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Introduction und Inhalt

 

 Carmen Sevilla

 

Tom und Rita Perverse Beziehung

Renitente Liebesverweigerer

 

 Erzählung

 

 

Ce n'est pas par leur architecture mais plutôt par la puissance de leur pensée abstraite que les nations devraient essayer de se perpétuer dans la mémoire des hommes.

Henry David Thoreau

 

Aletta und Géraldine wussten zwar, dass ich mich ab und an noch mit einer
al­ten Bekannten aus dem Betrieb traf, aber als Rita häufiger zu mir kam,
begeg­nete man sich auch öfter. Jetzt wollten beide in stundenlangem Verhör
unsere Beziehung genauestens erläutert haben. Trotzdem konnten sie es
nicht fassen und verstanden es nicht. Beide mochten Rita, obwohl man sich
nur aus weni­gen kurzen Gesprächen beim Abendessen oder Kaffeetrinken
kannte. „Tom, wenn ich etwas nicht verstanden hatte, hast du es mir immer
erklärt und ich konnte es verstehen.“ erläuterte Géraldine, „Nur was du mir
jetzt erklärt hast, von dem habe ich nichts verstanden. Ich habe gehört was
du gesagt hast, aber mein Bauch lehnt es ab, er will kein Bild daraus machen.
Das kann alles nicht sein. Es mag euch ja gefallen, aber was ihr betreibt ist
pervers. Sei doch ein­fach mal du selbst. Der gleiche, der du sonst auch immer
bist und nicht so eine verdrehte Gestalt aus der Firma, dessen Rolle du in
eurer Beziehung spielst.“ „Ja ich denke auch, dass ihr da so etwas wie
festgelegte Rollenbilder tradiert. Und in denen kann nicht vorkommen, dass
Rita eine wunderbare Frau ist, die hervorragend zu dir passen könnte.“
pflichtete Aletta dem bei, „Das ist sehr schade für dich, Tom. Willst du dir
nicht mal Gedanken darüber machen, ob du nicht doch Interesse daran
haben könntest, an eurem Verhältnis etwas ändern zu wollen?“

 

 

Tom und Rita - Inhalt

 

Tom und Rita 4

Große Uhr und kleine Vase 4

Früher war alles besser 4

Rita 6

Sonderbare Konstruktion 7

Ein Rätsel mehr 8

Etablierte Beziehungsstruktur 9

Sei nicht traurig, Rita 10

Aletta, Géraldine und mein Bezug zur Weiblichkeit 11

My poor old little brain 13

Was möchtest du gerne in deinem Kopf haben? 14

Mini-Cineasten und andere 15

Urlaubspläne 16

Griechenland 17

Eine etwas andere Situation 19

Ein Mensch, wie man ihn sich wünschte 21

Tim und Lina 23

Herbstfrühling 24

Ritas Krankheit 25

Ritas Frage 26

Wieder zu Haus 27

Neue Zeitrechnung 27

Neuer Chronometer 28

 

Tom und Rita

Tom und Rita sind hervorragend befreundete Arbeitskollegen. Alles Private ist und soll strikt tabu bleiben, auch wenn es als pervers erscheint.

Große Uhr und kleine Vase


Ich bin nicht schlecht gelaunt, habe auch nicht den Blues, nur womit ich mich sonst häufig und gern befasse, heute Abend sagt mir nichts davon zu. Ich möchte einfach mal nichts tun, mich nur entspannen, unterhalten lassen, die Glotze anschalten. Aber das theatralische Agieren der Schauspieler in dem Film, der recht gute Kritiken hat, ist meiner Entspannung nicht förderlich, und die von ihnen intensiv deklamierten Kommunikationsbeiträge, wollen meine Ohren nicht verwöhnen. Das TV nervt. Es auszuschalten, vermittelt einen der nicht oft wahrgenommen Momente des genussvollen Erlebens wohltuender Stille.


Die große Uhr gegenüber habe ich damals noch zusammen mit meiner Frau ausgesucht. Ich mag sie auch heute noch in ihrem fein strukturierten moder­nen Design, aber sonst auch nichts. Was will sie da? Sie zeigt zwar die Zeit im­mer sehr genau an, aber sie ist tot. Ich könnte sie austauschen, gegen eine, die für mich eventuell noch besser aussähe, es wäre beliebig. Mit der Uhr dort an der Wand verbindet mich nichts. Ich habe keinen Bezug zu ihr. Sie ist ein schaler Gegenstand und selbst das Wissen, dass sie schon so lange dort hängt, lässt meine Emotionen unberührt. Wenn ich dagegen an die alte Standuhr bei meinem Großvater aus Kindertagen denke, dann weiß ich, dass es nicht grund­sätzlich so ist, dass Menschen mit Uhren nichts verbindet. Die alte Uhr pflegte engste Beziehungen zu meinem Opa. Wenn sie zu schnell oder zu langsam ihre Zeiger fortbewegte, wusste er es durch Einstellungen an ihrem Pendel zu korri­gieren. Ohne dass mein Opa ihr regelmäßig die Gewichte wieder raufzog, hätte sie ihre Arbeit bald einstellen müssen. Bei den Glockenschlägen trafen Hämmer ihre Klangstäbe. Man sah es vor sich, wenn man sie hörte. Sie lebte mit den Menschen und mit dem jüngsten der sieben Geißlein ganz unten in ihrem großen Uhrenkasten sicherlich auch. Ich mochte sie und freute mich sie zu se­hen. Sie gehörte zur Familie, und wenn mein Opa sie verkauft hätte, weil er sich etwa eine modernere Uhr hätte zulegen wollen, bestimmt wären mir die Tränen gekommen. Wir umgeben uns heute reihenweise mit diesen schalen Gegenständen, zu denen sich kein persönlicher Bezug entwickeln lässt. Das schrumpelige Väschen, das du nie benutzt hast, bedeutet dir unendlich viel mehr als deine ganze sündhaft teure moderne Kücheneinrichtung. Wenn du sie verlieren würdest, tauschtest du sie eben gegen eine andere ein, nur das Väs­chen ist unersetzlich. In ihm steckt die Liebe deiner Nichte als sie ganz klein war und das stolze lachende Kindergesicht, mit dem sie es dir überreichte. Das wirst du nie vergessen, es hat dir viel bedeutet, zu erleben, wie das Kind dich erfreuen wollte.


Früher war alles besser


Warum berücksichtigen wir so etwas nicht, wenn wir es doch wissen. Wirt­schaft, Markt und Produktion und die gewachsenen und permanent weiter stei­genden Bedürfnisse der Menschen erlauben es heute nicht mehr. Sollen alle Männer zu ihren persönlichen Schneidern gehen, Maß nehmen lassen und die passgenauen Anzüge unter Berücksichtigung individueller Wünsche per Hand anfertigen lassen? Einen Anflug von Wehmut kannst du nicht unterdrücken, aber den Unsinn der Worte, dass früher alles besser gewesen sei, willst du trotzdem nicht unterstützen, auch wenn es dir jetzt einfällt. Was war denn früher, wie haben wir es denn damals tatsächlich erlebt? Wer waren wir denn, als wir es erlebten? Was erinnern wir davon, und was macht unser Kopf im Laufe der Zeit mit diesen Erinnerungen? Wovon du sprichst, woran du denkst, es ist nicht das, was gestern war, du bist es, der sagt, was dir heute davon gehört, und was du in deinem Interesse davon wie gesammelt und verarbeitet hast.


Nichts würde ich mir dringlicher wünschen, als Maren wieder zu bekommen. Ich wäre daran psychisch beinahe selbst zu Grunde gegangen, als meine Frau starb. Nur das Goldene Zeitalter vorher hat es, bis auf die relativ kurze Phase unserer anfänglichen Verliebtheit, nie gegeben. Wir haben es uns gegenseitig nicht einfach gemacht. Aber woran denke ich jetzt, wenn ich träumend mich erinnere? An die oft kindisch dummen Streitigkeiten? An manche meiner Ver­haltensweisen ihr gegenüber, die heut noch peinliche Scham in mir erzeugen? Natürlich denke ich an die Momente, in denen unser Zusammensein uns beide glücklich sein ließ, in denen es uns selbstverständlich und wunderbar erschien, dass wir einander gehören durften. Geliebt haben wir uns sicherlich die ganzen Jahre über, doch bei der Gestaltung unseres Alltags, schien das in der Regel von untergeordneter Bedeutung zu sein. Das weiß ich zwar, aber meine Erinne­rung sieht es nicht so gern. Ihr gefallen die harmonisch glücklichen Aspekte besser, als ob ihr daran gelegen sei, mir mit der dargebotenen Form der Erin­nerung eine Freude zu bereiten.


Bitter musste ich die Liebesdienerei der Mneme an mir erfahren. Sie hatte nichts verdreht, keine Fakten im Laufe der Zeit verfälscht, trotzdem hatte sie mir über vierzig Jahre das verklärte Bild einer politischen Diskussion aufrecht erhalten. Ein brechend voller Hörsaal mit weltpolitisch brennend interessierten jungen Menschen. Engagierte Diskussionen mit überaus gehaltvollen und inno­vativen Beiträgen der streitbaren Forumsteilnehmer. Wundervoll, so etwas Tol­les war heute leider gar nicht mehr vorstellbar. Nachdem ich jetzt, vierzig Jahre später, die filmische Dokumentation dieser meiner verehrten Veranstaltung ge­sehen hatte, konnte ich nicht umhin, dankbar dafür zu sein, dass es heute der­artigen naiven Politzirkus nicht mehr gab. Meine Erinnerungen machten mich peinlich betroffen. Was hatte ich denn da memoriert? Keine Dokumentarauf­nahme des damaligen Geschehens, die ich später unter anderen Gesichtspunk­ten hätte kritisch neu bewerten können. Primär hatte ich meine damalige Em­phase, die durch einige Fakten belegt werden konnte, in meinem Gedächtnis verankert. Die Zeit hatte allenfalls partikulare Eindrücke, die auf den Ge­samteindruck heute hätten störend wirken können, stillschweigend verschwin­den lassen.


Rita


„Na und,“ meinte Rita, meine Freundin seit unseren gemeinsamen Kindertagen im Betrieb, „warum tust du auch so etwas? Willst du jetzt etwa den Film in dei­ne Erinnerungen aufnehmen als objektive Dokumentation des Geschehens. Das ist absoluter Schrott. Er ist auch nur ein höchst selektives Wahrnehmungsparti­kelchen. Er kann keinen Eindruck der Zeit, in der du damals gelebt hast, und in der diese Diskussion kein peinlicher Politzirkus für dich war, sonder wie du es zurecht erinnert hast, eine ganz wichtige Veranstaltung darstellte, vermitteln und wiederbeleben. Vor allem kann er es nicht mit deinen Augen aus jener Zeit zeigen. Unsere Erinnerungen, das sind wir selbst. Wer wir waren und wie wir es deuten konnten, was wir wahrnahmen. Der Eindruck, den die Diskussion auf dich gemacht hat, darin stecktest du, das warst du zu jener Zeit. Fragen nach Objektivität oder falscher Bewertung sind nicht nur müßig, sondern fehl am Platz. Was geschehen ist, wie du es erlebt, gesehen und bewertet hast, so ist es deine Geschichte. Da lässt sich nachträglich nichts verändern oder korrigie­ren. Deine Erfahrung von damals ist integraler Bestandteil dessen was dich heute ausmacht. Wenn sich jetzt vierhundert Menschen das gleiche Konzert angehört ha­ben, dann gehen sie mit vierhundert unterschiedlichen Erinnerun­gen nach Hau­se. Das ist nicht ungewöhnlich, anders kann es gar nicht sein. Tommy, du machst dir häufiger Gedanken, die in tristen Schlussfolgerungen enden. Du wirst doch keine dummen Sachen machen, und deine Gedanken zu Metaphern dafür werden lassen, dass das Leben ohne Arbeit keinen Sinn mehr hat?“ Wir schauten uns an, und prusteten lachend los.


Ich würde gern sagen, wer Rita ist, aber es gibt keine einfache treffende Be­nennung dafür. Wir haben am gleichen Tag in der Firma angefangen und uns am übernächsten Tag deswegen in der Kantine angesprochen. Von da ab waren wir so etwas Ähnliches, wie die verschworene Basiszelle gegen das dumpfe überhebliche Establishment der Firma. Und so ist es fast vierzig Jahre lang bis heute geblieben. Die junge kämpfende Basisgarde sind wir schon lange nicht mehr, das Establishment können wir auch nirgendwo mehr ausmachen und im Übrigen haben wir mit der Firma gar nichts mehr zu tun. Wir sind beide Rent­ner. Sie ist Ökonomin, ich Jurist. Die Firma als unser gemeinsamer Arbeitsplatz verband uns. Natürlich sprachen wir nicht nur über Firmeninterna, darüber eher am wenigsten, wir meinten über alles miteinander zu sprechen. Am häu­figsten redeten wir wohl über politisches, kulturelles und sonstiges, was man so wusste, oder worüber man sich gerade Gedanken machte, wie zum Beispiel heute über das Gedächtnis. Wir hatten uns sicherlich vom ersten Moment an gut leiden können, und Tage, an denen Rita krank war oder aus sonstigen Gründen nicht im Betrieb erschien, empfand ich als trüb. Ich bin sicher, dass es uns beide sehr freute, als wir uns nach den langen Zeiten der Geburten ihrer beiden Kinder wiedersehen konnten. Welch wunderliches Konstrukt unsere Be­ziehung aber war, darüber haben wir nie gesprochen. Über uns persönlich und über unser Privatleben sprachen wir nicht oder nur in sehr bedingtem Rahmen. Rita berichtete schon mal etwas von ihren Kindern, bei dem unser Gespräch aber sehr schnell in Bereiche allgemeiner entwicklungspsychologischer Frage­stellungen oder auch anderer Sozialisationsgesichtspunkte wechselte. Natürlich wussten wir vom anderen, dass er heiratete, Kinder bekam oder keine, sich wieder scheiden ließ, oder dass meine Frau verstarb, aber so ganz viel mehr war es auch nicht, was uns privat von einander bekannt war. Obwohl wir doch ei­gentlich so lange sehr gut befreundet waren, besucht haben wir uns nie. Kein Wort hatten wir je darüber gewechselt, dass wir über bestimmte Bereiche nicht sprechen wollten, und warum nicht. Dadurch das sich die Bekanntschaft im Be­trieb entwickelt hatte und unsere Freundschaft dort ihr zu Hause hatte, galt es als selbstverständliches stillschweigendes Übereinkommen, das Privates außen vor zu bleiben hatte, und beides nicht miteinander vermengt wurde. Mich hat daran nichts gestört, ich habe nie darüber nachbedacht, ob in unserer Bezie­hung etwas anders sein könnte. Ich wollte es auch gar nicht. So wie es war, und dass es so war gefiel mir hervorragend. Über so einen festen persönlichen Anker wie unsere Beziehung, verfügte sonst niemand im Betrieb. Unabhängig davon war es auch eine eigene Beziehungsform, für die es draußen keine Ver­gleiche gab. Wir verstanden uns untereinander hervorragend, schienen über ein ähnliches Wissens- und Interessenniveau zu verfügen oder es im Laufe der Jahre entwickelt und angeglichen zu haben, und auch in unseren politischen Ansichten stimmten wir weitestgehend überein. Hier entwickelten sich jedoch oft die heftigsten Auseinandersetzungen, nur sonderbarerweise ergaben sich daraus nie persönliche Differenzen. Streit konnte anscheinend zwischen uns gar nicht entstehen. Dieser ganze kleine Psychomist mit Vorwürfen, Unterstel­lungen, Gedanken, dass der andere einen beleidigen wolle, man sich irgendet­was nicht gefallen lassen müsse, dieser ganze Kinderkram hatte zu nserem Denken und Empfinden prinzipielles Zutrittsverbot. Wir konnten intensiv unse­re gegenteiligen Überzeugungen äußern, nur Zweifel daran, ob der andere der allerbeste Freund wäre, hatten dabei zu keinem Zeitpunkt den Ansatz einer Chance. Warum sollten wir uns gegenseitig besuchen, zu Partys einladen, eventuell gemeinsam in Urlaub fahren? Mir, und Rita bestimmt ebenso, ist Der­artiges nie eingefallen. Warum auch, wir brauchten es nicht. Wahrscheinlich hätte es unser bestehendes Verhältnis gestört und verändert. Wer wollte das? Gewiss hatte unser Unterbewusstsein deshalb derartige persönliche Angelegen­heiten mit Denkverbot belegt. Dazu gehörten auch Konsequenzen aus der Tat­sache, das wir ja unterschiedlichen Geschlechtsphänotypen zuzurechnen wa­ren. Rita ist meiner Ansicht nach eine sehr ausdrucksstarke, schöne Frau. Ich hatte früher damit zu kämpfen, den vom anderen Geschlecht ausgehenden Reizen nicht zu leicht zu verfallen. Mit Rita hatte dieser ganze Bereich nichts zu tun. Erst ein Jahr, nachdem wir beide allein waren, Rita geschieden, die Kinder aus dem Haus und meine Frau gestorben war, kamen wir auf die Idee, dass wir doch auch außerhalb der Arbeit miteinander reden könnten. An der Struktur der Beziehung änderte das nichts. Auch dass wir jetzt sogar öfter zusammen kochten, hatte sich schlicht daraus ergeben, das wir wegen des Abendbrots un­ser Gespräch hätten abbrechen müssen, wenn Rita aber mein Brot aß, wir uns weiterunterhalten konnten. Meine Beziehung zu Rita stellte einen Grundpfeiler meiner sozial-emotionalen Zufriedenheit dar, sie war mir äußerst wertvoll und ich mochte und liebte sie, so wie sie und alles mit ihr Zusammenhängende war.


Sonderbare Konstruktion


Auch wenn ich alles wunderbar fand, musste ich schon konstatieren, dass es sich um ein außergewöhnliches und kurioses Verhältnis handelte. Dass wir uns gegenseitig sehr gern mögen mussten, tiefstes Vertrauen zu einander hatten, uns freuten, den anderen zu sehen, war doch nicht abzustreiten, aber wie ver­halten sich Menschen, wenn es so eine Beziehung zwischen ihnen gibt und es sich dabei noch um einen Mann und eine Frau handelt? Kein Wort darüber ver­lieren und starke persönliche Distanz wahren? So konnten nur wir darauf rea­gieren. Die Tatsache, dass es mal betriebsbezogen begonnen hatte, konnte doch nicht über Jahrzehnte übliche menschliche Wahrnehmungs-, Reaktions- und Verhaltensweisen außer Kraft setzen, die Teilnehmer dies nicht einmal be­merken lassen, sondern ihnen noch das Empfinden glücklicher Zufriedenheit dabei vermitteln. Eine gestörte Beziehung? Unsinn, jede Art von Beziehung ba­sierte auf den ihr individuell immanenten Gegebenheiten, aber was sich bei uns abspielte, war eine sonderbare Konstruktion, deren Entwicklung und Be­gründung mir verschlossen war. Einen Psychologen sollte man fragen, der wür­de einiges erklären können. Das tat ich aber nicht, ich fragte Rita, die kann auch sehr vieles erklären.


Ein Rätsel mehr


„Rita, wir kennen uns seit fast vierzig Jahren und mögen uns seit dem ersten Tag. Dass du eine Frau bist und ich ja offensichtlich ein Mann bin, hat dabei nie irgendeine Rolle gespielt. Wir haben es im Grunde gar nicht zur Kenntnis ge­nommen. Findest du das nicht sehr ungewöhnlich? Wie und warum konnten wir das so sehen? Ich dachte, so etwas sei überhaupt nicht möglich. Ob das Ge­genüber feminin oder maskulin ist, sei immer der erste zentrale Punkt der ge­genseitigen Wahrnehmung. Haben wir da etwas, sicher unbewusst, verdrängt?“ fragte ich die ehemalige Kollegin. Die starrte mich nur grinsend an und sagte nichts. Mit unterdrücktem Lachen fragte sie: „Und was soll ich jetzt tun? Dir um den Hals fallen? Sollen wir uns küssen? Möchtest du, dass wir zusammen ins Bett gehen?“ und platzte los. „Ja, so hatte ich mir das eigentlich vorge­stellt.“ reagierte ich, „Aber da ich ja weiß, um was für eine abgezockte Elfe und absolut coole Sau es sich bei dir handelt, hatte ich schon gewisse Schwierigkei­ten mit einkalkuliert. Nein, ich möchte gar nichts, Rita. Ich sage nur, was mir neulich aufgefallen ist, als ich mir Gedanken darüber machte, um worin unsere Beziehung, wie sie sich gestalte und um was für eine Art es sich dabei handle. Ich habe einfach nur darüber nachgedacht, und da sind mir einige Kuriositäten aufgefallen, für die ich keine Erklärung hatte. Ändern will ich nichts, ich war nur manchmal sehr erstaunt.“ Bis tief in die Nacht redeten wir über Beziehun­gen allgemein, über Beziehungen zwischen Mann und Frau und über unsere Beziehung. Ein Gespräch, wie es überhaupt nicht in unseren üblichen Ge­sprächsrahmen pass­te, und wie wir es noch nie geführt hatten. Dazu sagte aber niemand etwas, es schien uns nur beide brennend zu interessieren, mit­einander darüber zu reden. Rita schlief bei mir, im Gästezimmer selbstver­ständlich, weil es uns drängte, das Gespräch fortzusetzen, und nur zum Schla­fen mitten in der Nacht mit dem Taxi nach Hause zu waren, hätte sich ein we­nig albern ausgenommen. Wir re­deten über die persönlichen Beziehungen zu unseren Ehepartnern, wie wir sie erlebt, interpretiert und die bedeutenden Ele­mente gesehen hatten. Alles abso­lut neu und ungewöhnlich. Kein Sterbens­wörtchen hatten wir in der Vergan­genheit darüber gewechselt. Nicht weil wir es uns untersagt hätten. Auf die Idee, über Derartiges miteinander zu reden, kam schlicht niemand. Es hätte nicht gepasst. Warum es jetzt zu passen schien und interessant sein sollte? Ein Rätsel mehr. Die Quintessenz unserer Gespräche, bezogen auf unser persönli­ches Verhältnis lautete, das Beziehungen primär emotional dominiert seien und wahrscheinlich ziemlich zu Anfang schon sich die Struktur unseres Konstruktes etabliert habe. Daran rational etwas ändern zu wollen, sei nach den langen Jahren positiver Erfahrung gar nicht mehr mög­lich. Warum berieten wir überhaupt über potentielle fiktive Änderungsmöglich­keiten, wenn sowieso keinem von uns beiden daran gelegen war?


Etablierte Beziehungsstruktur


Emotional etablierte Beziehungsstrukturen, die veränderungsresistent zu sein scheinen, das kannte ich sehr gut. Es war verteufelt mit meiner drei Jahre älte­ren Schwester. Solange ich mich erinnern kann, mochte ich sie nicht. Den In­begriff einer widerlichen Ziege hatte sie für mich von klein auf symbolisiert. Sie petzte bei meiner Mutter und gab sich dabei als die mit ihr im Bunde über die Unmöglichkeit meines Verhaltens Beratende aus. Sie konnte sich mir nur in der Überheblichkeit gegenüber einem kleinen dummen Jungen zeigen, und was hassen kleine dumme Jungen mehr, als von einer nur wenig älteren Schwester überheblich und arrogant wie ein kleiner dummer Junge behandelt zu werden? Nichts auf dieser Welt. Sie wusste und merkte es, und machte sich einen Spaß daraus, mich in Rage versetzen zu können. Wo hatte sie das nur her? Wo hatte dieses kleine Mädchen so ein Verhalten gelernt, fragte ich mich später. Von meiner Mutter bei uns zu Hause jedenfalls nicht. Wahrscheinlich war ich das Hassobjekt, das ihr die alleinige Aufmerksamkeit und Zuwendung geraubt hat­te. Vielleicht empfand das kleine Mädchen sogar die Unerträglichkeit, dass die Liebe ihrer Eltern jetzt vornehmlich mir, dem Neuen, Kleineren gehören sollte. Als Kind habe ich zu meiner Schwester nie ein positives Verhältnis entwickeln können. Wir gingen uns mehr und mehr aus dem Wege, trafen uns nur noch zu Weinachten bei meinen Eltern, ich hatte so gut wie keinen Kontakt mehr zu ihr. Natürlich war sie nicht mehr die mich Verpetzende, Überhebliche, aber wie ich sie als Kind gesehen hatte, stellte eine Basis dar, auf der ich sie mein gesamtes weiteres Leben eingeschätzt habe. Ich kannte sie eigentlich gar nicht mehr, aber wenn ich etwas von ihr hörte, konnte ich mit Sicherheit urteilen: „Das ist typisch Sylvia.“. Das Verhältnis zu meiner Schwester tangierte mein Leben überhaupt nicht. Erst als sie Kinder bekam, und sich ein inniges auf Gegensei­tigkeit beruhendes Verhältnis zwischen Maren und den Kindern entwickelte, störte es mich. Maren verstand sich mit Sylvia prima und konnte mein distan­ziertes uninteressiertes Verhalten nicht nachvollziehen. Ich selbst ja im Grunde auch nicht. Sollte ich nicht mal mit Sylvia ein klärendes Gespräch führen und diesen Ganzen Kinderkram zu überflüssigen, störenden Relikten erklären? Und dann würden wir uns ab jetzt mögen und lieben? Unabhängig davon, dass sie voraussichtlich gar nicht wissen würde, wovon ich eigentlich spräche, wäre mein Glaube, dass sich durch ein Gespräch eine andere emotionale Sichtweise der Beziehung zu meiner Schwester ergeben würde, nichts als reiner Selbstbe­trug. Dieses mein Bild war mir mir ja lästig, ich wollte es nicht mehr haben. Wie viel emotionale Kraft musste man aus einer herzlichen, liebevollen Bezie­hung zwischen Schwester und Bruder schöpfen können, für mich aber sollte das Illusion bleiben. Das auf der kleinen Ziege basierende Bild war nicht zu zerstören und ein anderes, das es hätte ersetzen können, blieb ein gedankli­ches Konstrukt, dem meine emotionale Einschätzung keine Beachtung schenk­te. Lieben würde ich meine Schwester nie können, rational achtete ich darauf, dass meine Emotionalität nicht mit unsinnig Aversivem zum Zuge kommen konnte. Dass es nicht zwangsläufig immer so sein musste, dass ein einmal auf­genommenes Bild unveränderbaren Ewigkeitscharakter besaß, wusste ich auch, aber was wodurch in welchen Fällen die emotionale Sichtweise und viel­leicht sogar noch rational intendiert beeinflussen konnte, schien wohl nicht ein­fach in einem Katalog nachschlagbar. Für das Verhältnis zu meiner Schwester hatte ich zum Beispiel nichts Passendes gefunden.


Sei nicht traurig, Rita


Rita meinte, unser Gespräch habe ihr keine Ruhe gelassen. Sie habe noch viel darüber nachgedacht. Wir seien zwar zufrieden und glücklich mit unserer Art von Beziehung, aber alles andere, was bei uns nicht vorkomme, sei ja kein überflüssiger Tand, es handele sich ja nicht um Spielereien, die wir beide für unser Leben nicht brauchten. Wir hätten das ja zum Teil nicht mehr, verzichte­ten notgedrungen darauf, weil wir keine Partner mehr hätten, und nicht weil wir unser Leben so angenehmer empfin­den würden. Auf meine Nachfrage ex­plizierte sie alle positiven Aspekte persön­licher Beziehungen, stellte ihre Aus­wirkungen dar und malte sie mit Beispielen aus. „Stell dir vor, ich wollte einen Liebhaber haben. Das müsste ja ein fremder Mann von draußen sein. Du wärst ja auf Grund unserer Beziehungsstruktur tabu. Empfindest du so etwas denn nicht als sehr sonderbar, um nicht zu sagen verrückt? Es mag Zeiten gegeben haben, in denen unsere Beziehungsebene richtig, sinnvoll und nützlich war, nur jetzt ist sie pervers, auch wenn keiner von uns den Wunsch verspürt, irgendet­was daran ändern zu wollen. Warum gehen wir nicht gemeinsam ins Theater oder ins Kino? Weil das früher mal zum Privatbereich gehörte, den man mit seinem Partner erledigte. Seit Jahren haben wir beide keine Partner mehr, aber versagen uns die Erfahrung und die Freude, die ein gemeinsamer Kinobesuch vermitteln könnte, weil es ja nicht in unser Konzept passen würde. Wir denken nicht mal an so etwas. Thomas, normal ist das auf keinen Fall. Unsere Bezie­hungsstruktur mögen wir beide als in Ordnung und fast gottgegeben empfin­den, aber sie bedeutet auch das Festhalten an ei­nem aberwitzigen unpassen­den Konstrukt, das den derzeitigen Gegebenheiten in keiner weise gerecht wird.“ stellte Rita ihre Sicht dar. „Ich sehe es gar nicht völlig anders als du. Ich habe ja selber erklärt, wie verwunderlich sich manches für mich darstellt. Von außen betrachtet könnte ich sagen, wie schön müsste es sein, wenn sich die beiden lieben und ihr Leben miteinander teilen würden. Aber das kann doch nicht als Ergebnis einer gemeinsamen Be­schlusslage funktionieren, dabei han­delt es sich doch um emotionale Prozesse und die sind bei mir mit dem derzeit gegebenen zufrieden und nichts drängt sie zu Veränderungen. Selbstverständ­lich sollten wir gemeinsam ins Kino oder zu Veranstaltungen gehen. Eine gute Idee. Ein wenig unflexibel in unseren Ge­danken sind wir sicherlich, das kann man ja ändern, aber dass sich an der Grundlage unserer gegenseitigen Wahr­nehmung als Basis unserer Beziehung etwas ändern wird, kann ich mir nicht vorstellen. Darauf werden wir keinen Einfluss nehmen können und nach so lan­ger Zeit erst recht nicht mehr. Sei nicht traurig, Rita, aber ich werde in dir mit ziemlicher Sicherheit nie mehr die attraktive begehrenswerte Frau sehen kön­nen, sehr schade eigentlich. Obwohl … .“ schloss ich scherzend. Wir lachten. Rita fragte launig: „Und was ist mit dem 'Obwohl', bitte sehr?“ „Ach je, Rita, das ist eine traurige, nein im Grunde sehr bequeme Geschichte. Mir will es so scheinen, als ob mit Marens Tod auch alle Frauen dieser Welt für mich gestor­ben seien, zumindest das erotisch Anregende und Begehrlichkeiten Weckende an ihnen. Als Maren noch lebte, gab es immer viel zu viel davon für mich, und jetzt kann mich nichts mehr animieren, keine Lust mehr. Praktisch zwar, aber so ganz zufrieden in meinem Alter schon lässt es mich auch nicht sein.“ Ich hatte es gesagt und erschrak. Was hatte ich denn Rita da erzählt. Wenn wir anfingen, auf dieser Ebene uns gegenseitig Storys zu vermitteln, würde die an­genehme seriöse Struktur unserer Gespräche möglicherweise bald zu einem Palaver mit Gewäschaustausch von Plaudertaschen verkommen. Rita schien es gar nicht so aufzufassen. Sie fragte erstaunt nach und meinte, an dem Zusam­menhang mit Maren sehe ich ja, wie sehr sich alle Libido primär über den Kopf entwickle. Ängste um meine männliche Sexualität solle ich mal lieber nicht ent­wickeln. Und im Übrigen sei sie die attraktivste und begehrenswerteste Frau in der ganzen Stadt, zumindest in ihrem Alter. Das wisse sie auch so, unabhängig davon, ob ich in der Lage sei, dies erkennen zu können oder nicht.


Aletta, Géraldine und mein Bezug zur Weiblichkeit


Mein Bezug zur Weiblichkeit hatte mich allerdings schon öfter ins Grübeln kom­men lassen. Dass mich nach Marens Tod, andere Frauen zunächst nicht inter­essierten war selbstverständlich, zumal ich unsere Beziehung, unsere gemein­same Nähe, unser gegenseitiges Verständnis und unsere Zuneigung noch nie so intensiv erlebt zu haben glaubte, wie in der letzten Zeit bevor sie mich ver­ließ. Ich sah Maren, wie ich noch nie einen Menschen erlebt hatte. Als ob ich hundert zusätzliche filigranste Sensoren erhalten hätte, über die ich sonst nicht verfügte und für die Kombination und Koordinierung ein weiterer Bereich in meinem Gehirn eingerichtet sei. Das Wunder in ihrer Person, das, was man vielleicht als das Göttliche im Menschen ansehen oder bezeichnen kann, ver­deutlichte sich mir. Diesem Menschen hätte ich nie mehr den geringsten Miss­fallen bereiten können. Ich nahm ihre Stimme wahr, wie ich sie noch nie gehört hatte. Natürlich hätte ich immer die Stimme meiner Frau erkannt, aber der wirkliche Klang ihrer Worte, erschloss sich mir erst, als mir bewusst wurde, dass ich sie bald nie mehr hören würde. Die schönsten Sinfonien waren es, die sie sprechend mit mir kommunizierte. Nicht selten verpasste ich den Inhalt, weil ich ihrem Klang lauschte. Wenn ich bei ihr auf dem Bett saß, konnte ich endlos träumend die Landschaften ihres Gesichtes betrachten. Wenn Maren mir dann ein Lächeln schenkte, zog sich mir die Kehle zusammen. Oberflächlich grob erschien mir meine Sicht in der Vergangenheit. Warum lässt man sich auf seinen liebsten Menschen nicht immer so tief ein, warum erst, wenn es fest­steht, dass er bald sterben wird. „Lasst sie mir doch! Wir werden alles nochmal anders machen. Ganz an­ders, mit dieser unendlich teuren Frau, mit diesem wunderbarsten aller Men­schen.“ hätte ich heulend schreien können, die unbe­kannten Mächte anrufend, die die finsteren Beschlüsse gefasst hatten, sie mir zu nehmen. Über viele Jahre war das Leben mit Maren für mich selbstverständ­lich, aber jetzt schien ich erst wirklich zu begreifen, was ich verlieren würde, einen wunderbaren Menschen, der mich liebte, eine herrliche Frau, die mich verstand und achtete und natürlich auch diese faszinierende Persönlichkeit, wie sie sich mir erst in dieser letzten Zeit erschlossen hatte. Vielleicht ist es auch der Ein­druck ihrer letzten Tage, der es mir einfach macht, unsere gemeinsame Zeit in der Erinnerung ein wenig zu verklären. „Tom, es ist nicht gut für den Menschen allein zu sein.“ hatte Aletta gescherzt, als sie mich nach zirka einem Jahr dar­auf ansprach. Aletta ist meine ältere Nichte. Sie hatte, wie ihre zwei Jahre jün­gere Schwester Géraldine auch, seit ihren ersten Kindertagen ein be­sondere Verhältnis zu Maren, meiner Frau. Ob es daran lag, das Maren eigent­lich sehr gern selbst Kinder gehabt hätte, weiß ich nicht richtig. Sie hatte da­mals nach zwei Untersuchungen alles weitere abgelehnt. Sie wolle sich nicht auf's Kinderkrie­gen kaprizieren. Sie habe schließlich fast dreißig Jahre ohne ei­gene Kinder glücklich gelebt, das werde sie jetzt nochmal tun und dann wolle sie auch be­stimmt gar keine mehr. Die beiden waren fast ständig bei uns. Ein zweites Zu­hause stellten wir für sie sicher dar. Für meine Schwester und ihren Mann be­deutete es eine starke Entlastung, und sie wussten sie bei Tante Maren glück­lich und gut aufgehoben. Ich sah es so, dass ihre emotionale Heimat bei uns lag. Das ist bis heute so geblieben und daran hat sich auch durch Marens Tod nichts geändert. „Gérri meint auch, du solltest dich mal um 'ne Freundin kümmern. Früher haste Maren oft weh getan damit, jetzt würde sie es dir be­stimmt wünschen, aber du versauerst hier. Wie kommt das denn eigentlich? Wir hatten gedacht, du würdest vom Friedhof weg sofort mit einer neuen Frau losziehen, aber du machst hier einen auf Zölibat.“ meckerte Aletta. Ich wusste dazu doch auch nur zu sagen, dass ich keinen Bedarf verspürte. So war es ja aber früher auch nicht gewesen, das ich irgendein Bedürfnis nach anderen Frauen gehabt hätte. Nur wenn man im Gespräch beim Wein gegenseitiges In­teresse zu spüren schien, begann mein Gehirn sich anders zu falten und die Entscheidungsprozesse verliefen auf anderen als den gewöhnlichen Bahnen. Dem Vorsatz 'Du wolltest das doch nicht mehr tun.' die ihm gebührende Gel­tung zu verschaffen, fiel dann äußerst schwer. Aber es fiel mir auch schon schwer, die Möglichkeit eines persönlichen Gesprächs mit einer Frau, die mein Gefallen fand, auszulassen, gleichgültig ob sich daraus etwas ergeben würde. Das existierte heute alles nicht mehr. Eine Frau war für mich ein üblicher ande­rer Mensch und genoss keine irgendwie gearteten besondern Sympathien, die aus ihrer Weiblichkeit resultierten. Warum alles plötzlich anders war, konnte ich nicht erklären. Es erstaunte mich nur und war in gewisser Hinsicht sehr prak­tisch. „Du kennst doch genug Leute, Tom, daran kann's doch nicht liegen. Du musst ja schließlich nicht mit 'ner Frau zusammen leben. Gérri lebt ja auch al­lein, aber bei dir fände ich es schon sehr sonderbar. Wenn sich das nicht än­dert, würde ich an deiner Stelle doch mal jemanden um Rat fragen.“ hatte Aletta noch in Sorge um meine psychosoziale Disposition vorgeschlagen. Aletta besuchte mich noch häufiger als Géraldine, aber meistens sprachen sie sich ab und kamen beide. Es waren keine Besuche, sie kamen nach Hause, und so ver­hielten sie sich auch. Ich benötigte eigentlich keinerlei Hilfe, aber sie regelten alles. Kauften für mich mit ein, putzten und kochten, wenn sie da waren, zu Hause war man ja schließlich nicht zum Couch platt sitzen und Kaffee trinken. Wenn Gèrri wieder einen neuen Freund hatte, es handelte sich jedes Mal um den ultimativ optimalen Lebenspartner, musste der natürlich ziemlich bald Tom kennen lernen, und für Alettas süßen Kinder war ich der Opa Tom oder Tommy. Im Grunde war das Verhältnis zu den beiden nicht viel anders als zu eigenen Kindern. Ich empfand es sogar angenehmer, da es mir offener und freier vor­kam, weil ihm diese elterliche Verantwortung und Verpflichtung fehlte. Die Be­ziehung war ebenbürtiger.


My poor old little brain


Aletta und Géraldine wussten zwar, dass ich mich ab und an noch mit einer al­ten Bekannten aus dem Betrieb traf, aber als Rita häufiger zu mir kam, begeg­nete man sich auch öfter. Jetzt wollten beide in stundenlangem Verhör unsere Beziehung genauestens erläutert haben. Trotzdem konnten sie es nicht fassen und verstanden es nicht. Beide mochten Rita, obwohl man sich nur aus weni­gen kurzen Gesprächen beim Abendessen oder Kaffeetrinken kannte. „Tom, wenn ich etwas nicht verstanden hatte, hast du es mir immer erklärt und ich konnte es verstehen.“ erläuterte Géraldine, „Nur was du mir jetzt erklärt hast, von dem habe ich nichts verstanden. Ich habe gehört was du gesagt hast, aber mein Bauch lehnt es ab, er will kein Bild daraus machen. Das kann alles nicht sein. Es mag euch ja gefallen, aber was ihr betreibt ist pervers. Sei doch ein­fach mal du selbst. Der gleiche, der du sonst auch immer bist und nicht so eine verdrehte Gestalt aus der Firma, dessen Rolle du in eurer Beziehung spielst.“ „Ja ich denke auch, dass ihr da so etwas wie festgelegte Rollenbilder tradiert. Und in denen kann nicht vorkommen, das Rita eine wunderbare Frau ist, die hervorragend zu dir passen könnte.“ pflichtete Aletta dem bei, „Das ist sehr schade für dich, Tom. Willst du dir nicht mal Gedanken darüber machen, ob du nicht doch Interesse daran haben könntest, an eurem Verhältnis etwas ändern zu wollen?“


Nein ich wollte nicht. Obwohl sich so zu verhalten, als ob überhaupt keine Dis­kussionen stattgefunden hätten, ein Zurück zum ex ante konnte es auch nicht geben. Ich hatte nie Veränderungen intendiert oder als wünschenswert erach­tet, und nun sollte sich my poor old little brain davon verwirren und martern lassen? Im Allgemeinen hatte ich nicht die Vorstellung, das der Inhalt meines Köpfchens arm und hilfsbedürftig sei, ich bewunderte ihn eher für alles, was dort Platz finden konnte. Millionen oder sogar Milliarden von Bildern mussten sich darin versammeln. Kein Museum der Welt wäre groß genug, sie alle aus­stellen zu können. Vom assyrischen Streitwagen bis zu meiner Kinderlieder sin­genden Mutter. Alles was brauchbar oder überfüssig war. Alles gab es da. Was wollte ich von Streitwagen, aber ich konnte sie nicht rauswerfen, es tummelten sich sogar noch mehrere davon. Die Schlacht zwischen Hethitern und Ägyptern bei Kadesch war hauptsächlich mit Streitwagen geführt worden, und dass Alex­ander der Große die gefürchteten persischen Streitwagen des Königs Dareios in der Schlacht von Gaugamela ausgetrickst hatte, wollten meine grauen Zellen auch nicht wieder streichen. Und dann gab es noch die griechischen, die fried­lich 'zum Kampf der Wagen und Gesänge' bei den isthmischen Spielen in Ko­rinth eingesetzt wurden. Das wusste ich aber nur aus zweiter Hand von Schil­ler, und ob dessen Griechenland eher vor zweitausend Jahren auf dem Balkan stattgefunden hatte oder doch näher in der Gegend um Weimar positioniert war, wusste man nicht und wollte es auch nicht so genau wissen. Was sollte ich mit diesem ganzen Streitwagenplunder, von dem es bestimmt noch einmal dop­pelt so viel in den meinem Bewusstsein augenblicklich nicht präsenten Be­reichen meines Gehirns gab. Das musste ich doch nicht alles wissen, um bei An­wendung des Begriffs Streitwagen sofort entscheiden zu können, dass es sich dabei nicht um ein probates Einsatzmittel im Ehestreit zwischen Herrn und Frau Neugebauer handelte. Ob ein Bild hängen bleiben, oder verschwinden sollte, darauf hatte ich so gut wie keinen Einfluss. Es war eigentlich ja auch be­liebig. Wertvolles war ja letztendlich gar nicht darunter. Ich hatte von Schillers Bild noch einmal auf mein eigenes umkoloriert. Aber wie war es denn bei den anderen? In einem Streitwagen gekämpft hatte ich noch nie, auch keine Ein­sätze beobachtet. Ich hatte noch nie einen einzigen Streitwagen gesehen. Alles nur Fakes. Ansammlungen von Imitaten, Surrogaten und Imaginationen waren es, was sich da in meinem Kopf befand. Wer sollte sich so etwas in einem Mu­seum anschauen wollen. Ich sollte lieber froh sein, dass es die Möglichkeit gab, diese Unmengen von Müll auf kleinstem Raum in meinem Kopf zu verbergen.


Was möchtest du gerne in deinem Kopf haben?


„Tommy, Tommy, du spinnst dir immer etwas zusammen. Du machst mir Angst.“ sagte Rita zwar, als ich ihr von den neuesten Vorstellungen zu meinem Gedächtnis berichtete, sie sah mich aber mit einem breiten Grinsen an und ihre Augen lachten auch. „Was möchtest du denn gerne in deinem Kopf haben? Was sollte sich denn nach deinen Vorstellungen darin befinden? Real existie­rende Kleiderschränke, die keine Imaginationen sind, etwa? Tom, etwas ande­res, als was deine Sinne wahrnehmen, kann sich doch darin nicht befinden, und was deine Wahrnehmung mit den Impulsen von Auge und Ohr zum Bei­spiel macht, hat mal bei fast Null angefangen. Darauf, dass du das Gesicht dei­ner Mutter aus den von den Augen übermittelten Reizen erkennen konntest, hat al­les weitere was du sehen und erkennen kannst sich aufgebaut. Die Erwei­terung und Ausgestaltung ist das, was du immer wieder auf der Basis des Be­stehenden hinzugewinnen und umstrukturieren konntest, Tag für Tag. Das ist dein Leben. Wie du mich heute siehst, dazu steht dir deine Geschichte zur Ver­fügung, du selbst spiegelst dich darin wieder. Die Bilder sind keine Imitate, sondern um deine eigenen Gemälde handelt es sich, wie du sie zu bestimmten Zeiten deiner Entwicklung anfertigen konntest. Sie sind das, was deine Ge­schichte, dein Leben, das, was du heute bist, deine Identität ausmachen. Zu dem du sagen kannst: 'Ich, Thomas', und das es so kein zweites Mal gibt.“ Rita lächelte, jetzt freundlich milde, schaute zum Fenster nach draußen und smilte sinnierend, träumend weiter. Sie schaute zurück und lächelte mich wieder in­tensiver an. „Was ist?“ fragte ich. „Mhm, mhm, das kann ich nicht sagen. Es ist aber bestimmt nichts Böses, das Gegenteil eher.“ antwortete Rita und legte mir ihre Hand auf meinen Handrücken.


Mini-Cineasten und andere


Ob ich an unserer Beziehung etwas ändern wollte, warum sollte ich mir denn etwas dazu überlegen? Es geschahen ja permanent Änderungen ohne intentio­nale Aktivitäten oder Einflussnahmen meinerseits. Schon nach relativ kurzer Zeit gingen wir nicht mehr mal gemeinsam ins Theater, sondern es erweckte ehr den Eindruck, dass wir beide nach Events suchten, an denen wir gemein­sam teilnehmen konnten. Niemals in meinem Leben, war ich so häufig im Kino gewesen, wie jetzt. Dann las man sich natürlich noch die Kritiken vorher im Netz durch, damit man ein wenig detaillierter und qualifizierter darüber reden konnte. Aber nicht nur zu Mini-Cineasten hatten wir uns entwickelt, wir schie­nen insgesamt kulturell aufgeblüht und liebten es auch, uns gemeinsam ent­sprechendes im TV anzuschauen. Im Grunde hatte dadurch allein schon unsere Beziehung ein ganz anderes Gesicht erhalten. Aber nach und nach änderte sich noch vieles mehr. Sehr häufig war Rita jetzt bei mir, natürlich auch, weil es mehr Möglichkeiten gab, als sich beim Kaffee gemeinsam zu unterhalten. Mir kam es so vor, dass Aletta, Géraldine und Rita großen Wert darauf legten, sich bei mir zu treffen. Bestimmt sprachen sie sich ab. Ein Abendessen mit Aletta oder den beiden ohne dass Rita auch anwesend war, gab es bald nicht mehr. Es war ja wunderbar und gefiel mir sehr, wenn wir alle zusammen waren, nur ob Aletta und Gérri wohl irgend welche Intentionen uns beide zu verkuppeln damit verbanden? Bestimmt. Es amüsierte mich nur. Befürchtungen, dass ich mich in Rita zu verlieben hätte, weil die beiden es so für das Sinnvollste hielten, quäl­ten mich nicht.


Durch Ritas häufige Aufenthalte bei mir, war sie nicht nur stärker in den Tages­ablauf und das Haushaltsgeschehen bei mir eingebunden, bei ihr selbst zu Hause schien vieles langsam zu schrumpfen. Von ihren beiden Tageszei­tungen zum Beispiel hatte sie eine abbestellt, die andere kam jetzt zu uns. Sie war ja sowieso fast jeden Tag bei mir. Wir hatten zu Beginn unserer gemeinsa­men Treffen auch mal versucht, uns in ihrer Wohnung zu treffen, aber es hatte uns beiden nicht sonderlich gefallen. Die Atmosphäre in unserem Haus sagte uns mehr zu. Neuerdings bevorzugten wir es, bei erträglichem Wetter uns spazie­ren gehend zu unterhalten. Zunächst, weil Bewegung und frische Luft uns bei­den ja gut tun würde, aber es ließ sich einfach nicht übersehen, dass es auch wesentlich mehr Spass machte. Worüber wir sprachen? Unsere alten Be­reiche und Strukturen existierten nicht mehr. Jetzt kam es mir vor, das wir wirklich über alles reden konnten. Viel erkundigten wir uns nach dem Leben des ande­ren, Ereignissen aus seiner Kindheit und Jugend, seinem Studium und seinen Liebesgeschichten. Davon wussten wir ja überhaupt nichts. Jetzt konn­ten wir nicht verstehen, dass es uns früher gar nicht interessiert hatte.


„Also, mit deinem Gedächtnis, da kommst du doch jetzt auch klar, oder? Nur dieser Komplex mit den assyrischen Streitwagen der will sich mir als Außenste­henden überhaupt nicht erschließen. Ich weiß ja nicht, was sie dir tatsächlich bedeuten, aber manchmal ist es einfach so, dass da noch irgendetwas offen geblieben ist, das dein Bewusstsein gar nicht direkt erkennen kann. Das dir deine Kinderliedder singende Mutter einfiel, ist ja o. k., aber als zweites ausge­rechnet diese Streitwagen. Bedeutungslos kann so etwas eigentlich nicht sein. Du solltest dich doch nochmal intensiver mit assyrischen Streitwagen befassen. Und wenn du dann alles dazu erforscht, alles darüber gelesen hast, wirst du das Kapitel befriedigt abschließen und das Buch 'Assyrische Streitwagen' in dei­nem Gedächtnis beruhigt zuklappen können.“ musste Rita mich wissen lassen. Mit Maren glichen derartig provokante Neckereien immer einer Art Liebesauf­forderung. Es kam zu Rangeleien, Liebkosungen und nicht selten landeten wir an­schließend im Bett. Ohne gegenseitige Berührung lief es nie ab. Und jetzt? Sollte ich Rita für ihr launiges Mich-ärgern-wollen knuffen oder kitzeln? Ach wo, das konnte ich nicht und wollte ich nicht. Ich konnte nur schmunzeln und lau­nig verbal darauf reagieren. Wir hatten kein Problem uns gegenseitig zu berüh­ren, wir umarmten und küssten uns ja auch zu Begrüßung und Abschied, nur Berührungen, die mit liebevoller Zuneigung in Verbindung gebracht werden konnten, schienen uns zuwider oder zumindest doch verboten zu sein. Trotz­dem bereiteten uns die verbalen Neckereien vermehrt Freude.


Urlaubspläne


Beim Abendbrot unterhielt man sich über Urlaubspläne. „Und wo wollt ihr die­ses Jahr hin?“ erkundigte sich Gérri keck mit einem leicht anklingenden Grin­sen. „Also ich fahre ...“ begann ich und konnte nicht fortfahren. Alle Augen starrten mich gespannt lauernd an, als ob sie eine ungeheuer lustige Erklärung erwarteten. „Wo willst du denn wohl hinfahren, Tom? Fahr nach Sibirien, dort gibt es riesig große Wälder, in denen du ganz unendlich allein sein kannst. Man, Frau Meyer und Frau Schulz, die einmal in der Woche Rezepte austau­schen fahren gemeinsam in Urlaub, und ihr beiden, die die dicksten Freunde seid, dürft das nicht? Muss man da noch ein Wort drüber verlieren, für welch abstruse Gedankenproduktionen ihr eure Köpfe missbraucht?“ bekam ich es von Aletta erklärt. Obwohl sie ja uns beide angesprochen hatte, schien Rita sich überhaupt nicht tangiert zu fühlen. War sie selbst davon ausgegangen, dass wir beide gemeinsam in Urlaub fahren würden? Hatte sie sich eventuell mit Aletta und Géraldine abgesprochen? Steckten sie unter einer Decke? Hatte ich mich im eigenen Hause gegen ein Komplott von drei Frauen zu wehren? Was sie sonst noch wohl alles gegen mich ausheckten oder schon ausgeheckt hatten? When shall we three meet again? Aber ich liebte die Hexen ja, alle drei und war mit ihnen äußerst glücklich, obwohl ich schon manchmal empfand, nicht mehr ganz Herr im Hause meiner eigenen Geschichte zu sein.


Rita und ich planten jetzt unseren gemeinsamen Urlaub, ausgesprochen kurios mutete es mich zunächst an, aber als wir mehr und mehr über unsere Wün­sche und Vorstellungen sprachen, war das schnell verflogen. Ich hatte immer davon geträumt, noch mal wieder nach Griechenland zu fahren. In ganz jungen Jahren war ich einmal dort gewesen. Damals war ich traurig, dass die Griechen die Schätze ihrer Geschichte so wenig zu achten schienen. Dem Taxifahrer hat­ten wir auf der Karte zeigen müssen, wo sich das alte Olympiastadion befand, und es war tatsächlich halb verwildert. Heute musste es wohl sehr viel anders sein, und ich hatte Angst vor zu großen Touristenmassen im Sommer. Meine Affinitäten zu Griechenland beruhten zwar nicht auf den Festspielen mit Streit­wagenkämpfen, aber von Schiller war es schon ausgegangen. Dass er das klas­sische Griechenland benutzte, um seine Gedanken- und Wertewelt zu vermit­teln, war mir damals weder aufgefallen noch hätte es mich interessiert. Ich liebte die wunderbaren Balladen, die in Griechenland verortet waren, aber nicht deshalb. Während der Pubertät konnte ich mich an der Theatralik der Sprache endlos ergötzen.


„Da reißet die Brücke der Strudel hinab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölbes krachenden Bogen.“


aus der Bürgschaft zum Beispiel. Da konntest du zu Hause im Sessel sitzen, und die Augen schließen. Du brauchtest nur den Worten zu lauschen und hat­test das Bild, direkt dabei zu sein, am wild tosenden Strom zu stehen und ihn die Brücke zerkleinern zu sehen. Griechenland übte allerdings schon eine ge­wisse Faszination aus. Die anderen Balladen konnten mich nicht in gleicher weise beeindrucken. Nur was ich bis dahin über Griechenland und die griechi­sche Geschichte wusste, war ja viel zu dürftig, um die Hintergründe und Zu­sammenhänge sehen zu können. Dass Schillers Geschichte von Damon, dem Tyrannenmord planenden Gesellen, erst durch Cicero an den Hof des Tyrannen Dionysos von Syrakus verlegt worden war, und wer dieser Dionysos überhaupt war, das musste ich ja schon wissen. Aber erst Korinth. Die Festspiele standen denen von Olympia kaum nach, und was da sonst noch alles geschah. Der Ar­temiskult fand bei dem frisch pubertierenden jungen angehenden Mann beson­dere Aufmerksamkeit. Dass man in erotischen, sexuellen Kontakten Assoziatio­nen in Bezug zur Verehrung einer Göttin herstellen konnte, leuchtete mir auch in späteren Jahren noch sehr gut ein. Aber da gab es ja auch noch Medea mit ihrem Jason und der ganzen Argonautenfahrt, und vieles mehr allein in Korinth und in Beziehung dazu. Eine unbegrenzte Welt hatte sich eröffnet, die eine Jahre andauernde graecophile Phase auslöste. Ein Ende fand sie erst, als mich die Beschäftigung mit den griechischen Dramen allmählich zum allgemeinen Interesse für Dramaturgie und Literatur der Neuzeit führte. Ich glaubte immer noch Einiges zu wissen über Griechenland, mein Herz war immer ein wenig dort geblieben, und ein Urlaub dort hätte für mich eine wunderbare Erinnerung an intensive und glückliche Zeiten meiner eigenen Geschichte bedeutet. Rita schaute mich milde freundlich lächelnd an, als ich davon erzählte. „Selbstver­ständlich.“ erklärte sie nach einer kurzen Pause, „Selbstverständlich fahren wir nach Griechenland. Du wirst mir alles zeigen und erklären, was du weißt. Au­ßer den Relikten des Geschichtsunterrichts ist da nämlich bei mir nichts. Viel­leicht bricht bei mir dann ja auch eine graecophile Phase aus. In Griechenland war ich auch schon mal, in Mykonos. Aber der Stern ist dort für mich unterge­gangen. Mediterrane Touristenidylle, das brauche ich nicht.“


Griechenland


Vier Wochen lang verbrachten wir jeden Tag gemeinsam. Kein Reiseunterneh­men, keine Touristikagentur dirigierte uns zu vorgeben Sehenswertem, wir suchten uns persönlich aus, was wir unternehmen wollten, und erreichten un­sere Ziele mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zum Teil mit einem Taxi. Wun­dervoll, wir hätten immer so weiter leben können. Rita sprach es an: „Thomas, es gefällt uns wunderbar, wie wir jetzt im Urlaub leben. Warum gönnen wir uns so etwas nicht zu Hause? Wozu brauchen wir dort unsere getrennten Privatle­ben? Wirst du etwa morgen die Absicht haben, eine fremde Frau kennenzuler­nen und sie zu dir ins Haus holen wollen? Gibt es irgendetwas, wo­bei ich dich stören würde? Warum sollten wir nicht zu Hause genauso leben können, wie jetzt auch hier?“ „Als wir zum ersten Mal über die Kuriositäten unserer Bezie­hung gesprochen haben, waren wir der Überzeug, es ließe sich sowieso nichts daran ändern, weil es eine zu lange Geschichte habe und emotional zu fest verankert sei. Jetzt hat sich fast alles verändert, obwohl wir es ja im Grun­de gar nicht wollten, weil uns das frühere gut gefiel. Sind wir heute etwa weni­ger glücklich? Das Gegenteil trifft doch wohl eher zu. Warum stehen wir Verände­rungen immer so reserviert gegenüber? Können wir uns kein Bild von dem ma­chen, was uns erwartet, weil wir es nicht kennen? Müssen wir Veränderun­gen immer erst unbeabsichtigt erfahren, um erkennen zu können, wie vorteil­haft sie sind? Natürlich sollten wir zusammen wohnen. Und etwas ganz Kühnes habe ich auch noch zu verkünden. Ich werde dich nämlich ab sofort immer streicheln, wenn du mir Lust darauf machst.“ stellte ich meine Ansicht dar. Rita lachte wegen des Schlusses laut auf. Dann wurde sie still und lächelte mich an. Sie nahm ihre rechte Hand und ließ sie ganz langsam sanft über meine linke Wange gleiten. Zum Abschluss bekam ich noch einen von einem breiten freundlichen Lächeln begleiteten kleinen Stups auf die Nasenspitze. „Aber Tom­my, so ist das nun mal. Was wirst du anderes erwarten können, als was bei dir schon vorhanden ist. Mehr oder anderes steht dir nicht zur Verfügung. Und dei­ne Wünsche und Befürchtungen erklären dir, was du sehen willst und wahr­scheinlich dann auch wirst. Es fällt dir äußerst schwer, etwas Neues als solches zu erkennen und zuzulassen. Vielleicht ist es ein guter Schutz vor chaotischem zusammenhanglosem Wahrnehmen und Denken. Aber manchmal kann es eben auch sehr stören und behindern.“ in derart sibyllinisch anmutenden Redewen­dungen äußerte sich Rita häufiger. Wenn meine Neugier auch einerseits gern gewusst hätte, woran sie dabei konkret dachte, was ihr vorschwebte, liebte ich andererseits auch das leicht Rätselhafte. Es zu zerstören, in dem ich konkret nachfragte, und Rita ja auch nur das sagen würde, was sie mich wissen lassen wollte, gefiel mir nicht. „Tommy, was denkst du, werde ich in deinen Erinnerun­gen, in deiner Geschichte eine Chance haben gegen die Streitwagen, die Schil­ler an den isthmischen Spielen teilnehmen ließ? Könnte mir da vielleicht ein höherer Rangplatz zukommen. In Korinth waren wir ja schließlich auch lang und ausgiebig, und unsere Festspiele dauern doch sogar schon vier Wochen lang. Wir haben zwar nicht Gewinner im Kampf gegeneinander ermittelt, son­dern auf einem höheren Level entschieden, gemeinsam zu agieren. Zu dem haben wir in Griechenland das lästige Gestrüpp des Noli me tangere beseitigt. Wirst du das als etwas Bedeutsames anerkennen, und diesem Bild einen würdi­gen Platz im Museum deiner memorierten Gemälde zukommen lassen?“ fragte Rita mit schelmischem Lächeln. Jetzt war mir eher danach, sie zu küssen als sie zu streicheln. Ich tat weder das eine noch das andere, sondern erklärte: „Rita, meine Liebe, das Bild wird zentral im Foyer in einer extra dafür angefer­tigten Vitrine zu bewundern sein. Bei jedem Besuch des Gedächtnisses wird der erste Blick darauf fallen. Im Moment kann ich die Details des Bildes nur noch nicht genau entziffern. Ich meine dich triumphierend in Siegerpose in einem korinthischen Streitwagen zu erkennen, und wenn ich es richtig sehe, wirfst du mit der linken Hand verächtlich Sträuße von Mimosen und des Kräutchens Rühr-mich-nicht-an zur Erde nieder. Würde das in etwa deinen Wünschen an mein Erinnerungsvermögen gerecht werden?“ Jetzt bekam ich einen Kuss auf die Stirn. „Thomas, ich freue mich. Ich denke, es wird uns glücklich sein lassen. Wir werden viel Spaß haben und häufig lachen können. Es wird eine schöne neue Zeit werden.“ brachte Rita ihre Vorfreude zum Ausdruck.


Aletta und Géraldine reagierten unabhängig voneinander mimisch absolut iden­tisch, als ich sie über unsere Absicht, zusammen zu leben, informierte . Sie schauten mich an, nahmen einen tiefen Luftzug und bliesen ihn hörbar bei breitgezogenen Lippen erleichtert wieder aus. „Na endlich, hat das gedauert, war das ne schwere Geburt.“ Etwas in dieser Richtung musste dabei wohl ge­dacht werden. Alettas Bemerkungen dazu ließen auch derartiges vermuten: „Ich sag da gar nichts zu. Ich finde es nur absolut richtig, toll und wunderbar für euch. Was war, ist Vergangenheit, Geschichte, es interessiert mich nicht mehr. Ab jetzt zählt nur, dass ich mich mit euch freue.“ Géraldine starrte mich nach dem erleichterten Ausatmen kurz grinsend an, fiel mir um den Hals, und ich bekam überall hin Küsse von ihr. „Den Beginn derartiger neuer Äonen kann man wohl nur in Griechenland selbst beschließen. Ich muss da auch unbedingt mal hin. Tom, irgendwann wirst du letztendlich immer das Richtige tun. Ich kenne dich. Ich weiß das genau und ich liebe dich. Eine wunderschöne Vorstel­lung, dass in Zukunft immer ihr beide hier sein werdet.“ freute sich Gérri für uns und fuhr fort, „In bestimmter Hinsicht gefällt mir deine Beziehung zu Rita außergewöhnlich gut. Vielleicht liegt es ja einfach nur daran, dass du älter und vernünftiger geworden bist, aber ich finde ihr geht bewundernswert respektvoll miteinander um. Ich könnte mir vorstellen, wenn ich in einer Beziehung dauer­haft einen derart respektvollen Umgang mit meinem Partner hätte, würde sie ewig halten. Vielleicht ist so etwas hinterher viel kostbarer und wichtiger als die Relikte der anfangs überschwänglich stürmisch begeisterten Liebe. Auf Dauer nimmt der andere an Wert für dich ab, und entsprechend behandelst du ihn, gestaltest deinen Umgang mit ihm, und das ist tödlich. Ein Mensch kann nie minderwertiger werden, wenn du ihn danach bewertest, wie er in der Lage ist, deine amourösen und erotischen Bedürfnisse zu befriedigen, hat das im Grunde von Anfang an mit Respekt gegenüber dem anderen nicht viel zu tun.“ kam Gèrri ins sinnieren. „Liebste, am besten schaust du dir immer genau an, was bei uns läuft, überträgst es auf deine Beziehung, und du kannst sicher sein, dass nichts auf dieser Welt die endlose Dauer deines erfüllten Glücks je wird stören können.“ reagierte ich. Gerri zog eine breit grinsende Schnute, kniff mir in die Backe und begab sich zu den anderen in die Küche.


Eine etwas andere Situation


Körperliche Berührungsfragen hatte es zwischen den beiden Mädels und mir nie gegeben. Ich hatte ihnen als Babys die Windeln gewechselt und ein körper­liches Verhalten wie zwischen Eltern und Kindern war immer selbstverständlich geblieben. Erotische Empfindungen hatte es nie gegeben. Sie waren ja erwach­sene Frauen, aber bei ihnen nahm ich das auch nicht wahr. In der Pubertät war mir natürlich aufgefallen, wie die kleinen Mädchenkörper allmählich weibliche Formen annahmen, aber eher amüsiert betrachtend, mit erotischen Begehrlich­keiten hatte es überhaupt nichts zu tun. Allerdings das äußere Erscheinungs­bild, die weiblichen Formen waren für mich auch nie Anlass oder Ausgangs­punkt für erotisches Interesse. Natürlich gefiel mir die Schönheit des weibli­chen Körpers, aber ob eine Frau größere Brüste oder einen dicke­ren Hintern hatte, bedeutete mir nichts. In der Regel nahm ich es überhaupt nicht zur Kenntnis. Für die Werbung nach dem 'Sex sells'-Prinzip wäre ich wahrscheinlich immer schon der denkbar schlechteste Ansprechpartner gewesen. Ich habe mich natürlich auch selbst gefragt, was mich denn bewegen könnte. Mit Sicher­heit ist es der Gesamteindruck, in den ich mich Begeisterndes hinein interpre­tieren kann. Welche Persönlichkeit meine Wahrnehmung den von den Augen vermittelten Reizen zuordnet. Ich sehe eine Frau und denke, wie interessant es wohl sein muss, sich mit ihr zu unterhalten. So ein Unfug eigentlich. Aber völlig daneben gelegen habe ich nur sehr selten. Das erotisch sexuelle Interesse ent­wickelt sich bei mir sehr indirekt auf sozial-­kommunikativen Wegen. Nach die­ser Theorie müsste ich an Rita sexuell total interessiert sein. Aber jetzt regte sich ja schon seit Jahren sowieso überhaupt nichts mehr. Vielleicht waren in Hypothalamus und Hypophyse ein paar Hebel umgelegt und die Testosteron­produktion endgültig eingestellt worden. Das ging glaube ich mal eher so nicht. Aber sonderbar kam es mir schon vor mit damals siebenundfünfzig, als es mir auffiel. Nur mir fehlte ja nichts, eine Frau hatte ich nicht und wollte ich auch nicht, wozu sollte ich da was behandeln lassen. Jetzt stellte sich die Situation ein wenig anders dar. Ich wünschte mir ja schon, dass mich Rita erotisch sexu­ell interessieren würde. Ob Rita es sich auch wünschte, was es ihr bedeuten würde, und wie sie darüber dachte, ich wusste es nicht genau. Ob­wohl wir über alles sprachen, darüber nicht. Zu wissen, wie gern es Rita gese­hen hätte, wenn wir zwei auch die Nächte miteinander verbringen würden, än­derte an meiner Disposition überhaupt nichts, es hätte mich höchstens noch zusätzlich frus­triert. Zu den von ihr damals benannten positiven Aspekten per­sönlicher Bezie­hungen, die es zwischen uns nicht gab, gehörten jedoch Körper­lichkeit und Se­xualität auch dazu. Ich ging zum Arzt. Nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Alle physiologischen Werte, die eventuell mit dem Sexualtrieb in Zusammen­hang gebracht werden konnten, voll im Mittelfeld. Organisch könnte mein Ver­hältnis zum Sexuellen keinesfalls begründet sein, es könne sich nur im Psychi­schen abspielen, wie in der weitaus überwiegenden Anzahl der Fälle. Da könne mir nur ein Psychotherapeut eventuell helfen. Wieso eventuell? Na ja, der setze ja auch nicht eine sexualdiagnostische Brille auf und erkenne: „Da liegt das Problem.“. Der Therapeut stelle ja auch nur, zwar fundierte, aber eben doch nur Hypothesen auf. Selbst wenn die Diagnose absolut zutreffend sei, wie ich dann auf die durchzuführenden Therapien anspreche, sei noch einmal wieder völlig offen. Alles basiere eben nur auf Erfahrungsmittelwerten. Trotzdem ging ich zum Psychotherapeuten, einen dritten Weg gab es ja nicht. „Das hängt mit ihrer verstorbenen Frau zusammen.“ erklärte der mir gleich in der ersten Sit­zung, „Sie lieben sie immer noch über alle Maßen, und jede fremde Frau muss da rausgehalten werden. Warum sich das bei ihnen so verfestigt und diese spe­zielle Form angenommen hat, kann ich ihnen jetzt allerdings auch noch nicht sagen. Vielleicht haben sie ihr gegenüber irgendwelche Schuldgefühle oder dergleichen. Das wird man noch näher zu analysieren haben.“ Oh je, vielleicht hatte er ja Recht, bestimmt hatte er Recht. Schön zu wissen, dass es mit Ma­ren zusammenhing, aber mein ganzes Leben mit Maren noch mal wieder aufar­beiten, das war zu viel für mich. Das wollte ich nicht, ich wollte meine Erinne­rung ja auch so behalten und ertragen können hätte ich es auch nicht. Da wür­de ich lieber weiterhin mit Rita in getrennten Betten schlafen. Wir waren fast vierzig Jahre glücklich miteinander, ohne je einmal zusammen im Bett gelegen zu ha­ben, warum sollte das morgen plötzlich nicht mehr so sein? Es war ja so­wieso nicht primär meine eigene Motivation. Ich stellte mir nur theoretisch vor, dass es schön sein könnte. Ein Bedürfnis oder Verlangen drängte mich selber nicht. Ich war nur zum Arzt gegangen, weil ich der Annahme war, es könnte unsere Beziehung positiv beeinflussen, wenn Rita dadurch glücklicher sein wür­de.


Ein Mensch, wie man ihn sich wünschte


Als ich mit Aletta über meine Arzt- und Psychotherapeutenbesuche sprach, und ihr erläuterte, das meine jetzigen Probleme an meiner Liebe zu Maren festge­macht werden sollten, meinte sie: „Ich habe es immer so gesehen, dass ihr eine ganz innig tiefe Beziehung hattet. Auch wenn ihr euch so oft gestritten habt, das konntet ihr nicht verbergen. Bei uns zu Hause gab's keinen Streit, aber hier war die Atmosphäre trotzdem immer viel wärmer und freundlicher. Ich habe mir es immer so vorgestellt, wenn die Milliarden Menschen alles Teile von einem Puzzle bildeten, dann wärt ihr zwei diejeni­gen aus der ungeheuren Menge, die genau zueinander passtet. Mit deinen Frauengeschichten, das hat mir auch sehr weh getan. Ich mochte dich doch so gern, aber dafür konnte ich dich hassen. Einerseits natürlich, weil du Maren da­mit immer sehr verletzt hast, und ich nicht verstand, wie du deiner Liebe ge­genüber so etwas tun konntest. Ich habe es mir so vorgestellt, dein lieber Tom ist über's Wochenen­de auf einer Tagung, und da spielt er plötzlich den Hallodri, eine genauso schreckliche Vorstellung. Aber als ich mir später mal vorzustellen versucht habe, wie so etwas wohl abliefe, da kam ich dann zu anderen Bildern. Du bist ja nicht ein Don Juan, der Frauen zur anzublicken braucht, und sie lie­gen ihm zu Füßen. Andererseits habe ich mich auch gefragt, wieso machen die Frauen das mit. Frauen sind in deinen Bereichen ja absolute Minderheiten, dich wird nicht alles interessieren, nur weil's weiblich ist. Hinzu kommt, dass es sich bei den Frauen in deinem Berufszweig, die auch derartige Tagungen besuchen, si­cher nicht um so welche handeln wird, die auf der Suche nach erotischen Abenteuern sind. Eigentlich hättest du gar keine Chance haben dürfen, selbst wenn du's dir gezielt vorgenommen hättest. Was kann eine glücklich verheira­tete Rechtsanwältin, die Mutter von zwei Kindern ist, dazu motivieren sich plötzlich für eine Nacht mit dir einzulassen. Was tust du, dass sie so etwas Un­sinniges wünscht? Ich glaube dir sogar, dass du keine Verführungsabsichten hattest. Du hast ja auch gesagt, es hätte sich so entwickelt. Auch wenn ich es für mich persönlich nicht nachvollziehen kann, denke ich, dass es daran liegt, was du andere Menschen in dir sehen lässt, was sie in dir zu erkennen glauben. Ich denke, das sieht jeder, der nicht gefühllos, blind und verdreht ist in dir. Im allgemeinen lernst du im Laufe deiner Sozialisation, in deiner Lebensgeschichte dich vor Täuschungen und Irreführungen zu schützen, du wirst kritischer und skeptischer, zurückhaltender mit schnellen Zustimmungen und Einverständnissen und versuchst, negative Folgen durch Fehler für dich zu vermeiden. Das ist ja auch in Ordnung, richtig und erforderlich. Nur bildet das dann eine Grundeinstellung, die für dein Leben in seiner Gesamtheit wirksam wird, so bist du, ob du ein Haus kaufst oder einen anderen Menschen kennen lernst. Und das scheint bei dir anders zu sein. Du bist in allen möglichen Bereichen sicher ganz durchschnittlich normal, nur wenn du persönlich mit anderen Menschen zu tun hast, kommt es mir vor, als ob deine ganze Geschichte an dir in dieser Beziehung nichts hätte verbiegen können, als ob man es mit einem Menschen in seinem natürlichen sozialen Urzustand, in seinem extra-uterinen Frühjahr zu tun habe, als ob du gerade dein Urvertrauen in dicken Chargen zugeteilt bekommen hättest. Ja, du vermittelst ein selbstvertrauendes Grundgefühl mit optimistisch wirkender Zuversicht, wie es jeder gerne für sich hätte, aber nachträglich nicht mehr erwerben kann. Du sprichst die Sicherheit, Liebe und Geborgenheit an, wie sie die Menschen bei ihrer Mutter erfahren haben und die sie in ihrem Unterbewusstsein bewegt. Nach nur wenigen Worten, weiß man, dass man dich sehr gern mag und dir absolut wird vertrauen können. Das ist einfach so bei dir, und das merken selbst kleinste Kinder. Timmy ist sicher nicht zufällig mit seinen anderthalb Jahren Opa Toms größter Fan. Ich denke auch, dass es das war, was in Maren trotz deiner Widerlichkeiten nie hat Zweifel an dir aufkommen lassen, und woran ich sofort denken musste, als ich die Geschichte deiner Beziehung mit Rita erfuhr. Ja, in soziokultureller Hinsicht vermittelst du den Eindruck ein Mensch zu sein, wie man ihn sich eigentlich wünschen würde. So sehe ich das.“


„Aletta, ich vermittle den Eindruck? Ich bin es. Du bist auch für mich ein Mensch, wie man ihn sich wünscht. Das warst du auch schon in deinem ex­trauterinen Früjahr und bist es seitdem vierzig Jahre geblieben, aber wenn du meinst, bei mir handele es sich nur um einen vermittelten Eindruck, werde ich überprüfen müssen, ob du die Kriterien der Wunschvorstellung für eine Erstge­borene noch erfüllst.“ reagierte ich scherzend. „Mach dich, bitte, nicht lustig. Es ist mir ernst.“ antwortete Aletta, „Wir reden sowieso viel zu selten über Der­artiges, obwohl wir permanent miteinander quatschen. Ich denke schon, dass du ein außergewöhnlich vertrauenerweckender Mann bist. Ein idealer Vertreter wärest du wahrscheinlich. Jeder würde dir alles sofort glauben, aber anderer­seits könntest du den Leuten auch nichts vormachen. Du müsstest immer die Wahrheit sagen. Das fand ich auch sehr kurios, du konntest Maren betrügen, aber ich glaube nicht, dass du sie ein einziges Mal belogen hast. Das Bild, das du vermittelst ist keine Darstellung, das bist du selber. Das ist ungewöhnlich, und jeder spürt es.“ „Aletta, ich weiß gar nicht recht, wie ich es verstehen soll. Als Analyse, als Laudatio oder als Liebeserklärung? Du magst es so sehen. Es ist eine Erklärung für dich, warum wir uns mögen, aber dass in einem Bereich meiner Persönlichkeit so etwas wie einen Urzustand, der sich durch mein Le­ben, durch meine Geschichte nicht verändert hätte, geben sollte, das kann, glaube ich, nicht sein. Du kannst nicht etwas konservieren und es aus allen Be­einflussungen heraushalten. Dass meine Eltern eine sehr gute Basis bei mir ge­legt haben, auf die sich dann später auch alle weiteren Einflüsse positiv poten­zierend auswirkten, und mich zu einem ganz anderen Menschen werden ließen, als wenn dieses Grundvertrauen nur sehr mangelhaft vorhanden gewesen wäre, oder gar ein ursprüngliches Misstrauen existiert hätte, das ist gut mög­lich. Aber, dass du etwas aus deiner Entwicklung, aus deiner Geschichte sepa­rieren kannst, ist schon theoretisch gar nicht möglich. Die Beziehung zu ande­ren, wie du dein Verhältnis zur Welt gestaltest, wie du dein Leben in deinen Zusammenhängen organisierst, was du du wo von hältst und wie du es deu­test, das hängt doch zusammen, koordiniert sich immer wieder neu mit neuen Wahrnehmungen, Erlebnissen und Erfahrungen. Du kannst vielleicht Verhal­tensweisen tradieren, aber dass du sie aus diesem Entwicklungszusammen­hang, der deine Geschichte ist, heraus hältst, ist nicht vorstellbar und kann nicht sein.“ nahm ich zu Alettas Ansicht Stellung. „Tom, das sehe ich doch ge­nauso. Ich sage ja nur, wie du auf andere Menschen wirkst. Ich persönlich brauche deine Wirkung überhaupt nicht, ich liebe dich schon sowieso. Das ist auch entstanden als ich ganz klein war, in Zeiten, an die ich mich nicht erin­nern kann, aber dass ist so fest kon­serviert, dass es durch all deinen Mist, den du fabriziert hast, überhaupt nicht beeinträchtigt werden konnte. Ich denke schon, dass meine Liebe zu dir sich immer noch in ihrem Urzustand befinden muss und nicht nur so wirkt.“ rea­gierte Aletta lächelnd und fuhr fort, „Weiß du eigentlich, dass Tim eifrig dabei ist, dich mit einer anderen Frau zu betrügen? Oma Rita scheint zu seinem neu­en Stern zu avancieren. Rita wusste zunächst gar nicht, ob sie die Oma geben sollte. Ihre Kinder haben ja noch keinen Nach­wuchs, aber dann meinte sie auch, dass es besser sei für Tim und Lina, neben Opa Tom die Oma Rita zu sein, als irgendeine Rita. Und wenn du Opa hießest, obwohl du es tatsächlich gar nicht seist, stünde ihr das Recht ja schließlich auch zu.“


Tim und Lina


Alettas Kinder waren für mich Juwelen. Linchen, die zwei Jahre die einzige ge­wesen war, hatte immer das glücklich strahlende Engelchen verkörpert. Sie er­weckte einen zartfühlenden Eindruck und konnte immer ein verschmitzt spitz­bübisches Lächeln zeigen, wenn sie der Ansicht war, etwas raffiniert ausge­trickst zu haben. Tatsächlich handelte es sich meist um völlig belanglose kleine Banalitäten, aber ihrer schelmischen Freude darüber konnte ich nicht widerste­hen. Tom war ein ganz anderer Stratege. Die Hebamme im Krankenhaus muss­te ihm schon die wesentlichen Grundlagen männlicher Sozialisation vermittelt haben. Anders war es nicht zu erklären. Man denkt immer es erfolgt durch die Rollenbilder der Eltern, wofür angehende Jungen und Mädchen sich zu interes­sieren hätten, aber Tim suchte sich für sein Interesse immer selber das, was als typisch jungenhaft angesehen wurde. Warum? Darauf konnte sich niemand einen Reim machen. Zur Zeit genoss mein Werkzeug allerhöchste Interessen­priorität. Wenn ich bereit war, mit ihm zu 'arbeiten', gab es nichts Denkbares, das für ihn hätte bedeutsamer sein können. Er hatte einmal mitbekommen, wie ich einen Hammer holte, um einen Nagel einzuschlagen. Hammer wurde seit­dem zum Schlüsselbegriff für eine faszinierende neue Welt. Lina hatte davon nie etwas zur Kenntnis genommen. Es scheint wohl doch verschlungenere Wege zu geben, als die intentionalen Einfüsse der Eltern. Seit er anfing erste verständliche Wörter sprechen zu können, machte ihm die gleichzeitige Nen­nung unserer beider Namen Freude. Was hörte denn der kleine Mann da? Be­gann er Ähnlichkeiten und Differenzen zu erkennen, bevor er richtig selbstän­dig laufen konnte? „Tim und Tom“ blieb über lange Zeit seine Begrüßungsflos­kel, deren Ausspruch ihn jedes mal erfreute. Ich nahm ihn anschließend immer auf den Arm und sprach und scherzte kurz mit ihm. Neulich wiederholte ich seine Begrüßung, was ich meistens tat, und hängte dem 'Tim und Tom' ein 'Tom und Tim' an. Wie erschrocken starrte mich der junge Herr an. Wahrge­nommen hatte er also etwas. Er schien gewaltige Probleme in seinem Kopf zu wälzen. Plötzlich verkündete er stolz lächelnd: „Tom und Tim“. Dann musste es wiederholt werden „Tim und Tom und Tom und Tim.“ Wieder und nochmal. Fast den gesamten Nachmittag wiederholte er es immer wieder für sich. Es dauerte schon, bis man es flüssig garantiert immer richtig in der entsprechenden Rei­henfolge mit der Umkehrung hin bekam. Was war daran so kompliziert, was hatte ihn so erstaunt nachdenken lassen. Warum war es ihm so wichtig, es un­bedingt richtig sagen zu können? Wahrscheinlich hatte ich durch meine Wie­derholung mit Umkehrung Tims Bereich logisch schlussfolgernden Denkens um wesentliche Kapazitäten erweitert und zusätzliche grammatikalische Grundpfei­ler seiner Sprachverfügbarkeit eingepflanzt. Dann zeigte der kleine Junge mit anderthalb Jahren, dass er nicht nur das Gesprochene wiederholen konnte, sondern ihm die Struktur deutlich geworden war. Er begann von sich aus es zu übertragen, auf Tim und Lina, auf Mama und Papa. Er suchte krampfhaft in sei­ner Welt nach Dingen und Personen, aus denen man Paare bilden konnte. Ein­stein oder Kant würden vor ihm verblassen müssen, wenn die Entwicklung sei­ner Geschichte sich in dieser Weise fortsetzte, auch wenn er sich im Moment mehr für dicke Hämmer und große Rohrzangen inter­essierte. Ich konnte mich an viele Details erinnern, aber so deutlich schien mir die Entwicklung kindli­chen Denkens bei Aletta und Géraldine nicht geworden zu sein. Ich erinnere mich aber neben Alettas Badewannenschwimmtestwochen­ende an die bei ih­nen auch aufgetretenen Prozesse permanenten Wiederho­lens. Wahrscheinlich wurden dadurch die gewonnen Erkenntnisse fest in die sich entwickelnden Ge­hirnstrukturen eingebrannt, sodass sie in Zukunft nicht mehr gelöscht werden konnten und jederzeit abrufbar zur Verfügung standen.


Herbstfrühling


Auch wenn die Tage immer kürzer statt länger wurden, raue Stürme den Bäu­men die letzten Blätter entrissen statt die Sonne frische Krokusse sprießen zu lassen und festgeschlossene Wolkendecken den Verdacht einer endgültigen Verabschiedung der Sonne nahe legten, bei uns im Hause wurd nichts trübe, verwelkte oder verging, der Frühling war hier ausgebrochen. In großer Zahl schienen frische Blumen zu sprießen und die Farbenpracht ihrer bunten Büten zu unserer Freude entfalten zu wollen. Auch wenn Rita früher sehr oft hier war, kam sie doch immer für begrenzte Zeit von außen. Jetzt war sie ständig anwe­send, lebte hier, vom Aufstehen bis zum Schlafen gehen. Immer war sie da, immer konnte ich sie sehen, mit ihr sprechen mit ihr lachen. Zunächst konnte ich es gar nicht fassen, wie verzaubert kamen mir die Tage vor. Wunderbar, ich war glücklich. Eine völlig andere Atmosphäre hatte sich durch unser Zusam­menleben gebildet. In der Tat, wie der Beginn einer neuen Epoche, eines neuen Zeitalters in der Geschichte meines Lebens empfand ich es. Bislang hatten wir immer gemeinsame Aktivitäten geplant, jetzt erledigten wir die Dinge des All­tags gemeinsam. Wie in fast vergessenen früheren Zeiten. Nein, so hatte ich es noch nie erlebt. Maren und ich waren ja beide beschäftigt. Wir frühstückten schnell und sahen uns erst am Nachmittag wieder. Jetzt war den ganzen Tag über der andere gegenwärtig und ansprechbar. Eine neue Zeit, deren Frühling wir jetzt genießen konnten. Die Vormittage gehörten uns, aber am Nachmittag waren fast immer Géraldine oder Aletta mit den Kindern oder alle zusammen da. Weihnachten waren mich immer alle besuchen gekommen und die Kinder hatten mir etwas Kleines mitgebracht. Ich selber hatte mich nie darum geküm­mert. Jetzt mussten Oma Rita und Opa Paul natürlich ein wenig Zauber für die Kinder machen, vornehmlich wohl, weil es ihnen selbst Spaß bereitete. Als Gérri und Aletta klein waren hatten wir zum letzten Mal so etwas gemacht. Nicht nur Frühlingszauber mit neuen Knospen wollte sich entwickeln, sondern auch vieles von der Freude früherer Tage schien in frischen Formen neu zu er­blühen.


Ritas Krankheit


Als sich der tatsächliche jahreszeitliche Frühling anzukündigen begann, wurde Rita krank. Ende Februar bekam sie eine Grippe, nur sie verschwand nicht nach einigen Tagen. Es blieben Husten, ein ständiges leichtes Fieber, das nicht zu­rückging und morgens wachte sie immer schweißgebadet auf. Der Arzt diagnos­tizierte Lun­genentzündung. Die verordneten Medikamente brachten keine Heilung sondern zusätzliche Magen-Darm-Probleme. Sie musste ins Krankenhaus. Man sah überhaupt keine Probleme, zumal Rita ja über einen hervorragenden Allge­meinzustand verfüge. In wenigen Tagen sei sie wieder zu Hause. Nur es bes­serte sich nichts. Weitere Untersuchungen erfolgten und der Stationsarzt er­klärte es mir so, dass ich es nicht verstand, und wenn ich um Erläuterung bat, sprach er mit mir, wie zu einem dummen Jungen, was ich nicht brauchte. Mein Trost bestand immer nur in seiner Versicherung, die ich ihm glauben konnte: „Sie brauchen sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Es besteht kein Anlass zu irgendwelchen Befürchtungen, auch wenn es sich ein wenig komplizierter ausgenommen hat, als wir zunächst vermuteten.“ Na schön, er hätte es mir unterschreiben sollen, aber ich wollte es ja auch glau­ben. Rita war immer guter Dinge gewesen, hatte zwar auf die Nebenwirkungen und einige Regelungen im Krankenhaus geschimpft, blieb aber ansonsten zu­versichtlich und war guter Laune. Als es sich aber zog, keine Veränderungen ersichtlich waren und immer wieder neue Untersuchungen erforderlich wurden, zudem alles nicht so eindeutig verständlich erklärt werden konnte und man meinte, Unsicherheit bei den Ärz­ten erkennen zu können, begann sich die posi­tive Grundstimmung allmählich zu verflüchtigen. Man sah keine klare Perspek­tive, wartete ratlos. Rita wurde nachdenklicher und stiller. Als ich sie an einem Morgen besuchte, schaute sie mich ernst an und fragte: „Sag mal Thomas, man sagt mir immer, alles wird wieder, aber es wird ja nichts. Es bleibt alles so wie es ist, nichts ändert sich. Thomas ich habe Angst. Richtig Angst. Sag mir, bitte, ganz, ganz ehrlich, was du weißt. Ich muss doch nicht sterben?“ Dabei waren Ritas Augen feucht geworden. Ich starrte sie an, konnte gar nicht ein­fach darauf antworten. Als ob mich ihre Frage geschockt hätte, sah dabei in ihre Augen, die zu weinen beginnen wollten. „Nein, Rita, nein, nein, nein, nein, nein, nein. Kein winziges Stückchen wird von dir sterben. Alles wird am Leben bleiben. Ganz lebendig. Ganz gesund, wie immer.“ Ich wusste gar nicht wie mir war. Wie in einem ekstatischen Rausch hatte ich als erstes jedes feuchte Auge von Rita dabei geküsst, dann ihre Stirn jede Wange, ihre Nase und ihren Mund. Rita wusste gar nicht, was sie erlebte. Verwundert lächelnd schaute sie mich an und hatte den Mund leicht verblüfft geöffnet. Mit einem frech stolzen, fast verwegenen Lächeln sah ich sie an. „Ja, genau, von dieser klugen Stirn, wird kein kleinstes Fitzelchen sterben.“ deklamierte ich und gab ihr dabei auf jede Seite und in die Mitte der Stirn einen Kuss. „Von diesen gutmütigen, scharfsich­tigen Augen … und so wurde noch mal küssend erklärt, dass von keinem Part ihres Gesichtes etwas sterben würde. Rita ließ es alles verwundert lächelnd ge­schehen. „Tommy, du musst mir mal etwas sagen.“ forderte sie lächelnd von mir eine Erklärung. Ich hob die die Augenbrauen, sah sie fragend an und zuck­te mit den Schultern. Rita legte ihre Arme um meinen Nackten, zog meinen Kopf zu sich herunter und wir küssten uns.


Ritas Frage


Seitdem war Ritas Lungenentzündung sowohl für mich als auch für Rita selbst vergessen, beziehungsweise nebensächlich geworden. Wir hatten Wichtigeres zu besprechen, zu üben und zu praktizieren. Ich konnte Rita nur immer wieder versichern, dass ich selbst gern wissen wür­de, was mich veranlasst hätte, aber was genau in diesem Moment meine Emo­tionen umzuwälzen beliebte, wusste ich selber auch nicht. Ich konnte nur sa­gen, dass mich Ritas Frage schockiert hatte, und ich in ihren Augen die reale Furcht sah. Ob in Sekundenbruchteilen, in denen ich meinte Rita retten zu müssen, sie zu einer anderen Person wurde, die meine körperliche Nähe brauchte? Ich weiß es alles nicht. Mein Bauch hat mich schnell handeln lassen und meine Bewusstseinsregionen über seine Moti­ve nicht in Kenntnis gesetzt. Wenn meine Blockade tatsächlich mit Marens Tod in Zusammenhang stand, wäre es vielleicht nicht ganz abwegig, dass Ritas To­desangst sie für mich als eine andere, eine Maren ebenbürtige Frau erscheinen ließ. Bewusst wurde mir aber nichts davon. Es musste Spekulation bleiben.

Für diese Änderung unseres Umgangs miteinander hatten wir offensichtlich zwei Drittel unseres Lebensalters abgeben müssen. Wahr­scheinlich war dies er­forderlich, um das ganztägige Schmusen, Necken, Strei­cheln und Küssen über längere Zeit in ausreichendem Maße genießen zu kön­nen, vor allem aber auch, um sich an den simplen kleinen Späßen hinreichend delektieren zu können, was mit über sechzig ja überhaupt nicht mehr möglich gewesen wäre. Krank fühlte Rita sich schon längst nicht mehr, aber sie wurde auch so gesund, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, und ich sie mit nach Hause neh­men konnte.


Wieder zu Haus


Alle waren gekommen, um Rita wieder zu Hause zu empfangen. Ihr kamen die Tränen und sie meinte: „Muss ich erst so alt werden, um so glücklich sein zu können, oder hat man im Laufe seines Lebens dann erst genug angesammelt, um es wahrnehmen, erkennen und richtig verstehen zu können. Ich glaube eher, ich war mir immer sicher, dass nach langen Jahren der Wanderschaft der Goldesel schon irgendwann zu mir kommen würde. Nur jetzt habe ich das Wort vergessen, das man sagen muss, aber Glück scheint er ja auch ohne das Zau­berwort in Mengen auszuspucken.“ „Bei euch beiden scheint das aber nur zu funktionieren, wenn euch die Wanderschaft zu bestimmten Orten führt, wie zum Beispiel nach Griechenland oder ins Krankenhaus.“ meinte Géraldine spöt­telnd dazu. Linchen musste in gemeinsamer gegenseitiger Unterstützung, das Mär­chen vom „Tischlein deck dich“ nahe gebracht werden. Vielmehr als den In­halt wird sie sich aber gemerkt haben, dass Erwachsene auch über die Fähig­keit verfügen, sehr albern sein zu können. Als wir wieder allein waren, und es an­stand ins Bett zu gehen, lehnte ich mit dem Rücken am Küchenschrank und hielt Rita vor mir an den Hüften umfangen. Wir grinsten uns an. Konnte es ein Problem sein, zu fragen, ob wir getrennt schlafen oder gemeinsam ins Bett ge­hen würden? Nur so banal konnte man es doch nicht handhaben. Aber welche verbalen Tänze sollte man aufführen, um der Besonderheit dieses prickelnden Vorhabens gerecht zu werden. Dass wir prinzipiell beide gern gemeinsam ins Bett wollen würden, stand außer Frage, nur man war ja nicht absolut sicher, welche Einwände und Bedenken der jeweils andere eventuell doch vorbringen könnte, um es für heute Abend noch nicht ratsam erscheinen zu lassen. Dass man auf den anderen eventuell einen drängelnden Eindruck hätte erzeugen können, war ja absolut zu vermeiden. „Zusammen?“ fragte ich. „Na klar.“ lau­tete Ritas angemessene Replik. Wir küssten uns vorm Küchenschrank langan­haltend und immer wieder, als ob es das, was wir gerade in einem sehr kurzen Gespräch abschließend geklärt hatten, ausgiebig zu feiern gelte. Rita präzisier­te: „Das ist doch völlig unerheblich, Tommy, ob wir Sex haben werden oder nicht. Wir lieben uns doch, möchten ganz nah beieinander sein, den Körper des anderen, seine Haut und seine Wärme spüren. Darum geht es mir. Wie sich das im einzelnen gestaltet und was sich daraus entwickelt, ist zweitrangig. Wir werden es sehen. In den Po kneifen, würde ich dich allerdings schon gerne können.“


Neue Zeitrechnung


Im Grunde handelte es sich doch nur um eine zusätzliche Kleinigkeit. Das Ent­scheidende, das Zentrale, unsere Liebe zueinander hatte doch vorher auch schon über lange Zeit bestanden, dass wir uns jetzt auch noch gegenseitig an­fassen und miteinander ins Bett durften, war zwar nett, aber doch nicht der zentrale Gesichtspunkt unseres gegenseitigen Empfindens und unserer Zunei­gung füreinander. So könnte man es vielleicht sehen, unsere emotionalen Wahrnehmungen sahen das völlig anders und erlaubten uns nicht, an ihren Empfindungen die geringsten Zweifel anzubringen. Für sie handelte es sich eben um epochale Veränderungen, die unser Glücksempfinden zentral domi­nierten. Es sah nicht so aus, als ob wir die geraubten letzten beiden Drittel un­seres Le­bensalters so bald zurück erhalten würden. Wir verrichteten zwar ab jetzt nicht alles nur noch Händchen haltend, aber die Notwendigkeit, ab Ritas Rückkehr mit einer neuen Zeitrechnung beginnen zu müssen, ließ sich nicht ignorieren. Das neue Leben schien unser Denken, Handeln und die Alltagsbe­wältigung mit völlig neuen Erfordernissen und Gegebenheiten zu konfrontieren. Es waren ja bei weitem nicht nur neue Anforderungen ans Mobiliar gestellt, weil zum Bei­spiel der gemeinsame Fernsehgenuss hintereinander auf der Couch liegend, Identifikationsassoziationen mit den Tieren in der Sardinendose aufkommen ließ, es waren ja auch Entscheidungen zu treffen, mit denen man in dieser Weise bislang noch nie konfrontiert worden war. Ob es zum Beispiel beim Raus­tragen von zwei Mülltüten, zweier Personen bedürfe, denen dabei auch die Möglichkeit einzuräumen sei, sich nach erfolgreicher Beförderung in die Müll­tonne, sofort siegreich küssend zu umarmen, oder ob dieses Szenario mit tie­fen Liebesbezeugungen nicht doch eventuell disharmonieren könnte. Oft muss­te ich Frau Brenner mit der Frage befassen, ob ihr intendiertes Verhalten für eine Frau ihres Alters nicht den erforderlichen Grad an Schicklichkeit ver­missen ließe. Doch Ritas Brutalität im Umgang mit derartigen Finessen eröffne­te mir Einblicke in bis dahin unbekannte Tiefen ihrer Persönlichkeit. 'As nutty as a fruitcake' seien wir, beliebte es Géraldine zu kommentieren. Zu verrückten Hühnern seien wir seit Ritas Rückkehr aus dem Krankenhaus mutiert, aber ihr gefalle es, sie empfände es lustig und süß. Wunderbar sei es vor allem, zu er­leben, wie die Liebe einen offensichtlich in jedem Alter gleichermaßen crazy sein lassen könne. Dabei liebten wir uns ja schon so lange, warum ließ es uns eigentlich erst jetzt verrückt werden?


Neuer Chronometer


Dass ein neues Zeitalter mit unserer rücksichtslosen gemeinsamen Körperlich­keit begonnen hatte, ließ sich nicht leugnen. Alles gestaltete sich anders als beim bisherigen liebevollen Nebeneinander. Der Beginn der neuen Zeitrech­nung bedurfte natürlich auch eines neuen Zeitmessgerätes. Moderne Uhren, bei denen die Aktivitäten des Besitzers mehr als kokette Attitüden darstellten, gab es nicht, bis auf unbezahlbare handgefertigte Unikate natürlich. Etwas An­tikes? Mussten wir dafür unsere Einrichtung wieder umstrukturieren auf länd­lich rustikal etwa? Nein, wir fanden einen anderen Weg, unseren altneuen chronologischen Wächter geschmackvoll kontrastierend zu platzieren. Ungeteil­te Aufmerksamkeit genoss unser neuer vor der Wand stehender Zeitritter alle­mal, und Lina bekam jetzt auch das Märchen von den sieben Geißlein erzählt. Diesmal allerdings von Rita alleine. Nachschauen, ob das siebte kleine Zicklein sich darin befände, wollte Lina sicher nicht, aber ein Blick in den Uhrenkasten zu werfen, konnte ja trotzdem nicht verkehrt sein. Wahrscheinlich empfand man sich dadurch als zu den Wissenden gehörend, wenn es in Zukunft um jun­ge Ziegen in Uhrenkästen gehen sollte.


Die gemächlichen Bewegungen des bedächtig schwingenden schweren Pendels gefielen mir. Die Zeit schien nicht so sehr davon zu eilen. Keinesfalls hätte ich es anhalten wollen, aber dass sich für die nächsten zehn Jahre die Zeit einmal nicht fortbewegen möge, wäre sicher einer der drei Wünsche gewesen, die die gute Fee mir hätte frei geben müssen. Dass diese Zeit jetzt, wie ich sie erlebte, die glücklichste Phase meiner Geschichte war, stellte sich mir zwar im Moment so dar, genau beurteilen konnte ich es aber wohl eher nicht. Ich wusste nur, dass der Fortlauf der Zeit immer mit Än­derungen verbunden sein würde. Jeder Tag wird neu sein, stets hat durch den vergangenen eine wie auch immer ge­staltete kleine Veränderung in dir stattge­funden, auf der der neue Tag jetzt ba­siert. Eine gleichmäßige Wiederholung wie bei der Hin- und Her-Bewegung des Pendels kann es für die fortlaufende Zeit deines Lebens, deine Geschichte nicht geben. Welche zusätzlichen kleinen Bild­chen gestern hinzugefügt, oder durch welche Pinselstriche farbliche Verände­rungen vorgenommen wurden, entzieht sich in der Regel deiner bewussten Wahrnehmung, trotzdem ist es das, was seit dem ersten Blickwechsel, seit den ersten Berührungen, seit den ersten akustischen Kontakten mit deiner Mutter deine Persönlichkeit ständig entwi­ckelt, erweitert, komplettiert und modelliert hat. Die Geschichte deiner Person kulminiert darin, wie du heute erlebst, denkst und empfindest. Wenn du die Fakten nennst, an denen sich was zuge­tragen hat, an dem du beteiligt warst, kann ein Unternehmen gegebenenfalls daraus erkennen, über welche Bildungs­abschlüsse du verfügst und wie deine Leistungen bewertet wurden, aber deine Geschichte bildet die Aufzählung der Daten nicht. Die Benennung der Stationen deines Lebens sagt nur sehr wenig, relativ Unbedeutendes über dich aus. Ent­scheidend, bedeutsam und inter­essant ist, woraus deine persönliche Geschich­te tatsächlich besteht, wie etwas auf dich gewirkt hat, wie du etwas erlebtest, was du dabei dachtest und fühl­test. Wie deine Wahrnehmung die Umgebung erkannte, bewertete und verar­beitete. Wie du deutetest, was du erlebtest und was mit dir und deiner Welt zusammen hängt. Was du über deine Welt denkst, wie du sie rückblickend siehst und wie du dir die Zukunft vorstellst. Das formte dich und ließ den Menschen aus dir werden, der du heute bist, das ist deine Geschichte als Grundlage deiner Identität, das ist der den du meinst, wenn du von dir sprichst und 'Ich' sagst.



FIN




Ce n'est pas par leur architecture mais plutôt par la puissance de leur pensée abstraite que les nations devraient essayer de se perpétuer dans la mémoire des hommes.

Henry David Thoreau


Aletta und Géraldine wussten zwar, dass ich mich ab und an noch mit einer al­ten Bekannten aus dem Betrieb traf, aber als Rita häufiger zu mir kam, begeg­nete man sich auch öfter. Jetzt wollten beide in stundenlangem Verhör unsere Beziehung genauestens erläutert haben. Trotzdem konnten sie es nicht fassen und verstanden es nicht. Beide mochten Rita, obwohl man sich nur aus weni­gen kurzen Gesprächen beim Abendessen oder Kaffeetrinken kannte. „Tom, wenn ich etwas nicht verstanden hatte, hast du es mir immer erklärt und ich konnte es verstehen.“ erläuterte Géraldine, „Nur was du mir jetzt erklärt hast, von dem habe ich nichts verstanden. Ich habe gehört was du gesagt hast, aber mein Bauch lehnt es ab, er will kein Bild daraus machen. Das kann alles nicht sein. Es mag euch ja gefallen, aber was ihr betreibt ist pervers. Sei doch ein­fach mal du selbst. Der gleiche, der du sonst auch immer bist und nicht so eine verdrehte Gestalt aus der Firma, dessen Rolle du in eurer Beziehung spielst.“ „Ja ich denke auch, dass ihr da so etwas wie festgelegte Rollenbilder tradiert. Und in denen kann nicht vorkommen, dass Rita eine wunderbare Frau ist, die hervorragend zu dir passen könnte.“ pflichtete Aletta dem bei, „Das ist sehr schade für dich, Tom. Willst du dir nicht mal Gedanken darüber machen, ob du nicht doch Interesse daran haben könntest, an eurem Verhältnis etwas ändern zu wollen?“





Tom und Rita – Seite 28 von 28

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.04.2013

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