Cover

Inntroduction und Inhalt

 

Carmen Sevilla

 

Du bist frech, mein Junge

Neues Leben durch Annett

 

Erzählung

 

 

 

Aimer aide à connaître, connaître aide à comprendre, comprendre aide à aimer

 

„Wie kommst du denn auf die Idee, mit einer Frau, die dich
so liebt, Schluss zu machen?“ fragte er sich vorwurfsvoll.
„Du bist selber verrückt, nichts als ver­rückt und durchgedreht. Schraubst dir irgendwelche Hypothesen über die Zu­kunft
zusammen und zerstörst so eine wunderbare Beziehung.
Elena ist doch ein Mensch, wie kannst du denn so wahnsinnig
mit ihr umgehen?“ Jetzt war Rolf völlig konfus. Wie es nach
Juliane weitergehen sollte, eine Vorstellung von seinem neuen
Leben hatte er nie gehabt. Er wusste nur, allein wollte er
nicht bleiben. Aber wen wollte er denn finden, wenn es seiner
Meinung nach mit Ele­na nicht einmal funktionieren würde.
Welche Hirngespinste von Vorstellungen tobten denn in
seinem Kopf herum? Wahrscheinlich durfte es nur Juliane
Nu­mero 2 mit der Garantie für keine Differenzen sein.
„Du lebst kein neues Le­ben. Den Traum von deinem
alten willst du weiterleben.“ wurde Rolf sich klar.

 

 

Du bist frech, mein Junge - Inhalt

Du bist frech, mein Junge 4

Morgensonne 4

Licht der Kindheit 4

Bruch mit Juliane 5

Kleiner Kämpfer 6

Landleben 7

Juliane mag's nicht schmalzig 7

Saudade 8

Elena 9

Im Duett 10

Femme fatale 10

Geburtstagsfète 11

Dann ist es vorbei 12

Eigene andere Existenz 13

Manon Lescaut 13

Anett 14

Das große Konfusium 16

Qui tollis peccata mundi 16

Zwischenmenschliche Tiefe 17

Allein in der Wüste 18

Habanera 19

Der wilde Vogel ist gelandet 19

Fisch und Käse 21

Hey, Juliane! 21

Julianes schönes volles Haar 24

Rolfs Bar-Stimme 26

Anetts Alltagsliebe 26

Du bist zu spät, mein Lieber 27

Zwei Auftritte 29

Im Havanna 30

Altes Glück wiederholen geht nicht 30

Mit der Liebe, das kannst du ja noch 31

Morgensonne 32

 

Du bist frech, mein Junge

Rolf und Juliane haben sich getrennt. Rolf möchte nicht alleine leben, aber er hat massive Probleme.

Morgensonne


Frech quetscht die Sonne ihre Strahlen durch die Lamellen der Blendläden. Zeichnet ein Muster aus hellen Streifen. Parallel liegen sie übereinander auf der Wand gegenüber. „Wo bin ich? Was ist das hier?“ Rolf schlägt die Augen auf. Ganz kurz sucht er nach Orientierung. Dass er in seinem Bett liegt, geschlafen hat und heute Montag, der 18. Juni 2007 sein muss, zeigt sich ihm als erstes der Bilder dieses Tages. Den kleinen Moment der Orientierungslosigkeit erlebt er öfter beim Wachwerden. Wer da aber gerade vom Traum in den Tag wech­selt, hatte er sich noch nie gefragt. Sein Ego verlässt ihn nicht, auch nicht im Schlaf. Alltag sieht er vor sich. Was es da immer alles so zu tun gibt, sonst nichts. Keine Ausstellung, kein Opernbesuch, keine Geburtstagsfeier, nur zum Arzt musste er heute. Aber auch hier keine spektakulären Untersuchungen und Diagnosen zu erwarten. Das Ergebnis der Blutabnahme ist zu besprechen und ein neues Rezept braucht er.


Rolf schaut auf die Uhr. „Viertel vor Fünf!“ spricht er es langsam, fast buchsta­bierend entrüstet laut aus, was ihm er Wecker zeigt. „Wie kann man mich nur um diese Zeit wecken?“ denkt er. Spät war es, wenn Rolf ins Bett ging. Bis mit­tags schlafen war nicht ungewöhnlich. Aber dieses Licht, diese Sonne im Som­mer. Ihre Strahlen hatten etwas Spezielles. Von der oranggelben Milde auf den Darstellungen war jetzt nichts zu erkennen. Nach nur kurzer Morgenröte sah man ihr gleißendes Weiß, einem riesigen Schneidbrenner nicht unähnlich. Nicht nur mehr UV-Anteile enthielt ihr Licht, da musste auch etwas sein, dass die Au­genlieder durchdringen konnte, direkt den Sehnerv benutzte, um die Schlaf­zentren im Gehirn augenblicklich abzuschalten. Diese Sommersonne wollte nicht, dass Rolf schlief.


Licht der Kindheit


Aber auf seine altertümlichen Blendläden verzichten, alles abdunkeln? Daran dachte er nicht. Er liebte dieses Schlafzimmermorgenlicht, auch wenn es ihn im Sommer schon früh weckte. Es war ihm vertraut, war das Licht seiner frühen Kindheit. Kindereien, aber es gefiel ihm. So hatte es sich immer gezeigt, wenn er morgens in seinem Bettchen wach wurde. Manchmal war Martha schon da. Danach erkundigte er sich immer als erstes. Martha war nicht nur seine Freun­din und große Liebe, sondern auch dass Kindermädchen. „Martha wenn ich groß bin, heirate ich dich.“ hatte er ihr versprochen. Sie fragen, ob sie es auch wolle? So etwas Dummes. Na klar, liebte sie, die ihn immer Rolle nannte, ihn innig und von Herzen. Manchmal kam auch Frau Claas zum Putzen und ande­ren Haushaltshilfen vorbei. Für ihn blieb sie die Tante Haas aus der Zeit als er das Cl noch nicht sprechen konnte. Mit dem Kleinen zu feixen und zu juxen, machte ihr selber Spaß, auch wenn sie schon älter war als seine Mutter. Die sang am liebsten den ganzen Tag. Martha wollte sie es auch beibringen. Eine Gesangsausbildung hatte sie nicht, aber zweistimmig mit Martha, das hörte sich einfach viel besser an, war ihre Ansicht. Wenn man ihren häufigen Übungen zuschaute, war man nicht mehr sicher, ob's um's Singen ging, oder die beiden etwas gefunden hatten, das ihnen außerordentlich Spaß bereiten konnte. Zu Hause auf dem Bauernhof hatte sie auch ständig bei der Hausarbeit mit ihrer Mutter und ihrer Schwester gesungen. Davon war sie auch heute noch fasziniert. Rolf mochte Mutters Gesang. Der Klang ihre Stimme machte ein gutes Gefühl. Milde, weich und hell hörte er sich an. Sie singen zu hören, war wie in den Arm nehmen. Wenn sie ihm im Bett noch 'Schlafe, schlafe, süßer holder Knabe' oder die vierzehn Englein vorsang, war es schon so, dass er auf den wiegenden Armen seiner Mutter inmitten der holden Englein weilte. Was seine Ohren hörten. Der Klang ihrer Stimme, Melodie und Rhythmus machten sein Herz ganz weit und ließen ihn Wärme spüren. Wenn er seine Mutter wohlig anstrahlte, sah er in ihren Augen, dass er beruhigt schlafen konnte, denn diese Welt war für ihn gemacht.


War Rolf glücklich? Freute er sich darüber, wie seine Tage verliefen? Natürlich hätte er es benennen können, wenn er sich freute oder glücklich war, aber sein Leben, sein Alltag? Das war eben so. War schon in Ordnung, stimmte alles, ganz natürlich, aber sonst nichts. Mit viereinhalb Jahren war plötzlich nichts mehr selbstverständlich natürlich. Alles veränderte sich für Rolf. Das Licht sei­ner frühen Kindheit schien zu erlöschen. Er wusste noch viel aus diesen frühen Tagen. Konnte amüsiert darüber erzählen, aber eine Bedeutung habe es wohl nicht mehr, wie er meinte. Er idealisierte nichts als heile Welt oder versuchte etwas auf seine heutigen Lebensverhältnisse zu übertragen. Aber dass er in dieser Zeit wohl mehr für sein Leben Bestimmendes als Laufen und Sprechen gelernt haben musste, wurde ihm öfter deutlich. Was ihn wie emotional zu be­wegen hatte, schien basal auch hier schon festgelegt worden zu sein. Nicht nur das Licht beim Aufwachen, sondern wohl auch vieles mehr, was ihm nur selten bewusst wurde. Irgendwann hatte Rolf sich darüber gewundert, dass Frauen, für die er leichter Sympathien und Vertrauen entwickelte immer schwarze Haa­re hatten, genau wie Martha, der er die Ehe versprochen hatte.


Bruch mit Juliane


Seine spätere 'Martha' und er hatten sich schon vor Jahren getrennt. Sonder­bar, nicht mehr zu durchschauen, so hatte Rolf die Entwicklung ihrer Beziehung erfahren. Verstehen konnte er nichts mehr. Das Empfinden, seiner Frau sehr nahe zu sein, war trotz aller Verletzungen, Vorwürfe und Missverständnisse, im Grunde nicht verblasst. Er konnte aber dafür keine Freude mehr entwickeln. Obwohl es doch etwas Besonderes wahr, sah er es nicht mehr, hielt es für selbstverständlich und trampelte mit dem ganzen Alltagspalaver darauf herum. Warum Rolf kein Verlangen mehr empfand, seine Frau zu lieben, war ihm noch viel unerklärlicher als der tiefere Grund für seine damalige heiße Liebe. Die Er­klärungen, die man versuchte, trafen nicht den Kern. Zuletzt redeten sie ja auch überhaupt nicht mehr miteinander. Organisatorisches klären, das bereite­te keine Probleme. Da sprach man wie immer. Jede Andeutung einer Ansicht oder Meinungsäußerung hatte aber nur den Zweck, den anderen zu ironischen oder zynischen Kommentaren zu veranlassen. Was du sagtest, war immer nur Anlass zu zeigen, für wie beschränkt er dich hielt. Beide waren darin gleich gut. Warum sie sich so irrsinnig verhielten, wussten sie nicht. Einmal war Rolf aus­gerastet, weil ihm alles irreal absurd vorkam. Die Vorwürfe, die man sich machte, waren im Hinblick auf die Bedeutung menschlicher Beziehungen Bana­litäten, und in früheren Jahren wäre es sicher leicht gewesen, mit ihnen umzu­gehen. Als wenn sie schlicht keine Lust mehr aneinander hätten und keine Möglichkeit ausließen, es dem anderen zu verdeutlichen. Warum? Darauf gab es keine Antwort. Wie sie damit umgehen sollten, wussten beide erst recht nicht. Der gemeinsame Alltag hatte keine Bedeutung mehr, er wurde mehr und mehr nervig und lästig. An den Gedanken, dass es für beide das Beste sei, sich zu trennen, mussten sie sich trotzdem sehr lange gewöhnen. Rolfs Leben war sein Leben mit Juliane gewesen. Das einfach abschneiden? Er verstand es nicht. Man konnte doch auch nicht seiner Mutter sagen, jetzt ist unsere Bezie­hung zu Ende. Sie hat lange genug gedauert. Aber schließlich meinte Juliane, dass sie lieber ausziehen würde, weil es ihr den Beginn eines neuen Lebens leichter mache. Sie trennten sich. Einfach so, als ob man eine Beziehung ver­braucht hätte.


Kleiner Kämpfer


War seine Welt jetzt wieder in Ordnung? Stimmte jetzt alles wieder? Das selbstverständliche sichere Empfinden seiner frühen Kindheit hatte er nie mehr gehabt. Damals, als er viereinhalb Jahre war, verstarb sein Vater plötzlich an einem Herzinfarkt. Man hatte ihn tot aufgefunden. Dass er richtig traurig war und geweint hatte, daran konnte sich Rolf gar nicht erinnern. Er mochte seinen Vater sehr, aber dass man von jungen Leuten hörte, die im Krieg oder an den Folgen gestorben waren, kam häufig vor. Verwandte waren einfach im Krieg verschwunden. Das Leid des Krieges und der Nachkriegszeit war Bestandteil des Alltags. Als Leid sah man es aber schon, auch wenn es allgegenwärtig war. Rolf hatte jetzt niemanden mehr, der ihm draußen alles zeigen und erklären konnte, auf dessen Schoß er die Bilder in den Büchern aus dem großen Bü­cherschrank beschrieben und erläutert bekam und auch der Matador der faszi­nierenden Schreibmaschine fehlte. Das war ärgerlich. Sein Vater fehlte, und das gefiel ihm überhaupt nicht. Ebenso schlimm oder schlimmer noch, Martha und Tante Haas kamen jetzt nicht mehr. Seine Mutter war ständig beschäftigt, und statt zu singen, weinte sie nur noch. Sie war schwanger, als der Vater starb, und Rolf bekam noch ein Schwesterchen, um das sich die Mutter auch noch kümmern musste. Jetzt war die Welt überhaupt nicht mehr in Ordnung. Diese Welt war nicht für ihn gemacht. Formulieren und benennen konnte Rolf es nicht. Dass die Mutter Martha von ihrer schmalen Witwenpension nicht be­zahlen konnte, musste er akzeptierten, aber trotzdem war sie nicht mehr da. Seine Mutter war die einzig übrig gebliebene erwachsene Person. Er mochte und liebte sie, aber sonst war ja niemand da, gegenüber dem er seinen Unwil­len zu Ausdruck bringen konnte. Häufig passte ihm etwas nicht. Keiner ver­stand warum, aber Rolf kämpfte bei Lappalien, als ob es um sein Leben ging, seine Identität auf dem Spiel stünde. Alle hatten bislang für ihn die Welt bereitet, jetzt musste er sich in ihr behaupten. „Einen eigenen Kopf hat er.“ sagten die Leute und meinten das nicht anerkennend.


Landleben


Überall war das aber nicht so. Bei seinem Opa auf dem Bauernhof gab es nie Probleme. Mala, die Magd, die richtig Marlene hieß, war seine Liebste, und sein Opa arbeitete doch nur, um ihm alles zeigen und ihn beteiligen zu können. So sah er es. Die Oma war freundlich und milde, aber sie sang auch nicht mehr. Von ihrem Liebling hatte sie eines Tages aus dem Krieg einfach nichts mehr ge­hört. Darüber sprach sie nicht. Der Bruder war krank und für sein Leben ge­zeichnet zurückgekommen. Krieg, kämpfen, schießen, töten, das musste für diese sanfte Frau eigentlich auf einem anderen Planeten stattfinden. Jetzt war ihr ein Sohn genommen und der andere schwer verletzt worden. Was es für sie bedeutete, verstand Rolf damals sicher nicht, aber wenn er heute von weisem, mildem Lächeln hört, fällt ihm stets seine Großmutter ein.


Natürlich war das erinnerte Bild, das einer Frau, die ein wenig alt war, aber mit ihr streiten, sich nicht verstehen können, das war nicht vorstellbar. Nur Nele hatte auch etwas geheimnisvoll Faszinierendes. Ihre Mutter machte sich Sor­gen um sie. Achtzen war sie und die Tochter der Flüchtlingsfrau, die damals mit ihren beiden Mädchen dort untergebracht worden war. Sie hatte sich Seidenst­rümpfe besorgt und wollte sich schminken. Mehr bekam er von der jungen Femme fatale nicht mit. Das andere redeten die Frauen hinter vorgehaltener Hand und Rita, ihre Schwester, kümmerte sich nicht darum. Sie war zwölf und galt als frech. Das gefiel Rolf auch und die beiden waren dicke Freunde, nicht nur weil sie die geheimsten Untersuchungen gegenseitig an sich vornehmen konnten. Als Rolf in die Schule kam, hatte er schon viele verschiedene Frauen und Mädchen kennengelernt. Auch seine fünf Jahre ältere Schwester, die er früher kaum wahrgenommen hatte. Jetzt war sie zu seinem bevorzugten Hass­objekt avanciert. Dass seine Mutter sich nicht mehr so intensiv um ihn bemüh­te, tat weh, aber dass seine Schwester sich jetzt anmaßte Mutters Vertraute sein zu wollen, war unerträglich. Ihre Vorstellungen, Absichten und Ansichten waren prinzipiell abzulehnen. Geprüft wurde da nichts, es reichte, dass sie es war, die es wollte. Mit Jungen hielten sich Rolfs Erfahrungen in Grenzen. Da waren nur sein Vater und der Großvater, zu denen er enge Beziehungen gehabt hatte und sein Freund aus dem Nachbarhaus. Mit ihm konnte er gut Häuser aus Matsche bauen und anderes draußen spielen. Nur etwas war auch ganz an­ders an ihm. Von Märchen, Gedichten und Liedern hatte er überhaupt keine Ahnung und machte aus Verlegenheit Witze darüber. Über so etwas sprach man dann nicht.


Juliane mag's nicht schmalzig


Juliane, seine Frau, hatte bestimmt diese Erfahrungen angesprochen. Frech und ein wenig verwegen hatte sie schon auf ihn gewirkt, als er sie kennenlern­te. Aber da war auch bestimmt viel Tieferes. Und dunkle, fast schwarze Haare? Na logo. Das hatte Martha zu früh und fest eigebrannt. Dass Juliane milde und sanftmütig sein konnte, wie sollte man das bei der Liebe nicht erkennen. Nur singen konnte sie gar nicht. Hatte auch keinerlei Bezug dazu. Opern überstand sie nur Rolf zur Liebe. Bestimmt war es sentimental, dass ihm bei „Casta Diva, che inargenti“ aus Bellinis Norma immer die Augen feucht wurden und nicht nur dort, aber wo waren denn bei Musik die Übergänge und Grenzen? Natürlich gibt es Unmengen an eindeutigem Kitsch in der Musik. Bei den Schlagern frü­her handelte es sich fast ausnahmslos um sentimentalen Schmus, aber auch bei klassischen Werken, wenn du sie häufiger gehört hast, bedienen sie dann nicht auch vorrangig dein Bedürfnis nach Sentiments. Mais pourquoi pas? Rolfs erste Oper war Humperdincks Hänsel und Gretel. Beim Abendsegen verdunkel­te sich die Bühne und die Sängerin sang im gedämpften Spotlightkegel die vierzehn Englein. Er kannte es von seiner Mutter, aber was er jetzt hörte, ent­rückte ihn in eine andere Welt. Sicher war er durch das Singen seiner Mutter sehr empfänglich, aber der Glanz dieser Stimme in dieser Umgebung versetzte ihn in einen Ekstase ähnlichen Zustand. Eine neue Welt hatte sich für ihn auf­getan. Wie Sirenenklänge lockten ihn seitdem Opern mit ihren verzaubernden Sopranstimmen der Frauen. Dass die Klänge seiner Mutter ihn glücklich ma­chen konnten, hatte er ganz früh erfahren, aber jetzt war ein Tor geöffnet wor­den, dass ihm Zugang zu den unendlichsten Weiten musikalischen Erlebens er­öffnen sollte. Er lauschte ja nicht nur dem Wohlklang der weiblichen Stimmen bei ihren Liedern, sprich Arien, selbst im Konzertsaal sein oder zu Hause eine Vinylplatte zu hören, waren nicht miteinander zu vergleichende Klangereignis­se. Die gehörten Klänge beglückten Rolf, aber es war ja viel mehr. Ein unendli­che Vielzahl von Assoziationen wurde geweckt und öffnete Gedanken zu den verschiedensten Bereichen. „Film ist eine Bildergeschichte, bei der du zu­schaust.“sagte er, „Im Konzert machst du aber eine Entdeckungsreise zu dir und entwickelst deine Bilder selber.“


Er konnte es nicht verstehen. Was hörte Juliane denn? Strukturierten Lärm? Na ja, sie mochte schon Sinfonien und Klavierkonzerte aber die berühmten Violin­konzerte Mendelssohns, Beethovens und Bruch hielt sie auch für sentimental. Rolf kannte weniger Bedenken und Vorbehalte. Auch wenn er meinte Stock­hausen gut zu verstehen, konnte er sich daran erfreuen, Nana Mouskouris 'Toi, qui t'en vas' mit zu klagen. Es erinnerte ihn an die Situation, als er im Urlaub einer Bekannten Abends in der Bar erklärte, dass er keine weitere Perspektive für sie sehe und ausgerechnet dieser Song häufiger gespielt wurde. Alles im Leben hat Klänge, enthält Musik, ist mit Tönen, Melodien und Rhythmen ver­bunden. Sie vermitteln den direkten Weg zu deinem emotionalen Erleben, nur wenn es verlogene, übertriebene, vorgetäuschte Gefühle sind, ist es Kitsch, aber die Situation in der Bar damals war Wirklichkeit und außergewöhnlich süßsauer. Nana Mouskouris 'Toi, qui t'en vas' ließ die Erinnerung daran wieder aufleben, sie war für Rolf mehr als hohles jammerndes Klagen einer verlasse­nen Frau.


Saudade


Depressive Anwandlungen waren Rolf völlig fremd aber in der Musik hatte ihm schon immer leicht melancholisch morbide Angehauchtes gefallen. Warum wusste er nicht. Weil's in Deutschland so selten und ungewöhnlich war? Wohl kaum. Der Text interessierte ihn nicht, die Musik musste es sagen. Schon als Kind hatte er in der Kirche „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ gemocht. Später erfuhr er, dass es durchaus viel mehr gab, wie zum Beispiel Schuberts Winter­reise mit dem bekannten frierenden und verstoßenen Leiermann, aber das Volk wollte nur singen, wenn es glücklich war. Seine Saudade, seinen Weltschmerz mit Singen zum Ausdruck zu bringen, war hier nicht gewünscht. Bestimmt empfand sich Juliane zu unsicher, hatte eine gewisse Art von Angst, sich zu leicht emotional berühren zu lassen und blockte alles ab, lächelte beim Fado und verkündete: „Ganz schön schmalzig.“. Aber darüber stritten sie nicht. Rolf meinte es differenzierter und offener zu sehen. Musik und Theater waren sein Ressorts, obwohl er sich Juliane so gut als emphatische Tragödin hätte vorstel­len können. Sie liebte die große Geste, obwohl ihr Ego es verneinte. Was be­wegte sie, sich äußerlich immer cool als Vamp zu geben. Rolf mochte es, aber er wusste, wie wenig es mit Julianes Persönlichkeit übereinstimmte. Er hatte diese und andere Widersprüchlichkeiten an ihr geliebt. Später konnte er sie nicht mehr ertragen. Er wollte sich nicht mehr mit Juliane zerfleischen, aber was er anstrebte, wie er sich seine Zukunft vorstellte, kein Bild und keinen Plan.


Elena


Selbstverständlich würde er nicht allein leben. Auch wenn er schon über Fünf­zig war, eine Frau würde er bestimmt finden. Er hatte nie gesucht, es hatte sich immer nur leicht ergeben. Nicht weil er sexuell fixiert auf irgendwelche Äußerlichkeiten blickte, er fand Frauen meistens viel interessanter als Männer. Er schien sie besser zu verstehen, mehr Lust zu haben, ihnen zuzuhören. Wenn er sich länger mit einer Frau unterhalten hatte, lag der Weg ins gemeinsame Bett oft nahe. Wenn er aber dann öfter mit der Frau zusammen war und sich etwas in Richtung Liebe entwickeln sollte, bekam er Angst vor der Perspektive. Mit Julianne war damals alles ganz anders gelaufen. Aber jetzt lief es wieder wie früher, nur dass Rolf es gar nicht mehr wollte. Frauen, die er jetzt kennen­lernte waren ja meistens auch gebunden, hatten dort ihre Probleme und ver­sprachen sich etwas von ein paar Stunden oder einem Wochenende mit ihm. Damit wollte Rolf nichts zu tun haben. Auf Sexabenteuer oder Komplikationen mit Freunden und Ehemännern war er nicht aus. Obwohl mit Elena war es ja nicht viel anders, sie war ja auch verheiratet und zudem noch acht Jahre jün­ger als er. Ihr cool arrogantes Auftreten an der Bar in der Oper hatte ihn ge­reizt. Rolf bekam Lust, sie zu provozieren und Elena lachte. Man sprach ein we­nig und über den nächsten Opernbesuch, und ob man sich wieder treffen wür­de. Ausgerechnet La Traviata. Man kann sie gar nicht oft genug geben. Ob sie bei sich Affinitäten zu einer Identifikation mit der Violetta erkennen könne, wollte Rolf scherzhaft wissen. „Wenn du für den Alfredo nicht leider schon viel zu alt wärest, fiel es mir bestimmt leichter.“ reagierte Elena und lachte. Sie sprach aber nicht weiter, sondern schaute sinnierend ins Leere. „Eine Tuberkulose habe ich nicht gerade, aber eine Krankheit, die das Leben als langsamen Weg auf den Tod zu er scheinen lässt, habe ich schon. Keine Angst ich bin nicht depressiv, aber ach nein, lassen wir das.“ erklärte sie. Sie sprachen weiter über die Oper, die Callas und Musik überhaupt. Die Idee, nach der Pause wieder rein zu gehen, wurde gar nicht in Erwägung gezogen. Angeregt lauschte Elena dem, was Rolf von Maria Callas erzählte und darüber, was Musik in ihm bewirke. „Ich mag dich, du gefällst mir.“ sagte sie plötzlich fast zärtlich und strich Rolf mit dem Handrücken über die Wange. „Oh, Entschuldigung, aber sie haben mich bestimmt verwirrt. Es ist sehr angenehm, ihnen zuzuhören. Wir könnten uns ja vielleicht auch sonst mal treffen. Dann brauchen wir nicht Opernakte zu schwänzten.“ schlug Elena vor. Sie wollte sich für die Erhaltung der Umwelt engagieren, hatte einige Veranstaltungen bei den Grünen besucht und war bei sich selbst und ihrer privaten Umwelt angekommen.


Im Duett


Sie hatten sich öfter in Cafés getroffen, waren spazieren gegangen und immer noch hatte man Lust, den anderen weitere Details aus seiner Bio kennen zu lassen. „Rolf, ich suche keinen anderen Mann zum Vögeln oder einen Liebha­ber. Ich weiß überhaupt nicht, was ich will. Ich weiß nur, dass mein so heiles Leben tödlich ist. Eine Chance, da etwas zu ändern oder rauszukommen, kann ich mir nicht ausmalen. Ich lese jetzt immer wunderbare Bücher. Ich hätte sie als Mädchen lesen sollen, wenn es sie damals schon gegeben hätte, nur jetzt verdeutlichen sie mir die Erbärmlichkeit meines Lebens immer mehr.“ klagte Elena. Sie war mit dem Besitzer einer Stahlhandelsfirma verheiratet. Außer ei­nem Praktikum bei ihm in der Firma hatte sie nie in ihrem Leben nie gearbei­tet. Doch, vielleicht war das Modeln als Studentin ja Arbeit, auch wenn sie es für Jux mit Bezahlung gehalten hatte. Rolf mochte Elena, aber das war ja nichts Ungewöhnliches für ihn. Es fiel ihm leichter bei Frauen die tieferen menschlichen Zusammenhänge zu erkennen. Dann hat letztendlich fast jeder etwas Wunderbares, Liebenswertes an sich. Bei Männern sah er eher, dass sie bis auf Ausnahmen alle mehr oder weniger neurotisch waren. Ein plattes Vorur­teil? Musste es ja sein. Die weit überwiegende Anzahl der Komponisten, Mahler, Künstler und Wissenschaftler waren immer noch Männer. Aber fast alle die er kannte und kennenlernte hatten sie doch, diese Sieger- und Gewinnerneurose. Nicht extensiv nur Schau gestellt, aber immer erzählten sie etwas Tolles von sich. Was gab es für einen Sinn, wenn du es nicht anerkanntes und bewunder­test. Alle hatten sie es. Gleichgültig, ob's der Herr Professor oder der Klempner war. Das war bei Frauen in der Regel eben anders. Ob sie über umfänglichere soziale Kompetenzen verfügten, wusste Rolf nicht, meinte aber meistens schon, nur sie hätten einen wesentlich komplexeren Horizont mit Sprache um­gehen zu können, erklärte er. Sicher bedeutete es für Männer auch mehr, als nur Worte auszutauschen, wenn man miteinander redete, aber bei Frauen kam es ihm meist vor wie kleine Inszenierungen, man konnte mit ihnen im Duett singen und Rolf gefiel es.


Femme fatale


Er suchte doch die Frau mit der weisen Milde seiner Großmutter, der klaren hellen Stimme seiner Mutter und der Persönlichkeit von Martha. Schwarze Haa­re hätten ja gar nicht sein müssen, waren's aber immer automatisch. Rolf fand Frauen mit schwarzen Haaren nicht hübscher, ästhetisch ansprechender oder erotisch wirkender, aber alle, die er näher kennenlernte, hatten sie. Seine Auf­merksamkeit erregten aber immer Frauen, die zu dem Bild der kleinen Nele mit den Seidenstrümpfen passten. Es war nicht das geheimnisvoll verrucht Wirken­de der Femme fatale das ihn reizte. Das belächelte er und wusste, das es nur Gewand war, aber er liebte dieses Verhaltens- und Erscheinungskleid. Bei Julia­ne war er sich zu Anfang immer noch unsicher gewesen, wie lange ihre Bezie­hung wohl dauern könne. Er meinte sie so gut zu verstehen, dass er alles nachempfinden könne, was sie sagte. Auch wenn sie erklärte, sich keinesfalls dauerhaft an einen Mann binden zu wollen, sondern frei zu bleiben in ihrem Le­ben, stimmte Rolf dem zu. Kurz darauf meinte sie allerdings, dass man sich die Angelegenheit mit Kindern doch nicht zu spät überlegen solle. Juliane war für Rolf das Leben, genauso widersprüchlich wie dieses auch. Vielleicht symboli­sierte dieses Erscheinungsbild einer Frau für Rolf mehr Leben, war eine Meta­pher für den unerfüllten Wunsch nach Anerkennung als eigenständiger Persön­lichkeit. Bei Juliane war es zumindest so gelaufen. Sie hatte als kleine Schwes­ter von drei älteren Brüdern diesen in nichts nachstehen wollen und hatte es ständig unter Beweis zu stellen. Dass sie als Erwachsene die coole Lady gab, die über dem unerträglichen Liebesgesäusel und den sehnsuchtsvoll schmach­tenden Träumereigespinsten ihrer Geschlechtsgenossinnen stand, war nur eine altersadäquate Weiterentwicklung. Auch Elena kompensierte durch ihr Auftre­ten etwas. „Wie konnte ich nur so dämlich sein? Ich dumme Nudel komme mir großartig vor, wenn der Big Spender scharf auf mich ist. Ich war doch erwach­sen und gebildet. Was für eine Beziehung soll denn auf so einer Basis entste­hen. Aber das brauchst du ja alles nicht. Du brauchst die großartige Lady für dich. Das ist doch krank, psychisch krank.“ schimpfte sie, „Bist vierundzwanzig und hast keine Ahnung vom Leben, kommst dir aber wahnsinnig überlegen vor. Wenn du später mal ein wenig klüger wirst und dich fragst: „Was war das ei­gentlich, das ich in meinem Leben hatte?“ kannst du nur sagen: „Alles Müll, nur Müll sonst nichts. Alles überhaupt nichts wert.“.“


Geburtstagsfète


„Du bist sehr feinfühlig, nicht wahr?“ fragte Elena mehr rhetorisch während sie langsam mit Mittel und Ringfinger über Rolfs Finger tastete. Der hatte seine Hand vom Griff der Espressotasse auf den Tisch gelegt, als Elena ihn berührte. „So lange dünne Finger müssten eigentlich Klavier spielen, tun sie das?“ fragte sie. Sie hätte es eigentlich wissen können, aber Rolf erläuterte es. Sie legte seine Hand in ihre. „Eigentlich werden die Hände zwischen fünfzig und sechzig doch schon alt. Die Haut bekommt braune Flecken und beginnt sich von den Knochen zu lösen. Bei dir ist sie aber noch ganz weiß und fest. Bleaching, was?“ meinte Elena lachend und drückte sich Rolfs Hand kurz an ihre Wange. „Rolf du musst zu uns zur Fète kommen. Mein Mann hat Geburtstag und da gibt’s Big Party. Leute, die niemand kennt, sind bestimmt mehrere da. Wie soll ich es denn überstehen, ohne mit dir reden zu können?“ drängte Elena Rolf zu kommen. Einiges hatte er als langjähriger Chefredakteur der Lokalpresse schon mitbekommen, aber so etwas kannte er nur als Upper Ten Party aus Fil­men. Elena strahlte unentwegt, zeigte ihm alles und machte ihn mit einigen Leuten bekannt. Vereinzelt kannte er auch selbst jemanden aber wohl mehrere kannten ihn. Elena war trotz ihrer siebenundvierzig Jahre eine ausgesprochen attraktive Schönheit. Mit ihrem dunklen, leicht wilden Haaren und ihrem knap­pen am Rücken tief ausgeschnittenen Partykleid wirkte sie leicht verwegen ero­tisch. Erst als langsame Musik gespielt wurde, wollte sie mit Rolf tanzen. Sie schmiegte sich schon eng an Rolf, aber schaute ihn nur vielsagend an und grinste. „Komm mal mit. Ich muss dir etwas zeigen.“ meinte Elena, zog ihn an der Hand den Flur entlang, die Treppe rauf und oben in ein Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel um. „Was machen wir jetzt?“ frag­te Rolf dumm und verlegen, als sie gegenseitig fragend anschauend voreinan­der standen. „Hm, ich glaube, wir haben zuerst mal ganz viele Küsse nach zu holen. Überleg mal, wie oft wir uns nicht geküsst haben.“ meinte Elena spöt­telnd dazu. Alles andere mussten sie auch wohl viel zu oft nicht getan haben. „Und das mitten im Change.“ meinte Elena anschließend mit verschwitztem Gesicht, „Na ja, wäre ja auch ein Wechsel. Morgenabend wieder Party bei dir?“ fragte sie leicht verwegen grinsend. „Die Gespräche mit dir waren für mich mein Wichtigstes? Was könnte es denn werden, was mit dir jetzt dazu gekom­men ist? Mein Schönstes, mein Erfüllendstes oder was?“ fragte sie launig. Sie gingen wieder runter, und während Rolf nicht richtig einordnen konnte, was ge­schehen war, tobte sich Elena anschließend exaltiert auf der Tanzfläche aus.


Dann ist es vorbei


Sie besuchte Rolf jetzt ständig. Er konnte sich gar nicht entscheiden, ob ihm das recht war. Natürlich mochte er Elena sehr gern und glücklich machte ihn ihr Zusammensein. So war es heute und morgen und würde auch am Tag dar­auf noch so sein. Und dann? Könnte man nicht heute noch weniger schmerzvoll ein Ende finden als in einem halben oder ganzen Jahr, denn eine Perspektive sah Rolf nicht. Die Prinzessin Elena würde ihr Schloss nie verlassen und auch wohl gar nicht ohne leben können. Unabhängig davon suchte er sich ein Zu­sammenleben mit Elena vorzustellen. Jetzt waren es immer schöne Momente, er mochte sie auch sehr gern, aber immer mit ihr leben, jeden Alltag mit ihr verbringen? Das Bild, das sich ihm dafür zeigte, war schal. Sie liebte ihn und hing an seinen Lippen, aber ihrer Beziehung fehlte die gleichwertige Gegensei­tigkeit. Das war nicht das Bild, das ihm von Beziehung und Liebe vorschwebte. Wenn mit Juliane schon alles hatte zerbrechen können, wie schwach und fragil stellte sich dann die Basis für eine langfristige Beziehung mit Elena dar. Rolf konnte es Elena so erklären, dass sie ihn verstand und nicht böse auf ihn wur­de, aber sie weinte. „Rolf, du bist der erste wirkliche Mensch, den ich kennen­gelernt habe. So wie ich meine, das Menschen eigentlich sein müssten. Du hast mich erfahren lassen, dass ich lieben kann und es möchte, unbedingt will. Das kannst du doch nicht einfach aus meinem Leben rausreißen. Ich wusste vorher gar nicht, was glücklich sein eigentlich bedeutet. Ich kann dich nicht aufgeben, Rolf. Ich muss mit dir leben.“ erklärte Elena unter Tränen. Sie sprachen oft darüber. Elena weinte viel und Rolf schwieg viel. Er verstand sie ja, konnte ja ihren Schmerz nachempfinden, nur diese psychischen Torturen wie mit Juliane wollte er nicht noch mal erleben. Bei Juliane hätte er es sich nicht vorstellen können, aber mit Elena erschien es ihm greifbar nahe. Elena versuchte alles, um doch noch mit Rolf zusammenbleiben zu können. Sie wollte sich sogar scheiden lassen. Als Rolf einwandte, dass es ja keine Entscheidung von ihr alleine sei, wurde sie böse: „Ha, und wer entscheidet darüber, dass Schluss sein soll? Etwa wir beide gemeinsam? Auch aufzuhören ist eine Entscheidung, die unser gemeinsames Ding betrifft. Aber da hast du selbstverständlich das Recht, hochherrlich allein zu entscheiden. Ein Machogen haben sie alle die Männer. Selbst du bist nicht frei davon.“ Sie trennten sich ja nicht, sie hatten nur beschlossen, dass sie es tun wollten. Sie machten sich einen Jux daraus, zu planen, wie sie denn anschließend miteinander umgehen wollten. Nicht wenig perverse Züge bekam die Situation. „Rolf, es ist besser so, wir machen es jetzt. Ich fahre in Urlaub, und anschließend komme ich nicht mehr.“ erklärte Elena im Sommer, „Im Herbst werde ich es nicht ertragen können, mich quälen und den Blues nicht wieder los werden. Vierzehn Tage werden wir uns noch sehen, dann ist es vorbei.“ teilte sie Rolf mit und warf sich ihm um den Hals.


Eigene andere Existenz


„Wie kommst du denn auf die Idee, mit einer Frau, die dich so liebt, Schluss zu machen?“ fragte er sich vorwurfsvoll. „Du bist selber verrückt, nichts als ver­rückt und durchgedreht. Schraubst dir irgendwelche Hypothesen über die Zu­kunft zusammen und zerstörst so eine wunderbare Beziehung. Elena ist doch ein Mensch, wie kannst du denn so wahnsinnig mit ihr umgehen?“ Jetzt war Rolf völlig konfus. Wie es nach Juliane weitergehen sollte, eine Vorstellung von seinem neuen Leben hatte er nie gehabt. Er wusste nur, allein wollte er nicht bleiben. Aber wen wollte er denn finden, wenn es seiner Meinung nach mit Ele­na nicht einmal funktionieren würde. Welche Hirngespinste von Vorstellungen tobten denn in seinem Kopf herum? Wahrscheinlich durfte es nur Juliane Nu­mero 2 mit der Garantie für keine Differenzen sein. „Du lebst kein neues Le­ben. Den Traum von deinem alten willst du weiterleben.“ wurde Rolf sich klar. Er hatte vielfältigste Kontakte und Bekannte aus seiner Zeit als Leiter der Lo­kalredaktion. Diese Kontakte wollte er reaktivieren und wieder mit Leben fül­len. Daraus sollten sich Perspektiven entwickeln, Perspektiven für eine eigene andere Existenz, die ihn betraf. Der Gedanke an Frauen sollte dabei keine Rolle spielen. Es lief auch, man kam sich persönlich näher, aber Perspektiven eröff­neten sich nicht. Er wurde nur deutlich häufiger zu Parties eingeladen, und dort unterhielt er sich wie üblich fast ausschließlich mit den Frauen.


Manon Lescaut


Über den Vorsitzenden des Kulturausschusses kam er jetzt wieder zu den Pre­mieren mit ihren kleinen Empfängen. Er erlebte es völlig neu. Sonst hatte er sich immer seine Informationen für die Zeitung vom Regisseur, Intendanten und Dirigenten geholt und darüber hinaus die lockere Atmosphäre zur Kontaktpflege mit anderen Honoratioren genutzt. Plötzlich nahm er wahr, dass auch Sänger, Schauspieler und Ballerinen anwesend waren. Für sie war es wohl in der Regel eine lästige Pflicht nach der anstrengenden Aufführung. Diese Empfänge waren absurdes Theater nach dem Theater. Sonderbar, er hatte noch nie Kontakt zu einer Sängerin gehabt, obwohl ihn die Stimmen doch so faszinierten. Er stellte sich vor, wie ein Tag mit einer Freundin, die Opernsängerin wäre, wohl abliefe. Wurde albern in seinen Gedanken und lächelte vor sich hin. Vielleicht sollte er in seinen Wunschvorstellungen noch hinter Juliane zurück gehen, zu den Wurzeln, und da war der Gesang ja ganz entscheidend gewesen. Eine Freundin, die ihm die Habanera singen könnte, das müsste doch alle seine Sinne berauschen. „Sie scheinen sich lustige Geschichten zu erzählen.“ sprach ihn eine junge Frau am Buffett an, „Sie lächeln unentwegt vor sich hin. Das hat doch nicht mit der Aufführung zu tun, oder?“ wollte sie wissen. „Nein, nein, keinesfalls.“ wehte Rolf ab, ergoss sich in höchsten Lobpreisungen über Oper und Aufführung. Beschimpfte Leute, die nicht in die Oper gingen, weil sie hier nicht die Callas oder Ähnliches zu hören bekämen. Die junge Frau hörte ihm zu, fragte ihn was er mache, wollte aber auch noch wissen, worüber er gelächelt hatte. Sie saßen längst zusammen am Tisch und Rolf, der sich zunächst zierte, erzählte dann doch, warum er vor sich hin lachen musste. Die junge Frau bekam sich nicht mehr ein und wollte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Sie hatte gerade die Manon gesungen, aber Rolf hatte sie so abgeschminkt und in Privatkleidung überhaupt nicht erkannt. Und dann unterhielten sie sich über Stimmen, Klang und emotionale Einfüsse. Alle waren schon gegangen, während Anett, so hieß die Sängerin, und Rolf noch darüber stritten, was bei seiner Mutter für ihn das Primäre ausgemacht habe. Rolf vertrat die Ansicht, dass er sie wegen ihrer Stimme und ihres Singens sehr gemocht habe, während Anett ihm zu verdeutlichen versuchte, das ihre Stimme nur ein Signal gewesen sei, dass ihn an anderes Geliebtes erinnert habe. Sie überlegten, ob sie noch anderswo hingehen wollten, aber Anett fühlte sich auch geschafft. Man wollte sich noch mal treffen und Anett wollte ihm Unterlagen für ihre Thesen mitbringen.


Annett


Jetzt fing das schon wieder an, aber er wusste ja nichts über Anett, bestimmt hatte sie einen festen Freund und außerdem war sie ja im Alter seiner Kinder. Er fand sie nett und offen, sie diskutierte sehr ernsthaft, aber lachte offensicht­lich auch sehr gern. Er mochte sie schon, aber so ein Irrsinn. In dem Alter, in dem Männer wieder anfangen sich für kleine Mädchen zu interessieren, war er doch wohl noch nicht und würde er auch nie hinkommen. Außerdem hatte An­ett blonde Haare. „Weißt du Rolf, ich habe gar keine Lust mehr, darüber zu re­den.“ erklärte Anett plötzlich im Café, „Mich interessiert etwas ganz anderes. Bei mir hat man mal mein Stimmchen schön gefunden, und dann musste ich hier und dort singen, dann brauchte ich natürlich Schulungen und Training und so ging es immer weiter und füllt jetzt mein ganzes Leben aus. Für dich waren Singen, Musik und Klänge schon von klein auf etwas Zentrales, aber du hast nie etwas daraus und damit gemacht. Ich kann das gar nicht verstehen. Du hast erzählt, welche Tricks und Anstrengungen du als Kind unternommen hast, um in die Oper zu kommen, und du selbst, für dich, deine eigene Stimme, hat die nie existiert?“ „Ich kann dir dazu überhaupt nichts antworten, Anett. Vielleicht habe ich eine gespaltene Persönlichkeit, eine für's Genießen und eine für's Aktive. Ich war selig, wenn ich meiner Mutter zuhören konnte und heute bin ich beim Zuhören im Konzert glücklich. Auf die Idee, dass ich selbst gern dirigieren möchte, bin ich dabei noch nie gekommen. Er soll mir's nur schön machen. Hedonismus ist das, nicht wahr, hedonistischer Klang- und Musikgebrauch. Ist das denn schlimm, wenn's mir so gefällt?“ „Du bist eine lustige Nudel, Rolf.“ reagierte Anette lachend, „Auf der Bühne musst du exibitionistisch sein, Lust daran haben, dich vorzuführen. Wenn sie dir alle hinterher verbal auf die Schulter klopfen, ist das zwar ganz nett, aber wenn dir einer aus der dunklen Masse erzählt, wie und warum es ihm gut gefallen und was es bei ihm bewirkt hat, ist das noch einmal etwas ganz anderes. Das Publikum besteht ja nicht aus Rezensenten, das sind ja alles Leute, die mit ihren Gefühlen und Assoziationen mit dem umgehen, was du tust. Nur davon erfährst du kaum etwas. Wie könnte mir so etwas einfallen, dass ich für so einen kuriosen Vogel wie dich singe. Beim nächsten Mal denke ich, das das ganze erste und zweite Parkett und die Logen voller solcher Typen sitzen. Ich glaube, ich würde ganz anders singen und spielen. Ich würde mich ganz anders fühlen, wie in einem großen Freundeskreis oder wie zu Hause. Du gibst mir zu denken, Rolf.“ „Die Hälfte der Leute, die in der Oper sitzen, bevölkern sie wahrscheinlich, weil es zum soziokulturellen Mittelschichtshabitat gehört, dies ab und an zu tun. Die werden nicht deine Freunde. Die können gar nicht hören. Die müssen aus der Zeitung lesen, was sie gehört haben.“ reagierte Rolf darauf. „Es ist so lustig mit dir zu reden, mach mich jetzt bitte nicht traurig.“ antwortete Anett, lachte und fixierte Rolf. „Ich finde noch etwas sehr komisch“ sagte sie, „Du könntest ja mein Vater sein, nicht wahr? Aber du bist ein ganz anderer Mensch. Du bist spannend, das muss ich schon sagen.“ Sie schaute sinnierend vor sich hin. „Meinst du denn, es könnte mit uns beiden etwas werden? Und du würdest an schwülen Sommerabenden die Habanera für mich tanzen und singen?“ fragte Rolf spöttisch und beide lachten. „Du bist frech, mein Junge, aber ...“ und dann wusste sie nicht, wie sie es formulieren sollte und durfte. „Hach, ich könnte jetzt so vieles sagen, aber das Problem ist, dass ich zu oft an dich und etwas von dir denken muss.“ erklärte Anett dann. „Nein, nein, nein, Anett. Da wird niemals etwas draus. Ich mag dich gut leiden und freue mich auch darauf, wenn wir uns treffen. Aber alles weitere ist tabu, absolut tabu. Ich brauche keine zusätzlichen Probleme in meinem Leben und will keinesfalls bei dir etwas zerstören oder behindern. Es wird bei deinen Gedanken bleiben müssen, oder wir können uns nicht mehr treffen.“ reagierte Rolf harsch. „Oh Rolf, 'L'amour est un oiseau rebelle'. Das solltest du doch wissen. Mit Versicherungen, Planungen, und Strategien ist da nix zu machen. Das ist die falsche Musik für die Habanera. Ich dachte, du wärst jemand, der sie verstehen würde. Aber da scheint noch jemand anders bei dir zu sein, und ihr beide versteht euch nicht. Ihr klingt nicht zusammen. Es gibt keine Harmonie. Das ist nicht gut für dich und schade für mich.“ lautete Anetts Antwort.


Das große Konfusium


Anett würde Recht haben, von Harmonie war in seiner Psyche kaum etwas zu spüren. Rolf kam es eher vor wie eine Vielvölkerschlacht, was da in seinem In­neren stattfand. Immer wieder passierte etwas, das ihn nicht unberührt ließ. Warum konnte es nicht bei zwei Sätzen zu Manon Lescaut am Büfett bleiben? Rolf kam sich keinesfalls als Womanizer oder so etwas in der Richtung vor. Es fing ja auch immer mit ganz gewöhnlichen Unterhaltungen an, die keinerlei As­soziationen zu männlich-weiblich hatten. Dann hätte es sich mit Anett be­stimmt nicht so entwickeln können. Er konnte eben mit Frauen besser umge­hen und hatte, losgelöst von irgendwelchen sexuellen Ambitionen, einfach mehr Lust daran. Wahrscheinlich war es darauf zurückzuführen, dass seine pri­mären Sozialisationserfahrungen fast ausschließlich im sozialen Umfeld von Frauen und Mädchen stattgefunden hatten. Alle hatten sie etwas von Martha, Mala, Rita oder Nele, das er zutiefst kannte und mochte. Sie standen metapho­risch für glückliches Erleben seiner Kindheit. Darüber hinaus kannte er nur die Erfahrungen mit Juliane. Er habe eine vermurxte Identität, meinte Rolf. Als schlichter Mann, eine Frau zu betrachten, sei ihm nicht mehr vergönnt. Aber vor Problemen würde das mit Sicherheit erst recht nicht schützen. Warum wa­ren die Frauen denn alle unzufrieden. Die konnte er meistens gut verstehen, aber bei Juliane hatte er nichts verstanden. Ob er mal einen Therapeuten auf­suchen sollte? Aber was sollte der machen? Ihm die Erinnerung an die schönen Zeiten mit Juliane heraus operieren, damit er jetzt auch auf niedrigerem Level glücklich werden konnte? So ein Quatsch. Rolf spürte ja auch keinen Leidens­druck, außer wenn er sich selbst wieder in Konflikte hineinmanövriert hatte. Er kam sich manchmal alt, festgefahren vor. Liebe, wie einen wilden Vogel zulas­sen können, das hörte sich schön an, und ganz falsch? Na ja, erzwingen konn­te man zumindest nichts daran, aber sich einfach auf etwas einlassen, den Au­genblick genießen, obwohl man die Katastrophe sah. Oder war er nur zu ängst­lich, trug die Auseinandersetzungen mit Juliane wie einen Schock in sich. Hatte eine Phobie im Hinblick auf längerfristige Beziehungen mit Frauen. Während er mit Juliane zusammenlebte, war es nie zu zufälligen amourösen Beziehungen mit anderen Frauen gekommen. Er hatte es nicht gesucht, aber es hätte ja ge­nauso gut passieren können wie jetzt auch. Sollte er sich beim Zusammentref­fen mit anderen Frauen vielleicht immer vorstellen, verheiratet zu sein? Würde das abschreckend wirken. Rolf hatte keinen Plan und konnte auch keinen ent­wickeln. Er wollte ja eigentlich mit einer Frau zusammenleben, aber jetzt über­legte er schon, wie er möglichst abschreckend wirken könnte. Aus seinen Ge­danken würde sich nie eine Symphonie entwickeln, es sei denn, man nenne sie 'das große Konfusium'. Alles passte nicht und stimmte nicht.


Qui tollis peccata mundi


Trotzdem empfand sich Rolf keineswegs als verzweifelt. So war es eben, es fehlte etwas, aber deshalb ging das Leben weiter. Das hatte er ja auch schon als kleines Kind erfahren. Nur jetzt hatte er niemanden, dem 'er seine Fäuste dafür ins Gesicht schlagen konnte'. Damals hatte seine Mutter alles ertragen müssen. In der Regel wusste man nicht, wer es abbekam, aber meistens tat man es. Vielleicht war Rolf es selber, der sich das greifbare Glück mit konstru­ierten Zukunftsbildern versagte, der äußerlich immer unbeschwert wirkte, sich aber selbst psychisch martern musste. Anett hatte schon Recht gehabt. Rolf war nicht der, wie er nicht nur auf andere wirkte, sondern auch sich meistens selber sah. Er war aber auch nicht der, der sich mit seinem Eremitendasein quälte, es mit Frauen nicht geregelt bekam. Nur die beiden schienen isoliert nebeneinander zu existieren. Wenn er jetzt seinen Schmerz in einem Fado sin­gend verarbeiten könnte, das würde ihm bestimmt helfen. Warum sang er ei­gentlich nicht seine Gedanken auf eine Weise, wie sie ihm gerade einfiel. Er hatte doch alle Freiheiten. Zu Anfang lachte er sich immer schief dabei, aber je selbstverständlicher es wurde, umso stärker wurde der Eindruck, dass es gut für ihn sei. In der Regel lagen Rolfs Gesänge überwiegend in der Nähe vom Gregorianischen Choral, und sich vorzustellen, wie das Echo seines Wehklagens in den Gewölben des Domes hallte, verstärkte die heilende Wirkung noch enorm. Die Melodie des Paternosters konnte man ja so schmerzbeladen vor­bringen, das jeder Fado mit all seiner Saudade ernsthafte Konkurrenz befürch­ten musste.

Für seine Bekannten war es immer ein Party-Gag, wenn er davon erzählte. Nur ausschließlich lustig, war es ja nicht. Man hatte auch schon ähnliche Empfin­dungen, nur legte man sich dann eine Blues CD auf, anstatt seinen Schmerz selber zum Ausdruck zu bringen. Einige halfen sich auch damit, Leid und Qual einem Tagebuch anzuvertrauen. Ob durch den Gesang beide Seiten wieder zum Gespräch miteinander gefunden hatten, konnte Rolf nicht genau beurteilen, aber mehr harmonische Integrität, war auf jeden Fall zu verspüren.


Zwischenmenschliche Tiefe


Zehn Jahre waren sie jetzt nicht mehr zusammen, und die letzten fünf hatten sie sich zunehmend gestritten. Trotzdem war Juliane noch oft präsent. Sie hat­ten sich nur einige Male kurz nach Julianes Auszug getroffen, um Organisatori­sches zu regeln, sonst hatten sie keinerlei Kontakt mehr, auch nicht Weihnach­ten und nicht zum Geburtstag. Wenn Rolf an Sozialverhalten, Umgang unter einander, Beziehung oder Liebe dachte, war Juliane mit dabei. Er hatte es ja begrüßt, dass sie sich trennten, hatte selbst keinen Sinn mehr darin gesehen, nur da waren eben dreißig Jahre, damals mehr als die Hälfte seines Lebens. Es war vor allem nicht mal die lange Zeit. Die Art, wie sie sich erlebt hatten, die Tiefe, das würde er niemals vergessen können. Das war nicht mit jemand an­derem zu wiederholen und das wollte Rolf auch keinesfalls. Er hatte nicht nur mit Juliane sein Leben verbracht, die Kinder bekommen, sie auf ihrem Weg be­gleitet, seine tiefsten zwischenmenschlichen Erfahrungen überhaupt waren an Juliane gebunden. Das blieb immer da. Das war er, kein Kapitel, das er einfach abschließen konnte. Das würde auch in einem neuen anderen Leben da sein, wenn es so etwas überhaupt geben konnte. Vieles ändern, das wäre möglich, aber ein anderer Mensch konnte er nicht werden.


Allein in der Wüste


Sein Blutdruck war nicht in Ordnung. „Was soll ich denn machen, Paul.“ Rolf und sein Arzt kannten sich noch aus gemeinsamen Studentenzeiten, „Ich lebe doch schon wie ein Asket. Ich rauche nicht mehr und trinke nur selten etwas und Versalzenes esse ich sowieso nicht.“ „Und Bewegung, wie sieht's damit aus?“ fragte der Arzt nach. „Paul, ich habe mich mein ganz Leben lang bewegt, mehr als genug und als mir lieb war. In der Schule hat man mir beigebracht, wenn du schön fleißig und lieb warst, gibt es hinterher eine Belohnung. Im Le­ben scheint das aber genau umgekehrt zu sein. Racker dich fleißig ab, tu im­mer das, was sich gehört und statt für deine Mühen belohnt zu werden und dein Leben jetzt genießen zu können, wirst du von immer mehr Widerwärtig­keiten gequält. Immer etwas Neues, Zusätzliches, immer ein bisschen schlim­mer. Verglichen mit vielen anderen geht’s mir ja heute noch relativ gut, aber wer sagt denn, dass ich morgen auch noch allein die Treppe raufkomme, dass nicht irgendwo irgendwelche Karzinome entdeckt werden. Das liegt doch alles nah, ganz nah. Ich werde mir einen Revolver zulegen für jeden den ich noch einmal über die positiven Seiten des Älterwerdens reden höre.“ erregte sich Rolf. „Rolf, ich hätte ja hier auch schon längst Schluss machen können. Ich mach das für mich, nur für mich. Du braucht etwas, das dir klar macht, dass du nicht überflüssig bist. Wenn die alte Frau Rickert mir vertraut, und glücklich ist, dass ich mich um sie bemühe, dann hilft ihr das mehr als die meisten ihrer Tabletten, und mir selbst hilft es auch ganz viel. Das habe ich mein Leben lang getan. Das ist mein Leben. Das bin ich. Da kann ich mir jetzt nicht einfach überlegen, ob etwas anderes nicht auch ganz nett sein könnte. Das wird mir nichts bedeuten. Das wird nicht mit mir übereinstimmen. Und du hast nichts. Stehst mitten in der Wüste und kannst dich nur selber betrachten. Das ist nicht gut, Rolf.“ meinte Paul, sein Arzt. „Was soll ich denn tun? Bei dir die Praxis put­zen? Alles wird doch außerhalb und aufgesetzt sein. L'art pour l'art, ich werde es tun, damit ich etwas tue.Und das werde ich vor mir selbst nicht verbergen können.“ reagierte Rolf. „Worüber hast du dich früher immer aufgeregt?“ erwi­derte Paul, „Dass du hier immer Stuss schreiben musst. Du könntest Leitartikel und Essays wie in der Süddeutschen oder Frankfurter Rundschau schreiben, aber das wollte hier keiner lesen. Ein Bericht übers letzte Gemeindefest von St. Patroculus sei wichtiger. Jetzt hast du doch alle Freiheiten. Schreib doch was du möchtest und schau was du noch kannst. Das bist du doch, der schreibend etwas rüberbringen wollte. Ob's irgendwo veröffentlicht wird, ist doch egal. Es geht doch um deine Lust am Schreiben, die hast du doch nicht verloren. Ich fände es zum Beispiel toll, mal etwas von dir zu lesen, wie's nicht im Ortsteil gestanden hätte.“


Wieso war Rolf eigentlich nicht selber darauf gekommen. Wahrscheinlich hatte er Schreiben so mit Lokalteil zusammenschustern internalisiert, dass er froh war, nichts mehr formulieren zu müssen. So etwas wie ein Tagebuch in Essay­form würde er schreiben, darauf konnte er sich freuen. Rolf war ja froh, dass er nicht mehr zu arbeiten brauchte, aber trotzdem hatte Paul Recht. Wenn er es auch ablehnte, seine Persönlichkeit über seine Arbeit zu definieren, empfand er doch eine leere Stelle, wenn es Derartiges nicht mehr gab. Der Stil, das Li­terarische, die pointierten Formulierungen, in der Lokalredaktion war das alles sekundär geworden, jetzt gefiel es ihm alles wieder neu zu entdecken und auszuprobieren. Manchmal schrieb er fast die ganze Nacht durch, verwarf es wieder, formulierte neu und korrigierte. Zum Schluss fand er es oft richtig toll, aber ob es daran lag, dass er die Urfassung gekannt hatte und von seinen Verbesserungen überzeugt war, oder ob andere den Text auch gut finden würden. Er wusste es nicht, trotzdem machten ihm die literarischen Selbstgespräche ein sehr gutes Gefühl. Es machte ihn kräftiger, psychisch stabiler. Er fühlte sich gesund und hatte Lust, aktiv zu werden.


Habanera


Anett wollte er anrufen und ihr mal mitteilen, dass er jetzt tatsächlich begon­nen habe zu singen. Vor Lachen konnten sie sich am Telefon gar nicht verste­hen. „Ich will das hören, wir müssen uns treffen und du musst mir etwas vor­singen. Vielleicht kannst du ja auch mein Leid gleich mit beklagen.“ erklärte Anett. „Nein, das geht nicht. Das darf doch keiner hören. Da würde ich mich ja zu Tode schämen.“ lehnte Rolf ab. „Dann komme ich zu dir nach Hause, und ich singe dir auch deine Habanera.“ entgegnete Anett. Als er Anett die Tür öff­nete, mussten sie schon wieder lachen. Und so blieb es auch. „Weißt du das deine Große Gnade das große Schaf ist, das Agnus Dei. Natürlich weißt du das. Ich mag es, würde auch gern Missae singen, aber da sieht man mich wohl nicht. Dabei stünde es einer Edelmaitresse doch gut an, mal das 'Kyrie eleison' zu preisen oder?“ meinte Anett, „Du hast ja Lust bekommen. Du möchtest ja mehr machen. Da musst du Gesangsunterricht nehmen, musst deine Stimme ausbilden lassen. Alles andere ist Pippifax. Du wirst es bestimmt schaffen, die Gesangslehrerin zu überzeugen, dass sie Spaß daran bekommt.“ „Die Habane­ra hast du versprochen.“ erinnerte Rolf, „Vergiss es nicht.“ „Steh auf, Don Rolfi­no. Begib dich auf deinen Marktplatz. Nur ohne Chor und Orchester wird es ein wenig dünn sein. Du musst in deinem Empfinden die Habanera immer mit tan­zen lassen. Ich will versuchen, es ein wenig rüberzubringen. Also Anetta Ber­ganza wird dich jetzt umgarnen.“ erläuterte Anett. In seinem Wohnzimmer sang Anett allein für ihn, ohne Chor ohne Orchester, die hätten auch nur ge­stört. Es war wie damals bei Hänsel und Gretel, nur Anett war ganz nah, ging um ihn herum, berührte ihn, schaute ihn an und ließ ihre Augen lächeln. „Schön?“ fragte sie nur kurz. „Anett, du verzauberst mich, du bist wundervoll“ antwortete Rolf, umarmte und küsste sie.


Der wilde Vogel ist gelandet


„Weißt du Rolf, die Liebe ist meistens gar kein wilder Vogel. Sie ist eine Taube, die immer wieder zu ihrem Käfig zurückkehrt, aber mein oiseau rebelle ist, glaube ich, gerade unterwegs zu dir. Findest du mich denn auch ein bisschen mehr als nur nett?“ wollte Anett wissen. „Oh je, Anett, ich liebe dich, aber ich liebe auch meine Töchter.“ antwortete Rolf ein wenig gequält. „Hm, und dass ich eine richtige Frau bin und keine Tochter, das empfindest du gar nicht?“ fragte sie weiter. „Doch Anett, leider viel zu stark.“ war Rolfs Antwort. „Und weshalb?“ wollte Anett es genauer wissen, „Gefällt dir mein Po oder mein Bu­sen?“ sie lachten sich wieder schief. „Anett, so läuft das doch nicht. Ich wüsste gar nicht wie dein Po oder Busen aussähen, wenn du nicht jetzt neben mir sä­ßest. Das Bedürfnis und die Lust entstehen doch verborgen im Kopf. Ich weiß nur, wenn ich dich anschaue, deine Augen, deine Mimik sehe und wenn ich dich sprechen höre, könnte ich dich augenblicklich auffressen.“ antwortete Rolf. An­ett strahlte ihn an und streichelte Rolf mit einem Handrücken über die Wange. „Ich finde, das du eine erotische Stimme hast. Nein die Stimme selbst wird es nicht sein. Da sagt man ja immer, das diese Whiskey Stimmen von Männern erotisch wirken sollen. Dein Klang ist aber wärmer, runder und milder. Ich den­ke das es bei dir daran liegt, wie du sprichst, an deiner Sprachmelodie, wie du etwas betonst, wann und wie du welche Pausen machst. Es klingt einfach un­heimlich gut, finde ich wenigstens. Selbst wenn du den Text gar nicht verste­hen würdest, alles klingt fast wie ein kleines Liebesgedicht. Das ist warm und freundlich und geht tief.“ sagte Anett. Sie kam ganz nah zu Rolf: „Sag mal, wenn ich jetzt mit dir ins Bett wollte, würdest du da noch widerstehen können?“ „Anett, das ist hypothetisch, aber es würde mir bestimmt sehr schwer fallen.“ schätzte Rolf sich ein und wollte Anett küssen. „Nein, jetzt nicht küssen, dann mache ich dich bestimmt zum Kinderverführer. Es ist ganz son­derbar. Ich habe nie gesehen, dass du viel älter bist. Nur ganz zu Anfang, als ich dich schmunzelnd am Büfett sah, da gehörtes du für mich zur Clique der andern alten Säcke. Weißt du, mein Vater sagt mir nie, das er älter ist, aber ir­gendwie bringt er das in allem rüber, als ob ich ihn deshalb anerkennen oder lieben sollte. Das gibt es bei dir gar nicht. Du bist einfach ein toller und vor al­lem erwachsener Mann. Das tut außerordentlich gut. Es vermittelt ein Empfin­den von Gleichwertigkeit. Du fühlst dich sicher und wohl, wenn du dich auf gleicher Ebene anerkennst. Das ist sehr schön, und das vermittelst du mir. Ja es ist bei dir ein wenig wie zu Hause. Ich empfinde mich selbstverständlich und sicher. Natürlich sehe ich, dass wir Mann und Frau sind, das ist ja auch prima, aber ich muss nicht dir gegenüber die Frau geben. Die Männerrolle, gegen die ich mich behaupten müsste, wird gar nicht gespielt. Warum das so ist, kann ich nicht verstehen, ich merke nur wie schrecklich angenehm es ist.“ erklärte An­ett weiter. „Ich stell mir vor, wie es wohl wäre, wenn wir schon länger zusam­men wären, und du mir erklären würdest, warum du den Müll nicht zur Tonne gebracht hättest, was du doch eigentlich tun solltest. Ob ich dann deine Stim­me auch erotisch finden und deine Ausflüchte für ein Liebesgedicht hielte? Schade dass du so etwas nie wissen kannst, musst es immer ausprobieren. Im Moment erscheint es mir so, als ob wir den ganzen Tag nur lachen und Zärt­lichkeiten austauschen würden. Dass ich böse mit dir sein könnte, ist mir gar nicht vorstellbar. Ja, ja irreal ist das alles. Nur ein Zeichen, dass mein wilder Vogel wohl bei dir gelandet sein muss.“ sinnierte Anett. „In den Opern bin ich ja sowieso, aber informiere mich doch bitte über andere Auftritte. Ich möchte dich schon gern so oft wie möglich singen hören und sehen.“ bat Rolf. „Das mache ich, aber jetzt werde ich gehen. Das Präludium ist zu Ende. Es war wun­derschön. Wer weiß, vielleicht werden wir ja doch eines Tages auch die Kunst der Fuge gemeinsam erforschen. Wenn du das 'Ridi, Pagliaccio, sul tuo amore infranto.' aus dem Bajazzo singen kannst, komme ich bestimmt wieder, ver­sprochen.“ Bei Anett dachte Rolf nicht an seine Geschichte. Seine Wünsche, Ansprüche und Ängste tauchten nicht auf. Anett versprach etwas Neues, ganz Anderes. Das fuhr nicht auf seinen gewohnten Gleisen. Ob sie sich irgendwann auch noch lieben würden, die Frage tauchte gar nicht auf. Aber Anett war zu jung. Nicht jetzt, aber in wenigen Jahren würde sie sich um seine Pflege kümmern müssen. Die Vorstellung, ihr Leben zu zerstören, konnte Rolf nicht ertragen. Er wollte fleißig für den Bajazzo üben, umso eher sähe er sie wieder.


Fisch und Käse


Fisch sollte es heute geben. Da Rolf den Arzt aufgesucht hatte, war er sowieso schon in der Stadt und frischen Fisch kaufte er immer nur in einem bestimm­ten Geschäft. Nur hier war er wirklich frisch, und das war Rolf wichtig. Solange er sich erinnern konnte, war er Fischfan. Er freute sich immer schon auf die Freitage, als er noch ein Kind war. Da gab's kein Fleisch, sondern nur Fisch und Käse, weil am Freitag der Herr Jesus gestorben war, und da sollte man sich doch beschränken. Für Rolf waren es die Festtage, denn Wurst mochte er nicht, nicht aus der Pfanne und auf dem Brot erst recht nicht. Prinzipiell lehnte er mageres Fleisch nicht ab, nur in der Nachkriegszeit hielt man alles für nahr­haft, wenn es besonders fettig war. Unendliche Konflikte hatte es damals gege­ben, zumal man ihn für zu dünn hielt, und kräftiges, fettiges Fleisch sollte da Abhilfe schaffen. Nur das versprach, aus dem kleinen Jungen mal einen großen starken Mann werden zu lassen. Bei einer Exkursion in Helgoland hatten sie mal geangelt. Da gab es noch so massige Kabeljaubestände, dass man nur am Bindfaden einen Angelhaken runterzulassen brauchte, und spätestens nach ei­nigen Minuten hatte einer angebissen. Sie hatten die gefangenen Fische sofort am Lagerfeuer gegrillt. Seitdem wusste er, dass frischer Fisch ganz anders schmeckt. Hier kam der Fisch in den frühen Morgenstunden direkt vom Pariser Fischmarkt. Er kaufte sich immer zuviel, weil fast alles, was aus dem Meer kam, ihm über seine Augen seinem Mund ein wünschenswertes Geschmacks­gefühl vermittelte. Bei Käse war es nicht viel anders. Auch hier schienen sich schon in frühester Kindheit bei der Gehirnentwicklung separate Zentren und Kanäle eingerichtet zu haben, die immer ihre besondere Pflege und Berücksich­tigung forderten. Wenn Rolf sich auf dem Weg nach Hause befand und sein Täschchen mit Fisch und Käse in der Hand halten konnte, brauchte er es nur genießend zur Kenntnis nehmen, wie in seinem Gehirn die Ausschüttung von Glückshormonen seinem Empfinden dominierend Ausdruck zu verleihen be­gann.


Hey, Juliane!


„Hey, Juliane!“ rief er plötzlich. Noch nie hatte er sie zufällig irgendwo getrof­fen, nicht im Theater, bei keiner Ausstellung und in der Fußgängerzone erst recht nicht. „Na“ sagte sie nur, „Wolltst'e auch was einkaufen?“ „Ich hab' schon. Wie geht es dir?“ Rolf darauf. Juliane schaute ihn durchdringend mit süffisantem Lächeln an und schwieg. „Soll ich sagen: „Danke für die Nachfrage, der Herr.“ oder was? Unterhältst du dich jetzt immer auf so einem Level?“ sag­te sie schließlich.

Rolf: „Nein, nein, nein, Entschuldigung. Ich bin eben nur ein bisschen perplex und da fällt mir dann im Moment nichts ein.“

Juliane: „Meinst du, bei einem Kaffee würde dir dann auch noch etwas anderes einfallen?“

Rolf: „Ja, ja. Eine gute Idee. Lass uns einen Kaffee trinken gehen.“

„Jetzt musst du mir erst mal erzählen, wie's deiner Freundin geht.“ forderte Ju­liane Rolf auf, als sie im Café Platz genommen hatten.

Rolf: „Wolltest du dich mit mir unterhalten, oder soll ich wieder gehen?“

Juliane: „Das weiß ich nicht, ob ich mich mit dir unterhalten will. Das hängt von dir ab. Wenn du gehst, hast du's natürlich entschieden. Was regst du dich denn auf? Wieso kannst du denn nichts von deiner Beziehung erzählen? Bist du unglücklich, oder hat sie's dir verboten?“

Rolf: „Juliane, ich habe keine Beziehung. Es gibt nichts zu erzählen.“

Juliane: „Und das soll ich dir glauben. Ich hör's doch gern, wenn du glücklich bist.“

Rolf: „Juliane, ich habe keine Freundin, keine Partnerin, keine Frau, die mich öfter besuchen kommt oder die ich besuche. Alles nichts, überhaupt nicht. Ich lebe ganz allein ohne jedweden amourösen Kontakt zu irgendeiner weiblichen Person. So ist es und alles andere, was ich dir erzählen würde, wäre gelogen.“

Juliane: „Und warum nicht? Kannste nicht mehr. Funktioniert's nicht mehr?“

Rolf: „Was willst du eigentlich, Juliane? Da weitermachen, wo wir uns vor zehn Jahren getrennt haben? Brauchst du das für dich? Tut dir das gut? Reichen zehn Jahre nicht aus, um zu sehen, dass da in den dreißig Jahren auch noch etwas anderes war, oder hast du das alles vergessen?“

Juliane: „Ich habe nichts vergessen, werde es auch nie vergessen. Nur die letz­ten Jahre sind genauso Realität, und sind durch das, was vorher war erst rich­tig schlimm geworden. Du wirst nie mehr der von früher werden können, Rolf, du bist ein anderer.“

Rolf: „Aha, und was für ein anderer, bitte sehr?“

Juliane: „Ein Schwein bist du. Ich habe, was zwischen uns war, für das Höchste gehalten. Dass es für dich damals auch so war, davon bin überzeugt. Nur es hinderte dich nicht daran, mich später wie den allerletzten Dreck zu behan­deln.“

Rolf: „Ha, ich dich wie den allerletzten Dreck behandeln, wo du doch immer so nett und freundlich zu mir warst. Ich weiß noch genau, wie ich mal gefragt habe, was ich dir denn eigentlich getan hätte. Und die saudämliche Antwort weiß ich auch noch.“

Juliane: „Ja, ja alles weißt du, dann wirst du sicher auch noch wissen, wie er­niedrigend ich um ein wenig Anerkennung gebettelt habe, dich gebeten habe, mich doch mal ein wenig zu streicheln. Wie einen Holzklotz hast du es mich empfinden lassen. Von weitergehender Lust ganz zu schweigen. Ich war über­zeugt, du müsstest eine Freundin haben, aber du warst ja immer da. Und bei der Arbeit? Da waren ja nur die Praktikantin und Frau Schrenger, das konnte auch nicht sein.“­

Rolf: „Hast du dir mal überlegt, wie viel Lust du haben wirst, lieb und zärtlich zu einer Frau zu sein, die dir bei drei Gesprächsversuchen am Abendbrottisch deutlich gemacht hat, dass es sich bei dir um einen der nichtsnutzigsten Idio­ten handeln muss, die frei herumlaufen. Was wolltest du denn von mir, außer mich quälen und dich daran ergötzen?“

Juliane: „Ich brauche das nicht, Rolf. Ich muss mich nicht mit dir unterhalten. Ich werde jetzt gehen. Du wirst weiter mit deiner Einstellung, dass du ja nur das Beste gewollt hast, glücklich sein. Da lässt sich gut mit leben. Es lässt sich auch anschließend gut im Rollstuhl transportieren und sogar im Sarg wird man es noch gut unterbringen können.“

Rolf: „Das ist doch nicht wahr, Juliane. So sehe ich es doch überhaupt nicht. Bitte, bleib noch. Geh nicht.“

Juliane: „Und was, meinst du, sollte ich noch unbedingt von dir wissen?“

Rolf: „Ich habe keine Erklärung dafür, Juliane. Es bleibt mir ein absolutes Rät­sel, obwohl ich seit zehn Jahren immer wieder daran denken muss. Darin eine Schuld zu suchen, wer wen mehr verletzt hat als der andere, halte ich für mü­ßig. Die Situationen, in denen du verletzt worden bist, erinnerst du natürlich besser, aber wir werden uns da nicht viel unterscheiden. Was ich nicht verstehe ist, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Es gab doch keinerlei Auslöser und wieso unser Verhältnis nicht wie eine Bisshemmung für gegenseitige Beleidi­gungen wirkte, verstehe ich erst recht nicht.“

Juliane: „Trotzdem ist es geschehen, Rolf, es ist in der Welt. Nachträgliche Er­klärungen können es nicht ungeschehen machen. Das Bein, das du verloren hast, wird nicht wiederkommen, da kannst du dich noch so gesund ernähren. Und du hast mehr in mir zerstört als ein Bein.“

Rolf: „Hast du denn keinen Freund, der dich darüber hinwegtrösten kann?“

Juliane: „Das geht dich doch wohl überhaupt nichts an, wie viele Freunde ich habe, die mich trösten. Du kannst ganz beruhigt sein, jedenfalls so viele, dass du dir keine Sorgen darum zu machen brauchst.“

Mit breitem skeptischen Grinsen blickte Rolf sie an.

„Was hast du?“ wollte Juliane lächelnd wissen.

Rolf: „Na ja,“ brachte Rolf zögernd hervor, „attraktiv genug bist du ja.“

„Danke.“ sagte Juliane knapp, „Und das aber?“

Rolf: „Das ist so ein komplexeres Zusammenspiel von Eindrücken. Willst du das im Einzelnen erläutert haben?“

„Nö.“ reagierte Juliane knapp, „Du hast aber auch noch schöne Hände. Und deine Finger sind gar nicht mit dir älter geworden.“

Rolf: „Wahrscheinlich weil du sie mir immer verknotet hast. Hast ihre normale Entwicklung dabei zerstört.“

Juliane: „Fingergymnastik war das.“

Rolf: „Folter war es. Du wirst meine Schreie nicht vergessen haben. Vielleicht hätte ich da schon deine sadistische Ader erkennen sollen, aber ich habe es nichtsahnend für Spielerei gehalten.“

Juliane: „Ja, wenn du wüsstest, welche Genugtuung mir die Vorstellung bereit, wie sie überall kommen, die kleinen braunen Fleckchen. Hier und hier und hier und überall. Und wie das, was sich zwischen der braungesprenkelten Haut und den Knochen befindet, einfach verschwindet und das viel zu große Pergament, das sie umgibt, in runzligen Falten zerknittert über den Knochen liegt. Aber gleichgültig, ob ich es mir genussvoll für dich wünsche oder nicht, es wird ein­fach kommen. Alles kommt. Alles was du nicht magst. Früher oder später, plötzlich oder langsam, irgendwann stellst du fest, wie es dich okkupiert hat. Du musst es akzeptieren, das ist doch natürlich, musst dazu stehen. Dagegen wehren kannst du dich nicht. Trotzdem empfinde ich meine Haare grässlich, lass es mir von niemandem verbieten. Ich habe nie besondern Wert auf meine körperliche Erscheinungsform gelegt, das weißt du. Aber ich bitte dich, so ist es doch nicht mehr akzeptabel.“

Rolf: „Der Blick ist das Entscheidende. Wer liebend deine Falten küsst, den werden sie nicht stören.“

Juliane: „Aber das ist keine Frage der Sichtweise. Es ist doch einfach Fakt, ich seh' es doch selber.“

Rolf: „Ja, mit deinen Augen und was sie damit machen, wie sie es interpretie­ren und deuten.“

Juliane: „Tut mir leid, Rolf, aber ich werde mich nicht täglich schöner werdend empfinden können. Da kann ich noch so viel dran ruminterpretieren. Aber im Grunde sind das ja Lappalien. Was sind denn zehn Jahre, und was wird dann mit dir sein, mit fünfundsiebzig. Ja, wirst du dann auch noch den Mädels schö­ne Augen machen? Wollen wirst du es immer noch, aber du musst dich auch mit fünfundsiebzig noch schämen, weil man dich dafür auslachen würde, was du denkst und empfindest. Vielleicht könntest du es ja nach deinem Schlagan­fall im Rollstuhl gar nicht mehr sagen. Welches Glück für dich. Und noch zehn Jahre später, wird es aller Voraussicht nach, keinen Rolf Hartmann mehr ge­ben. Denkst du öfter daran?“

Rolf: „Nein, nur ganz selten. Ich weiß, was auf mich zukommen kann und wird. Meinst du, mir macht das Freude. Aber mir den Tag heute auch schon verder­ben lassen? Dafür ist er mir noch zu schön und zu schade.“

Juliane: „Aha, und was hast du so Schönes heute vor?“

Rolf: „Das interessiert dich? Das willst du wirklich wissen?“

Juliane: „Nein, nein, Quatsch. Nur so eine Floskel. Ich muss jetzt auch gehen.“

Rolf: „Werden wir uns wiedertreffen, Juliane?“

Juliane: „Wieso? Warum sollten wir das? Gibt es etwas zu besprechen?“

„Ich weiß nicht.“ stotterte Rolf zögernd, „Aber vielleicht könnte uns ja etwas einfallen, damit das Paket für den Rollstuhl und den Sarg ein wenig kleiner wird. Wär' doch eine Erleichterung, oder?“

Juliane lächelte. „Ich ruf dich an.“ sagte sie.

Rolf: „Nein, nein, das wirst du nicht tun. Lass uns jetzt etwas vereinbaren. Wenn du nicht kommen willst, dann wirst du mich anrufen.“

Mit einem 'Bye' gingen sie auseinander.


Julianes schönes volles Haar


An solch heißen Sommertagen ging Rolf meistens zum Park am See. Nahm sich ein Buch mit und schaute den Kindern auf Rasen und Spielplatz zu. Warum ge­fiel es ihm, fremden Kindern beim Spielen zuzuschauen? War es eine senile At­titüde vor der sich keiner schützen konnte. Annegret hatte auch erstaunt da­von berichtet. Es sei wundervoll gewesen ihre Kinder aufwachsen zu erleben, aber einmal das reiche auch für's Leben. Bei Enkelkindern würde sie sich völlig raushalten. Das brauche sie nicht auch noch im Alter. Und jetzt sei sie viel ver­rückter danach als damals bei ihren eigenen. Heute ging Rolf aber nicht in den Park. Er hatte sich einen Espresso gemacht und wollte am Küchentisch in die Zeitung schauen. Er konnte gar nicht lesen. Selbst bei den dicksten Überschrif­ten sprach sein Gehirn immer von Juliane. Er legte sich auf's Bett, aber alles mixte sich durcheinander. Wie eine Frau aussah, hatte ihn immer wenig interessiert. Das war so wohl Unsinn, was du siehst lässt sich nicht negieren, aber die verbreiteten Vorstellung von erotischem und hübschen Aussehen, sprachen ihn nicht an. Ein Gesicht, ein Ausdruck, wie sie sich bewegte, konnte schon eher das Interesse an einer Frau bei ihm wecken. Bei Juliane meinte er, sei es ausschließlich ihr Verhalten gewesen, das zu ihrem Kontakt geführt hatte, aber es reizte ihn auch dieses Gesicht. Es hätte weich und milde sein können, aber die fülligen Lippen störten dieses Bild und auch ihr Blick passte meistens nicht dazu. Wenn sie ihr Haar glatt liegen gehabt hätte, wäre der Eindruck noch eher möglich, aber ihre verwuselten unregelmäßigen Locken schienen zu sagen. „So sollst du mich auf keinen Fall sehen.“. Juliane war zwar nicht ausgesprochen dünn, ganz normal für einen Menschen eigentlich, aber Rolf hatte gedacht, im Alter würde sie sich bestimmt zu einer Matrone entwickeln. Aber es hatte nie Ansätze in dies Richtung gegeben. Jetzt war sie alt. Vielleicht könnte man sie für einige Jahre jünger halten, aber alt war sie doch. Er stand auf und suchte nach Fotos, die ihm geblieben waren. Ganz zu Anfang nach ihrer Trennung hatte er das getan und dann nie wieder. Jetzt sah er sie mit dem Bild von Juliane heute. Er weinte. Das war ihr Leben gewesen. Jetzt war es dabei, zu Ende gehen zu wollen. Wie schön wäre es ohne diese grässlichen Jahre gewesen. Nein, das war ja Unsinn, ein kitschiges Bild in von seinen Bedürfnissen gemalten Wohlgefühlsfarben. Aber immer wieder kam er darauf zurück, versuchte sich vorzustellen, wie er heute wohl mit Juliane reden würde, wenn es das alles nicht gegeben hätte. Er war doch kein Schwein, er hatte doch nichts verraten, sie hatten es sich doch gegenseitig angetan, was man nicht durfte. „Warum ist dir in der Beziehung zu deiner Mutter selbstverständlich, dass du so etwas nicht tun kannst aber in der Beziehung zu deiner Frau, von der du meinst, dass sie viel bedeutender und tiefer ist, hast du keine Hemmungen?“ fragte sich Rolf. „Ist der Mensch doch des Menschen Wolf, entwickelt ein Gefühl von Lust daran, sich gegenseitig zu zerfleischen? Aber nein, es ist doch nicht immer so. Du suchst doch das andere, die Harmonie, das Verständnis untereinander. Spielst es vor, selbst da wo es gar nicht ist.“ Er hätte es ja sechs Jahre vorher auch für unerträglich und unentschuldbar gehalten, sich Juliane gegenüber so zu äußern und zu benehmen, wie es zum Schluss geschah. Es gab keinen Grund, kein Motiv für sein Verhalten. Es war ein verhängnisvoller Prozess, der sich entwickelt hatte und dessen Ausgangspunkt so marginal und lapidar, das man ihn gar nicht mehr erkennen oder erinnern konnte, womöglich hatte man damals auch nichts Besonderes wahrgenommen. Jetzt war alles geschehen. Julianes schönes volles Haar war alt geworden und sie beschimpfte ihn als Schwein.


Nein, er liebte sie nicht mehr, er liebte seine Erinnerungen. Was sie gesagt hat­ten war ja auch im Grunde bedeutungslos, hatten sich ein wenig beschimpft, ein bisschen zu provozieren versucht und sich gegenseitig Vorhaltungen ge­macht. Aber es war das erste mal, dass sie bei aller Holprigkeit überhaupt ge­meinsam darüber geredet hatten. Trotzdem, Rolf würde nochmal mit ihr reden, aber reparieren ließ sich da nichts und Rolf wollte es auch nicht. Es drängte sich ihm zwar öfter auf, aber es war ihm eine Last, die ihn in seinem jetzigen Leben eher störte. Es musste nicht das Vorbild seines Lebens mit Juliane sein, an dem sich alles zu orientieren hätte. Die junge Anett hatte ihn spüren lassen, dass es auch etwas ganz anderes geben könne, ein Glück, das mit Juliane nichts zu tun hatte.


Rolfs Bar-Stimme


Er habe eine gute Stimme für die Bar, meinte Frau Schweers und lachte. Frau Schweers war seine Gesangslehrerin, vielleicht ein wenig jünger als er, aber sie hatten endlos Spaß miteinander. Sie erinnerte immer daran, dass sie doch jetzt wieder zu arbeiten hätten. „Es ist ein Mythos, das Frauen auf knarzige ver­rauchte Stimmen stehen. Sehen sie mal, Elvis hat mit seiner Puddingstimme tausendmal mehr Frauen verrückt gemacht als dieser Paolo Conte.“ meinte sie, „Wenn sie ihrer Frau am Bügelbrett Bethovens „Ich liebe dich, so wie du mich.“ ins Ohr singen, wird sie auch am Nachmittag Löcher in die Wäsche brennen lassen und ihnen ins Schlafzimmer folgen.“ und sie lachte wieder. „Warum muss es denn ausgerechnet der Bajazz sein, das können sie doch nie schaffen? Da müssen sie bei Caruso Gesangsunterricht nehmen.“ Rolf zögerte, und er­zählte es ihr dann. „Oh je, ist das schön. Dann werden wir natürlich den Bajaz­zo irgendwie hin bekommen müssen, aber auf italienisch. Auf deutsch hört sich das ja grässlich an. Anett Böhler ist das, ihre Freundin nicht wahr?“ meinte Frau Schweers. „Wie konnte ich nur? Sie müssen mir ihr Ehrenwort geben, nichts und niemandem davon zu erzählen.“ Frau Schweers hatte sich viel Mühe gemacht und alles ein wenig für ihn singbar umgeschrieben. „Sie sind trotz al­lem ein gelehrsamer Schüler, Rolf. Ein Mann, der für seine Freundin Opernarien einstudiert, welche Frau würde da nicht vor Wonne schmelzen?“ meinte Frau Schweers und lächelte.


Annetts Alltagsliebe


Anett war erstaunt. Er hatte sie öfter getroffen, bei irgendwelchen Auftritten, aber da waren ja immer nur ein paar oberflächliche Worte möglich. Von seinen Gesangsstudien hatte er ihr nichts erzählt. Sie kam, aber lachte nicht. „Ich muss dann aber sofort wieder gehen.“ war einer ihrer ersten Sätze bei Rolf. „Was ist los? Hast du einen schlechten Tag. Sollen wir es verschieben?“ fragte er. „Rolf, ich habe nur noch schlechte Tage, nur noch, sonst nichts. Schlechte Tage, schlechte Wochen, schlechte Monate, alles schlecht. Ich werde wegge­hen.“ antwortete sie. „Anett, erklär dich doch bitte. Was ist los? Woran liegt es?“ fragte Rolf. „An dir.“ antwortete Anett kurz und konnte wieder lächeln. „Nein, nein, es hat schon mit dir zu tun. Ich habe viel an dich, an uns gedacht. Das war sehr interessant und mein Freund Gérard dafür weniger. Wir hatten öfter Streit, weil ich mit etwas unzufrieden war. Ja, kindisch kam er mir oft vor. Als er mich nach dem Auftritt im jüdischen Kulturzentrum fragte, was wir mit einander zu tun hätten, habe ich alles bestritten. Wir hatten ja auch nichts mit­einander, oder?“ sie lächelten sich an. „Er nahm mir das nicht ab und bestand darauf, dass zwischen uns beiden etwas laufen müsse. Als er dann von 'diesem alten Sack' sprach, bin ich ausgerastet und habe ihm klar gemacht, was er für ein dummer hergelaufener Kindskopf er sei. Für ihn stand dadurch absolut fest, dass ich einen Liebhaber hätte, und ich hatte wohl auch das Band zerschnitten. Dabei wollte ich das überhaupt nicht. Mag sein, dass ich mich Gérard ein bisschen überlegen fühlte, aber sonst war doch im Grunde alles o. k., fast sieben Jahre lang. Aber im Moment war nicht nur mein wilder Vogel verschwunden, auch meine Taube konnte nicht mehr nach Hause. Zuerst war ich sogar ganz froh. 'Du bist frei. Etwas Neues kann beginnen', aber dann spürte ich, dass da ein Loch war, ein ganz großes Loch, wo nur Gérard hineingepasst hätte. Und das ist immer noch da, Rolf. Das war meine Alltagsliebe, die du jeden Tag brauchst. Die einfach immer da sein muss, mit der du lebst, die ein Teil von dir ist. Das kannst du nicht einfach wegmachen. Da beschädigst du dich selbst.“ erläuterte Anett es Rolf. „Soll ich dich mal in den Arm nehmen? Oder möchtest du das jetzt nicht“ fragte er. Anett lächelte und kam zu ihm rüber. „Wenn meine Mutter mich in den Arm nimmt, tut das gut, von einem anderen Mann wollte ich es nicht, aber bei dir ist es einfach am allerbesten. Rolf, wir könnten doch einfach sehr gute Freunde sein. Das mit dem 'Ins Bett gehen' verbieten wir uns. Einfach nur so ganz, ganz gute Freunde, würdest du das mögen? Wenn du dich selbst anschaust, wirst du sagen: „Ich kann das und das, und das bringe ich auch ganz gut, aber ich habe einen Freund, einen lieben Freund. Was ist das andere alles schon dagegen?“ erklärte Anett. Sie zeigten sich noch auf, wie viel sie sich gegenseitig bedeuteten, und Rolf versprach den Bajazzo beim nächsten Mal vorzusingen.


Du bist zu spät, mein Lieber


Sie trafen sich wieder im gleichen Café.

„Du bist zu spät, mein Lieber. Eine Dame lässt man doch nicht warten.“ emp­fing Juliane Rolf.

„Wenn die Dame Juliane nicht meine Frau, mein Liebstes, mein aller Wertvolls­tes gewesen wäre, würde es mich überhaupt nicht stören, wenn sie so einen Stuss reden würde, aber so kann ich es nicht ertragen.“ antwortete Rolf darauf.

Juliane: „Du musst mich auch nicht ertragen. Du wolltest, dass wir uns treffen. Ich kann gerne wieder gehen, wenn dir das jetzt doch erträglicher sein sollte.“

Rolf: „So meine, ich das doch gar nicht, Juliane. Wir sollten nur ganz normal mit einander reden und nicht in so allgemeinen Floskeln und Redewendungen.“

Juliane: „Was ist denn normal zwischen uns? Als wir uns kennengelernt haben, als wir verrückt ineinander verliebt waren, als wir wussten, dass es keinen wichtigeren Menschen geben konnte, als wir die Kinder bekommen haben? Nein, nein das ist es nicht und wird es auch nie wieder werden. Mach dir da keine falschen Hoffnungen. Der, von dem ich mich getrennt habe, wird nie wie­der zu dem werden, von dem ich glaube, ihm am meisten vertrauen zu kön­nen. Er hat's mir selbst gezeigt, wie daneben meine Hoffnung und ich meinte mein Wissen gewesen sind.“

Rolf: „Ich will auch nichts wiederbeleben, Juliane. Wir haben es getan. Haben es beide getan und mit der Zeitmaschine zur Zeit davor zurück zu schweben, ist ein Märchen, dass ich mir auch nicht vorstelle. Nur wie es unseren Streit und unsere gegenseitigen Verletzungen gegeben hat, so ist die Zeit davor auch in der Welt und bleibt dort, so wie sie war und kann auch nicht ungeschehen gemacht werden. Wie du gefallen bist, als du schwanger warst und alles was damit zusammenhing, das bleibt einfach so wie es war, so schlimm, so toll, so unendlich tief. Im Nachhinein lässt sich da nichts dran ändern.“

Juliane: „Ja, eine ganze Woche lang musstest du mir immer den Rücken ein­kremen, weißt du noch?“

Rolf: „Natürlich, besinnungslos warst du, als ob du die ganze Spannung er Wo­chen vorher hättest ausvögeln müssen.“

Juliane: „Ja, da war's vorbei. Da hatten wir's überstanden und waren dabei an­dere Menschen geworden.“

Rolf: „Musst du noch öfter daran denken?“

Juliane: „M, M, das war eine andere Welt. Die gibt’s nicht mehr. Denkst du denn etwa noch ans Kindermach? Ans Vögeln bestimmt noch?“

Rolf: „Ja, ausschließlich. Jederzeit und überall. Oder soll ich dir sagen, würd' ich gern, aber es geht gar nicht mehr? Soll ich dir jetzt mein Sexualleben und meine sexuellen Fantasien ausbreiten? Möchtest du das gerne? Willst du das hören?“

Juliane: „Gott bewahre. Mir ist jetzt noch eklig, wenn ich daran denke, wie du nachts im Bett masturbiertest und mich aber nie mehr anrührtest. Dieser Wi­derling bist du auch, verstehst du. Und noch ganz viel mehr Widerliches. Der Mann, der dir mehr bedeutete als du dir hattest vorstellen können, zeigt dir, dass er widerlicher sein kann, als du es dir vorzustellen wagtest. Was macht das wohl mit dir? Hast du dich das mal gefragt?“

Rolf: „Ich weiß es doch, Juliane. Es war böse, ganz böse. Aber du bist doch nicht die einzig Leidende gewesen. So stellst du es aber immer da. Was ich dir angetan habe, was ich für ein schlimmer Mensch dir gegenüber war. Ich habe keine Lust mehr darauf, mir das anhören zu müssen. Unser Zusammensein war unser gemeinsames Ding und seit es Streit gab, beanspruchst du die Interpre­tationshoheit für dich.“

Juliane: „Für fünfundsechzig kannst du dich noch ganz schön aufregen.“

Rolf: „Mit fünfundsiebzig werde ich das noch viel besser können. Da kommt noch der Altersjähzorn dazu. Un du möchtest am liebsten immer noch eine gif­tige Schlange sein, oder sehe ich das völlig falsch?“

Juliane schmunzelte, sinnierte und schmunzelte wieder.

„War das eine lustige Frage?“ erkundigte sich Rolf.

„Ja-ha.“ antwortete Juliane in Klein-Mädchen Manier

„Lass uns nach Hause gehen, klären werden wir sowieso nichts. Es ist müßig.“ meinte Juliane. Rolf wollte gerade jetzt nicht und argumentierte: „Bevor ich das nicht von der Schlange erfahren habe, darfst du nicht gehen.“

Juliane: „Das ist ganz albern, aus einem Kinderbuch von einer Schlange, die einen Obstladen hatte, in dem sie nur Äpfel an kleine Mädchen verkaufte.“

Rolf: „Und dann?“

Juliane: „Nein das erzähl ich jetzt nicht weiter. Das ist Kinderkram. Und du, was liest du zur Zeit?“

Rolf: „Ich komme kaum zum Lesen. Ich schreibe selber.“

Juliane: „Ach, seit wann das denn. Und was schreibst du?“

Rolf erklärte, wie er dazu gekommen sei und was er schreibe.

Juliane: „Kann man davon mal etwas lesen, oder ist das ganz privat?“

Rolf: „Lesen kannst du das schon. Nur ich habe nichts ausgedruckt, alles auf dem PC. Müsstest du mal vorbei kommen.“

Juliane: „Ich? Zu dir nach Hause kommen? Rolf, was hast du für Vorstellungen? Das werde ich mir doch nicht antun.“

Rolf: „Nach zehn Jahren meinst du, noch nicht so viel Abstand zu haben, dass du das wagen könntest. Ich habe dich immer für ziemlich cool gehalten.“

Juliane: „Rolf, ich habe Angst, dass es mich verwirren könnte. Ich habe ja schließlich dreißig Jahre dort gelebt. Ich habe Angst, das es etwas aufbrechen könnte, das ich nicht möchte.“

Rolf: „Schade, es hätte mich sehr gefreut.“

Juliane: „Wann würde es dir denn auskommen?“

Sie vereinbarten einen Termin für Julianes Besuch.


Zwei Auftritte


„Es ist entsetzlich. Sommerkleider kannst du nicht mehr tragen, weil du den Leuten den Anblick deiner Beine nicht antun kannst und die Hosen sehen hin­ten auch abscheulich aus.“ sie lachten zwar, als Juliane dies bei ihrem Eintritt verkündete, aber Rolf sah sie in der Wüste sitzen und sich selbst betrachten. „Wirst du uns einen Kaffee machen? Es ist alles genau wie früher. Dann werde ich den Laptop holen und wir können es uns am Küchentisch anschauen.“ schlug Rolf vor. Mit einzelnen Lautäußerungen kommentierte Juliane beim Le­sen. „Nicht schlecht, alter Junge. Und wo steht das von mir? Befindet sich das in einer geheimen Partition, oder hast du vor heute alles mit mir gelöscht?“ wollte sie wissen. „Ne, Juliane, tut mir leid, aber von dir direkt steht da nichts drin. Es geht ja immer um allgemeine Ansichten. Zu Beziehungen steht da aber schon irgendwo etwas. Ich weiß nur jetzt nicht wo. Ich brauchte mal ein Inhaltsverzeichnis. Mein konkretes Leid mit dir, das singe ich mir immer von der Seele.“ antwortete Rolf. „Was? Was machst du? Du singst?“ fragte Juliane erstaunt. „Ja einfach so vor mich hin, wie's mir gerade in den Sinn kommt. „Wo hat die Juliane es nur gelernt, so böse zu anderen Menschen zu sein?“ gab Rolf eine Kostprobe. „Ha, ha! Und dann zu so Unschuldslämmern wie dem lieben Rolf. Das hast du noch vergessen.“ bemerkte Juliane dazu. „Nein, das wär schon noch gekommen.“ erwiderte Rolf und lachte. „Ich lerne aber auch richtig singen.“ „Du? Wo? Im Männergesangsverein?“ fragte Juliane. „Nein richtig, ich habe Gesangsunterricht bei Frau Schweers, einer professionellen Lehrerin.“ er­läuterte Rolf. „Aha,“ regierte Juliane erstaunt, „und hat sie dir schon etwas bei­gebracht?“ „Ja selbstverständlich.“ antwortete Rolf lapidar. „Und was?“ wollte es Juliane genauer wissen. „Den Bajazzo, zum Beispiel“ antwortete Rolf gene­rös. Juliane platzte los. „Du hast also gelernt, den Bajazzo zu singen? Ridi Ba­jazzo, ist das richtig? Weißt du, Rolf, zur Zeit lacht nur Juliane, bevor sie das nicht von dir gehört hat.“ erklärte sie. „Also gut.“ sagte Rolf, trällerte ein wenig mit seiner Stimme und begann. Juliane gingen die Augen über. „Ey, ist das gut. Rolf, du bist absolut klasse“ brachte Juliane überwältigt hervor. „Dafür be­kommst du einen … . Nein, das machen wir nicht.“ unterbrach sie sich. „Weißt du, Rolf, ich hatte sehr lange Zeit und habe mir sehr vieles überlegt und jetzt singe ich auch. Nicht so toll wie du. Ach das kann man nicht sagen. Es ist et­was ganz anderes. Ich hab' mal bei der Volkshochschule einen Kurs in Jazzge­sang belegt. Da habe ich nur zwei Dinge gelernt, dass ich so nie etwas lernen würde und was ich zu tun hätte. Da bin zur Uni gegangen und habe eine Do­zentin um Privatunterricht gebeten. Zunächst war alles schwierig und dann hat sie's gemacht. Jetzt will sie mir immer noch weiterhelfen. Sie ist nämlich meine Patientin geworden und ich weigere mich, ihr Rechnungen auszustellen.“ „Julia­ne, ich möchte das aber auch hören, das ist doch wohl klar.“ meinte Rolf. „Ich brauche aber Musik, wenigstens um reinzukommen.“ erklärte Juliane. Sie suchte sich eine Jazz CD aus und klinkte sich irgendwann ein. Sie drehte die Musik leiser und ganz aus. „Gut?“ fragte sie fast schüchtern knapp als sie auf­hörte. „Juliane! Das ist marvelous, fantastisch, herrlich, das könnte ich den ganzen Tag hören. Und das von dir. Ich fass es nicht. Dafür musst du dir aber jetzt einen Kuss geben lassen. Da geht nichts dran vorbei. „Juliane“ sagte Rolf sanft, als er im Anschluss an den Kuss mit Mittel- und Zeigefinger langsam über ihr Gesicht fühlte. „Ja?“ kam von ihr fragend. Sie starrten sich an, leicht ratlos, verwundert vielleicht, nur von dem alten Ehepaar, war da nichts gegen­wärtig. „Der Bajazzo, ich meine das 'ridi pagliaccio'“ stotterte Juliane leicht, „ob du das vielleicht nochmal, noch einmal für mich singen könntest?“ Rolf antwor­tete nicht, lächelte nur, räusperte sich ein wenig und meinte: „Steh' ich besser auf, nicht wahr?“ Was Juliane empfand, sagte sie nicht, sie sprach nur Rolf ihre Anerkennung aus: „Toll machst du das, Rolf, ganz wunderbar, aber jetzt werde ich gehen.“ „Warum? Warum willst du jetzt gegen?“ fragte Rolf entrüstet. „Ich komme ja wieder. Ich muss ja noch mehr von deinen Essays lesen, dann sag ich dir vielleicht auch noch etwas anderes. Aber jetzt muss ich gehen.


Im Havanna


Was war geschehen. Nachdenken, interpretieren, deuten. Das wollte Rolf auf keinen Fall. Er wollte sich betäuben, ablenken, dass er nicht daran denken konnte. Die Rockmusik brachte es auch in höchst möglicher Lautstärke nicht. Bei allem würde sie ihn stören, nur die Kanäle, über die die Informationen zu Juliane liefen, schienen absolut schallisoliert zu sein. In die Kneipe würde er gehen. Zum Havanna war's nicht weit, und es war sein Stammlokal. Von den Cocktails würde er doch lieber die Finger lassen, aber eine dicke Zigarre wollte er schon mal wieder rauchen. Vielleicht würde ihn das ja zusätzlich benebeln. Obwohl Juliane früher gesagt hatte, er solle doch mal eine Zigarre rauchen, sie fände das erotisch. Und tatsächlich befanden sie auch meistens schon vorm Zi­garrenende gemeinsam im Bett. Verstanden hatte er es nie, aber es war lustig und schön. Von schönen alten Erlebnissen hatte er aber gar nicht geträumt, als Juliane da war. Sie war einfach da gewesen, ganz normal, hatte ihn nicht ange­ranzt, ganz normal geredet. Es war gar keine Spannung vorhanden. Sie war of­fen, hatte sich auf alles eingelassen. Diese Frau von dreiundsechzig Jahren, die er als Juliane kannte. Sie war bei ihm gewesen, fast als ob es ihre gemeinsame Geschichte gar nicht gegeben hätte. Wer wollte Rolf das erklären?


Altes Glück wiederholen geht nicht


Sie saßen wieder am Küchentisch und jetzt erklärte Rolf zu den Texten, Juliane fragte nach und lobte oder kritisierte und sie diskutierten gemeinsam über den Inhalt. „Ich habe mal zwei CD's mitgebracht, die mir recht gut gefallen und mit denen ich gelernt habe. Wenn du vielleicht noch einmal etwas hören möch­test.“ teilte Juliane mit. „Solange du kannst und Lust hast, Juliane. Es ist wun­derbar. Immer kann ich das hören. Zuviel gibt es dabei nicht.“ antwortete Rolf. „Du hörst es gern, aber zuviel Ahnung hast du davon nicht, oder“ meinte Julia­ne. „Würde es dir viel ausmachen, mir ein wenig davon zu vermitteln. Ich glau­be, ich höre Jazzgesang so gerne, wegen der Affinitäten zu ganz, ganz früher. Von den Texten und der Sprache habe ich ja auch kaum etwas verstanden, wenn meine Mutter sang und trotzdem hielt ich es solange ich mich erinnern kann, für wunderschön. Männer können ja auch gut singen, zweifellos, nur weibliche Stimmen lösen in mir etwas ganz anderes aus. Obwohl es ja etwas ganz anderes ist, als die Melodien und Rhythmen in unseren Liedern und Arien, hör ich das meiste schrecklich gern. Es muss an den Frauenstimmen liegen. Und beim Jazzgesang können sie ausgelassen sein, vor Glück Purzelbäume machen oder auch intensive Traurigkeit und Schmerz vermitteln. Das gefällt mir prächtig.“ „Was ich kann sind mehr die Purzelbäume. Das andere liegt mir leider nicht so, kann aber auch wohl ein bisschen in Richtung Blues. Die Maria João müsste dir doch gefallen. Kennst du die?“ und auf Rolfs zustimmendes Ni­cken fuhr sie fort, „die hat ja auch manchmal so einige Affinitäten zum Fado. Ich werde mal mehr in der Richtung versuchen.“ meinte Juliane dazu „Kannst du noch mehr?“ fragte Rolf, als sie stoppte. „Immer Junge, da gibt’s doch kein Ende. Genauso wie bei deinen häuslichen Klageliedern nicht. Nur eigentlich bist du jetzt mal dran, für mich etwas zu singen.“ reagierte Juliane. „Weiß du, Julia­ne, mit dem Bajazzo, das ist eine Ausnahme. Was ich sonst noch kann, bewegt sich nicht auf dieser Ebene, Kunstlieder und so.“ sagte Rolf. Juliane wollte es natürlich erklärt haben. Sie hörte aufmerksam zu. „Dass es wirklich andere Wege zum Glück geben kann, und dass es nicht eine Kopie unserer Beziehung sein muss und auch nicht sein kann, das habe ich durch diese junge Frau, die so alt ist wie Rebecca gelernt. Altes Glück wiederholen geht nicht, das weiß ich jetzt nicht nur theoretisch ich denke, dass ich auch so empfinde. Die dicksten Freunde wollen wir bleiben, haben wir beschlossen und sie hat erklärt, dass ihr das mehr bedeutet als was sie beruflich kann.“ schloss Rolf und lächelte. „Meinst du, du bist durch sie ein anderer geworden?“ fragte Juliane. „Das weiß ich nicht, ich glaube auch nicht dass es darum geht. Sie hat mich nur erkennen lassen, dass es überall im Land viele Wege gibt, die dahin führen, wohin du gerne möchtest und nicht nur den einzigen, den du bis jetzt gefahren bist. Ein anderer Mensch werden? Selbst wenn's möglich wäre, warum? Der, der dich beleidigt und verletz hat das war nicht ich, nicht das Ego von Rolf und so bin ich nie geworden, genauso wenig wie bei dir. Wir sind nie Menschen geworden, die ihr Glück und ihre Befriedigung in Hass und Kampf vermutet haben, selbst wenn wir es getan haben, aber unsere Personen sind immer die geblieben, die in Liebe und Zuneigung ihr Glück sahen und es da finden wollten. Und das ist heute nicht anders als früher auch. Bei dir wird es nicht anders sein, selbst wenn du mich noch so giftig ankeifst.“ stellte Rolf seine Sicht dar.


Mit der Liebe, das kannst du ja noch


Juliane schwieg. Sie schaute Rolf an und fuhr ihm mit ihrem Mittelfinger über die Stirn bis zur Nasenspitze. „Mit der Liebe, das kannst du ja anscheinend noch.“ bemerkte sie. „Was meinst du?“ wollte Rolf wissen. „Na ja, wenn sich die Kleine bei dir so wohl fühlt, musst du ihr ja schon etwas vermitteln.“ mein­te Juliane. „Juliane, deine kleine Tochter ist gerade vierzig geworden, als sie fünfzehn war, da war die kleine Juliane vierzig, das passt nicht immer so ganz. Die Kleine ist nicht nur eine erwachsene Frau, sondern auch schon keine junge mehr.“ reagierte Rolf. „Ja, ist ja gut, Entschuldigung. Ich wollte doch nur an et­was Liebes erinnern, wie du mich in den Arm genommen hast. Drei Abende lang, fast nur in den Arm genommen und ein wenig gestreichelt. Das könntest du gar nicht mehr, nicht war? Du hast ja damals auch nix gemacht, mich ein­fach nur im Arm gehalten und jeden Abend war die Welt für mich eine andere. Ich habe ja absolut am Rad gedreht und wenn du mich in die Arme nahmst, war's weg. Da warst du in mir. Alle Ängste, Verzweiflungen und Vorwürfe hast du vertrieben. Der einige Mensch auf dieser Welt, der mich stillschweigend ak­zeptierte und verstand.“ erinnerte Juliane. „Ja, der Unfall in deiner Schwanger­schaft mit den Zwillingen und den Konsequenzen daraus hat uns richtig zusam­mengeschweißt. Vorher waren wir verliebt, aber dadurch bekam unsere Bezie­hung etwas ganz anderes. Mir kam's so vor, als ob ich jetzt nicht mehr ein ein­zelner Mensch alleine sei, sondern dass es uns nur im Paket gab.“ fügte Rolf an. „Das kam mir richtig komisch vor, als wir dann am See waren. Wir schauen verträumt sinnierend au's Wasser, blicken uns an und wissen ohne ein Wort schlagartig, jetzt ist es vorbei, und jetzt will ich dich. Wenn's keinen Wald ge­geben hätte, ich glaube, wir hätten's auch auf der Bank gemacht. An so etwas habe ich später öfter gedacht, als ob in uns der eine den anderen befragt hät­te. Wir brauchten uns nur anzuschauen und alles war klar.“ Juliane noch dazu. „Ich würde dich jetzt auch gern in den Arm nehmen, aber das wirst du nicht wollen.“ meinte Rolf. „Ich weiß es nicht, Rolf. Was soll das denn werden. Ich will das nicht wieder. Auf keinen Fall. Aber irgendwie ist es jetzt auch etwas ganz Anderes. Die Geschiedenen können nicht so miteinander reden, sich nicht gegenseitig etwas vorsingen und gemeinsam über deine Texte diskutieren, das müssen andere sein, nur wer sind sie?“ antwortete Juliane. „Überleg mal, wer sich da zum ersten Mal in der Stadt getroffen hat. Mit denen haben wir doch nix zu tun, oder?“ fragte Rolf und Juliane bekräftigte: „M, M, wollen wir nicht.“ „Meinst du, wir kennen die gar nicht?“ fragte Rolf nach. „Doch schon, nur wir wissen, dass wir sie nicht mehr reinlassen dürfen.“ reagierte Juliane und ließ sich von Rolf in den Arm nehmen.


Morgensonne


Juliane kam jetzt immer öfter. Zum Kaffeekochen, zum Singen und zum In-den-Arm-nehmen. „Damals, Rolf, wollte ich mich umbringen, weil ich mir wie eine Mörderin an meinen Kindern vorkam. Wenn du mich in den Arm nahmst, spürte ich, dass ich nicht allein war in dieser Welt. Durch dich, durch unser Ge­meinsames, bekam mein Leben einen Sinn. Heute ist es ein bisschen ähnlich. Wenn ich bei dir bin, sehe ich nicht mehr den Tod und was alles an Schlimmem auf dem Weg dorthin kommt. Es interessiert mich nicht. Mich interessiert nur der glückliche Tag, den ich heute erleben kann.“ erklärte Juliane und zog bald wieder in das alte Haus. Aber es war keine Rückkehr, es war ein Neubeginn, um diese Tage immer mit Rolf gemeinsam erleben zu können.


Rolf brauchte das Licht, das sich durch die Lamellen quetschte nicht mehr. Er wurde jetzt von seiner eigenen Morgensonne geweckt oder weckte sie. Er brauchte auch nicht mehr die Stimme seiner Mutter, Juliane trällerte für ihn und machte ihn glücklich. Rolf hätte ihr ja mal Beethovens Liebeslied vorsingen können, aber Juliane stand gar nicht am Bügelbrett. Das lehnte sie mit drei­undsechzig ab. Außerdem hatten sie für so etwas auch gar keine Zeit, denn ganz normale Alltage, mit allem was es da immer so zu tun gibt, die kamen bei ihnen überhaupt nicht mehr vor.



FIN



Aimer aide à connaître, connaître aide à comprendre, comprendre aide à aimer


„Wie kommst du denn auf die Idee, mit einer Frau, die dich so liebt, Schluss zu machen?“ fragte er sich vorwurfsvoll. „Du bist selber verrückt, nichts als ver­rückt und durchgedreht. Schraubst dir irgendwelche Hypothesen über die Zu­kunft zusammen und zerstörst so eine wunderbare Beziehung. Elena ist doch ein Mensch, wie kannst du denn so wahnsinnig mit ihr umgehen?“ Jetzt war Rolf völlig konfus. Wie es nach Juliane weitergehen sollte, eine Vorstellung von seinem neuen Leben hatte er nie gehabt. Er wusste nur, allein wollte er nicht bleiben. Aber wen wollte er denn finden, wenn es seiner Meinung nach mit Ele­na nicht einmal funktionieren würde. Welche Hirngespinste von Vorstellungen tobten denn in seinem Kopf herum? Wahrscheinlich durfte es nur Juliane Nu­mero 2 mit der Garantie für keine Differenzen sein. „Du lebst kein neues Le­ben. Den Traum von deinem alten willst du weiterleben.“ wurde Rolf sich klar.





Du bist frech, mein Junge – Seite 31 von 31

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Tag der Veröffentlichung: 26.04.2013

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