber will ich mich da beklagen?“ antwortete Sera. Sie musste schnell nach Hause, wollte Maria nicht länger allein sein lassen. Wir unterhielten uns noch über Sera und waren einhellig der Meinung, dass es nicht möglich sei, ein so freundlich, warmherziger Mensch wie Sera zu werden, wenn man keine Mutter gehabt hätte.


Sera ist eine Elfe


Am Morgen in der Schule flüsterte mir Sera zu, ich möge doch nach der Stunde noch warten. Sera lehnte sich an mich, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Danke,“ sagte sie, „das war ein wundervol­ler Tag.“ Warum genau sagte sie nicht, und ich konnte es mir auch nicht erklä­ren. Wir hatten uns unterhalten, aber hatte Sera nicht das meiste selbst gere­det. Trotzdem, auch wenn ich den Grund nicht genau kannte, freute ich mich über Seras „Danke“, für mich und für Sera selbst. Ich meinte, wenn sie mich jetzt im Unterricht Herr Kaufmann nannte, eine besondere Betonung zu hören, zumindest lächelten wir uns dabei an, und dass sie danach immer eine ganz kurze Pause machte, war auch neu. Jetzt hatte es nicht mehr den Anschein, dass ich der Lehrer und Sera meine Lieblingsschülerin wäre, jetzt waren wir Verbündete des geheimen Kaffee und Kuchen Paktes. Zwei Tage später war Sera bei uns gewesen. Wir hatten bis in den Abend Konferenz und Monique war vom Einkaufen auch erst spät zurückgekommen. Dafür bekamen wir beim Abendbrot von Lea Seras Biografie aufgetischt. Offensichtlich schien Lea sie genauer zu kennen, als Sera selbst, und Sascha konnte immer noch kommen­tierend ergänzen. Sie hatten wohl gemeinsam Seras Beschreibungen ge­lauscht, die ihnen spannender als jeder Krimi erschienen war. Die beiden wuss­ten alles. Sera hatte gemeint, dass sie als Baby wohl länger in der Klinik ge­blieben sei, weil sie ja adoptiert werden sollte, und da habe sie bestimmt eine liebevolle Krankenschwester als Mutterersatz gehabt. Warum sie nicht adop­tiert worden sei, wisse sie nicht. Wahrscheinlich sei sie als Baby auch schon zu mickrig gewesen. „Sera ist nicht mickrig. Sie ist eine Elfe.“ wusste Sascha. „Und du, was bist du? Ein Kobold?“ reagierte Lea, die erklärte, dass Sera jetzt Seraphina heiße, das klinge viel schöner und höre sich edler an. Sera sei ein Straßenname. Im Übrigen sei Seraphina jetzt ihre Freundin. Sie hätten lange darüber diskutiert, ob es zu entschuldigen sei, dass eine Mutter ihr Kind direkt zur Adoption abgebe. Das taten wir am Abendbrottisch nochmal und kamen zu dem Schluss, dass man über die Situation, in der sich andere befänden, nicht urteilen könne. Sera hätte gesagt, dass sie ihrer Mutter verziehen habe, ob­wohl sie sich ihr Verhalten für sich selbst nicht vorstellen könne. Sie wolle sie auch nicht suchen, obwohl es bestimmt nicht schwer wäre, sie zu finden. Sie wolle ihr eigenes Leben leben, und das ließe sich nicht nachträglich dadurch ändern, dass sie ihre Mutter träfe. Allenfalls verwirrend könne es wirken.


Ach, Tommy, wenn du wüsstest


Beim nächsten mal, als Sera kommen wollte, fragte sie mich morgens in der Schule, ob ich nachmittags zu Hause sei. Das tat sie fortan immer. „Darf ich mal kurz stören? Oder ist es im Moment völlig ungelegen?“ fragte sie immer, wenn sie mit mir sprechen wollte. Ungelegen war es oft schon, aber ich wies Sera nie ab. Nicht weil ich meinte, es ihr nicht abschlagen zu dürfen. Ich freute mich, wenn Sera bei mir saß und wir miteinander redeten. Der Wunsch, mit Sera zu sprechen, mich mit ihr zu unterhalten, war immer stärker als die Erle­digung dringendster Aufgaben, die ich ja auch später noch bewältigen konnte. In der Schule konnten sich die beiden Mitglieder des Geheimbundes nur zuzwinkern und anlächeln, hier konnten sie offen miteinander reden. „Ich versteh das nicht.“ klagte Sera, als sie eine Mathematikarbeit mangelhaft geschrieben hatte. „Alles hatte ich mir vorher nochmal genau angeschaut, meinte felsenfest alles zu beherrschen und dann passieren solche Sachen, die ich eigentlich besser wusste. Was soll ich denn da tun?“ und dabei waren ihr die Tränen gekommen. Ich war aufgestanden und zu ihr gegangen, wollte Sera in den Arm nehmen und sie trösten. Gesagt hatte ich nichts, aber Sera war auch aufgestanden. Wir umarmten uns, Sera wollte mich anscheinend gar nicht wieder loslassen. „Ach, Tommy, wenn du wüsstest, wie gut das tut.“ brachte sie schon wieder mit einem wonnestrahlenden Lächeln hervor. „Ich war ja auch daran beteiligt. Einiges habe ich sicher mitbekommen, aber du weißt bestimmt viel mehr. Verrätst du's mir?“ bat ich Sera. „Ist doch klar, einen anderen, den du magst, zu berühren, ist mehr als nur schöne Worte sagen. Wenn ich dich höre, beglückt das meine Ohren, wenn ich dich lächeln und sprechen sehe, beglückt das meine Augen, und wenn ich dich spüre, beglückt das alle meine Gefühle.“ erläuterte Sera. „Du magst mich sehr, Sera, nicht wahr?“ kommentierte ich. „Na klar, Thomas. Bei allem, was Menschen tun, kalkulieren sie, fragen sich: „Was bringt mir das?“ „Was habe ich davon?“. Wenn Maria Gutes über mich in der Schule hört, dann freut sie das in erster Linie, weil sie dadurch für sich eine Anerkennung als fähige Pflegemutter erhält. Du bist dir selbst immer der Nächste und der Wichtigste. Bei dir ist das nicht so. Du fragst mich, hörst mir zu, willst mich verstehen. Was hast du davon? Du interessierst dich für mich, versuchst dich in mich hineinzuversetzen. Was bringt dir das? Du nimmst mich ernst, schenkst mir Anerkennung. Wozu nützt dir das? Zu überhaupt nichts. Du tust es einfach nur, weil ich Sera bin. Nur für mich tust du es und es macht dir offensichtlich Freude. Ist so etwas nicht ganz wundervoll, Thomas. Ich habe Ähnliches in meinem ganzen Leben noch nie erfahren. Es ist völlig neu und malt für mich ein anderes Bild von mir selbst. Wie du zu mir bist, wie du mich verstehst und mich akzeptierst, ist mein Wichtigstes. Es steht über allem. Wenn ich daran denke, bin ich glücklich, dann ist alles für mich in Ordnung.“ stellte Sera ihre Beziehung zu mir da. Im Grunde hatte sie mir nichts anderes erklärt, als dass ich sie lieben würde und es sie glücklich mache. Was sollte ich denn damit machen? Wie sollte ich denn darauf reagieren? Was jetzt zu Sera sagen? Ich versuchte ihre Augen zu erreichen, vielleicht sprachen sie noch deutlicher. Es war ganz still. Niemand sagte etwas. Ich musste meine Stimme betätigen. Was ich sagen wollte, wusste ich nicht. „Seraphina, ich habe dir ja schon gesagt, dass ich dich sehr mag, dass du sehr nachdenklich und feinfühlig bist, und es macht mir Freude, mich mit dir zu unterhalten und dich zu verstehen.“ erklärte ich. Seraphina hatte ich sie plötzlich unbeabsichtigt genannt. Das machte sonst nur Lea. Vielleicht hatte Lea ja Recht, dass Seraphina mehr Ansehen und Würde verkörperte, und ich hatte es unbewusst verwendet. Mir war unwohl. Ich wollte aus dieser Situation heraus. Was Sera mir bedeutete, hatte ich noch nie wissen wollen, hatte nur gemerkt, dass es mir gefiel, mich mit ihr zu unterhalten. Und von Sera wollte ich auch keine weiteren Liebesbezeugungen hören. „Sera, gerade wenn wir uns so gut verstehen, sollten wir schauen, dass wir das Matheproblem gelöst bekommen.“ erklärte ich. Sie merkte, dass mir daran lag, das Thema zu wechseln, schmunzelte und blickte mich freundlich, schelmisch an.


Der richtige Therapeut


Zwei Kollegen kamen in Frage, die ich wegen Nachhilfe für Sera ansprechen wollte. Maria würde keinen Nachhilfeunterricht bezahlen können, aber wir durf­ten doch nicht Seras Abitur riskieren. Ein Kollege erklärte sich sofort bereit und meinte, beim Finanziellen würden wir uns schon einig. Wie viel Hilfe sie brau­che, solle er entscheiden, wenn er sie kennengelernt habe. Nach ihrer ersten Stunde kam Sera direkt zu uns. „Der Kröger ist Klasse. Ich kannte den ja über­haupt nicht. Der sieht das genau wie ich.“ erklärte Sera freudig. „Was sieht er genau wie du?“ erkundigte ich mich. „Na, mit Mathe. Das sei auch ein Tick, den die Menschen aus dem Paradies mitgebracht hätten. So wie sie heute im­mer noch meinten, ihren Körper unter Kleidern verbergen zu müssen, wollten sie auch zwanghaft alle Rätsel lösen können. Nach dem Sinn brauchten sie gar nicht zu fragen. Das sehe man an den ganzen Seiten mit unsinnigen Rätseln in den Wochenendbeilagen der Zeitungen. Der Biss in den Apfel habe sie für alle Zeiten erkenntnissüchtig gemacht. Als Grund, etwas wissen zu wollen, reiche aus, dass sie es bislang nicht verstanden hätten.“ erläuterte Sera. „Tim Kröger ist also auch der Ansicht, dass Mathe überflüssige Spielerei sei?“ wollte ich un­gläubig lachend wissen. „Nein, so nicht, aber er macht sich Gedanken, und da passen wir prima zusammen. Er sagt, das manche Kollegen Mathe immer stolz wie die Lösung eines neuen Rätsels präsentierten. Da brauchten sie sich nicht zu wundern, wenn den Schülern die Lust vergehe.“ Sera dazu. „Du hast also mit Herrn Kröger Glück gehabt, aber wirst du bei ihm denn auch etwas lernen?“ fragte ich nicht ganz ernst. Sera lachte und meinte nur: „Das weiß ich auch nicht.“ Sie hatten sich wohl hauptsächlich allgemein unterhalten, und der Kollege Köhler schien sie wohl zu mögen. Aber Sera war auch bei den anderen Kolleginnen und Kollegen, die in der Klasse unterrichteten beliebt. Warum sie zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern keine engere Beziehung aufbauen konnte, verstand ich nicht. Es konnte nicht an ihr liegen. Aber vielleicht war sie auch im Umgang mit Erwachsenen sicherer, war das ihre Welt. Dass die Welt der anderen Mädchen nicht ihr Zuhause war, konnte ich mir gut vorstellen. „Sera braucht keinen Mathematiklehrer, die braucht einen Psychiater. Die ver­steht alles spielend, da liegt nicht das Problem. Sie hat eine innere Aversion gegen Mathe, will das nicht an sich rankommen lassen, kann Mathe nicht als ebenbürtigen Kampfpartner akzeptieren. Von außen würde man sagen, sie sei oberflächlich, aber das entspricht nicht ihrem Wesen. Sie kann es vor sich selbst nicht zulassen, dass sie sich voll involviert mit den Aufgaben auseinan­der setzt. Dass es etwas ihr Fernes ist, muss sie sich immer selbst beweisen.“ erklärte der Kollege Kröger. „Wenn du das alles in einer Stunde erkennen kannst, Tim, scheinst du der richtige Therapeut zu sein. Du bist wahrscheinlich der erste Mathelehrer in ihrem Leben, von dem sie begeistert ist.“ erklärte ich. „Ein wunderbares Mädchen, nicht wahr? Ich hätte mich direkt in sie verlieben können.“ meinte Tim Kröger und lachte.


Sera ist ein Kind


Wenn Sera von der Mathe-Nachhilfe kam, schien sie immer auf einer Wonne­wolke zu schweben. „Du magst Tim Kröger, nicht war?“ fragte ich sie. „Ja, er ist auch ein anderer Mensch. Er akzeptiert mich voll. Für ihn bin ich auch keine kleine hilfsbedürftige Schülerin oder ein armes Mädchen.“ antwortete Sera. „Mag Herr Kröger dich auch gut leiden?“ wollte ich wissen. „Ich glaube schon. Wir lachen viel. Dass ein Mathelehrer ein so humorvoller Mensch sein kann, hätte ich mir gar nicht vorstellen können. Alles Vorurteile eben, mit denen wir durch den Alltag laufen. Vielleicht sind alle Menschen ganz anders, wenn du sie tiefer kennen lernst und sie nicht nur nach deinen oberflächlichen Erkenntnis­mustern bewertest.“ sinnierte Sera. „Hast du dich in Tim Kröger verliebt? Muss ich eifersüchtig werden?“ wollte ich scherzen. Aber weder lachte Sera, noch machte sie eine lustige Bemerkung. Sie schwieg und schaute mich mit ernst strafenden Blick an. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ich hätte Sera fragen sollen, was ich Böses gesagt hatte, spürte aber, dass ich mich nicht traute. Schon lange saßen Sera und ich uns nicht mehr am Schreibtisch gegen­über. Wir bewegten uns in meinem Zimmer, mal stand Sera hinter meinem Schreib­tischsessel, mal saß jemand vor dem anderen auf dem Schreibtisch, oder wir saßen beide auf meiner Couch. Lea hatte sich schon beschwert, dass Sera im­mer so viel Zeit mit mir verbringe, sie sei schließlich ihre Freundin. Zum Abendessen blieb Sera nur vereinzelt, weil sie Maria nicht allein lassen wollte. „Sera und du, ihr beide versteht euch sehr gut, nicht wahr?“ hatte Monique mal abends im Bett erklärt. Der Unterton war mir nicht verborgen geblieben. „Monique, was soll das denn. Sera ist ein Kind.“ reagierte ich verärgert, aber Moniques mokantes Grinsen verdeutlichte mir, dass sie wusste, so würde ich es in Wirklichkeit nicht sehen. Aber wie sah ich es denn? Ich verdeckte alle tiefe­ren Gedanken darüber unter der mich selbst wahrscheinlich benebelnden Pau­schalierung, das Seras Besuche eine angenehme Ergänzung für uns darstell­ten. Das Ungeheuerliche geschah. Seit der ersten Mathe-Nachhilfestunde schrieb Sera nur noch Zweien und Einsen, sodass sie im Abiturzeugnis sogar noch eine zwei in Mathematik bekam.


So ein mickriger Mathe-Pauker


Seras Abitur war ein Ereignis für die ganze Familie. Von niemandem hätten Lea und Sascha wahrscheinlich so detaillierte Auskünfte über jedes Schrittchen des Prozederes haben wollen als von Sera. Sera hatte Lea auch vorher häufig zu allen möglichen Events mitgenommen. Dass Lea sie Seraphina nannte, wirkte ansteckend. Von mehreren Mitschülerinnen wurde sie jetzt auch so genannt. Dass manche Lehrer sie auch mit Seraphina angeredet hatten, war für die Schüler immer bedeutungslos geblieben. Natürlich musste Sera auch mit Maria allein ihr bestandenes Abitur feiern, aber die Hauptfeierlichkeiten mit Fète fan­den bei uns statt. Ich unterhielt mich länger mit Maria. Sie war eine sehr schlichte, biedere Frau. Dass Sera und sie keine gemeinsame Basis hatten, konnte ich nachempfinden. Aber Seras Sozialisation hatte doch bei Maria statt­gefunden. „Sera ist ein sehr feinfühliges Mädchen, ist sie immer gewesen, ob­wohl sie ja raue Verhältnisse erlebt hat. Ich habe vom Jugendamt über ihr Schicksal erfahren. Die damaligen Pflegeeltern hatten sie gegen den Rat der Grundschullehrerin zur Hauptschule geschickt. Ich habe mich mit dem Jugend­amt deshalb in die Wolle gekriegt und erreicht, dass sie zu mir kam. Sie kommt bestimmt aus einem angesehenen Haus. Wer nennt schon seine Toch­ter Seraphina und Auersbach hört sich ja auch nicht wie Meier, Müller, Schmitz an. Aber ich kenne hier keine Auersbach.“ erklärte Maria. Mit Mona, einer Mit­schülerin, unterhielt ich mich auch. Wir kamen schnell auf Sera zu sprechen, und Mona meinte, dass Sera sich enorm verändert habe. Früher sei sie eher eine graue Maus gewesen, immer zurückhaltend, als ob sie unsicher sei. Jetzt sei sie stark und gut drauf. Vielleicht läge das ja auch an Mathe und dass der Kröger ihr Freund sei. „Was erzählst du, Mona, Herr Kröger ist Seras Freund? Woher weißt das denn? Hat Sera es gesagt?“ wollte ich wissen. „Nein, das sa­gen sie alle, dass die beiden was miteinander haben. Wie die immer rumfeixen und lachen.“ erläuterte Mona. Tim Kröger wurde auch noch mal extra zum Kaf­fee eingeladen. Dass Sera und er verliebt wären, hätte man wirklich vermuten können. Ständig hatten sie Lust, sich gegenseitig zu provozieren und alberne Scherze zu machen. Ich erzählte von der vermuteten Beziehung der beiden und Tim Kröger meinte: „Ja, ich habe ihr einen Heiratsantrag gemacht, aber die Dame hat mich abgewiesen. Tommy, kannst du mir nicht helfen?“ bevor ich antworten konnte, schaltete sich Sera schon ein: „Ich soll so einen mickrigen Mathe-Pauker zum Mann nehmen? So weit kommt das noch.“ Die beiden hat­ten offensichtlich Spaß aneinander.


Seras Träume


Für eine ausgedehnte Reise und einen Urlaub fehlte Sera das Geld, aber es drängte sie auch nichts danach. Sie wollte sich lieber auf ihr zukünftiges, span­nendes, neues Leben als Studentin vorbereiten. Die Pflegschaft von Maria war sowieso ausgelaufen, als sie achtzehn wurde. Man wollte Sera einreden, dass sie nach ihrer Mutter suchen müsse, weil die verpflichtet sei, für sie aufzukom­men. Ob es Seras Tränen waren oder bessere Einsichten, jedenfalls brauchte sie es nicht. Alles war neu und aufregend und Lea war ständig bei ihr, um die Einrichtung ihres Appartements zu komplettieren. „Sag mal, Tomas, du liebst doch Monique, nicht wahr? Wie fühlt sich das denn eigentlich an. Woran merkt man das denn?“ wollte Sera eines Tages von mir wissen. „Bist du auch verliebt?“ fragte ich zurück und dachte von einem jungen Studenten zu erfah­ren. „Ich weiß es nicht.“ reagierte Sera, „So unstillbare Sehnsucht, dass ich mir ständig wünsche bei ihm zu sein, oder so ein Verlangen, dass ich es gar nicht abwarten kann, ihn zu sehen, das habe ich nicht. Aber weißt du, abends im Bett lese ich immer, und irgendwann denke ich mir die Geschichte oder was ich gerade gelesen habe, selbst weiter. Zuerst sind die Gedanken noch ganz nor­mal, aber schon bald entwickelt es sich, wie es in der Wirklichkeit nicht vor­kommen kann. Wenn ich zum Beispiel den ganzen Nachmittag etwas am Com­puter geschrieben habe, löse ich in meinen Gedanken im Bett auch schnell Pro­bleme am Computer. Plötzlich wird mir klar, dass ich ja im Bett liege und gar keinen Computer habe. Ich schlafe noch nicht richtig, aber bin in meinen Träu­men schon in einer irrealen Welt. Seit längerer Zeit schon erscheinst du immer in meinen Traumbildern, jeden Abend. Wenn ich etwas von dir nicht verstanden habe, frage ich dich laut und schrecke durch meine eigene Stimme aus dem Traum auf, merke, dass du ja gar nicht da bist. Meinst du, das könnte etwas mit Liebe zu tun haben?“ „Sera, du dumme Kuh. Du weißt es ganz genau.“ hätte ich am liebsten gesagt. Wir wussten, dass es uns beiden klar war. Das war unschwer unseren Blicken, unserer Mimik und unserem Grinsen zu entnehmen. Mit nicht ganz ernstem Gesicht erklärte ich: „Es geht dir ja darum, deine Träume zu verstehen, aber mit Traumdeutung kenne ich mich überhaupt nicht aus. Da müsstest du am besten einen Psychologen befragen. Ich weiß nur, dass intensive, langandauernde Beschäftigung mit irgendetwas am Tage häufig auch im Traum wiederkehrt. Wie du ja auch von deinem Computer erzählt hast.“ Sera grinste und meinte schelmisch: „Aber du erscheinst auch, wenn ich mich überhaupt nicht mit dir beschäftigt habe, wenn ich gar nicht hier war.“ Ich blies die Luft hörbar aus und fragte: „Was willst du sagen, Sera?“ „Thomas, ich träume von dir. Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als dass es nicht nur meine Träume sein möchten, dass du in Wirklichkeit bei mir wärest. Ganz nah möchte ich dir sein, noch viel, viel näher als bei einer Umarmung.“ erklärte sie. „Sera, ich mag dich auch sehr gern, aber ich habe schon Monique, und das soll so bleiben. Und außerdem, wenn ich zwanzig wäre, würde ich mich bestimmt in dich verlieben, aber ich könnte ja dein Vater sein. So gern wie wir uns auch mögen, aber es gibt überhaupt keine Perspektive. Du musst es vergessen und darfst nicht weiter davon träumen.“ verdeutlichte ich. „Tomas Traumdeuter kannst du mir denn mal sagen, wie das funktionieren soll? Ich sage mir: „Es hat keine Perspektive.“ „Ach so.“ sagt die Liebe dann, und morgen ist sie futsch. Denkst du denn etwa, Probleme für Dich und Monique würden mich nicht interessieren, aber die Liebe schert sich nicht darum. Sie kommt einfach wann und wie sie es will. Du kannst ihr nicht sagen, ich hätte es aber lieber so oder anders. Sie hört nicht auf dich und deinen Personalausweis wollte sie erst recht nicht sehen. Und du? Du empfindest überhaupt kein bisschen Liebe für mich, nein?“ fragte Sera. „Du quälst mich, Sera. Ich sage mir: „Nein, das gibt es nicht, das willst du nicht, das darf es nicht geben und wird es nicht geben. Verschwende also keinen Gedanken daran.“ antwortete ich ihr. „Wir wissen also beide, dass wir uns lieben, verschwenden aber keine Gedanken daran.“ lautete Seras Conclusio, die uns beide lachen ließ. Dass Sera Liebe für mich empfand, war bestimmt nicht neu, nur direkt ansprechen wollte sie es in Vorahnung auf die zu erwartende Reaktion auch nicht. Ich war mir nicht sicher. Versuchte es unabhängig von den Konsequenzen zu sehen, wollte mein Empfinden für Sera erkunden, aber sie hatte schon richtig gefragt: „Woran merkt man Liebe denn?“ Wenn Sera nicht mehr käme, wäre das nicht nur schade, sondern ein tiefer emotionaler Verlust für mich und würde mich sehr traurig sein lassen. Ich freute mich auf sie, hatte mich morgens in der Schule schon gefreut, wenn sie fragte, ob ich nachmittags zu Hause sei. Nichts wäre normaler, als dass sie einen jungen Kommilitonen kennenlernte und sich mit ihm befreundete. Die Vorstellung, dass Sera nicht mehr käme, weil sie lieber mit einem anderen, gleichaltrigen Mann zusammen sein wollte, tat weh. Ich konnte es nicht weiter denken. Dass Sera mich bewunderte und mir dankbar war, konnte ich gut verstehen, aber Liebe spricht doch immer etwas äußerst Bedeutsames im Unbewussten an. Vielleicht verkörperte ich die ihr selbst unbekannten Wünsche nach einer Welt, in der sie für sich ein Zuhause sehen konnte. Mit mir zusammen stellte sie sich eine Heimat vor, die das Empfinden des Unbehaustseins auflöste. Ob ich Sera liebte, wusste ich nicht genau, aber dass ich sie nicht liebte, wäre eine Lüge gewesen.


Schöner Mann und schöne Frau


Also wissen, dass wir uns lieben, aber keinen Gedanken daran verschwenden und nichts nach außen demonstrieren. So sollten wir uns verhalten. Das fiel nicht schwer, wir hatten ja bislang sowieso nie etwas gezeigt, weil es das nicht gab, aber ich machte mir schon Gedanken darüber, mehr als je zuvor. Sera saß auf meiner Sessellehne, strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn und meinte: „Du bist ein schöner Mann, Tommy, nicht wahr?“ Ich bekam mich vor Lachen nicht mehr ein. „Vielleicht gibt es schöne junge Männer, in meinem Alter sind alle Männer grundsätzlich hässlich. Aber du bist eine sehr schöne Frau.“ erklär­te ich. „Ja?“ reagierte Sera erstaunt, verwundert fragend mit einem Lächeln, dem ein kleiner Glorienschein nicht fehlte. Als ob sie es zum erstmal gehört hätte, oder es so bedeutsam war, weil ich es gesagt hatte. „Wieso?“ wollte sie wissen. „Für jemanden der liebt, ist die Geliebte immer die schönste Frau der Welt. Das liegt am liebenden Blick, mit der er sie anschaut. Liebe macht schön. Aber du bist auch für Menschen, die dich nicht lieben, eine schöne Frau.“ erläu­terte ich. „Aber ich bin doch klein und schmächtig, wieso soll das denn jemand schön finden?“ hakte Sera nach. „Ja du hast schon Recht. Ich stehe auch mehr auf fülligen Bayadèren. Sera, du spinnst. Sascha hat es sofort erkannt. Du seist eine Elfe, hat er gesagt. Du wirkst anmutig, grazil und distinguiert, und dazu kleidest du dich immer noch sehr geschmackvoll. Töte diese widersinni­gen negativen Einstellungen in deinem Selbstbild. Sie passen nicht mehr zu dir. Du bist eine andere geworden, lebst in einer anderen Welt, hat Mona auch von dir gesagt.“ erklärte ich. Sera zeigte wieder ihr Wonnelächeln, strich mir über die Wangen und ich bekam einen Kuss auf die Stirn. „Dann bist du für mich der schönste Mann der Welt, nicht wahr?“ erklärte Sera und lachte. Meistens spra­chen der schönste Mann und die schönste Frau aber über Seras Studium. Dass sie Germanistik studierte, war selbstverständlich und hatte mit mir nichts zu tun. Schon immer hatte sie ihre Freizeit fast ausschließlich mit Lesen ver­bracht. Sie verfügte über immense literarische Kenntnisse, was oft schon die Basis für unsere Gespräche gebildet hatte. Eventuell hatte sie auch dadurch schon früh Einblicke in andere Lebenswelten erhalten und war in ihren Ver­ständnismöglichkeiten den biederen Alltagsansichten von Maria weit überlegen. Dass wir uns so gut über literarische Themen unterhalten konnten, war wun­dervoll und bedeutsam, aber der Grund für unsere gegenseitige Zuneigung war es keinesfalls. „Selbstverständlich wird Literatur meinen Schwerpunkt bilden, aber die anderen sprachwissenschaftlichen Bereiche, von denen ich bislang kaum etwas kannte, sind ja zum Teil auch absolut faszinierend. Hinter Etymo­logie zum Beispiel verbirgt sich eine große eigene Welt, genauso ist es bei der Semiotik. Einen Schein musst du machen, Ahnung hast du deshalb davon nicht. Ich werde zwanzig Jahre studieren und mich mit jedem Bereich intensiv beschäftigen, dann werde ich so alt wie du sein und bin die kompetenteste Germanistin überhaupt, während du deine Jahre in der Schule verplempert hast.“ erläuterte Sera ihre Perspektive. „Das hört sich ja toll an.“ sagte ich scherzend, „Aber mich hat das Fatum in die Schule gezwungen. Wäre ich nicht in der Schule, hätten wir beide uns nie kennenlernen können.“ „Mein Liebster, du hast absolut Recht. Deine Schule ist das Höchste und Wichtigste. Was bedeuten Tausend Supergermanistinnen gegen unsere Liebe. Nichts wert sind sie, ein kleiner Glanzschimmer auf der polierten Oberfläche unseres Alltagsdenkens.“ bestätigte Sera und freute sich schmunzelnd mit mir. Sera hätte gern noch Philosophie studiert, aber das wäre mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt gewesen. Kulturgeschichte machte sie noch zusätzlich. Davon war sie auch begeistert. Die neuen Bedingungen musste sie mir erklären. Bestimmt hatte ich mich früher in meinem Fach zu Hause gefühlt, mich damit identifiziert, es vermittelte in gewisser weise ein Gefühl von Heimat. Ich gehörte zu den Germanisten und identifizierte mich damit. So war es bestimmt. Nach Bologna ist das nicht mehr möglich. Das Studium ist eine Maschine, in der du ein Rädchen bist, das sich auf vorgeschriebene weise zu drehen hat. „Du wirst keine Germanistin, sondern Jägerin und Sammlerin, sammelst einen Schein nach dem anderen und dabei immer auf der Jagd nach guten Noten.“ hatten wir gescherzt. Wir hätten ununterbrochen beraten und diskutieren können, zumal Sera mich jetzt auch noch als Oberexperte in Schönheitsfragen zu ihrem Modeberater erkoren hatte, aber die Zeit, die Sera kommen konnte, war knapper geworden. Zwar musste sie vorm Abitur auch öfter viel arbeiten, aber jetzt sei es grenzenlos, beklagte sie sich. Darüber hinaus musste sie sich vollständig selbst versorgen und natürlich auch Maria noch öfter besuchen. Dadurch, dass wir uns seltener sahen, war die Freude umso größer, wenn wir uns trafen. Zuerst hatten wir uns zur Begrüßung und zum Abschied auf die Lippen geküsst. Jetzt taten wir es auch öfter zwischendurch. Umarmen, Streicheln, Händchen halten, alles sehr schöne Formen der gegenseitigen Berührung, aber die taktilen Empfindungen der Lippen des anderen waren durch nichts zu überbieten. Wir wussten, dass wir uns liebten, darüber brauchten wir uns wirklich keine Gedanken zu machen. Ich hatte nicht beabsichtigt, Sera ihr Empfinden der Unbehaustheit zu nehmen, hätte gar nicht gewusst, was ich dazu tun müsste. Es hatte sich aber wohl so entwickelt. Unsere Zuneigung und Liebe war ihre Heimat geworden, die sie sicher hatte werden und sich als stark empfinden lassen. Was gab unsere Liebe mir denn? Ich hatte es ja immer abgestritten, gar nicht zugelassen, es zu denken, sah die Bilder von dem, was ich mir strikt untersagt hatte. Der alte Mann verliebt sich in ein junges Mädchen, kann es Hässlicheres geben. Nur die Liebe nimmt darauf gar keine Rücksicht, beachtet die Schablonen und geheiligten Vorstellungen, die du in deinem Kopf trägst überhaupt nicht, sie ist ein 'oiseau rebelle' ein unzähmbarer Vogel, das trifft in der Tat zu.


Nur Begierde


Ich hatte Sera noch nie besucht. Jetzt war ich am Samstagnachmittag zu Kaf­fee und Kuchen eingeladen. Wir saßen beide auf der Couch, denn ihre soge­nannten Sessel waren wohl nicht sehr bequem. Wie kann man sich so freuen, wenn jemand, den man ständig sieht, einen besuchen kommt. In absoluter Hochstimmung schwebte Sera. Ich wurde überschwänglich begrüßt, gedrückt, bekam den Mantel ausgezogen, alles begleitet von Küssen, irgendwo hin. Wie in einem Rausch bekam ich alles vorgeführt, Erklärungen waren das nicht, ich war Gast in einer Oper. Wir hatten uns hingesetzt, und Sera meinte: „Jetzt können wir uns aber auch mal richtig küssen. Es kann uns doch niemand sehen.“ Wenn sich etwas in mir stritt, musste ich immer tief Luft holen, gab aber bei Sera letztlich stets meinem Bauch Recht. Bevor sich unsere Lippen berührten, blickten wir uns noch einmal grinsend an, wir Mutigen. Das hatten wir ja noch nie gemacht. Sera atmete tief, schlug manchmal zwischendurch ihre Augen auf. Verstehen konnte ich sie nicht, aber sie schienen erstaunt zu sein. Sera kletterte auf meinen Schoß und saß breitbeinig vor mir. „Weiter.“ sagte sie nur. Als wir schließlich doch aufhörten, starrte sie mich an. Verwunderung, Erstaunen und ein wenig Glück natürlich auch lagen in ihrem Blick. Als ob sie gerade eine Erscheinung gehabt hätte. „Thomas“ sagte sie nur und sonst nichts. Sie hatte beide Hände auf meine Brust gelegt. „Zieh das aus.“ sagte sie und meinte mein Oberhemd. „Nein, Sera, nein, das machen wir nicht. Wir können uns ja nochmal küssen.“ schlug ich vor. „Gleich, ja gleich, Thommy, aber jetzt muss ich das erst mal verdauen.“ reagierte Sera. Sie sah mich verträumt an und legte ihren Kopf auf meine Schulter. „Weißt du, Tommy, wenn ich an dich denke, von dir träume, dich besuchen will, bei dir bin, dann lachen meine Gefühle, wohl und glücklich empfinde ich mich dabei. Jetzt war das aber nicht so, sondern etwas ganz anderes. Ich habe Sera und Thomas gesehen und gespürt, dass Sera eine Frau und Thomas ein Mann ist. Liebe war das nicht, was ich empfand. Ich wollte dich ganz und unbedingt. So etwas habe ich noch nie erlebt. Hältst du das für normal?“ fragte sie sanft fast flüsternd leise. Ich lachte und konnte nur leicht ermahnend „Sera“ sagen. Natürlich war uns beiden klar, dass der andere wusste, was es zu bedeuten hatte, nur Sera war überwältigt, weil sie es zum ersten mal selbst erlebte. „Nur Begierde, der pure Geschlechtstrieb ist das.“ interpretierte es Sera, und „Du hast schon Recht, es war ja nur Thomas Kaufmann, den ich wollte und nicht irgendeinen Mann.“ nachdem wir über die Beziehung zwischen Liebe und sexueller Lust gesprochen hatten. „Begehrst du mich denn auch manchmal? Stellst dir vor, dass wir zusammen im Bett liegen und ficken.“ wollte Sera wissen. „Ich begehre dich ständig, Sera, aber daran, dass wir fickend im Bett liegen, denke ich nie.“ erklärte ich unter Lachen. Über Begehren, Verlangen, Sehnsucht sprachen wir, konnten uns oft auf literarische Beispiele beziehen und hatten viel zu lachen. „Und was ist mit den Bedürfnissen, spielen sie in der Liebe überhaupt keine Rolle?“ wollte Sera wissen. „Aber sicher doch. Der Mensch ist primär ein soziales Wesen, lebt von befriedigender Kommunikation mit seinen Mitmenschen. Das ist ihm ein wichtiges Bedürfnis, und die stärkste und höchste Form dieses Bedürfnisses heißt, Liebe geben und Liebe empfangen. Das Bedürfnis nach Liebe tragen alle Menschen in sich, zu lieben und Liebe zu suchen ist die Natur des Menschen, es nicht zu tun, wäre widernatürlich. Vielleicht hat dieser Kirchenmensch es ja so gesehen, weil alles, was ohne Liebe geschieht, nicht der Natur des Menschen entspricht.“ verstand ich es. Wir redeten noch weiter über Liebe, und Sera zeigte, dass sie nicht wisse, was Liebe sei, eine Lüge war. Bestimmt sah sie es so, dass sie noch nie Liebe erfahren hatte, aber in den Vorstellungen und Ansichten zur Liebe war sie eher eine Expertin. „Man muss sich ja schließlich kundig machen, über das woran man denkt und wovon man spricht.“ erklärte sie lapidar. Wir hätten uns wieder endlos unterhalten können und hatten darüber ganz vergessen, dass wir uns ja noch küssen wollten. Unsere Gespräche hatten auch immer etwas von gegenseitiger Liebesbezeugung an sich. „Wir verstehen uns eben zu gut und vergessen darüber, dass wir uns lieben müssen.“ deutete Sera es unter Lachen. Das wir so oft Lust hatten, einander zu küssen, konnte man vielleicht der Verliebtheit zuschreiben, aber bei Monique konnte ich mich daran auch in der Phase höchster Verliebtheit nicht erinnern. Monique und ich konnten uns auch gut unterhalten, aber mit den Gesprächen zwischen Sera und mir war es nicht zu vergleichen. Ich liebte Monique ja, wir waren uns auch nahe, aber in unseren Gesprächen existierte ein hauchdünner Schleier von Distanz. Der andere war immer sehr deutlich spürbar, wie Sera es bezeichnet hatte. Vielleicht waren wir auch nur als Mann und Frau zu sehr in unserer Rolle geblieben. Zwischen Sera und mir gab es das nicht, hatte es nie eine Art von Geschlechterrollendistanz gegeben. Wir lebten in unseren Gesprächen, das waren wir unverhüllt selbst, waren mit unserer ganzen Person involviert. Wenn Sera sprach, hörte ich nicht ihre Beiträge, sondern erlebte Sera. Sie ließ mich nicht nur hören, was sie dachte, sondern zeigte mir wer sie war. Das war der eigentliche Reiz, der unsere Gespräche ausmachte, in allem den anderen erleben.


Ich bin auf dem Gipfel


Die Samstagnachmittage waren immer ausgedehnteren Besuchen vorbehalten. Dann war auch Zeit, länger etwas mit Lea zu klären, die auch in der Woche schon mal zu Sera fuhr, um mit ihr etwas zu unternehmen oder ihr zu helfen. In der Regel war Sera bei uns und blieb auch zum Abendessen. Sie gehörte mit zur Familie und hatte mit Sicherheit nicht das Empfinden einer Außenseiterpo­sition. Auch Heiligabend und Silvester verbrachte sie bei uns. Maria besuchte sie am Weihnachtstag und zu Neujahr. Ihr Heimathafen, das waren wir. Es fiel schwer, alle Liebesbezeugung zu unterdrücken und zu vermeiden, wenn die an­deren dabei waren. „Pervers ist das eigentlich, nicht erkennen lassen zu dür­fen, dass man sich liebt. Wird unsere Liebe denn dadurch vergehen? Soll sie nicht existieren? Immer werden wir es sowieso nicht verheimlichen können, und wozu auch? Es ist lächerlich.“ meinte Sera. Mich quälten derartige Gedan­ken. „Sera, zeigt sich dir denn irgendein gangbarer Weg, das zu ändern?“ frag­te ich sie, aber Sera war selbst auch ratlos. Dass wir uns wieder ausgiebig, lei­denschaftlich küssen würden, war nicht anders zu erwarten, als ich Sera be­suchte. Jetzt sollte ich nichts ausziehen, Sera hatte mir nur hinten das Hemd an einer Stelle aus der Hose gezogen und ihre Hand darunter geschoben. Soll­te ich sagen: „Sera, lass das.“ und mein Hemd wieder ordentlich in die Hose stecken? Störten mich die Hand von Sera und ihre Finger auf der Haut meines Rückens? Wir blickten uns nur an. Während in Seras Mimik das Schelmische, leicht Verwegene überwog, musste ich trotz meines Lächelns auch ein Hauch von Bedenklichkeit zum Ausdruck bringen. Natürlich wollte ich Seras Haut auch spüren. Ich brauchte ihr kein Hemd aus der Hose zu ziehen, da sie nur eine Choli ähnliche Bluse trug, die ihren Bauch nicht bis zum Rand der Jeans be­deckte. Niemals hätte ich sonst gewagt, sie dort zu berühren. Auch jetzt ver­hielt ich mich fast ängstlich vorsichtig. Sera trug auch keinen BH, konnte ja bei einem Choli nicht ungewöhnlich sein, aber vielleicht hatte sie es auch geplant. Trotzdem kam es einem berauschenden Gefühl nahe, dass wir fast andächtig still genossen. Nur unsere lächelnden Blicke bestätigten uns gegenseitig das Wohlgefühl, welches uns die Berührungen und das Streicheln bereiteten. Sera zog sich die Bluse aus und mir das Hemd. Sie saß vor mir auf meinem Schoß. Als ob wir mit nacktem Oberkörper neue Liebende wären,tauschten wir sanfte Zärtlichkeiten aus. Vorsichtig nur ließen wir eine Fingerkuppe über die Augenbrauen und Lider des neuen Edelsteins gleiten, konnten uns nur gegenseitig in unserer neuen Kostbarkeit bestaunen. Wer oder was, hatte mich denn je tiefer durchdrungen als dieser wunderbare Mensch, der Seraphina hieß? Maria hatte schon recht gehabt, an ihrer Sozialisation konnte es nicht liegen, aber das angesehene Elternhaus war auch eine Fama. Sie musste schon mit den Engelschören, den Cherubim und Seraphim, zu tun haben, anders waren ihr Wesen und ihre Erscheinung nicht zu erklären. Sera nahm meine Hand, die sie gestreichelt hatte und gab einen Kuss hinein. Seras Mimik musste vielfältige Empfindungen ausdrücken. Das Wonnegefühl überwog, aber auch das Erstaunen war deutlich erkennbar. Sie konnte nicht verbergen, das sie etwas Neues, noch nie Erlebtes empfand. Ob es sie sprachlos machte, oder sie nichts sagte, weil Worte gestört hätten, war nicht ersichtlich. Wir kommunizierten mit unseren Augen und Gesten. Ich sollte sie an mich drücken. „Thomas?“ sagte Sera lang gezogen fragend, machte eine Pause und blickte mir tief in die Augen, „Auf die Dauer ist das doch unbequem so. Sollen wir nicht lieber ins Bett gehen?“ Eine Frage, die aber mehr eine Bitte war. „Nein, ich gehe doch nicht mit Sera ins Bett.“ hätte mein Bewusstsein auf dem Weg hierher noch strikt in tiefster Überzeugung verkündet. Jetzt hatte es zu schweigen. Nur noch tiefes Luftholen war als Ausdruck von Bedenklichkeit erlaubt, bevor wir uns umarmend in Seras Schlafzimmer begaben. Seras beiden Räume waren Multifunktionsräume. Wir hätten uns auch hier treffen können, nur stand hier eben ein großes Bett. Sera umschlang mich als wir im Bett lagen. Ich hielt sie ebenfalls in meinen Armen. „Thomas, Thomas, ach, Thomas.“ sagte sie immer wieder mit kurzen Pausen. Sie schien absolut high zu sein. „Ja, Seraphina, was ist los?“ unterbrach ich sie. „Thomas, ich bin auf dem Gipfel. Ich muss Ballast abwerfen sonst falle ich runter.“ erklärte sie lachend. Orgiastische Gefühle musste es Sera bereiten, dass wir beide zusammen im Bett lagen. „Thomas, das ist alles nicht wahr. Das geschieht nicht in dieser Welt, was ich erlebe. Mit einem nackten Mann allein im Bett zu liegen, ist immer eine von Unsicherheit und Angst begleitete Vorstellung. Und jetzt? Ich bin so stark und sicher wie nie, und was ich erlebe, ist das Größte, was die Welt zu bieten hat. Alles wegen der Liebe, nicht war? Sie macht uns die Welt zum Paradies. Ohne Liebe ist sie herb und rau, und ihr scheinbarer Glanz nur täuschender, oberflächlicher Tand.“ erklärte Sera mit einer vor Begeisterung lachenden Stimme. Unsicherheit und auch ein wenig Angst begleiteten eher mein Empfinden, weil ich ja der erste Mann war, mit dem Sera zu tun hatte. Sera schien das jedoch überhaupt nicht zu interessieren. Sie war nur übermütig, glücklich und liebte es alberne kleine Scherze zu machen. „Seraphina, du bist doch eine große Kennerin der Schriften, dann wirst du sicher auch wissen, dass geschrieben steht, die Menschen müssten wie Kinder werden, sonst hätten sie keine Chance, in den Himmel zu kommen. Wir haben da sicher sehr große Chancen. Was meinst du?“ erkundigte ich mich. „Thomas, wie kannst du nur so unsensibel sein? Wie konnte es dir entgehen, das wir uns längst dort befinden?“ wusste Sera. „Im siebten, nicht wahr? Du hast mich mitgenommen in den siebten Himmel, wo die Seraphim ihr Zuhause haben?“ wünschte ich detailliertere Auskunft. „Du kennst dich gut aus, aber das wird sich noch zeigen müssen.“ Sera dazu. Unsere Albernheiten und Scherze verhinderten nicht, dass Seras Empfinden, eine Frau zu sein, und es sich bei mir um den dazu passenden Mann handele, an Intensität kontinuierlich zunahm. Seras Blick und ihre Mimik ließen vielfältigste Interpretationen zu, Erstaunen, Überraschung, Wonne und Glück lagen sicher darin. Dann schloss sie ihre Augen und schien in ein Reich von Wahrnehmung und Gefühlen abzutauchen. Vorsichtig und behutsam wollte ich sein, von der Frau mit den geschlossenen Augen bekam ich ein „Mach!“ zu hören. Zwischendurch stoppte Sera, drückte mich fest an sich und erklärte: „Bleib, Thomas! Bleib so bei mir! Magst Du? Immer musst du so bei mir bleiben!“ Dann tauchte Sera wieder ab in die Ekstase ihre Empfindungs- und Gefühlswelten. Die Elfe glich jetzt einer Butterblume, die das güldene Licht der Sommersonne im Gesicht trug. Diese Kraft, mit der sie mich umfing und an sich presste, hätte ich ihr nicht zugetraut. Niemand sagte etwas, wir berührten uns nur zart und gaben uns manchmal einen Kuss. „Du Ferkel,“ schimpfte Sera nach geraumer Zeit, „hast mein Bett versaut und stinkst dazu. Das machen wir nie wieder, nicht wahr?“ Nach kurzer Pause fuhr sie fort: „Wir waren gut, oder?“ „Seraphina, wie redest du denn? Ich dachte, wir hätten uns geliebt und nicht eine Prüfung gemacht.“ reagierte ich darauf.“ „Thomas, was denkst du? So meine ich das doch auch nicht. Es hat dir doch auch gefallen. Wir beide haben das gemacht. Du bist gut für mich und ich bin gut für dich. Wir tun uns gegenseitig gut, wir sind gut füreinander, nicht wahr?“ erklärte Sera. „Das denke ich auch, das wir uns gegenseitig gut tun und das nicht nur im Bett.“ bestätigte ich sie. „Ja, wenn wir uns etwas erzählen, uns streicheln, miteinander diskutieren, eigentlich bei allem tust du mir gut. Ich dir bestimmt genauso.“ ergänzte Sera. In der Tat, Sera tat mir unendlich gut. Thomas Kaufmann ohne Sera konnte ich mir nicht mehr vorstellen. Kurz dachte ich an Monique und Eifersucht, da fiel mir die Szene von damals ein. „Seraphina, ich habe dich mal gefragt, ob ich auf meinen Kollegen eifersüchtig sein müsste, woraufhin du mich ganz böse angeschaut hast. Kannst du dich noch daran erinnern?“ fragte ich. „Ja, natürlich, so etwas macht man nicht Thomas.“ antwortete Sera. Meine fragenden Augen ließen sie weiter erklären: „Von den meisten Sakrilegien halte ich nicht viel. Wo müssen wir nicht überall Achtung und Würde zeigen? Aber es gibt doch schon etwas, das unsere Achtung und Anerkennung verdient. Was ist dir denn zum Beispiel das Höchste und Heiligste?“ „Ja, ja, unsere Liebe natürlich, und damit treibt man keine Scherze. Aber es war doch nicht ernst gemeint.“ versuchte ich Sera zu verstehen und mich zu entschuldigen. „Trotzdem, wenn ich von unserer Liebe höre, möchte ich glücklich empfinden und nicht über faule Witze lachen müssen. Das passt nicht. Ernst und wichtig ist mir unsere Liebe und nicht ein kunterbuntes Theaterstückchen.“ Sera dazu. Kurz vor Mitternacht erklärte ich Sera, dass ich jetzt nach Hause fahren würde. Mit fragend ängstlichem Blick meinte sie: „Wir wollten doch zusammen schlafen. Wir haben aber noch gar nicht geschlafen. Bitte, Thomas, bleib noch.“ Im Tonfall und der Melodie jedes ihrer Worte war die Befürchtung zu hören, dass ich sie jetzt verlassen könnte. Nein, das konnte ich nicht, als ich versuchte, mich in ihre Lage zu denken. Sera, war mir doch das Wichtigste und nicht meine dummen Geheimhaltungskünste. „Wahrscheinlich hattest du es gesagt, als wir ausmachen, dass ich zu dir kommen solle. Ich hatte es nur wieder ganz vergessen, dass wir ja miteinander schlafen wollten. Aber es ist eine ausgezeichnete Idee, Seraphina. Es wird uns beiden sicher sehr gut tun.“ scherzte ich. „Ja, schlafen ist gesund, und durch Miteinander-Schlafen potenzieren sich die heilsamen Kräfte.“ Sera schmunzelnd dazu. Zum Schlafen kamen wir jedoch gar nicht. Wir waren uns selbst aufregender als das Coffein von zwanzig Tassen Kaffee. Streicheln, Schmusen, Tasten alles musste man doch wach erleben und konnte nicht einfach dabei einschlummern. Als Sera im Morgengrauen mehrmals gähnte, fuhr ich nach Hause.


Halbe Liebe


Monique schlief noch und wurde wach, als ich kam. Ein paar Sätze hatte ich mir schon überlegt. „Nicht jetzt, lass uns nicht jetzt darüber reden. Heute Nachmittag.“ bat Monique. Sofort nach dem Mittagessen setzten wir uns zu­sammen. Ich erklärte, dass ich nicht beabsichtigt gehabt hätte, mit Sera zu schlafen. „Ah ja, du wolltest es gar nicht, warst aber nicht tapfer genug, Seras Verführungskünsten zu widerstehen. Es wird nie wieder vorkommen, das ver­spreche ich, Monique. Thomas, wenn du so mit mir reden willst, hören wir gleich wieder auf. Lass uns vernünftig miteinander sprechen. Dass ihr beide euch liebt, war doch nicht zu übersehen. Ich habe dich nur für vernünftiger ge­halten.“ erklärte Monique. „Ich war auch ganz vernünftig, Monique. Bestimmt habe ich es genauso wie du gesehen. Alles was man dagegen sagen könnte, habe ich mir selbst vorgebetet. Es durfte nicht sein und konnte deshalb nicht geschehen. Als ich es vor mir selbst nicht mehr abstreiten konnte, dass ich Mo­nique liebte, war es zu spät. Dann ist es einfach so, alles andere wird sekun­där.“ erläuterte ich. „Du siehst also deine Zukunft mit Sera?“ schlussfolgerte Monique. „Nein, wieso das denn?“ fuhr ich erschrocken auf, „Mit uns hat das doch nichts zu tun. Ich liebte dich nicht bis gestern Abend und seit heute Mor­gen ist alles anders. Es ist wie immer, Monique, ich liebe dich wie immer.“ Mo­nique schaute mich skeptisch, zweifelnd an. „Thomas, ich liebe dich. Meine Ge­fühle für dich füllen mich aus. Das bin ich. Aufteilen lässt sich das nicht. Ich kann nicht noch einen anderen Mann lieben. Dann ist meine Liebe für dich eine andere, dann bin ich das nicht mehr. Willst du denn Sera deine halbe Liebe schenken und ich bekomme die andere Hälfte? Ich kann mir das für mich nicht vorstellen.“ argumentierte Monique. „So läuft das doch nicht. Ich habe nicht meine Liebe für dich auf die Hälfte reduziert, um die andere Hälfte für Sera frei zu haben. Es hat sich einfach so entwickelt, es ist hinzugekommen, ist etwas anderes.“ ich darauf. „Was hat Sera denn zu bieten, was ich nicht habe?“ wollte Monique mit einem leicht frechen Lächeln wissen. „Ich bitte dich, Monique, wollen wir denn so naiv diskutieren. Was hast du mir denn zu bieten, was Sera nicht hat?“ wollte ich scherzhaft fragen. „Allerdings, da gibt es einiges, ein Zu­hause, eine Familie, zwei Kinder und ein fast zwanzigjähriges glückliches, ge­meinsames Leben. Dir scheint das nicht viel wert zu sein, seit dem du dich in Sera verliebt hast. Da wird sie dir doch sicher ganz Bedeutsames zu bieten ha­ben.“ erklärte Monique. „Hör auf, ich kann es nicht hören. Liebe ist doch kein Geschäft. Habe ich etwa, als wir uns kennenlernten, gefragt, was du mir zu bieten hast? Du hast dich in mein Herz geschlichen und da bist du immer noch, unabhängig von dem, was du mir zu bieten hast, das ist sicher wichtig, aber ist etwas anderes als die Liebe. Ich wollte nicht mit Sera ins Bett, das stimmt schon, aber sie hat mich nicht verführt und ich bereue es nicht. Sera meine Liebe schenken oder sie Monique zukommen lassen, dass ist keine Frage. Du bist nicht in einem Laden, in dem du zwischen zwei Angeboten auswählen kannst. Die Liebe bestimmt dich, und du bestimmst nicht, wo sie sein soll.“ erklärte ich dazu. „Du meinst also, du hast keinerlei Einfluss darauf. Alle rationalen Gesichtspunkte spielen keine Rolle. Die Liebe bestimmt, was du zu tun und zu lassen hast.“ erklärte Monique meine Worte. Ich holte tief Luft und meinte: „Ach was, völlig willenlos bin ich doch deshalb nicht, nur ich kann nicht sagen, ich liebe Sera nicht, weil es nicht vernünftig ist. Das wäre Schwachsinn. Wir sind doch auch nicht die einzigen und ersten, bei denen es so ist. Eine bekannte Schauspielerin zum Beispiel liebt zwei ganz unterschiedliche Männer, bei vielen berühmten Leuten war es schon so. Sartre und Simone de Beauvoir sind immer zusammen geblieben, obwohl beide häufig unterschiedliche Beziehungen hatten. Warum sollte das bei uns nicht möglich sein?“ fragte ich. Monique schaute mich skeptisch an. „Ich weiß nicht.“ sagte sie, „An so etwas habe ich noch nie gedacht. Lass uns morgen weiter darüber reden.“


Keine Ménage-à-trois


„Ist etwas nicht in Ordnung? Habt ihr euch verkracht?“ wollte Lea wohl wegen der ungewöhnlichen Stimmung beim Abendbrot wissen. Sie wurde beschwich­tigt, aber es ließ sie nicht in Ruh. Nach dem Abendbrot sprach sie zunächst mit Monique und kam dann zu mir. „Ja, es ist schon richtig, dass Sera und ich uns lieben.“ erklärte ich. „Wie schön,“ sagte sie, „mein Papa und meine Freundin haben sich ineinander verliebt.“ „Deine Mutter ist aber gar nicht so begeistert davon, besonders nicht davon, dass ich die letzte Nacht mit Sera verbracht habe.“ erklärte ich, denn erfahren würde Lea es ja sowieso. Es dauerte einen Moment, als ob sie das Gehörte verdauen müsse, um es zu verstehen. „Wie? Ihr wart zusammen im Bett? Sera und du ihr habt miteinander gefickt?“ fragte sie entsetzt, erstaunt, ungläubig. „Oh je, was machst du Alter für Sachen? Na ja, aber wenn man sich liebt, bleibt das eben nicht aus, nicht wahr?“ urteilte Lea. Monique wollte alleine schlafen. Sie habe nichts gegen mich, wäre aber lieber allein. Am Montag erklärte Monique, dass sie es sich sehr eingehend überlegt habe, aber so etwas könne sie nicht. „Es mag zwar Menschen geben, die dazu in der Lage sind, in einer Ménage-à-trois zu leben, ich kann das aber nicht. Die Vorstellung, dass du bei mir liegst und von Sera träumst, wird immer gegenwärtig sein, und jede Entwicklung gemeinsamer Empfindungen verhin­dern. Ich werfe dir nicht vor, dass du Sera liebst, aber für mich zerstört es das, was immer zwischen uns war. Ich kann damit nicht leben und glücklich sein.“ erklärte Monique und weinte. „Monique, das nicht sein. Ich will dich doch nicht verlieren. Das meine Gefühle bei dir sein werden, wenn wir zusammen sind, da bin ich ganz sicher. Das sind deine ängstlichen Träume, aber es wird nicht die Realität sein.“ jammerte ich. „Trotzdem, Thomas, ich kam mir schon vorher manchmal wie die Zweitfrau vor. Eure Blicke und euer Lächeln zeigten eindeu­tig das ihr euch das Wichtigste wart. Ich habe darüber geschmunzelt, weil ich mir sicher war, dass du es nie dahin kommen lassen würdest, deine Familie und unser gemeinsames Leben für die Beziehung mit Sera aufs Spiel zu setzen. Offensichtlich habe ich mich aber getäuscht.“ erklärte Monique. Ich Trottel konnte und wollte es nicht wahr haben, aber es würde wohl darauf hinaus laufen, dass wir uns trennen müssten. Als Lea davon erfuhr, geriet sie in Panik und wollte es unbedingt verhindern. „Sie wurde böse und schimpfte, weil sie merkte, dass mit freundlichen Worten nichts zu erreichen war. „Erwachsen wollt ihr sein, Idioten seid ihr. Wisst, dass wir uns alle lieben und kriegt es nicht geregelt. Stattdessen wollt ihr lieber alles zerstören.“ schimpfte sie. Mit Monique hatte sie die heftigste Auseinandersetzung ihres Lebens. Sie hatten sich so intensiv gestritten und gegenseitig verletzend beschimpft, dass Friedensverhandlungen mit mir stattfinden mussten, in denen zu klären war, dass Monique keine eifersüchtige Kuh sei, die zu verschwinden habe und Lea, den Mund zu halten habe, weil sie noch zu klein sei, um etwas davon zu verstehen. Wenn auch die in Rage erfolgten Äußerungen zurückgenommen und entschuldigt wurden, für Lea blieb Monique die Hauptschuldige. Sascha verfolgte alles nur mit großen traurigen Augen.


Harmoniestifterin


War ich auch traurig? Eher ratlos und verwirrt. Als ob ich es noch gar nicht wahrhaben wollte, was geschah, kam mir vor, als ob ich daneben stünde und zuschaute. Sah wie mein eigenes Leben sich gravierend verändern würde, aber empfand es gar nicht. Dass Monique und die Kinder zusammen blieben war selbstverständlich. Jetzt schlief ich auf der Couch bei mir im Zimmer. Eine neu Wohnung gemeinsam mit Sera? Wir waren uns nicht sicher. „Dann muss ich mein Studium aufgeben.“ führte Sera nicht ganz ernst an. „Tagsüber komme ich zu nichts, weil wir ständig miteinander reden werden, und in der Uni be­komme ich nichts mehr mit, weil ich ja nachts nicht zum Schlafen gekommen bin.“ Wir sprachen aber auch über ernsthafte Gesichtspunkte des Für und Wi­der. Letztendlich war jedoch der Reiz, ständig zusammen sein zu können, durch keine anderen rationalen Argumente zu besiegen. Wenn ich allein zu Hause war, quälten mich die Gedanken an das Leben ohne die Kinder, ohne die Wärme Geborgenheit der Familie, ich überlegte wie sich unsere Trennung wohl für Lea und Sascha auswirken würde. Wenn ich mit Sera zusammen war, tauchte das alles nicht auf. Natürlich kannten wir auch Probleme, aber es er­weckte den Anschein, dass ich mich mit Sera tatsächlich in einer anderen Welt befand. Quälendes Grübeln wie zu Hause kam mit Sera nicht vor. Jedes Pro­blem wurde zwischen uns schon mit einer Lösungsgarantie geboren. Sera hatte schon Recht, die Liebe musste es sein, die uns unübertrefflich stark und sicher empfinden ließ. Lea stellte sich als die große Harmoniestifterin heraus und machte Monique klar, dass sie Sera doch auch möge und liebe. Durch unsere Beziehung sei Sera doch keine andere geworden. Sera habe ihr den Mann weg­genommen, so würden dumme Leute denken und reden. Monique schade sich selbst, wenn sie mit Sera nichts mehr zu tun haben wolle. Lea selbst wollte aber offensichtlich mit Sera mehr denn je zu tun haben, sie wollte von Sera lernen. Einen Freund hatte Lea auch schon mal, aber die große Liebe war es nicht gewesen. Dafür existierte sie unzweideutig zwisch ihr und Sera. Den bei­den gings absolut gut miteinander, und Lea verbrachte nicht selten das Wo­chenende mit uns, sie fühlte sich zu Hause.


Vêtement angélique

 

Der Lehrer Thomas Kaufmann hatte sich in eine zwanzig Jahre jüngere Schüle­rin verliebt, Familie und Kinder verlassen, um mit ihr gemeinsam leben zu kön­nen. So stellte es sich dar, so sahen es alle, und man konnte dem nicht wider­sprechen. Eine Beschreibung in der Sprache des wertlosen Tands, der nur die Oberfläche kennt. Das Wesen unserer Beziehung, unserer Liebe blieb diesen Worten verborgen. Sie konnten und wollten es auch gar nicht formulieren. Viel­leicht konnten wir es ja selbst nicht einmal konkret beschreiben, konnten es gar nicht verbal benennen, worin und woraus das Band zwischen uns bestand. Wir konnten es nicht erklären und nicht begründen, entweder war es in unse­rem tiefen Unbewussten, das für die Gedanken und die Sprache unzugänglich ist, begründet, oder es war, wie Sera es mit Sicherheit wusste, im Paradies oder im Himmel angesiedelt. Für Lea hätte das alles nicht geschehen müssen, wenn Monique ein wenig offener, verständnisvoller und liberaler gewesen wäre. All meine Erklärungen hatten nicht bewirken können, dass Monique mein Ver­halten akzeptierte und verstand. Nur Sera traf kein einziger Anflug eines Schuldvorwurfes. Dabei war sie es doch gewesen, die durch ihre Liebe zu mir alles ausgelöst hatte. Sie musste ein Engel sein, dessen weißes Unschuldskleid durch nichts zu beflecken war.

 

 

FIN

 

 

When I saw you, it was like I saw an angel. When I got closer, my heart pounded more and more, and I knew that I would be in love with you for the rest of my life. Just a touch of your skin, and my whole world changed.Now, all I want is to be your side.

 

„Einiges habe ich sicher mitbekommen, aber du weißt bestimmt viel mehr. Verrätst du's mir?“ bat ich Sera. „Ist doch klar, einen anderen, den du magst, zu berühren, ist mehr als nur schöne Worte sagen. Wenn ich dich höre, beglückt das meine Ohren, wenn ich dich lächeln und sprechen sehe, beglückt das meine Augen, und wenn ich spüre, wie du mich umarmst, beglückt das alle meine Gefühle.“ erläuterte Sera. „Du magst mich sehr, Sera, nicht wahr?“ kommentierte ich. „Na klar, Thomas. Bei allem, was Menschen tun, kalkulieren sie, fragen sich: „Was bringt mir das?“ „Was habe ich davon?“. Wenn Maria Gutes über mich in der Schule hört, dann freut sie das in erster Linie, weil sie dadurch für sich eine Anerkennung als fähige Pflegemutter erhält. Du bist dir selbst immer der Nächste und der Wichtigste. Bei dir ist das nicht so. Du fragst mich, hörst mir zu, willst mich verstehen. Was hast du davon? Du interessierst dich für mich, versuchst dich in mich hineinzuversetzen. Was bringt dir das? Du nimmst mich ernst, schenkst mir Anerkennung. Wozu nützt dir das? Zu überhaupt nichts. Du tust es einfach nur, weil ich Sera bin. Nur für mich tust du es und es macht dir offensichtlich Freude. Ist so etwas nicht ganz wundervoll, Thomas. Ich habe Ähnliches in meinem ganzen Leben noch nie erfahren. Es ist völlig neu und malt für mich ein anderes Bild von mir selbst. Wie du zu mir bist, wie du mich verstehst und mich akzeptierst, ist mein Wichtigstes. Es steht über allem. Wenn ich daran denke, bin ich glücklich, dann ist alles für mich in Ordnung.“ stellte Sera ihre Beziehung zu mir da.

 

 

Seraphina – Seite 23 von 23

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Tag der Veröffentlichung: 28.04.2013

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