Carmen Sevilla
Tom und Rita Perverse Beziehung
Renitente Liebesverweigerer
Erzählung
Ce n'est pas par leur architecture mais plutôt par la puissance de leur pensée abstraite que les nations devraient essayer de se perpétuer dans la mémoire des hommes.
Henry David Thoreau
Aletta und Géraldine wussten zwar, dass ich mich ab und an noch mit einer
alten Bekannten aus dem Betrieb traf, aber als Rita häufiger zu mir kam,
begegnete man sich auch öfter. Jetzt wollten beide in stundenlangem Verhör
unsere Beziehung genauestens erläutert haben. Trotzdem konnten sie es
nicht fassen und verstanden es nicht. Beide mochten Rita, obwohl man sich
nur aus wenigen kurzen Gesprächen beim Abendessen oder Kaffeetrinken
kannte. „Tom, wenn ich etwas nicht verstanden hatte, hast du es mir immer
erklärt und ich konnte es verstehen.“ erläuterte Géraldine, „Nur was du mir
jetzt erklärt hast, von dem habe ich nichts verstanden. Ich habe gehört was
du gesagt hast, aber mein Bauch lehnt es ab, er will kein Bild daraus machen.
Das kann alles nicht sein. Es mag euch ja gefallen, aber was ihr betreibt ist
pervers. Sei doch einfach mal du selbst. Der gleiche, der du sonst auch immer
bist und nicht so eine verdrehte Gestalt aus der Firma, dessen Rolle du in
eurer Beziehung spielst.“ „Ja ich denke auch, dass ihr da so etwas wie
festgelegte Rollenbilder tradiert. Und in denen kann nicht vorkommen, dass
Rita eine wunderbare Frau ist, die hervorragend zu dir passen könnte.“
pflichtete Aletta dem bei, „Das ist sehr schade für dich, Tom. Willst du dir
nicht mal Gedanken darüber machen, ob du nicht doch Interesse daran
haben könntest, an eurem Verhältnis etwas ändern zu wollen?“
Tom und Rita - Inhalt
Tom und Rita 4
Große Uhr und kleine Vase 4
Früher war alles besser 4
Rita 6
Sonderbare Konstruktion 7
Ein Rätsel mehr 8
Etablierte Beziehungsstruktur 9
Sei nicht traurig, Rita 10
Aletta, Géraldine und mein Bezug zur Weiblichkeit 11
My poor old little brain 13
Was möchtest du gerne in deinem Kopf haben? 14
Mini-Cineasten und andere 15
Urlaubspläne 16
Griechenland 17
Eine etwas andere Situation 19
Ein Mensch, wie man ihn sich wünschte 21
Tim und Lina 23
Herbstfrühling 24
Ritas Krankheit 25
Ritas Frage 26
Wieder zu Haus 27
Neue Zeitrechnung 27
Neuer Chronometer 28
Tom und Rita sind hervorragend befreundete Arbeitskollegen. Alles Private ist und soll strikt tabu bleiben, auch wenn es als pervers erscheint.
Ich bin nicht schlecht gelaunt, habe auch nicht den Blues, nur womit ich mich sonst häufig und gern befasse, heute Abend sagt mir nichts davon zu. Ich möchte einfach mal nichts tun, mich nur entspannen, unterhalten lassen, die Glotze anschalten. Aber das theatralische Agieren der Schauspieler in dem Film, der recht gute Kritiken hat, ist meiner Entspannung nicht förderlich, und die von ihnen intensiv deklamierten Kommunikationsbeiträge, wollen meine Ohren nicht verwöhnen. Das TV nervt. Es auszuschalten, vermittelt einen der nicht oft wahrgenommen Momente des genussvollen Erlebens wohltuender Stille.
Die große Uhr gegenüber habe ich damals noch zusammen mit meiner Frau ausgesucht. Ich mag sie auch heute noch in ihrem fein strukturierten modernen Design, aber sonst auch nichts. Was will sie da? Sie zeigt zwar die Zeit immer sehr genau an, aber sie ist tot. Ich könnte sie austauschen, gegen eine, die für mich eventuell noch besser aussähe, es wäre beliebig. Mit der Uhr dort an der Wand verbindet mich nichts. Ich habe keinen Bezug zu ihr. Sie ist ein schaler Gegenstand und selbst das Wissen, dass sie schon so lange dort hängt, lässt meine Emotionen unberührt. Wenn ich dagegen an die alte Standuhr bei meinem Großvater aus Kindertagen denke, dann weiß ich, dass es nicht grundsätzlich so ist, dass Menschen mit Uhren nichts verbindet. Die alte Uhr pflegte engste Beziehungen zu meinem Opa. Wenn sie zu schnell oder zu langsam ihre Zeiger fortbewegte, wusste er es durch Einstellungen an ihrem Pendel zu korrigieren. Ohne dass mein Opa ihr regelmäßig die Gewichte wieder raufzog, hätte sie ihre Arbeit bald einstellen müssen. Bei den Glockenschlägen trafen Hämmer ihre Klangstäbe. Man sah es vor sich, wenn man sie hörte. Sie lebte mit den Menschen und mit dem jüngsten der sieben Geißlein ganz unten in ihrem großen Uhrenkasten sicherlich auch. Ich mochte sie und freute mich sie zu sehen. Sie gehörte zur Familie, und wenn mein Opa sie verkauft hätte, weil er sich etwa eine modernere Uhr hätte zulegen wollen, bestimmt wären mir die Tränen gekommen. Wir umgeben uns heute reihenweise mit diesen schalen Gegenständen, zu denen sich kein persönlicher Bezug entwickeln lässt. Das schrumpelige Väschen, das du nie benutzt hast, bedeutet dir unendlich viel mehr als deine ganze sündhaft teure moderne Kücheneinrichtung. Wenn du sie verlieren würdest, tauschtest du sie eben gegen eine andere ein, nur das Väschen ist unersetzlich. In ihm steckt die Liebe deiner Nichte als sie ganz klein war und das stolze lachende Kindergesicht, mit dem sie es dir überreichte. Das wirst du nie vergessen, es hat dir viel bedeutet, zu erleben, wie das Kind dich erfreuen wollte.
Warum berücksichtigen wir so etwas nicht, wenn wir es doch wissen. Wirtschaft, Markt und Produktion und die gewachsenen und permanent weiter steigenden Bedürfnisse der Menschen erlauben es heute nicht mehr. Sollen alle Männer zu ihren persönlichen Schneidern gehen, Maß nehmen lassen und die passgenauen Anzüge unter Berücksichtigung individueller Wünsche per Hand anfertigen lassen? Einen Anflug von Wehmut kannst du nicht unterdrücken, aber den Unsinn der Worte, dass früher alles besser gewesen sei, willst du trotzdem nicht unterstützen, auch wenn es dir jetzt einfällt. Was war denn früher, wie haben wir es denn damals tatsächlich erlebt? Wer waren wir denn, als wir es erlebten? Was erinnern wir davon, und was macht unser Kopf im Laufe der Zeit mit diesen Erinnerungen? Wovon du sprichst, woran du denkst, es ist nicht das, was gestern war, du bist es, der sagt, was dir heute davon gehört, und was du in deinem Interesse davon wie gesammelt und verarbeitet hast.
Nichts würde ich mir dringlicher wünschen, als Maren wieder zu bekommen. Ich wäre daran psychisch beinahe selbst zu Grunde gegangen, als meine Frau starb. Nur das Goldene Zeitalter vorher hat es, bis auf die relativ kurze Phase unserer anfänglichen Verliebtheit, nie gegeben. Wir haben es uns gegenseitig nicht einfach gemacht. Aber woran denke ich jetzt, wenn ich träumend mich erinnere? An die oft kindisch dummen Streitigkeiten? An manche meiner Verhaltensweisen ihr gegenüber, die heut noch peinliche Scham in mir erzeugen? Natürlich denke ich an die Momente, in denen unser Zusammensein uns beide glücklich sein ließ, in denen es uns selbstverständlich und wunderbar erschien, dass wir einander gehören durften. Geliebt haben wir uns sicherlich die ganzen Jahre über, doch bei der Gestaltung unseres Alltags, schien das in der Regel von untergeordneter Bedeutung zu sein. Das weiß ich zwar, aber meine Erinnerung sieht es nicht so gern. Ihr gefallen die harmonisch glücklichen Aspekte besser, als ob ihr daran gelegen sei, mir mit der dargebotenen Form der Erinnerung eine Freude zu bereiten.
Bitter musste ich die Liebesdienerei der Mneme an mir erfahren. Sie hatte nichts verdreht, keine Fakten im Laufe der Zeit verfälscht, trotzdem hatte sie mir über vierzig Jahre das verklärte Bild einer politischen Diskussion aufrecht erhalten. Ein brechend voller Hörsaal mit weltpolitisch brennend interessierten jungen Menschen. Engagierte Diskussionen mit überaus gehaltvollen und innovativen Beiträgen der streitbaren Forumsteilnehmer. Wundervoll, so etwas Tolles war heute leider gar nicht mehr vorstellbar. Nachdem ich jetzt, vierzig Jahre später, die filmische Dokumentation dieser meiner verehrten Veranstaltung gesehen hatte, konnte ich nicht umhin, dankbar dafür zu sein, dass es heute derartigen naiven Politzirkus nicht mehr gab. Meine Erinnerungen machten mich peinlich betroffen. Was hatte ich denn da memoriert? Keine Dokumentaraufnahme des damaligen Geschehens, die ich später unter anderen Gesichtspunkten hätte kritisch neu bewerten können. Primär hatte ich meine damalige Emphase, die durch einige Fakten belegt werden konnte, in meinem Gedächtnis verankert. Die Zeit hatte allenfalls partikulare Eindrücke, die auf den Gesamteindruck heute hätten störend wirken können, stillschweigend verschwinden lassen.
„Na und,“ meinte Rita, meine Freundin seit unseren gemeinsamen Kindertagen im Betrieb, „warum tust du auch so etwas? Willst du jetzt etwa den Film in deine Erinnerungen aufnehmen als objektive Dokumentation des Geschehens. Das ist absoluter Schrott. Er ist auch nur ein höchst selektives Wahrnehmungspartikelchen. Er kann keinen Eindruck der Zeit, in der du damals gelebt hast, und in der diese Diskussion kein peinlicher Politzirkus für dich war, sonder wie du es zurecht erinnert hast, eine ganz wichtige Veranstaltung darstellte, vermitteln und wiederbeleben. Vor allem kann er es nicht mit deinen Augen aus jener Zeit zeigen. Unsere Erinnerungen, das sind wir selbst. Wer wir waren und wie wir es deuten konnten, was wir wahrnahmen. Der Eindruck, den die Diskussion auf dich gemacht hat, darin stecktest du, das warst du zu jener Zeit. Fragen nach Objektivität oder falscher Bewertung sind nicht nur müßig, sondern fehl am Platz. Was geschehen ist, wie du es erlebt, gesehen und bewertet hast, so ist es deine Geschichte. Da lässt sich nachträglich nichts verändern oder korrigieren. Deine Erfahrung von damals ist integraler Bestandteil dessen was dich heute ausmacht. Wenn sich jetzt vierhundert Menschen das gleiche Konzert angehört haben, dann gehen sie mit vierhundert unterschiedlichen Erinnerungen nach Hause. Das ist nicht ungewöhnlich, anders kann es gar nicht sein. Tommy, du machst dir häufiger Gedanken, die in tristen Schlussfolgerungen enden. Du wirst doch keine dummen Sachen machen, und deine Gedanken zu Metaphern dafür werden lassen, dass das Leben ohne Arbeit keinen Sinn mehr hat?“ Wir schauten uns an, und prusteten lachend los.
Ich würde gern sagen, wer Rita ist, aber es gibt keine einfache treffende Benennung dafür. Wir haben am gleichen Tag in der Firma angefangen und uns am übernächsten Tag deswegen in der Kantine angesprochen. Von da ab waren wir so etwas Ähnliches, wie die verschworene Basiszelle gegen das dumpfe überhebliche Establishment der Firma. Und so ist es fast vierzig Jahre lang bis heute geblieben. Die junge kämpfende Basisgarde sind wir schon lange nicht mehr, das Establishment können wir auch nirgendwo mehr ausmachen und im Übrigen haben wir mit der Firma gar nichts mehr zu tun. Wir sind beide Rentner. Sie ist Ökonomin, ich Jurist. Die Firma als unser gemeinsamer Arbeitsplatz verband uns. Natürlich sprachen wir nicht nur über Firmeninterna, darüber eher am wenigsten, wir meinten über alles miteinander zu sprechen. Am häufigsten redeten wir wohl über politisches, kulturelles und sonstiges, was man so wusste, oder worüber man sich gerade Gedanken machte, wie zum Beispiel heute über das Gedächtnis. Wir hatten uns sicherlich vom ersten Moment an gut leiden können, und Tage, an denen Rita krank war oder aus sonstigen Gründen nicht im Betrieb erschien, empfand ich als trüb. Ich bin sicher, dass es uns beide sehr freute, als wir uns nach den langen Zeiten der Geburten ihrer beiden Kinder wiedersehen konnten. Welch wunderliches Konstrukt unsere Beziehung aber war, darüber haben wir nie gesprochen. Über uns persönlich und über unser Privatleben sprachen wir nicht oder nur in sehr bedingtem Rahmen. Rita berichtete schon mal etwas von ihren Kindern, bei dem unser Gespräch aber sehr schnell in Bereiche allgemeiner entwicklungspsychologischer Fragestellungen oder auch anderer Sozialisationsgesichtspunkte wechselte. Natürlich wussten wir vom anderen, dass er heiratete, Kinder bekam oder keine, sich wieder scheiden ließ, oder dass meine Frau verstarb, aber so ganz viel mehr war es auch nicht, was uns privat von einander bekannt war. Obwohl wir doch eigentlich so lange sehr gut befreundet waren, besucht haben wir uns nie. Kein Wort hatten wir je darüber gewechselt, dass wir über bestimmte Bereiche nicht sprechen wollten, und warum nicht. Dadurch das sich die Bekanntschaft im Betrieb entwickelt hatte und unsere Freundschaft dort ihr zu Hause hatte, galt es als selbstverständliches stillschweigendes Übereinkommen, das Privates außen vor zu bleiben hatte, und beides nicht miteinander vermengt wurde. Mich hat daran nichts gestört, ich habe nie darüber nachbedacht, ob in unserer Beziehung etwas anders sein könnte. Ich wollte es auch gar nicht. So wie es war, und dass es so war gefiel mir hervorragend. Über so einen festen persönlichen Anker wie unsere Beziehung, verfügte sonst niemand im Betrieb. Unabhängig davon war es auch eine eigene Beziehungsform, für die es draußen keine Vergleiche gab. Wir verstanden uns untereinander hervorragend, schienen über ein ähnliches Wissens- und Interessenniveau zu verfügen oder es im Laufe der Jahre entwickelt und angeglichen zu haben, und auch in unseren politischen Ansichten stimmten wir weitestgehend überein. Hier entwickelten sich jedoch oft die heftigsten Auseinandersetzungen, nur sonderbarerweise ergaben sich daraus nie persönliche Differenzen. Streit konnte anscheinend zwischen uns gar nicht entstehen. Dieser ganze kleine Psychomist mit Vorwürfen, Unterstellungen, Gedanken, dass der andere einen beleidigen wolle, man sich irgendetwas nicht gefallen lassen müsse, dieser ganze Kinderkram hatte zu nserem Denken und Empfinden prinzipielles Zutrittsverbot. Wir konnten intensiv unsere gegenteiligen Überzeugungen äußern, nur Zweifel daran, ob der andere der allerbeste Freund wäre, hatten dabei zu keinem Zeitpunkt den Ansatz einer Chance. Warum sollten wir uns gegenseitig besuchen, zu Partys einladen, eventuell gemeinsam in Urlaub fahren? Mir, und Rita bestimmt ebenso, ist Derartiges nie eingefallen. Warum auch, wir brauchten es nicht. Wahrscheinlich hätte es unser bestehendes Verhältnis gestört und verändert. Wer wollte das? Gewiss hatte unser Unterbewusstsein deshalb derartige persönliche Angelegenheiten mit Denkverbot belegt. Dazu gehörten auch Konsequenzen aus der Tatsache, das wir ja unterschiedlichen Geschlechtsphänotypen zuzurechnen waren. Rita ist meiner Ansicht nach eine sehr ausdrucksstarke, schöne Frau. Ich hatte früher damit zu kämpfen, den vom anderen Geschlecht ausgehenden Reizen nicht zu leicht zu verfallen. Mit Rita hatte dieser ganze Bereich nichts zu tun. Erst ein Jahr, nachdem wir beide allein waren, Rita geschieden, die Kinder aus dem Haus und meine Frau gestorben war, kamen wir auf die Idee, dass wir doch auch außerhalb der Arbeit miteinander reden könnten. An der Struktur der Beziehung änderte das nichts. Auch dass wir jetzt sogar öfter zusammen kochten, hatte sich schlicht daraus ergeben, das wir wegen des Abendbrots unser Gespräch hätten abbrechen müssen, wenn Rita aber mein Brot aß, wir uns weiterunterhalten konnten. Meine Beziehung zu Rita stellte einen Grundpfeiler meiner sozial-emotionalen Zufriedenheit dar, sie war mir äußerst wertvoll und ich mochte und liebte sie, so wie sie und alles mit ihr Zusammenhängende war.
Auch wenn ich alles wunderbar fand, musste ich schon konstatieren, dass es sich um ein außergewöhnliches und kurioses Verhältnis handelte. Dass wir uns gegenseitig sehr gern mögen mussten, tiefstes Vertrauen zu einander hatten, uns freuten, den anderen zu sehen, war doch nicht abzustreiten, aber wie verhalten sich Menschen, wenn es so eine Beziehung zwischen ihnen gibt und es sich dabei noch um einen Mann und eine Frau handelt? Kein Wort darüber verlieren und starke persönliche Distanz wahren? So konnten nur wir darauf reagieren. Die Tatsache, dass es mal betriebsbezogen begonnen hatte, konnte doch nicht über Jahrzehnte übliche menschliche Wahrnehmungs-, Reaktions- und Verhaltensweisen außer Kraft setzen, die Teilnehmer dies nicht einmal bemerken lassen, sondern ihnen noch das Empfinden glücklicher Zufriedenheit dabei vermitteln. Eine gestörte Beziehung? Unsinn, jede Art von Beziehung basierte auf den ihr individuell immanenten Gegebenheiten, aber was sich bei uns abspielte, war eine sonderbare Konstruktion, deren Entwicklung und Begründung mir verschlossen war. Einen Psychologen sollte man fragen, der würde einiges erklären können. Das tat ich aber nicht, ich fragte Rita, die kann auch sehr vieles erklären.
„Rita, wir kennen uns seit fast vierzig Jahren und mögen uns seit dem ersten Tag. Dass du eine Frau bist und ich ja offensichtlich ein Mann bin, hat dabei nie irgendeine Rolle gespielt. Wir haben es im Grunde gar nicht zur Kenntnis genommen. Findest du das nicht sehr ungewöhnlich? Wie und warum konnten wir das so sehen? Ich dachte, so etwas sei überhaupt nicht möglich. Ob das Gegenüber feminin oder maskulin ist, sei immer der erste zentrale Punkt der gegenseitigen Wahrnehmung. Haben wir da etwas, sicher unbewusst, verdrängt?“ fragte ich die ehemalige Kollegin. Die starrte mich nur grinsend an und sagte nichts. Mit unterdrücktem Lachen fragte sie: „Und was soll ich jetzt tun? Dir um den Hals fallen? Sollen wir uns küssen? Möchtest du, dass wir zusammen ins Bett gehen?“ und platzte los. „Ja, so hatte ich mir das eigentlich vorgestellt.“ reagierte ich, „Aber da ich ja weiß, um was für eine abgezockte Elfe und absolut coole Sau es sich bei dir handelt, hatte ich schon gewisse Schwierigkeiten mit einkalkuliert. Nein, ich möchte gar nichts, Rita. Ich sage nur, was mir neulich aufgefallen ist, als ich mir Gedanken darüber machte, um worin unsere Beziehung, wie sie sich gestalte und um was für eine Art es sich dabei handle. Ich habe einfach nur darüber nachgedacht, und da sind mir einige Kuriositäten aufgefallen, für die ich keine Erklärung hatte. Ändern will ich nichts, ich war nur manchmal sehr erstaunt.“ Bis tief in die Nacht redeten wir über Beziehungen allgemein, über Beziehungen zwischen Mann und Frau und über unsere Beziehung. Ein Gespräch, wie es überhaupt nicht in unseren üblichen Gesprächsrahmen passte, und wie wir es noch nie geführt hatten. Dazu sagte aber niemand etwas, es schien uns nur beide brennend zu interessieren, miteinander darüber zu reden. Rita schlief bei mir, im Gästezimmer selbstverständlich, weil es uns drängte, das Gespräch fortzusetzen, und nur zum Schlafen mitten in der Nacht mit dem Taxi nach Hause zu waren, hätte sich ein wenig albern ausgenommen. Wir redeten über die persönlichen Beziehungen zu unseren Ehepartnern, wie wir sie erlebt, interpretiert und die bedeutenden Elemente gesehen hatten. Alles absolut neu und ungewöhnlich. Kein Sterbenswörtchen hatten wir in der Vergangenheit darüber gewechselt. Nicht weil wir es uns untersagt hätten. Auf die Idee, über Derartiges miteinander zu reden, kam schlicht niemand. Es hätte nicht gepasst. Warum es jetzt zu passen schien und interessant sein sollte? Ein Rätsel mehr. Die Quintessenz unserer Gespräche, bezogen auf unser persönliches Verhältnis lautete, das Beziehungen primär emotional dominiert seien und wahrscheinlich ziemlich zu Anfang schon sich die Struktur unseres Konstruktes etabliert habe. Daran rational etwas ändern zu wollen, sei nach den langen Jahren positiver Erfahrung gar nicht mehr möglich. Warum berieten wir überhaupt über potentielle fiktive Änderungsmöglichkeiten, wenn sowieso keinem von uns beiden daran gelegen war?
Emotional etablierte Beziehungsstrukturen, die veränderungsresistent zu sein scheinen, das kannte ich sehr gut. Es war verteufelt mit meiner drei Jahre älteren Schwester. Solange ich mich erinnern kann, mochte ich sie nicht. Den Inbegriff einer widerlichen Ziege hatte sie für mich von klein auf symbolisiert. Sie petzte bei meiner Mutter und gab sich dabei als die mit ihr im Bunde über die Unmöglichkeit meines Verhaltens Beratende aus. Sie konnte sich mir nur in der Überheblichkeit gegenüber einem kleinen dummen Jungen zeigen, und was hassen kleine dumme Jungen mehr, als von einer nur wenig älteren Schwester überheblich und arrogant wie ein kleiner dummer Junge behandelt zu werden? Nichts auf dieser Welt. Sie wusste und merkte es, und machte sich einen Spaß daraus, mich in Rage versetzen zu können. Wo hatte sie das nur her? Wo hatte dieses kleine Mädchen so ein Verhalten gelernt, fragte ich mich später. Von meiner Mutter bei uns zu Hause jedenfalls nicht. Wahrscheinlich war ich das Hassobjekt, das ihr die alleinige Aufmerksamkeit und Zuwendung geraubt hatte. Vielleicht empfand das kleine Mädchen sogar die Unerträglichkeit, dass die Liebe ihrer Eltern jetzt vornehmlich mir, dem Neuen, Kleineren gehören sollte. Als Kind habe ich zu meiner Schwester nie ein positives Verhältnis entwickeln können. Wir gingen uns mehr und mehr aus dem Wege, trafen uns nur noch zu Weinachten bei meinen Eltern, ich hatte so gut wie keinen Kontakt mehr zu ihr. Natürlich war sie nicht mehr die mich Verpetzende, Überhebliche, aber wie ich sie als Kind gesehen hatte, stellte eine Basis dar, auf der ich sie mein gesamtes weiteres Leben eingeschätzt habe. Ich kannte sie eigentlich gar nicht mehr, aber wenn ich etwas von ihr hörte, konnte ich mit Sicherheit urteilen: „Das ist typisch Sylvia.“. Das Verhältnis zu meiner Schwester tangierte mein Leben überhaupt nicht. Erst als sie Kinder bekam, und sich ein inniges auf Gegenseitigkeit beruhendes Verhältnis zwischen Maren und den Kindern entwickelte, störte es mich. Maren verstand sich mit Sylvia prima und konnte mein distanziertes uninteressiertes Verhalten nicht nachvollziehen. Ich selbst ja im Grunde auch nicht. Sollte ich nicht mal mit Sylvia ein klärendes Gespräch führen und diesen Ganzen Kinderkram zu überflüssigen, störenden Relikten erklären? Und dann würden wir uns ab jetzt mögen und lieben? Unabhängig davon, dass sie voraussichtlich gar nicht wissen würde, wovon ich eigentlich spräche, wäre mein Glaube, dass sich durch ein Gespräch eine andere emotionale Sichtweise der Beziehung zu meiner Schwester ergeben würde, nichts als reiner Selbstbetrug. Dieses mein Bild war mir mir ja lästig, ich wollte es nicht mehr haben. Wie viel emotionale Kraft musste man aus einer herzlichen, liebevollen Beziehung zwischen Schwester und Bruder schöpfen können, für mich aber sollte das Illusion bleiben. Das auf der kleinen Ziege basierende Bild war nicht zu zerstören und ein anderes, das es hätte ersetzen können, blieb ein gedankliches Konstrukt, dem meine emotionale Einschätzung keine Beachtung schenkte. Lieben würde ich meine Schwester nie können, rational achtete ich darauf, dass meine Emotionalität nicht mit unsinnig Aversivem zum Zuge kommen konnte. Dass es nicht zwangsläufig immer so sein musste, dass ein einmal aufgenommenes Bild unveränderbaren Ewigkeitscharakter besaß, wusste ich auch, aber was wodurch in welchen Fällen die emotionale Sichtweise und vielleicht sogar noch rational intendiert beeinflussen konnte, schien wohl nicht einfach in einem Katalog nachschlagbar. Für das Verhältnis zu meiner Schwester hatte ich zum Beispiel nichts Passendes gefunden.
Rita meinte, unser Gespräch habe ihr keine Ruhe gelassen. Sie habe noch viel darüber nachgedacht. Wir seien zwar zufrieden und glücklich mit unserer Art von Beziehung, aber alles andere, was bei uns nicht vorkomme, sei ja kein überflüssiger Tand, es handele sich ja nicht um Spielereien, die wir beide für unser Leben nicht brauchten. Wir hätten das ja zum Teil nicht mehr, verzichteten notgedrungen darauf, weil wir keine Partner mehr hätten, und nicht weil wir unser Leben so angenehmer empfinden würden. Auf meine Nachfrage explizierte sie alle positiven Aspekte persönlicher Beziehungen, stellte ihre Auswirkungen dar und malte sie mit Beispielen aus. „Stell dir vor, ich wollte einen Liebhaber haben. Das müsste ja ein fremder Mann von draußen sein. Du wärst ja auf Grund unserer Beziehungsstruktur tabu. Empfindest du so etwas denn nicht als sehr sonderbar, um nicht zu sagen verrückt? Es mag Zeiten gegeben haben, in denen unsere Beziehungsebene richtig, sinnvoll und nützlich war, nur jetzt ist sie pervers, auch wenn keiner von uns den Wunsch verspürt, irgendetwas daran ändern zu wollen. Warum gehen wir nicht gemeinsam ins Theater oder ins Kino? Weil das früher mal zum Privatbereich gehörte, den man mit seinem Partner erledigte. Seit Jahren haben wir beide keine Partner mehr, aber versagen uns die Erfahrung und die Freude, die ein gemeinsamer Kinobesuch vermitteln könnte, weil es ja nicht in unser Konzept passen würde. Wir denken nicht mal an so etwas. Thomas, normal ist das auf keinen Fall. Unsere Beziehungsstruktur mögen wir beide als in Ordnung und fast gottgegeben empfinden, aber sie bedeutet auch das Festhalten an einem aberwitzigen unpassenden Konstrukt, das den derzeitigen Gegebenheiten in keiner weise gerecht wird.“ stellte Rita ihre Sicht dar. „Ich sehe es gar nicht völlig anders als du. Ich habe ja selber erklärt, wie verwunderlich sich manches für mich darstellt. Von außen betrachtet könnte ich sagen, wie schön müsste es sein, wenn sich die beiden lieben und ihr Leben miteinander teilen würden. Aber das kann doch nicht als Ergebnis einer gemeinsamen Beschlusslage funktionieren, dabei handelt es sich doch um emotionale Prozesse und die sind bei mir mit dem derzeit gegebenen zufrieden und nichts drängt sie zu Veränderungen. Selbstverständlich sollten wir gemeinsam ins Kino oder zu Veranstaltungen gehen. Eine gute Idee. Ein wenig unflexibel in unseren Gedanken sind wir sicherlich, das kann man ja ändern, aber dass sich an der Grundlage unserer gegenseitigen Wahrnehmung als Basis unserer Beziehung etwas ändern wird, kann ich mir nicht vorstellen. Darauf werden wir keinen Einfluss nehmen können und nach so langer Zeit erst recht nicht mehr. Sei nicht traurig, Rita, aber ich werde in dir mit ziemlicher Sicherheit nie mehr die attraktive begehrenswerte Frau sehen können, sehr schade eigentlich. Obwohl … .“ schloss ich scherzend. Wir lachten. Rita fragte launig: „Und was ist mit dem 'Obwohl', bitte sehr?“ „Ach je, Rita, das ist eine traurige, nein im Grunde sehr bequeme Geschichte. Mir will es so scheinen, als ob mit Marens Tod auch alle Frauen dieser Welt für mich gestorben seien, zumindest das erotisch Anregende und Begehrlichkeiten Weckende an ihnen. Als Maren noch lebte, gab es immer viel zu viel davon für mich, und jetzt kann mich nichts mehr animieren, keine Lust mehr. Praktisch zwar, aber so ganz zufrieden in meinem Alter schon lässt es mich auch nicht sein.“ Ich hatte es gesagt und erschrak. Was hatte ich denn Rita da erzählt. Wenn wir anfingen, auf dieser Ebene uns gegenseitig Storys zu vermitteln, würde die angenehme seriöse Struktur unserer Gespräche möglicherweise bald zu einem Palaver mit Gewäschaustausch von Plaudertaschen verkommen. Rita schien es gar nicht so aufzufassen. Sie fragte erstaunt nach und meinte, an dem Zusammenhang mit Maren sehe ich ja, wie sehr sich alle Libido primär über den Kopf entwickle. Ängste um meine männliche Sexualität solle ich mal lieber nicht entwickeln. Und im Übrigen sei sie die attraktivste und begehrenswerteste Frau in der ganzen Stadt, zumindest in ihrem Alter. Das wisse sie auch so, unabhängig davon, ob ich in der Lage sei, dies erkennen zu können oder nicht.
Mein Bezug zur Weiblichkeit hatte mich allerdings schon öfter ins Grübeln kommen lassen. Dass mich nach Marens Tod, andere Frauen zunächst nicht interessierten war selbstverständlich, zumal ich unsere Beziehung, unsere gemeinsame Nähe, unser gegenseitiges Verständnis und unsere Zuneigung noch nie so intensiv erlebt zu haben glaubte, wie in der letzten Zeit bevor sie mich verließ. Ich sah Maren, wie ich noch nie einen Menschen erlebt hatte. Als ob ich hundert zusätzliche filigranste Sensoren erhalten hätte, über die ich sonst nicht verfügte und für die Kombination und Koordinierung ein weiterer Bereich in meinem Gehirn eingerichtet sei. Das Wunder in ihrer Person, das, was man vielleicht als das Göttliche im Menschen ansehen oder bezeichnen kann, verdeutlichte sich mir. Diesem Menschen hätte ich nie mehr den geringsten Missfallen bereiten können. Ich nahm ihre Stimme wahr, wie ich sie noch nie gehört hatte. Natürlich hätte ich immer die Stimme meiner Frau erkannt, aber der wirkliche Klang ihrer Worte, erschloss sich mir erst, als mir bewusst wurde, dass ich sie bald nie mehr hören würde. Die schönsten Sinfonien waren es, die sie sprechend mit mir kommunizierte. Nicht selten verpasste ich den Inhalt, weil ich ihrem Klang lauschte. Wenn ich bei ihr auf dem Bett saß, konnte ich endlos träumend die Landschaften ihres Gesichtes betrachten. Wenn Maren mir dann ein Lächeln schenkte, zog sich mir die Kehle zusammen. Oberflächlich grob erschien mir meine Sicht in der Vergangenheit. Warum lässt man sich auf seinen liebsten Menschen nicht immer so tief ein, warum erst, wenn es feststeht, dass er bald sterben wird. „Lasst sie mir doch! Wir werden alles nochmal anders machen. Ganz anders, mit dieser unendlich teuren Frau, mit diesem wunderbarsten aller Menschen.“ hätte ich heulend schreien können, die unbekannten Mächte anrufend, die die finsteren Beschlüsse gefasst hatten, sie mir zu nehmen. Über viele Jahre war das Leben mit Maren für mich selbstverständlich, aber jetzt schien ich erst wirklich zu begreifen, was ich verlieren würde, einen wunderbaren Menschen, der mich liebte, eine herrliche Frau, die mich verstand und achtete und natürlich auch diese faszinierende Persönlichkeit, wie sie sich mir erst in dieser letzten Zeit erschlossen hatte. Vielleicht ist es auch der Eindruck ihrer letzten Tage, der es mir einfach macht, unsere gemeinsame Zeit in der Erinnerung ein wenig zu verklären. „Tom, es ist nicht gut für den Menschen allein zu sein.“ hatte Aletta gescherzt, als sie mich nach zirka einem Jahr darauf ansprach. Aletta ist meine ältere Nichte. Sie hatte, wie ihre zwei Jahre jüngere Schwester Géraldine auch, seit ihren ersten Kindertagen ein besondere Verhältnis zu Maren, meiner Frau. Ob es daran lag, das Maren eigentlich sehr gern selbst Kinder gehabt hätte, weiß ich nicht richtig. Sie hatte damals nach zwei Untersuchungen alles weitere abgelehnt. Sie wolle sich nicht auf's Kinderkriegen kaprizieren. Sie habe schließlich fast dreißig Jahre ohne eigene Kinder glücklich gelebt, das werde sie jetzt nochmal tun und dann wolle sie auch bestimmt gar keine mehr. Die beiden waren fast ständig bei uns. Ein zweites Zuhause stellten wir für sie sicher dar. Für meine Schwester und ihren Mann bedeutete es eine starke Entlastung, und sie wussten sie bei Tante Maren glücklich und gut aufgehoben. Ich sah es so, dass ihre emotionale Heimat bei uns lag. Das ist bis heute so geblieben und daran hat sich auch durch Marens Tod nichts geändert. „Gérri meint auch, du solltest dich mal um 'ne Freundin kümmern. Früher haste Maren oft weh getan damit, jetzt würde sie es dir bestimmt wünschen, aber du versauerst hier. Wie kommt das denn eigentlich? Wir hatten gedacht, du würdest vom Friedhof weg sofort mit einer neuen Frau losziehen, aber du machst hier einen auf Zölibat.“ meckerte Aletta. Ich wusste dazu doch auch nur zu sagen, dass ich keinen Bedarf verspürte. So war es ja aber früher auch nicht gewesen, das ich irgendein Bedürfnis nach anderen Frauen gehabt hätte. Nur wenn man im Gespräch beim Wein gegenseitiges Interesse zu spüren schien, begann mein Gehirn sich anders zu falten und die Entscheidungsprozesse verliefen auf anderen als den gewöhnlichen Bahnen. Dem Vorsatz 'Du wolltest das doch nicht mehr tun.' die ihm gebührende Geltung zu verschaffen, fiel dann äußerst schwer. Aber es fiel mir auch schon schwer, die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs mit einer Frau, die mein Gefallen fand, auszulassen, gleichgültig ob sich daraus etwas ergeben würde. Das existierte heute alles nicht mehr. Eine Frau war für mich ein üblicher anderer Mensch und genoss keine irgendwie gearteten besondern Sympathien, die aus ihrer Weiblichkeit resultierten. Warum alles plötzlich anders war, konnte ich nicht erklären. Es erstaunte mich nur und war in gewisser Hinsicht sehr praktisch. „Du kennst doch genug Leute, Tom, daran kann's doch nicht liegen. Du musst ja schließlich nicht mit 'ner Frau zusammen leben. Gérri lebt ja auch allein, aber bei dir fände ich es schon sehr sonderbar. Wenn sich das nicht ändert, würde ich an deiner Stelle doch mal jemanden um Rat fragen.“ hatte Aletta noch in Sorge um meine psychosoziale Disposition vorgeschlagen. Aletta besuchte mich noch häufiger als Géraldine, aber meistens sprachen sie sich ab und kamen beide. Es waren keine Besuche, sie kamen nach Hause, und so verhielten sie sich auch. Ich benötigte eigentlich keinerlei Hilfe, aber sie regelten alles. Kauften für mich mit ein, putzten und kochten, wenn sie da waren, zu Hause war man ja schließlich nicht zum Couch platt sitzen und Kaffee trinken. Wenn Gèrri wieder einen neuen Freund hatte, es handelte sich jedes Mal um den ultimativ optimalen Lebenspartner, musste der natürlich ziemlich bald Tom kennen lernen, und für Alettas süßen Kinder war ich der Opa Tom oder Tommy. Im Grunde war das Verhältnis zu den beiden nicht viel anders als zu eigenen Kindern. Ich empfand es sogar angenehmer, da es mir offener und freier vorkam, weil ihm diese elterliche Verantwortung und Verpflichtung fehlte. Die Beziehung war ebenbürtiger.
Aletta und Géraldine wussten zwar, dass ich mich ab und an noch mit einer alten Bekannten aus dem Betrieb traf, aber als Rita häufiger zu mir kam, begegnete man sich auch öfter. Jetzt wollten beide in stundenlangem Verhör unsere Beziehung genauestens erläutert haben. Trotzdem konnten sie es nicht fassen und verstanden es nicht. Beide mochten Rita, obwohl man sich nur aus wenigen kurzen Gesprächen beim Abendessen oder Kaffeetrinken kannte. „Tom, wenn ich etwas nicht verstanden hatte, hast du es mir immer erklärt und ich konnte es verstehen.“ erläuterte Géraldine, „Nur was du mir jetzt erklärt hast, von dem habe ich nichts verstanden. Ich habe gehört was du gesagt hast, aber mein Bauch lehnt es ab, er will kein Bild daraus machen. Das kann alles nicht sein. Es mag euch ja gefallen, aber was ihr betreibt ist pervers. Sei doch einfach mal du selbst. Der gleiche, der du sonst auch immer bist und nicht so eine verdrehte Gestalt aus der Firma, dessen Rolle du in eurer Beziehung spielst.“ „Ja ich denke auch, dass ihr da so etwas wie festgelegte Rollenbilder tradiert. Und in denen kann nicht vorkommen, das Rita eine wunderbare Frau ist, die hervorragend zu dir passen könnte.“ pflichtete Aletta dem bei, „Das ist sehr schade für dich, Tom. Willst du dir nicht mal Gedanken darüber machen, ob du nicht doch Interesse daran haben könntest, an eurem Verhältnis etwas ändern zu wollen?“
Nein ich wollte nicht. Obwohl sich so zu verhalten, als ob überhaupt keine Diskussionen stattgefunden hätten, ein Zurück zum ex ante konnte es auch nicht geben. Ich hatte nie Veränderungen intendiert oder als wünschenswert erachtet, und nun sollte sich my poor old little brain davon verwirren und martern lassen? Im Allgemeinen hatte ich nicht die Vorstellung, das der Inhalt meines Köpfchens arm und hilfsbedürftig sei, ich bewunderte ihn eher für alles, was dort Platz finden konnte. Millionen oder sogar Milliarden von Bildern mussten sich darin versammeln. Kein Museum der Welt wäre groß genug, sie alle ausstellen zu können. Vom assyrischen Streitwagen bis zu meiner Kinderlieder singenden Mutter. Alles was brauchbar oder überfüssig war. Alles gab es da. Was wollte ich von Streitwagen, aber ich konnte sie nicht rauswerfen, es tummelten sich sogar noch mehrere davon. Die Schlacht zwischen Hethitern und Ägyptern bei Kadesch war hauptsächlich mit Streitwagen geführt worden, und dass Alexander der Große die gefürchteten persischen Streitwagen des Königs Dareios in der Schlacht von Gaugamela ausgetrickst hatte, wollten meine grauen Zellen auch nicht wieder streichen. Und dann gab es noch die griechischen, die friedlich 'zum Kampf der Wagen und Gesänge' bei den isthmischen Spielen in Korinth eingesetzt wurden. Das wusste ich aber nur aus zweiter Hand von Schiller, und ob dessen Griechenland eher vor zweitausend Jahren auf dem Balkan stattgefunden hatte oder doch näher in der Gegend um Weimar positioniert war, wusste man nicht und wollte es auch nicht so genau wissen. Was sollte ich mit diesem ganzen Streitwagenplunder, von dem es bestimmt noch einmal doppelt so viel in den meinem Bewusstsein augenblicklich nicht präsenten Bereichen meines Gehirns gab. Das musste ich doch nicht alles wissen, um bei Anwendung des Begriffs Streitwagen sofort entscheiden zu können, dass es sich dabei nicht um ein probates Einsatzmittel im Ehestreit zwischen Herrn und Frau Neugebauer handelte. Ob ein Bild hängen bleiben, oder verschwinden sollte, darauf hatte ich so gut wie keinen Einfluss. Es war eigentlich ja auch beliebig. Wertvolles war ja letztendlich gar nicht darunter. Ich hatte von Schillers Bild noch einmal auf mein eigenes umkoloriert. Aber wie war es denn bei den anderen? In einem Streitwagen gekämpft hatte ich noch nie, auch keine Einsätze beobachtet. Ich hatte noch nie einen einzigen Streitwagen gesehen. Alles nur Fakes. Ansammlungen von Imitaten, Surrogaten und Imaginationen waren es, was sich da in meinem Kopf befand. Wer sollte sich so etwas in einem Museum anschauen wollen. Ich sollte lieber froh sein, dass es die Möglichkeit gab, diese Unmengen von Müll auf kleinstem Raum in meinem Kopf zu verbergen.
„Tommy, Tommy, du spinnst dir immer etwas zusammen. Du machst mir Angst.“ sagte Rita zwar, als ich ihr von den neuesten Vorstellungen zu meinem Gedächtnis berichtete, sie sah mich aber mit einem breiten Grinsen an und ihre Augen lachten auch. „Was möchtest du denn gerne in deinem Kopf haben? Was sollte sich denn nach deinen Vorstellungen darin befinden? Real existierende Kleiderschränke, die keine Imaginationen sind, etwa? Tom, etwas anderes, als was deine Sinne wahrnehmen, kann sich doch darin nicht befinden, und was deine Wahrnehmung mit den Impulsen von Auge und Ohr zum Beispiel macht, hat mal bei fast Null angefangen. Darauf, dass du das Gesicht deiner Mutter aus den von den Augen übermittelten Reizen erkennen konntest, hat alles weitere was du sehen und erkennen kannst sich aufgebaut. Die Erweiterung und Ausgestaltung ist das, was du immer wieder auf der Basis des Bestehenden hinzugewinnen und umstrukturieren konntest, Tag für Tag. Das ist dein Leben. Wie du mich heute siehst, dazu steht dir deine Geschichte zur Verfügung, du selbst spiegelst dich darin wieder. Die Bilder sind keine Imitate, sondern um deine eigenen Gemälde handelt es sich, wie du sie zu bestimmten Zeiten deiner Entwicklung anfertigen konntest. Sie sind das, was deine Geschichte, dein Leben, das, was du heute bist, deine Identität ausmachen. Zu dem du sagen kannst: 'Ich, Thomas', und das es so kein zweites Mal gibt.“ Rita lächelte, jetzt freundlich milde, schaute zum Fenster nach draußen und smilte sinnierend, träumend weiter. Sie schaute zurück und lächelte mich wieder intensiver an. „Was ist?“ fragte ich. „Mhm, mhm, das kann ich nicht sagen. Es ist aber bestimmt nichts Böses, das Gegenteil eher.“ antwortete Rita und legte mir ihre Hand auf meinen Handrücken.
Ob ich an unserer Beziehung etwas ändern wollte, warum sollte ich mir denn etwas dazu überlegen? Es geschahen ja permanent Änderungen ohne intentionale Aktivitäten oder Einflussnahmen meinerseits. Schon nach relativ kurzer Zeit gingen wir nicht mehr mal gemeinsam ins Theater, sondern es erweckte ehr den Eindruck, dass wir beide nach Events suchten, an denen wir gemeinsam teilnehmen konnten. Niemals in meinem Leben, war ich so häufig im Kino gewesen, wie jetzt. Dann las man sich natürlich noch die Kritiken vorher im Netz durch, damit man ein wenig detaillierter und qualifizierter darüber reden konnte. Aber nicht nur zu Mini-Cineasten hatten wir uns entwickelt, wir schienen insgesamt kulturell aufgeblüht und liebten es auch, uns gemeinsam entsprechendes im TV anzuschauen. Im Grunde hatte dadurch allein schon unsere Beziehung ein ganz anderes Gesicht erhalten. Aber nach und nach änderte sich noch vieles mehr. Sehr häufig war Rita jetzt bei mir, natürlich auch, weil es mehr Möglichkeiten gab, als sich beim Kaffee gemeinsam zu unterhalten. Mir kam es so vor, dass Aletta, Géraldine und Rita großen Wert darauf legten, sich bei mir zu treffen. Bestimmt sprachen sie sich ab. Ein Abendessen mit Aletta oder den beiden ohne dass Rita auch anwesend war, gab es bald nicht mehr. Es war ja wunderbar und gefiel mir sehr, wenn wir alle zusammen waren, nur ob Aletta und Gérri wohl irgend welche Intentionen uns beide zu verkuppeln damit verbanden? Bestimmt. Es amüsierte mich nur. Befürchtungen, dass ich mich in Rita zu verlieben hätte, weil die beiden es so für das Sinnvollste hielten, quälten mich nicht.
Durch Ritas häufige Aufenthalte bei mir, war sie nicht nur stärker in den Tagesablauf und das Haushaltsgeschehen bei mir eingebunden, bei ihr selbst zu Hause schien vieles langsam zu schrumpfen. Von ihren beiden Tageszeitungen zum Beispiel hatte sie eine abbestellt, die andere kam jetzt zu uns. Sie war ja sowieso fast jeden Tag bei mir. Wir hatten zu Beginn unserer gemeinsamen Treffen auch mal versucht, uns in ihrer Wohnung zu treffen, aber es hatte uns beiden nicht sonderlich gefallen. Die Atmosphäre in unserem Haus sagte uns mehr zu. Neuerdings bevorzugten wir es, bei erträglichem Wetter uns spazieren gehend zu unterhalten. Zunächst, weil Bewegung und frische Luft uns beiden ja gut tun würde, aber es ließ sich einfach nicht übersehen, dass es auch wesentlich mehr Spass machte. Worüber wir sprachen? Unsere alten Bereiche und Strukturen existierten nicht mehr. Jetzt kam es mir vor, das wir wirklich über alles reden konnten. Viel erkundigten wir uns nach dem Leben des anderen, Ereignissen aus seiner Kindheit und Jugend, seinem Studium und seinen Liebesgeschichten. Davon wussten wir ja überhaupt nichts. Jetzt konnten wir nicht verstehen, dass es uns früher gar nicht interessiert hatte.
„Also, mit deinem Gedächtnis, da kommst du doch jetzt auch klar, oder? Nur dieser Komplex mit den assyrischen Streitwagen der will sich mir als Außenstehenden überhaupt nicht erschließen. Ich weiß ja nicht, was sie dir tatsächlich bedeuten, aber manchmal ist es einfach so, dass da noch irgendetwas offen geblieben ist, das dein Bewusstsein gar nicht direkt erkennen kann. Das dir deine Kinderliedder singende Mutter einfiel, ist ja o. k., aber als zweites ausgerechnet diese Streitwagen. Bedeutungslos kann so etwas eigentlich nicht sein. Du solltest dich doch nochmal intensiver mit assyrischen Streitwagen befassen. Und wenn du dann alles dazu erforscht, alles darüber gelesen hast, wirst du das Kapitel befriedigt abschließen und das Buch 'Assyrische Streitwagen' in deinem Gedächtnis beruhigt zuklappen können.“ musste Rita mich wissen lassen. Mit Maren glichen derartig provokante Neckereien immer einer Art Liebesaufforderung. Es kam zu Rangeleien, Liebkosungen und nicht selten landeten wir anschließend im Bett. Ohne gegenseitige Berührung lief es nie ab. Und jetzt? Sollte ich Rita für ihr launiges Mich-ärgern-wollen knuffen oder kitzeln? Ach wo, das konnte ich nicht und wollte ich nicht. Ich konnte nur schmunzeln und launig verbal darauf reagieren. Wir hatten kein Problem uns gegenseitig zu berühren, wir umarmten und küssten uns ja auch zu Begrüßung und Abschied, nur Berührungen, die mit liebevoller Zuneigung in Verbindung gebracht werden konnten, schienen uns zuwider oder zumindest doch verboten zu sein. Trotzdem bereiteten uns die verbalen Neckereien vermehrt Freude.
Beim Abendbrot unterhielt man sich über Urlaubspläne. „Und wo wollt ihr dieses Jahr hin?“ erkundigte sich Gérri keck mit einem leicht anklingenden Grinsen. „Also ich fahre ...“ begann ich und konnte nicht fortfahren. Alle Augen starrten mich gespannt lauernd an, als ob sie eine ungeheuer lustige Erklärung erwarteten. „Wo willst du denn wohl hinfahren, Tom? Fahr nach Sibirien, dort gibt es riesig große Wälder, in denen du ganz unendlich allein sein kannst. Man, Frau Meyer und Frau Schulz, die einmal in der Woche Rezepte austauschen fahren gemeinsam in Urlaub, und ihr beiden, die die dicksten Freunde seid, dürft das nicht? Muss man da noch ein Wort drüber verlieren, für welch abstruse Gedankenproduktionen ihr eure Köpfe missbraucht?“ bekam ich es von Aletta erklärt. Obwohl sie ja uns beide angesprochen hatte, schien Rita sich überhaupt nicht tangiert zu fühlen. War sie selbst davon ausgegangen, dass wir beide gemeinsam in Urlaub fahren würden? Hatte sie sich eventuell mit Aletta und Géraldine abgesprochen? Steckten sie unter einer Decke? Hatte ich mich im eigenen Hause gegen ein Komplott von drei Frauen zu wehren? Was sie sonst noch wohl alles gegen mich ausheckten oder schon ausgeheckt hatten? When shall we three meet again? Aber ich liebte die Hexen ja, alle drei und war mit ihnen äußerst glücklich, obwohl ich schon manchmal empfand, nicht mehr ganz Herr im Hause meiner eigenen Geschichte zu sein.
Rita und ich planten jetzt unseren gemeinsamen Urlaub, ausgesprochen kurios mutete es mich zunächst an, aber als wir mehr und mehr über unsere Wünsche und Vorstellungen sprachen, war das schnell verflogen. Ich hatte immer davon geträumt, noch mal wieder nach Griechenland zu fahren. In ganz jungen Jahren war ich einmal dort gewesen. Damals war ich traurig, dass die Griechen die Schätze ihrer Geschichte so wenig zu achten schienen. Dem Taxifahrer hatten wir auf der Karte zeigen müssen, wo sich das alte Olympiastadion befand, und es war tatsächlich halb verwildert. Heute musste es wohl sehr viel anders sein, und ich hatte Angst vor zu großen Touristenmassen im Sommer. Meine Affinitäten zu Griechenland beruhten zwar nicht auf den Festspielen mit Streitwagenkämpfen, aber von Schiller war es schon ausgegangen. Dass er das klassische Griechenland benutzte, um seine Gedanken- und Wertewelt zu vermitteln, war mir damals weder aufgefallen noch hätte es mich interessiert. Ich liebte die wunderbaren Balladen, die in Griechenland verortet waren, aber nicht deshalb. Während der Pubertät konnte ich mich an der Theatralik der Sprache endlos ergötzen.
„Da reißet
die Brücke der Strudel hinab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölbes krachenden Bogen.“
aus der Bürgschaft zum Beispiel. Da konntest du zu Hause im Sessel sitzen, und die Augen schließen. Du brauchtest nur den Worten zu lauschen und hattest das Bild, direkt dabei zu sein, am wild tosenden Strom zu stehen und ihn die Brücke zerkleinern zu sehen. Griechenland übte allerdings schon eine gewisse Faszination aus. Die anderen Balladen konnten mich nicht in gleicher weise beeindrucken. Nur was ich bis dahin über Griechenland und die griechische Geschichte wusste, war ja viel zu dürftig, um die Hintergründe und Zusammenhänge sehen zu können. Dass Schillers Geschichte von Damon, dem Tyrannenmord planenden Gesellen, erst durch Cicero an den Hof des Tyrannen Dionysos von Syrakus verlegt worden war, und wer dieser Dionysos überhaupt war, das musste ich ja schon wissen. Aber erst Korinth. Die Festspiele standen denen von Olympia kaum nach, und was da sonst noch alles geschah. Der Artemiskult fand bei dem frisch pubertierenden jungen angehenden Mann besondere Aufmerksamkeit. Dass man in erotischen, sexuellen Kontakten Assoziationen in Bezug zur Verehrung einer Göttin herstellen konnte, leuchtete mir auch in späteren Jahren noch sehr gut ein. Aber da gab es ja auch noch Medea mit ihrem Jason und der ganzen Argonautenfahrt, und vieles mehr allein in Korinth und in Beziehung dazu. Eine unbegrenzte Welt hatte sich eröffnet, die eine Jahre andauernde graecophile Phase auslöste. Ein Ende fand sie erst, als mich die Beschäftigung mit den griechischen Dramen allmählich zum allgemeinen Interesse für Dramaturgie und Literatur der Neuzeit führte. Ich glaubte immer noch Einiges zu wissen über Griechenland, mein Herz war immer ein wenig dort geblieben, und ein Urlaub dort hätte für mich eine wunderbare Erinnerung an intensive und glückliche Zeiten meiner eigenen Geschichte bedeutet. Rita schaute mich milde freundlich lächelnd an, als ich davon erzählte. „Selbstverständlich.“ erklärte sie nach einer kurzen Pause, „Selbstverständlich fahren wir nach Griechenland. Du wirst mir alles zeigen und erklären, was du weißt. Außer den Relikten des Geschichtsunterrichts ist da nämlich bei mir nichts. Vielleicht bricht bei mir dann ja auch eine graecophile Phase aus. In Griechenland war ich auch schon mal, in Mykonos. Aber der Stern ist dort für mich untergegangen. Mediterrane Touristenidylle, das brauche ich nicht.“
Vier Wochen lang verbrachten wir jeden Tag gemeinsam. Kein Reiseunternehmen, keine Touristikagentur dirigierte uns zu vorgeben Sehenswertem, wir suchten uns persönlich aus, was wir unternehmen wollten, und erreichten unsere Ziele mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zum Teil mit einem Taxi. Wundervoll, wir hätten immer so weiter leben können. Rita sprach es an: „Thomas, es gefällt uns wunderbar, wie wir jetzt im Urlaub leben. Warum gönnen wir uns so etwas nicht zu Hause? Wozu brauchen wir dort unsere getrennten Privatleben? Wirst du etwa morgen die Absicht haben, eine fremde Frau kennenzulernen und sie zu dir ins Haus holen wollen? Gibt es irgendetwas, wobei ich dich stören würde? Warum sollten wir nicht zu Hause genauso leben können, wie jetzt auch hier?“ „Als wir zum ersten Mal über die Kuriositäten unserer Beziehung gesprochen haben, waren wir der Überzeug, es ließe sich sowieso nichts daran ändern, weil es eine zu lange Geschichte habe und emotional zu fest verankert sei. Jetzt hat sich fast alles verändert, obwohl wir es ja im Grunde gar nicht wollten, weil uns das frühere gut gefiel. Sind wir heute etwa weniger glücklich? Das Gegenteil trifft doch wohl eher zu. Warum stehen wir Veränderungen immer so reserviert gegenüber? Können wir uns kein Bild von dem machen, was uns erwartet, weil wir es nicht kennen? Müssen wir Veränderungen immer erst unbeabsichtigt erfahren, um erkennen zu können, wie vorteilhaft sie sind? Natürlich sollten wir zusammen wohnen. Und etwas ganz Kühnes habe ich auch noch zu verkünden. Ich werde dich nämlich ab sofort immer streicheln, wenn du mir Lust darauf machst.“ stellte ich meine Ansicht dar. Rita lachte wegen des Schlusses laut auf. Dann wurde sie still und lächelte mich an. Sie nahm ihre rechte Hand und ließ sie ganz langsam sanft über meine linke Wange gleiten. Zum Abschluss bekam ich noch einen von einem breiten freundlichen Lächeln begleiteten kleinen Stups auf die Nasenspitze. „Aber Tommy, so ist das nun mal. Was wirst du anderes erwarten können, als was bei dir schon vorhanden ist. Mehr oder anderes steht dir nicht zur Verfügung. Und deine Wünsche und Befürchtungen erklären dir, was du sehen willst und wahrscheinlich dann auch wirst. Es fällt dir äußerst schwer, etwas Neues als solches zu erkennen und zuzulassen. Vielleicht ist es ein guter Schutz vor chaotischem zusammenhanglosem Wahrnehmen und Denken. Aber manchmal kann es eben auch sehr stören und behindern.“ in derart sibyllinisch anmutenden Redewendungen äußerte sich Rita häufiger. Wenn meine Neugier auch einerseits gern gewusst hätte, woran sie dabei konkret dachte, was ihr vorschwebte, liebte ich andererseits auch das leicht Rätselhafte. Es zu zerstören, in dem ich konkret nachfragte, und Rita ja auch nur das sagen würde, was sie mich wissen lassen wollte, gefiel mir nicht. „Tommy, was denkst du, werde ich in deinen Erinnerungen, in deiner Geschichte eine Chance haben gegen die Streitwagen, die Schiller an den isthmischen Spielen teilnehmen ließ? Könnte mir da vielleicht ein höherer Rangplatz zukommen. In Korinth waren wir ja schließlich auch lang und ausgiebig, und unsere Festspiele dauern doch sogar schon vier Wochen lang. Wir haben zwar nicht Gewinner im Kampf gegeneinander ermittelt, sondern auf einem höheren Level entschieden, gemeinsam zu agieren. Zu dem haben wir in Griechenland das lästige Gestrüpp des Noli me tangere beseitigt. Wirst du das als etwas Bedeutsames anerkennen, und diesem Bild einen würdigen Platz im Museum deiner memorierten Gemälde zukommen lassen?“ fragte Rita mit schelmischem Lächeln. Jetzt war mir eher danach, sie zu küssen als sie zu streicheln. Ich tat weder das eine noch das andere, sondern erklärte: „Rita, meine Liebe, das Bild wird zentral im Foyer in einer extra dafür angefertigten Vitrine zu bewundern sein. Bei jedem Besuch des Gedächtnisses wird der erste Blick darauf fallen. Im Moment kann ich die Details des Bildes nur noch nicht genau entziffern. Ich meine dich triumphierend in Siegerpose in einem korinthischen Streitwagen zu erkennen, und wenn ich es richtig sehe, wirfst du mit der linken Hand verächtlich Sträuße von Mimosen und des Kräutchens Rühr-mich-nicht-an zur Erde nieder. Würde das in etwa deinen Wünschen an mein Erinnerungsvermögen gerecht werden?“ Jetzt bekam ich einen Kuss auf die Stirn. „Thomas, ich freue mich. Ich denke, es wird uns glücklich sein lassen. Wir werden viel Spaß haben und häufig lachen können. Es wird eine schöne neue Zeit werden.“ brachte Rita ihre Vorfreude zum Ausdruck.
Aletta und Géraldine reagierten unabhängig voneinander mimisch absolut identisch, als ich sie über unsere Absicht, zusammen zu leben, informierte . Sie schauten mich an, nahmen einen tiefen Luftzug und bliesen ihn hörbar bei breitgezogenen Lippen erleichtert wieder aus. „Na endlich, hat das gedauert, war das ne schwere Geburt.“ Etwas in dieser Richtung musste dabei wohl gedacht werden. Alettas Bemerkungen dazu ließen auch derartiges vermuten: „Ich sag da gar nichts zu. Ich finde es nur absolut richtig, toll und wunderbar für euch. Was war, ist Vergangenheit, Geschichte, es interessiert mich nicht mehr. Ab jetzt zählt nur, dass ich mich mit euch freue.“ Géraldine starrte mich nach dem erleichterten Ausatmen kurz grinsend an, fiel mir um den Hals, und ich bekam überall hin Küsse von ihr. „Den Beginn derartiger neuer Äonen kann man wohl nur in Griechenland selbst beschließen. Ich muss da auch unbedingt mal hin. Tom, irgendwann wirst du letztendlich immer das Richtige tun. Ich kenne dich. Ich weiß das genau und ich liebe dich. Eine wunderschöne Vorstellung, dass in Zukunft immer ihr beide hier sein werdet.“ freute sich Gérri für uns und fuhr fort, „In bestimmter Hinsicht gefällt mir deine Beziehung zu Rita außergewöhnlich gut. Vielleicht liegt es ja einfach nur daran, dass du älter und vernünftiger geworden bist, aber ich finde ihr geht bewundernswert respektvoll miteinander um. Ich könnte mir vorstellen, wenn ich in einer Beziehung dauerhaft einen derart respektvollen Umgang mit meinem Partner hätte, würde sie ewig halten. Vielleicht ist so etwas hinterher viel kostbarer und wichtiger als die Relikte der anfangs überschwänglich stürmisch begeisterten Liebe. Auf Dauer nimmt der andere an Wert für dich ab, und entsprechend behandelst du ihn, gestaltest deinen Umgang mit ihm, und das ist tödlich. Ein Mensch kann nie minderwertiger werden, wenn du ihn danach bewertest, wie er in der Lage ist, deine amourösen und erotischen Bedürfnisse zu befriedigen, hat das im Grunde von Anfang an mit Respekt gegenüber dem anderen nicht viel zu tun.“ kam Gèrri ins sinnieren. „Liebste, am besten schaust du dir immer genau an, was bei uns läuft, überträgst es auf deine Beziehung, und du kannst sicher sein, dass nichts auf dieser Welt die endlose Dauer deines erfüllten Glücks je wird stören können.“ reagierte ich. Gerri zog eine breit grinsende Schnute, kniff mir in die Backe und begab sich zu den anderen in die Küche.
Körperliche Berührungsfragen hatte es zwischen den beiden Mädels und mir nie gegeben. Ich hatte ihnen als Babys die Windeln gewechselt und ein körperliches Verhalten wie zwischen Eltern und Kindern war immer selbstverständlich geblieben. Erotische Empfindungen hatte es nie gegeben. Sie waren ja erwachsene Frauen, aber bei ihnen nahm ich das auch nicht wahr. In der Pubertät war mir natürlich aufgefallen, wie die kleinen Mädchenkörper allmählich weibliche Formen annahmen, aber eher amüsiert betrachtend, mit erotischen Begehrlichkeiten hatte es überhaupt nichts zu tun. Allerdings das äußere Erscheinungsbild, die weiblichen Formen waren für mich auch nie Anlass oder Ausgangspunkt für erotisches Interesse. Natürlich gefiel mir die Schönheit des weiblichen Körpers, aber ob eine Frau größere Brüste oder einen dickeren Hintern hatte, bedeutete mir nichts. In der Regel nahm ich es überhaupt nicht zur Kenntnis. Für die Werbung nach dem 'Sex sells'-Prinzip wäre ich wahrscheinlich immer schon der denkbar schlechteste Ansprechpartner gewesen. Ich habe mich natürlich auch selbst gefragt, was mich denn bewegen könnte. Mit Sicherheit ist es der Gesamteindruck, in den ich mich Begeisterndes hinein interpretieren kann. Welche Persönlichkeit meine Wahrnehmung den von den Augen vermittelten Reizen zuordnet. Ich sehe eine Frau und denke, wie interessant es wohl sein muss, sich mit ihr zu unterhalten. So ein Unfug eigentlich. Aber völlig daneben gelegen habe ich nur sehr selten. Das erotisch sexuelle Interesse entwickelt sich bei mir sehr indirekt auf sozial-kommunikativen Wegen. Nach dieser Theorie müsste ich an Rita sexuell total interessiert sein. Aber jetzt regte sich ja schon seit Jahren sowieso überhaupt nichts mehr. Vielleicht waren in Hypothalamus und Hypophyse ein paar Hebel umgelegt und die Testosteronproduktion endgültig eingestellt worden. Das ging glaube ich mal eher so nicht. Aber sonderbar kam es mir schon vor mit damals siebenundfünfzig, als es mir auffiel. Nur mir fehlte ja nichts, eine Frau hatte ich nicht und wollte ich auch nicht, wozu sollte ich da was behandeln lassen. Jetzt stellte sich die Situation ein wenig anders dar. Ich wünschte mir ja schon, dass mich Rita erotisch sexuell interessieren würde. Ob Rita es sich auch wünschte, was es ihr bedeuten würde, und wie sie darüber dachte, ich wusste es nicht genau. Obwohl wir über alles sprachen, darüber nicht. Zu wissen, wie gern es Rita gesehen hätte, wenn wir zwei auch die Nächte miteinander verbringen würden, änderte an meiner Disposition überhaupt nichts, es hätte mich höchstens noch zusätzlich frustriert. Zu den von ihr damals benannten positiven Aspekten persönlicher Beziehungen, die es zwischen uns nicht gab, gehörten jedoch Körperlichkeit und Sexualität auch dazu. Ich ging zum Arzt. Nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Alle physiologischen Werte, die eventuell mit dem Sexualtrieb in Zusammenhang gebracht werden konnten, voll im Mittelfeld. Organisch könnte mein Verhältnis zum Sexuellen keinesfalls begründet sein, es könne sich nur im Psychischen abspielen, wie in der weitaus überwiegenden Anzahl der Fälle. Da könne mir nur ein Psychotherapeut eventuell helfen. Wieso eventuell? Na ja, der setze ja auch nicht eine sexualdiagnostische Brille auf und erkenne: „Da liegt das Problem.“. Der Therapeut stelle ja auch nur, zwar fundierte, aber eben doch nur Hypothesen auf. Selbst wenn die Diagnose absolut zutreffend sei, wie ich dann auf die durchzuführenden Therapien anspreche, sei noch einmal wieder völlig offen. Alles basiere eben nur auf Erfahrungsmittelwerten. Trotzdem ging ich zum Psychotherapeuten, einen dritten Weg gab es ja nicht. „Das hängt mit ihrer verstorbenen Frau zusammen.“ erklärte der mir gleich in der ersten Sitzung, „Sie lieben sie immer noch über alle Maßen, und jede fremde Frau muss da rausgehalten werden. Warum sich das bei ihnen so verfestigt und diese spezielle Form angenommen hat, kann ich ihnen jetzt allerdings auch noch nicht sagen. Vielleicht haben sie ihr gegenüber irgendwelche Schuldgefühle oder dergleichen. Das wird man noch näher zu analysieren haben.“ Oh je, vielleicht hatte er ja Recht, bestimmt hatte er Recht. Schön zu wissen, dass es mit Maren zusammenhing, aber mein ganzes Leben mit Maren noch mal wieder aufarbeiten, das war zu viel für mich. Das wollte ich nicht, ich wollte meine Erinnerung ja auch so behalten und ertragen können hätte ich es auch nicht. Da würde ich lieber weiterhin mit Rita in getrennten Betten schlafen. Wir waren fast vierzig Jahre glücklich miteinander, ohne je einmal zusammen im Bett gelegen zu haben, warum sollte das morgen plötzlich nicht mehr so sein? Es war ja sowieso nicht primär meine eigene Motivation. Ich stellte mir nur theoretisch vor, dass es schön sein könnte. Ein Bedürfnis oder Verlangen drängte mich selber nicht. Ich war nur zum Arzt gegangen, weil ich der Annahme war, es könnte unsere Beziehung positiv beeinflussen, wenn Rita dadurch glücklicher sein würde.
Als ich mit Aletta über meine Arzt- und Psychotherapeutenbesuche sprach, und ihr erläuterte, das meine jetzigen Probleme an meiner Liebe zu Maren festgemacht werden sollten, meinte sie: „Ich habe es immer so gesehen, dass ihr eine ganz innig tiefe Beziehung hattet. Auch wenn ihr euch so oft gestritten habt, das konntet ihr nicht verbergen. Bei uns zu Hause gab's keinen Streit, aber hier war die Atmosphäre trotzdem immer viel wärmer und freundlicher. Ich habe mir es immer so vorgestellt, wenn die Milliarden Menschen alles Teile von einem Puzzle bildeten, dann wärt ihr zwei diejenigen aus der ungeheuren Menge, die genau zueinander passtet. Mit deinen Frauengeschichten, das hat mir auch sehr weh getan. Ich mochte dich doch so gern, aber dafür konnte ich dich hassen. Einerseits natürlich, weil du Maren damit immer sehr verletzt hast, und ich nicht verstand, wie du deiner Liebe gegenüber so etwas tun konntest. Ich habe es mir so vorgestellt, dein lieber Tom ist über's Wochenende auf einer Tagung, und da spielt er plötzlich den Hallodri, eine genauso schreckliche Vorstellung. Aber als ich mir später mal vorzustellen versucht habe, wie so etwas wohl abliefe, da kam ich dann zu anderen Bildern. Du bist ja nicht ein Don Juan, der Frauen zur anzublicken braucht, und sie liegen ihm zu Füßen. Andererseits habe ich mich auch gefragt, wieso machen die Frauen das mit. Frauen sind in deinen Bereichen ja absolute Minderheiten, dich wird nicht alles interessieren, nur weil's weiblich ist. Hinzu kommt, dass es sich bei den Frauen in deinem Berufszweig, die auch derartige Tagungen besuchen, sicher nicht um so welche handeln wird, die auf der Suche nach erotischen Abenteuern sind. Eigentlich hättest du gar keine Chance haben dürfen, selbst wenn du's dir gezielt vorgenommen hättest. Was kann eine glücklich verheiratete Rechtsanwältin, die Mutter von zwei Kindern ist, dazu motivieren sich plötzlich für eine Nacht mit dir einzulassen. Was tust du, dass sie so etwas Unsinniges wünscht? Ich glaube dir sogar, dass du keine Verführungsabsichten hattest. Du hast ja auch gesagt, es hätte sich so entwickelt. Auch wenn ich es für mich persönlich nicht nachvollziehen kann, denke ich, dass es daran liegt, was du andere Menschen in dir sehen lässt, was sie in dir zu erkennen glauben. Ich denke, das sieht jeder, der nicht gefühllos, blind und verdreht ist in dir. Im allgemeinen lernst du im Laufe deiner Sozialisation, in deiner Lebensgeschichte dich vor Täuschungen und Irreführungen zu schützen, du wirst kritischer und skeptischer, zurückhaltender mit schnellen Zustimmungen und Einverständnissen und versuchst, negative Folgen durch Fehler für dich zu vermeiden. Das ist ja auch in Ordnung, richtig und erforderlich. Nur bildet das dann eine Grundeinstellung, die für dein Leben in seiner Gesamtheit wirksam wird, so bist du, ob du ein Haus kaufst oder einen anderen Menschen kennen lernst. Und das scheint bei dir anders zu sein. Du bist in allen möglichen Bereichen sicher ganz durchschnittlich normal, nur wenn du persönlich mit anderen Menschen zu tun hast, kommt es mir vor, als ob deine ganze Geschichte an dir in dieser Beziehung nichts hätte verbiegen können, als ob man es mit einem Menschen in seinem natürlichen sozialen Urzustand, in seinem extra-uterinen Frühjahr zu tun habe, als ob du gerade dein Urvertrauen in dicken Chargen zugeteilt bekommen hättest. Ja, du vermittelst ein selbstvertrauendes Grundgefühl mit optimistisch wirkender Zuversicht, wie es jeder gerne für sich hätte, aber nachträglich nicht mehr erwerben kann. Du sprichst die Sicherheit, Liebe und Geborgenheit an, wie sie die Menschen bei ihrer Mutter erfahren haben und die sie in ihrem Unterbewusstsein bewegt. Nach nur wenigen Worten, weiß man, dass man dich sehr gern mag und dir absolut wird vertrauen können. Das ist einfach so bei dir, und das merken selbst kleinste Kinder. Timmy ist sicher nicht zufällig mit seinen anderthalb Jahren Opa Toms größter Fan. Ich denke auch, dass es das war, was in Maren trotz deiner Widerlichkeiten nie hat Zweifel an dir aufkommen lassen, und woran ich sofort denken musste, als ich die Geschichte deiner Beziehung mit Rita erfuhr. Ja, in soziokultureller Hinsicht vermittelst du den Eindruck ein Mensch zu sein, wie man ihn sich eigentlich wünschen würde. So sehe ich das.“
„Aletta, ich vermittle den Eindruck? Ich bin es. Du bist auch für mich ein Mensch, wie man ihn sich wünscht. Das warst du auch schon in deinem extrauterinen Früjahr und bist es seitdem vierzig Jahre geblieben, aber wenn du meinst, bei mir handele es sich nur um einen vermittelten Eindruck, werde ich überprüfen müssen, ob du die Kriterien der Wunschvorstellung für eine Erstgeborene noch erfüllst.“ reagierte ich scherzend. „Mach dich, bitte, nicht lustig. Es ist mir ernst.“ antwortete Aletta, „Wir reden sowieso viel zu selten über Derartiges, obwohl wir permanent miteinander quatschen. Ich denke schon, dass du ein außergewöhnlich vertrauenerweckender Mann bist. Ein idealer Vertreter wärest du wahrscheinlich. Jeder würde dir alles sofort glauben, aber andererseits könntest du den Leuten auch nichts vormachen. Du müsstest immer die Wahrheit sagen. Das fand ich auch sehr kurios, du konntest Maren betrügen, aber ich glaube nicht, dass du sie ein einziges Mal belogen hast. Das Bild, das du vermittelst ist keine Darstellung, das bist du selber. Das ist ungewöhnlich, und jeder spürt es.“ „Aletta, ich weiß gar nicht recht, wie ich es verstehen soll. Als Analyse, als Laudatio oder als Liebeserklärung? Du magst es so sehen. Es ist eine Erklärung für dich, warum wir uns mögen, aber dass in einem Bereich meiner Persönlichkeit so etwas wie einen Urzustand, der sich durch mein Leben, durch meine Geschichte nicht verändert hätte, geben sollte, das kann, glaube ich, nicht sein. Du kannst nicht etwas konservieren und es aus allen Beeinflussungen heraushalten. Dass meine Eltern eine sehr gute Basis bei mir gelegt haben, auf die sich dann später auch alle weiteren Einflüsse positiv potenzierend auswirkten, und mich zu einem ganz anderen Menschen werden ließen, als wenn dieses Grundvertrauen nur sehr mangelhaft vorhanden gewesen wäre, oder gar ein ursprüngliches Misstrauen existiert hätte, das ist gut möglich. Aber, dass du etwas aus deiner Entwicklung, aus deiner Geschichte separieren kannst, ist schon theoretisch gar nicht möglich. Die Beziehung zu anderen, wie du dein Verhältnis zur Welt gestaltest, wie du dein Leben in deinen Zusammenhängen organisierst, was du du wo von hältst und wie du es deutest, das hängt doch zusammen, koordiniert sich immer wieder neu mit neuen Wahrnehmungen, Erlebnissen und Erfahrungen. Du kannst vielleicht Verhaltensweisen tradieren, aber dass du sie aus diesem Entwicklungszusammenhang, der deine Geschichte ist, heraus hältst, ist nicht vorstellbar und kann nicht sein.“ nahm ich zu Alettas Ansicht Stellung. „Tom, das sehe ich doch genauso. Ich sage ja nur, wie du auf andere Menschen wirkst. Ich persönlich brauche deine Wirkung überhaupt nicht, ich liebe dich schon sowieso. Das ist auch entstanden als ich ganz klein war, in Zeiten, an die ich mich nicht erinnern kann, aber dass ist so fest konserviert, dass es durch all deinen Mist, den du fabriziert hast, überhaupt nicht beeinträchtigt werden konnte. Ich denke schon, dass meine Liebe zu dir sich immer noch in ihrem Urzustand befinden muss und nicht nur so wirkt.“ reagierte Aletta lächelnd und fuhr fort, „Weiß du eigentlich, dass Tim eifrig dabei ist, dich mit einer anderen Frau zu betrügen? Oma Rita scheint zu seinem neuen Stern zu avancieren. Rita wusste zunächst gar nicht, ob sie die Oma geben sollte. Ihre Kinder haben ja noch keinen Nachwuchs, aber dann meinte sie auch, dass es besser sei für Tim und Lina, neben Opa Tom die Oma Rita zu sein, als irgendeine Rita. Und wenn du Opa hießest, obwohl du es tatsächlich gar nicht seist, stünde ihr das Recht ja schließlich auch zu.“
Alettas Kinder waren für mich Juwelen. Linchen, die zwei Jahre die einzige gewesen war, hatte immer das glücklich strahlende Engelchen verkörpert. Sie erweckte einen zartfühlenden Eindruck und konnte immer ein verschmitzt spitzbübisches Lächeln zeigen, wenn sie der Ansicht war, etwas raffiniert ausgetrickst zu haben. Tatsächlich handelte es sich meist um völlig belanglose kleine Banalitäten, aber ihrer schelmischen Freude darüber konnte ich nicht widerstehen. Tom war ein ganz anderer Stratege. Die Hebamme im Krankenhaus musste ihm schon die wesentlichen Grundlagen männlicher Sozialisation vermittelt haben. Anders war es nicht zu erklären. Man denkt immer es erfolgt durch die Rollenbilder der Eltern, wofür angehende Jungen und Mädchen sich zu interessieren hätten, aber Tim suchte sich für sein Interesse immer selber das, was als typisch jungenhaft angesehen wurde. Warum? Darauf konnte sich niemand einen Reim machen. Zur Zeit genoss mein Werkzeug allerhöchste Interessenpriorität. Wenn ich bereit war, mit ihm zu 'arbeiten', gab es nichts Denkbares, das für ihn hätte bedeutsamer sein können. Er hatte einmal mitbekommen, wie ich einen Hammer holte, um einen Nagel einzuschlagen. Hammer wurde seitdem zum Schlüsselbegriff für eine faszinierende neue Welt. Lina hatte davon nie etwas zur Kenntnis genommen. Es scheint wohl doch verschlungenere Wege zu geben, als die intentionalen Einfüsse der Eltern. Seit er anfing erste verständliche Wörter sprechen zu können, machte ihm die gleichzeitige Nennung unserer beider Namen Freude. Was hörte denn der kleine Mann da? Begann er Ähnlichkeiten und Differenzen zu erkennen, bevor er richtig selbständig laufen konnte? „Tim und Tom“ blieb über lange Zeit seine Begrüßungsfloskel, deren Ausspruch ihn jedes mal erfreute. Ich nahm ihn anschließend immer auf den Arm und sprach und scherzte kurz mit ihm. Neulich wiederholte ich seine Begrüßung, was ich meistens tat, und hängte dem 'Tim und Tom' ein 'Tom und Tim' an. Wie erschrocken starrte mich der junge Herr an. Wahrgenommen hatte er also etwas. Er schien gewaltige Probleme in seinem Kopf zu wälzen. Plötzlich verkündete er stolz lächelnd: „Tom und Tim“. Dann musste es wiederholt werden „Tim und Tom und Tom und Tim.“ Wieder und nochmal. Fast den gesamten Nachmittag wiederholte er es immer wieder für sich. Es dauerte schon, bis man es flüssig garantiert immer richtig in der entsprechenden Reihenfolge mit der Umkehrung hin bekam. Was war daran so kompliziert, was hatte ihn so erstaunt nachdenken lassen. Warum war es ihm so wichtig, es unbedingt richtig sagen zu können? Wahrscheinlich hatte ich durch meine Wiederholung mit Umkehrung Tims Bereich logisch schlussfolgernden Denkens um wesentliche Kapazitäten erweitert und zusätzliche grammatikalische Grundpfeiler seiner Sprachverfügbarkeit eingepflanzt. Dann zeigte der kleine Junge mit anderthalb Jahren, dass er nicht nur das Gesprochene wiederholen konnte, sondern ihm die Struktur deutlich geworden war. Er begann von sich aus es zu übertragen, auf Tim und Lina, auf Mama und Papa. Er suchte krampfhaft in seiner Welt nach Dingen und Personen, aus denen man Paare bilden konnte. Einstein oder Kant würden vor ihm verblassen müssen, wenn die Entwicklung seiner Geschichte sich in dieser Weise fortsetzte, auch wenn er sich im Moment mehr für dicke Hämmer und große Rohrzangen interessierte. Ich konnte mich an viele Details erinnern, aber so deutlich schien mir die Entwicklung kindlichen Denkens bei Aletta und Géraldine nicht geworden zu sein. Ich erinnere mich aber neben Alettas Badewannenschwimmtestwochenende an die bei ihnen auch aufgetretenen Prozesse permanenten Wiederholens. Wahrscheinlich wurden dadurch die gewonnen Erkenntnisse fest in die sich entwickelnden Gehirnstrukturen eingebrannt, sodass sie in Zukunft nicht mehr gelöscht werden konnten und jederzeit abrufbar zur Verfügung standen.
Auch wenn die Tage immer kürzer statt länger wurden, raue Stürme den Bäumen die letzten Blätter entrissen statt die Sonne frische Krokusse sprießen zu lassen und festgeschlossene Wolkendecken den Verdacht einer endgültigen Verabschiedung der Sonne nahe legten, bei uns im Hause wurd nichts trübe, verwelkte oder verging, der Frühling war hier ausgebrochen. In großer Zahl schienen frische Blumen zu sprießen und die Farbenpracht ihrer bunten Büten zu unserer Freude entfalten zu wollen. Auch wenn Rita früher sehr oft hier war, kam sie doch immer für begrenzte Zeit von außen. Jetzt war sie ständig anwesend, lebte hier, vom Aufstehen bis zum Schlafen gehen. Immer war sie da, immer konnte ich sie sehen, mit ihr sprechen mit ihr lachen. Zunächst konnte ich es gar nicht fassen, wie verzaubert kamen mir die Tage vor. Wunderbar, ich war glücklich. Eine völlig andere Atmosphäre hatte sich durch unser Zusammenleben gebildet. In der Tat, wie der Beginn einer neuen Epoche, eines neuen Zeitalters in der Geschichte meines Lebens empfand ich es. Bislang hatten wir immer gemeinsame Aktivitäten geplant, jetzt erledigten wir die Dinge des Alltags gemeinsam. Wie in fast vergessenen früheren Zeiten. Nein, so hatte ich es noch nie erlebt. Maren und ich waren ja beide beschäftigt. Wir frühstückten schnell und sahen uns erst am Nachmittag wieder. Jetzt war den ganzen Tag über der andere gegenwärtig und ansprechbar. Eine neue Zeit, deren Frühling wir jetzt genießen konnten. Die Vormittage gehörten uns, aber am Nachmittag waren fast immer Géraldine oder Aletta mit den Kindern oder alle zusammen da. Weihnachten waren mich immer alle besuchen gekommen und die Kinder hatten mir etwas Kleines mitgebracht. Ich selber hatte mich nie darum gekümmert. Jetzt mussten Oma Rita und Opa Paul natürlich ein wenig Zauber für die Kinder machen, vornehmlich wohl, weil es ihnen selbst Spaß bereitete. Als Gérri und Aletta klein waren hatten wir zum letzten Mal so etwas gemacht. Nicht nur Frühlingszauber mit neuen Knospen wollte sich entwickeln, sondern auch vieles von der Freude früherer Tage schien in frischen Formen neu zu erblühen.
Als sich der tatsächliche jahreszeitliche Frühling anzukündigen begann, wurde Rita krank. Ende Februar bekam sie eine Grippe, nur sie verschwand nicht nach einigen Tagen. Es blieben Husten, ein ständiges leichtes Fieber, das nicht zurückging und morgens wachte sie immer schweißgebadet auf. Der Arzt diagnostizierte Lungenentzündung. Die verordneten Medikamente brachten keine Heilung sondern zusätzliche Magen-Darm-Probleme. Sie musste ins Krankenhaus. Man sah überhaupt keine Probleme, zumal Rita ja über einen hervorragenden Allgemeinzustand verfüge. In wenigen Tagen sei sie wieder zu Hause. Nur es besserte sich nichts. Weitere Untersuchungen erfolgten und der Stationsarzt erklärte es mir so, dass ich es nicht verstand, und wenn ich um Erläuterung bat, sprach er mit mir, wie zu einem dummen Jungen, was ich nicht brauchte. Mein Trost bestand immer nur in seiner Versicherung, die ich ihm glauben konnte: „Sie brauchen sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Es besteht kein Anlass zu irgendwelchen Befürchtungen, auch wenn es sich ein wenig komplizierter ausgenommen hat, als wir zunächst vermuteten.“ Na schön, er hätte es mir unterschreiben sollen, aber ich wollte es ja auch glauben. Rita war immer guter Dinge gewesen, hatte zwar auf die Nebenwirkungen und einige Regelungen im Krankenhaus geschimpft, blieb aber ansonsten zuversichtlich und war guter Laune. Als es sich aber zog, keine Veränderungen ersichtlich waren und immer wieder neue Untersuchungen erforderlich wurden, zudem alles nicht so eindeutig verständlich erklärt werden konnte und man meinte, Unsicherheit bei den Ärzten erkennen zu können, begann sich die positive Grundstimmung allmählich zu verflüchtigen. Man sah keine klare Perspektive, wartete ratlos. Rita wurde nachdenklicher und stiller. Als ich sie an einem Morgen besuchte, schaute sie mich ernst an und fragte: „Sag mal Thomas, man sagt mir immer, alles wird wieder, aber es wird ja nichts. Es bleibt alles so wie es ist, nichts ändert sich. Thomas ich habe Angst. Richtig Angst. Sag mir, bitte, ganz, ganz ehrlich, was du weißt. Ich muss doch nicht sterben?“ Dabei waren Ritas Augen feucht geworden. Ich starrte sie an, konnte gar nicht einfach darauf antworten. Als ob mich ihre Frage geschockt hätte, sah dabei in ihre Augen, die zu weinen beginnen wollten. „Nein, Rita, nein, nein, nein, nein, nein, nein. Kein winziges Stückchen wird von dir sterben. Alles wird am Leben bleiben. Ganz lebendig. Ganz gesund, wie immer.“ Ich wusste gar nicht wie mir war. Wie in einem ekstatischen Rausch hatte ich als erstes jedes feuchte Auge von Rita dabei geküsst, dann ihre Stirn jede Wange, ihre Nase und ihren Mund. Rita wusste gar nicht, was sie erlebte. Verwundert lächelnd schaute sie mich an und hatte den Mund leicht verblüfft geöffnet. Mit einem frech stolzen, fast verwegenen Lächeln sah ich sie an. „Ja, genau, von dieser klugen Stirn, wird kein kleinstes Fitzelchen sterben.“ deklamierte ich und gab ihr dabei auf jede Seite und in die Mitte der Stirn einen Kuss. „Von diesen gutmütigen, scharfsichtigen Augen … und so wurde noch mal küssend erklärt, dass von keinem Part ihres Gesichtes etwas sterben würde. Rita ließ es alles verwundert lächelnd geschehen. „Tommy, du musst mir mal etwas sagen.“ forderte sie lächelnd von mir eine Erklärung. Ich hob die die Augenbrauen, sah sie fragend an und zuckte mit den Schultern. Rita legte ihre Arme um meinen Nackten, zog meinen Kopf zu sich herunter und wir küssten uns.
Seitdem war Ritas Lungenentzündung sowohl für mich als auch für Rita selbst vergessen, beziehungsweise nebensächlich geworden. Wir hatten Wichtigeres zu besprechen, zu üben und zu praktizieren. Ich konnte Rita nur immer wieder versichern, dass ich selbst gern wissen würde, was mich veranlasst hätte, aber was genau in diesem Moment meine Emotionen umzuwälzen beliebte, wusste ich selber auch nicht. Ich konnte nur sagen, dass mich Ritas Frage schockiert hatte, und ich in ihren Augen die reale Furcht sah. Ob in Sekundenbruchteilen, in denen ich meinte Rita retten zu müssen, sie zu einer anderen Person wurde, die meine körperliche Nähe brauchte? Ich weiß es alles nicht. Mein Bauch hat mich schnell handeln lassen und meine Bewusstseinsregionen über seine Motive nicht in Kenntnis gesetzt. Wenn meine Blockade tatsächlich mit Marens Tod in Zusammenhang stand, wäre es vielleicht nicht ganz abwegig, dass Ritas Todesangst sie für mich als eine andere, eine Maren ebenbürtige Frau erscheinen ließ. Bewusst wurde mir aber nichts davon. Es musste Spekulation bleiben.
Für diese Änderung unseres Umgangs miteinander hatten wir offensichtlich zwei Drittel unseres Lebensalters abgeben müssen. Wahrscheinlich war dies erforderlich, um das ganztägige Schmusen, Necken, Streicheln und Küssen über längere Zeit in ausreichendem Maße genießen zu können, vor allem aber auch, um sich an den simplen kleinen Späßen hinreichend delektieren zu können, was mit über sechzig ja überhaupt nicht mehr möglich gewesen wäre. Krank fühlte Rita sich schon längst nicht mehr, aber sie wurde auch so gesund, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, und ich sie mit nach Hause nehmen konnte.
Alle waren gekommen, um Rita wieder zu Hause zu empfangen. Ihr kamen die Tränen und sie meinte: „Muss ich erst so alt werden, um so glücklich sein zu können, oder hat man im Laufe seines Lebens dann erst genug angesammelt, um es wahrnehmen, erkennen und richtig verstehen zu können. Ich glaube eher, ich war mir immer sicher, dass nach langen Jahren der Wanderschaft der Goldesel schon irgendwann zu mir kommen würde. Nur jetzt habe ich das Wort vergessen, das man sagen muss, aber Glück scheint er ja auch ohne das Zauberwort in Mengen auszuspucken.“ „Bei euch beiden scheint das aber nur zu funktionieren, wenn euch die Wanderschaft zu bestimmten Orten führt, wie zum Beispiel nach Griechenland oder ins Krankenhaus.“ meinte Géraldine spöttelnd dazu. Linchen musste in gemeinsamer gegenseitiger Unterstützung, das Märchen vom „Tischlein deck dich“ nahe gebracht werden. Vielmehr als den Inhalt wird sie sich aber gemerkt haben, dass Erwachsene auch über die Fähigkeit verfügen, sehr albern sein zu können. Als wir wieder allein waren, und es anstand ins Bett zu gehen, lehnte ich mit dem Rücken am Küchenschrank und hielt Rita vor mir an den Hüften umfangen. Wir grinsten uns an. Konnte es ein Problem sein, zu fragen, ob wir getrennt schlafen oder gemeinsam ins Bett gehen würden? Nur so banal konnte man es doch nicht handhaben. Aber welche verbalen Tänze sollte man aufführen, um der Besonderheit dieses prickelnden Vorhabens gerecht zu werden. Dass wir prinzipiell beide gern gemeinsam ins Bett wollen würden, stand außer Frage, nur man war ja nicht absolut sicher, welche Einwände und Bedenken der jeweils andere eventuell doch vorbringen könnte, um es für heute Abend noch nicht ratsam erscheinen zu lassen. Dass man auf den anderen eventuell einen drängelnden Eindruck hätte erzeugen können, war ja absolut zu vermeiden. „Zusammen?“ fragte ich. „Na klar.“ lautete Ritas angemessene Replik. Wir küssten uns vorm Küchenschrank langanhaltend und immer wieder, als ob es das, was wir gerade in einem sehr kurzen Gespräch abschließend geklärt hatten, ausgiebig zu feiern gelte. Rita präzisierte: „Das ist doch völlig unerheblich, Tommy, ob wir Sex haben werden oder nicht. Wir lieben uns doch, möchten ganz nah beieinander sein, den Körper des anderen, seine Haut und seine Wärme spüren. Darum geht es mir. Wie sich das im einzelnen gestaltet und was sich daraus entwickelt, ist zweitrangig. Wir werden es sehen. In den Po kneifen, würde ich dich allerdings schon gerne können.“
Im Grunde handelte es sich doch nur um eine zusätzliche Kleinigkeit. Das Entscheidende, das Zentrale, unsere Liebe zueinander hatte doch vorher auch schon über lange Zeit bestanden, dass wir uns jetzt auch noch gegenseitig anfassen und miteinander ins Bett durften, war zwar nett, aber doch nicht der zentrale Gesichtspunkt unseres gegenseitigen Empfindens und unserer Zuneigung füreinander. So könnte man es vielleicht sehen, unsere emotionalen Wahrnehmungen sahen das völlig anders und erlaubten uns nicht, an ihren Empfindungen die geringsten Zweifel anzubringen. Für sie handelte es sich eben um epochale Veränderungen, die unser Glücksempfinden zentral dominierten. Es sah nicht so aus, als ob wir die geraubten letzten beiden Drittel unseres Lebensalters so bald zurück erhalten würden. Wir verrichteten zwar ab jetzt nicht alles nur noch Händchen haltend, aber die Notwendigkeit, ab Ritas Rückkehr mit einer neuen Zeitrechnung beginnen zu müssen, ließ sich nicht ignorieren. Das neue Leben schien unser Denken, Handeln und die Alltagsbewältigung mit völlig neuen Erfordernissen und Gegebenheiten zu konfrontieren. Es waren ja bei weitem nicht nur neue Anforderungen ans Mobiliar gestellt, weil zum Beispiel der gemeinsame Fernsehgenuss hintereinander auf der Couch liegend, Identifikationsassoziationen mit den Tieren in der Sardinendose aufkommen ließ, es waren ja auch Entscheidungen zu treffen, mit denen man in dieser Weise bislang noch nie konfrontiert worden war. Ob es zum Beispiel beim Raustragen von zwei Mülltüten, zweier Personen bedürfe, denen dabei auch die Möglichkeit einzuräumen sei, sich nach erfolgreicher Beförderung in die Mülltonne, sofort siegreich küssend zu umarmen, oder ob dieses Szenario mit tiefen Liebesbezeugungen nicht doch eventuell disharmonieren könnte. Oft musste ich Frau Brenner mit der Frage befassen, ob ihr intendiertes Verhalten für eine Frau ihres Alters nicht den erforderlichen Grad an Schicklichkeit vermissen ließe. Doch Ritas Brutalität im Umgang mit derartigen Finessen eröffnete mir Einblicke in bis dahin unbekannte Tiefen ihrer Persönlichkeit. 'As nutty as a fruitcake' seien wir, beliebte es Géraldine zu kommentieren. Zu verrückten Hühnern seien wir seit Ritas Rückkehr aus dem Krankenhaus mutiert, aber ihr gefalle es, sie empfände es lustig und süß. Wunderbar sei es vor allem, zu erleben, wie die Liebe einen offensichtlich in jedem Alter gleichermaßen crazy sein lassen könne. Dabei liebten wir uns ja schon so lange, warum ließ es uns eigentlich erst jetzt verrückt werden?
Dass ein neues Zeitalter mit unserer rücksichtslosen gemeinsamen Körperlichkeit begonnen hatte, ließ sich nicht leugnen. Alles gestaltete sich anders als beim bisherigen liebevollen Nebeneinander. Der Beginn der neuen Zeitrechnung bedurfte natürlich auch eines neuen Zeitmessgerätes. Moderne Uhren, bei denen die Aktivitäten des Besitzers mehr als kokette Attitüden darstellten, gab es nicht, bis auf unbezahlbare handgefertigte Unikate natürlich. Etwas Antikes? Mussten wir dafür unsere Einrichtung wieder umstrukturieren auf ländlich rustikal etwa? Nein, wir fanden einen anderen Weg, unseren altneuen chronologischen Wächter geschmackvoll kontrastierend zu platzieren. Ungeteilte Aufmerksamkeit genoss unser neuer vor der Wand stehender Zeitritter allemal, und Lina bekam jetzt auch das Märchen von den sieben Geißlein erzählt. Diesmal allerdings von Rita alleine. Nachschauen, ob das siebte kleine Zicklein sich darin befände, wollte Lina sicher nicht, aber ein Blick in den Uhrenkasten zu werfen, konnte ja trotzdem nicht verkehrt sein. Wahrscheinlich empfand man sich dadurch als zu den Wissenden gehörend, wenn es in Zukunft um junge Ziegen in Uhrenkästen gehen sollte.
Die gemächlichen Bewegungen des bedächtig schwingenden schweren Pendels gefielen mir. Die Zeit schien nicht so sehr davon zu eilen. Keinesfalls hätte ich es anhalten wollen, aber dass sich für die nächsten zehn Jahre die Zeit einmal nicht fortbewegen möge, wäre sicher einer der drei Wünsche gewesen, die die gute Fee mir hätte frei geben müssen. Dass diese Zeit jetzt, wie ich sie erlebte, die glücklichste Phase meiner Geschichte war, stellte sich mir zwar im Moment so dar, genau beurteilen konnte ich es aber wohl eher nicht. Ich wusste nur, dass der Fortlauf der Zeit immer mit Änderungen verbunden sein würde. Jeder Tag wird neu sein, stets hat durch den vergangenen eine wie auch immer gestaltete kleine Veränderung in dir stattgefunden, auf der der neue Tag jetzt basiert. Eine gleichmäßige Wiederholung wie bei der Hin- und Her-Bewegung des Pendels kann es für die fortlaufende Zeit deines Lebens, deine Geschichte nicht geben. Welche zusätzlichen kleinen Bildchen gestern hinzugefügt, oder durch welche Pinselstriche farbliche Veränderungen vorgenommen wurden, entzieht sich in der Regel deiner bewussten Wahrnehmung, trotzdem ist es das, was seit dem ersten Blickwechsel, seit den ersten Berührungen, seit den ersten akustischen Kontakten mit deiner Mutter deine Persönlichkeit ständig entwickelt, erweitert, komplettiert und modelliert hat. Die Geschichte deiner Person kulminiert darin, wie du heute erlebst, denkst und empfindest. Wenn du die Fakten nennst, an denen sich was zugetragen hat, an dem du beteiligt warst, kann ein Unternehmen gegebenenfalls daraus erkennen, über welche Bildungsabschlüsse du verfügst und wie deine Leistungen bewertet wurden, aber deine Geschichte bildet die Aufzählung der Daten nicht. Die Benennung der Stationen deines Lebens sagt nur sehr wenig, relativ Unbedeutendes über dich aus. Entscheidend, bedeutsam und interessant ist, woraus deine persönliche Geschichte tatsächlich besteht, wie etwas auf dich gewirkt hat, wie du etwas erlebtest, was du dabei dachtest und fühltest. Wie deine Wahrnehmung die Umgebung erkannte, bewertete und verarbeitete. Wie du deutetest, was du erlebtest und was mit dir und deiner Welt zusammen hängt. Was du über deine Welt denkst, wie du sie rückblickend siehst und wie du dir die Zukunft vorstellst. Das formte dich und ließ den Menschen aus dir werden, der du heute bist, das ist deine Geschichte als Grundlage deiner Identität, das ist der den du meinst, wenn du von dir sprichst und 'Ich' sagst.
FIN
Ce n'est pas par leur architecture mais plutôt par la puissance de leur pensée abstraite que les nations devraient essayer de se perpétuer dans la mémoire des hommes.
Henry David Thoreau
Aletta und Géraldine wussten zwar, dass ich mich ab und an noch mit einer alten Bekannten aus dem Betrieb traf, aber als Rita häufiger zu mir kam, begegnete man sich auch öfter. Jetzt wollten beide in stundenlangem Verhör unsere Beziehung genauestens erläutert haben. Trotzdem konnten sie es nicht fassen und verstanden es nicht. Beide mochten Rita, obwohl man sich nur aus wenigen kurzen Gesprächen beim Abendessen oder Kaffeetrinken kannte. „Tom, wenn ich etwas nicht verstanden hatte, hast du es mir immer erklärt und ich konnte es verstehen.“ erläuterte Géraldine, „Nur was du mir jetzt erklärt hast, von dem habe ich nichts verstanden. Ich habe gehört was du gesagt hast, aber mein Bauch lehnt es ab, er will kein Bild daraus machen. Das kann alles nicht sein. Es mag euch ja gefallen, aber was ihr betreibt ist pervers. Sei doch einfach mal du selbst. Der gleiche, der du sonst auch immer bist und nicht so eine verdrehte Gestalt aus der Firma, dessen Rolle du in eurer Beziehung spielst.“ „Ja ich denke auch, dass ihr da so etwas wie festgelegte Rollenbilder tradiert. Und in denen kann nicht vorkommen, dass Rita eine wunderbare Frau ist, die hervorragend zu dir passen könnte.“ pflichtete Aletta dem bei, „Das ist sehr schade für dich, Tom. Willst du dir nicht mal Gedanken darüber machen, ob du nicht doch Interesse daran haben könntest, an eurem Verhältnis etwas ändern zu wollen?“
Tom und Rita – Seite 28 von 28
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2013
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