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no. 1 # Halt mich fest

... und glaube daran

 

Wie jeden Morgen starrte Helena verdrossen auf die rettungslos überlaufene S-Bahn, schimpfte lautlos auf die viel zu knapp bemessenen Wagons und quetschte sich unter gemurmelten Entschuldigungen zwischen die Leiber. Es glich dem Gefühl, als wolle man eine Steinmauer einreißen, indem man dagegen anrannte, solange, bis sie sich schließlich der überwältigenden Kraft eines einzelnen Menschen beugte.

Mürrisch versuchte das Mädchen einen sicheren Stand zu finden, griff dabei ziellos in die Menge und hoffte, irgendwo einen rettenden Anker zu finden. 

 Argwöhnisch und angespannt beobachteten die Menschen um Helena herum das Geschehen, drückten gelegentlich gegen einen aufdringlichen Rücken oder drehten sich selbst fort, ohne ihre grimmige Miene zu verlieren. Eingeschüchtert senkte die Siebzehnjährige den Kopf, schluckte angesichts der beengten Verhältnisse und atmete erleichtert auf, als der erste Halt angekündigt wurde. 

 Schimpfend und rempelnd bahnten sich die Menschen einen Weg nach draußen und unter ähnlichen Bedingungen strömten neue Passagiere wieder ein. Ohne es verhindern zu können wurde Helena weiter nach hinten gedrängt, spürte den Rucksack eines Fremden in ihrer Seite und den Tragegriff ihrer eigenen Tasche, der ihr die Hand abschnürte. Verärgert versuchte sie dem Rucksack zu entkommen, stand allerdings kurz darauf vor dem Rücken eines furchteinflößenden Hünen, den zu verärgern sie bis zum Äußersten zu vermeiden versuchte. Als allerdings die Bahn ruckhaft anfuhr, strauchelte eine Dame vor Helena, stieß gegen sie und zwang sie somit, nach hinten auszuweichen. Geradewegs in den breiten Rücken hinein.

 Angespannt hielt sie den Atem an, als sich der dunkle Haarschopf langsam und suchend zu ihr herumdrehte. Als seine grauen Augen sie ausgemacht hatten, setzte ihr Herzschlag für einen Augenblick aus. Die Angst lähmte ihr Gehirn, ließ eine gestammelte Entschuldigung nicht weiter zu. Schließlich zogen sich seine Lippen zu einem kurzen, entschuldigendem Lächeln hoch, bevor er einige für Helena unverständliche Worte sagte und sich an ihr vorbei zwängte. Unglaublich.

 Obwohl sie seine Worte nicht richtig gehört hatte, nicht ganz verstehen konnte, war seine Intention dahinter doch eindeutig gewesen: Er hatte sich bei ihr entschuldigt. Und das, obwohl ihn keinerlei Schuld traf. Verblüfft blinzelte die Siebzehnjährige, der es fremd vorkam. Immerhin war es tatsächlich das erste Mal, dass sich jemand bei ihr entschuldigte, nicht anders herum.

 

 Später, als sie endlich aus der Bahn fliehen konnte, gingen ihr die grauen Augen des Mannes nicht mehr aus dem Sinn. Sie hatten eine Ruhe ausgestrahlt, die selbst ihr die klaustrophobischen Gefühle ein wenig genommen hatten. Hinzu kam natürlich, dass sein einschüchterndes Aussehen und seine Größe ihr ein falsches Bild vermittelt hatten, das sie nun zu überdenken gedachte. Trotzdem konnte sie ihn einfach nicht aus ihren Gedanken streichen, egal, womit sie es versuchte.

 Es gab die üblichen Reden ihrer Freunde: «Lass den doch, ist doch egal.» «Den siehst du sowieso nie wieder.» «Boah, du glaubst doch wohl nicht an Liebe auf den ersten Blick, Helena?!». Ebenso versuchte sie es mit Rationalität und kühler Logik, die ihr vom Prinzip fremd und fern war. Er ist ein Fremder, er könnte gefährlich sein. Ihr trefft euch ohnehin kein zweites Mal. Vermutlich hast du einfach nur ausgesehen, als ob du gleich anfängst zu weinen - das wollte er in einer übervollen Bahn bestimmt nicht riskieren. 

 Aber ganz gleich, ihr Herz raste noch immer, sobald sie an ihn dachte und je weiter der Tag verstrich, desto unruhiger wurde sie. Außerdem gab es ja auch für solche Situationen Redewendungen, die ihr mehr Hoffnung gaben, als sie zugeben wollte.

 Man sieht sich immer zwei Mal im Leben. Allein diese schwache Hoffnung genügte Helena, um beschwingt auf die Bahn zuzusteuern, ganz gleich, dass ihr auch heute wieder grimmige Gesichter entgegen kamen. Offenbar hatte sich die Situation nicht gebessert. Sie grinste leicht. Nicht für sie zumindest.  

 

Am Ende traf sie ihn nicht noch mal wieder. Weder an jener Station, an welcher er ausgestiegen, noch dort, wo sie am Morgen eingestiegen war. Deprimiert und erneut nervös aufgrund der viel zu vollen Bahn, ging sie bereits früh zu Bett und überlegte, ob sie am morgigen Tag einfach früher losführe, damit ihr diese Qual erspart bliebe. Irgendwann schlief sie über diese Gedanken ein und träumte von lachenden grauen Augen, die sie einluden über das offene Meer zu fliegen. Freiheit.

 

 Es half nichts. Vermutlich müsste sie die erste Bahn nehmen, die überhaupt fuhr, doch selbst dann bezweifelte Helena, dass diese leerer war. Es schien, als wolle sich selbst der Mann mit Fahrrad hineinzwängen, obwohl der Wagon bis zum hintersten Winkel dicht gefüllt war. Angespannt atmete Helena aus, schloss für einen kurzen Moment die Augen und konzentrierte sich. Bald war Wochenende, danach würde sie sich erholen. 

 An diesem Tag traf sie den Mann mit den grauen Augen auch nicht und somit beschloss sie, ihre Hoffnung zu begraben. Immerhin wäre es ein außergewöhnlicher Zufall, den Ersten kennenzulernen, der ihr romantisches Interesse geweckt hatte. Helena horchte auf, als ihre Station angesagt wurde und versuchte sich Richtung Tür zu kämpfen, doch bereits die nächsten Passagiere strömten ein und machten ein Vorankommen schlicht unmöglich.

 «Verzeihung, dürfte ich ...?» Energischer versuchte sie sich durch zwei Frauen zu zwängen, die einen kleinen Schritt beiseite traten - und Helena sah ihre Chance. Noch ehe sie diese ergreifen konnte, war ein Fahrgast von Außen nachgerückt und schloss die offene Reihe bedächtig. Panik stieg in Helena auf, ließ sie wie ein gefangenes Tier nach vorn preschen, ohne Erfolg.

 Mit einem bedrohlichem Signalton bedeuteten die Türen, zurückzutreten, doch die Siebzehnjährige fasste ihren Rucksack, hielt ihn einem Schild gleich vor ihre Brust - und wurde plötzlich von einem Paar Hände energisch nach vorn geschoben. 

Schimpfend und fluchend drehten sich die Menschen nach ihr um, als Helena jedoch die einigermaßen klare Luft des Bahnhofs hektisch einatmete, war ihr das gleichgültig. Sie war endlich raus.

 «Alles okay mit dir?» Graue Augen, die sie besorgt musterten. Unfähig zu sprechen, nickte sie einfach und spürte ihr Herz rasen, als wolle es ihren Brustkorb bersten lassen. Er grinste erleichtert, richtete sich zu seiner imposanten Größe auf - und reichte ihr eine seiner prankenhaften Hände. Zaghaft ergriff sie diese und bestaunte den fast schon abstrakten Unterschied ihrer winzigen Hand zu seiner riesenhaften Pranke. 

 «Ich bin Lex. Scheint mir, dass die Meute heute noch fieser drauf war als üblich.» Er zwinkerte ihr vertraulich zu, was Helena irritiert blinzeln ließ. Schließlich murmelte sie ihren Namen und ließ seine Hand nicht ohne gewisses Bedauern los. Nachdenklich musterte er sie. 

 «Ich hab das Gefühl, als ob ich dich kennen würde.» Sie zuckte zusammen, als sie sich daran erinnerte, wie furchterregend sie ihn damals fand. Jetzt wirkte er auf sie beruhigend, auf obskure und liebenswerte Art. Dann lachte er, breitete die Arme aus und meinte schlicht: «Tja, auch in der Großstadt trifft man sich eben zwei Mal, nicht wahr?!» 

 Damit schrieb er flink etwas auf ein Stück Papier, überreichte es ihr feierlich und verschwand mit den Worten: «Bis die Tage, Petite.» Er winkte, seine große Gestalt allerdings war noch lange danach zwischen den Menschen auszumachen. Helena spürte das Lächeln in ihrem Gesicht ebenso wie in ihrem Herzen, wo es unerträglich umherwanderte, ruhelos. Rastlos.

Petite. Klein. Ihm war also auch die Absurdität aufgefallen.

 Lächelnd sah sie auf den Zettel, auf dem in ordentlicher Blockschrift eine Nummer stand. Ruf mich an. Fassungslos, aber auch euphorisch belebt starrte sie auf diese drei Worte, bevor sie hastig den Zettel in ihre Tasche stopfte und gen Schule rannte.

 

 Es benötigte genau vier Tage, neun Stunden und dreizehn Minuten, als auch ein beherztes «Jetzt mach schon, oder soll ich ihn mir schnappen?» ihrer Freundin Jen, bevor Helena sich dazu durchrang, ihn anzurufen. Er ließ es drei Mal läuten, ehe er förmlich grüßte.

 «H... Hallo, ich bin's.» Das Mädchen, das du zufällig in der Bahn gerettet hast.

 «Marie?» Diese Frage ließ sie unwillkürlich zusammenzucken, sie spürte, wie ihr allmählich der Mut verloren ging, dennoch schluckte sie die Angst für einen Augenblick hinab.

 «Nein, Helena.» Seine Antwort kam unverzüglich und die letzte Spur von Distanz schien aus seiner Stimme gefegt.

 «Petite! Auf dich hatte ich ja schon gar nicht mehr gehofft.» Er lachte gelöst, bevor er sich räusperte. Helena schwieg verblüfft. Gehofft. Hatte er tatsächlich darauf gewartet, dass sie ihn anrief? Sie entschuldigte sich leise, er winkte das allerdings ab. «Hör mal, wie wär's, wenn ich dich heute einlade? Kennst du das Café 'Louis'? Ja? Super. Wie wäre es, wenn du dort gegen halb fünf auf mich wartest, dann ist meine Schicht vorbei.»

 Er wirkte derart euphorisch, dass sich Helena dem nicht verschließen konnte und begeistert zusagte. Erst als sie auflegte, spürte sie ihre Knie zittern und ihren flachen Atem. Hatte sie sich soeben mit einem Jungen verabredet? Es sah so aus.

 

 Nervös sah sie auf die Uhr. Es war kurz vor sechs und noch immer stand sie allein vor dem Café, unfähig, sich diese demütigende Niederlage restlos eingestehen zu müssen. Lex hatte sie versetzt. Dieser Gedanke hinterließ ein dumpfes Gefühl der Bitterkeit, also konzentrierte sie sich auf die belebte Straße, welche von zahlreichen Passanten genutzt wurde. Der Abend kam allmählich und mit ihm eine kühle Brise, also beschloss Helena, endgültig die Fahnen zu strecken. Sie hatte es schon einmal versucht und war gescheitert, jetzt allerdings wollte sie sich dazu zwingen, diese grauen Augen und die Sorge um sie darin zu vergessen. Aus ihrem Leben zu streichen.

 «Petite! Warte bitte!» Seine Stimme klang gehetzt und als sie sich umdrehte, rannte er keuchend auf sie zu, einen Arm erhoben, um ihr hektisch zuzuwinken. Als er sie schließlich erreichte, kam sie nicht umhin, sich verraten zu fühlen. Du hättest anrufen oder schreiben können. Du hättest mich absagen und mir diese Demütigung ersparen können. Atemlos presste er eine Entschuldigung hervor.

 «Es tut mir Leid, Helena. Ehrlich. Eine Kollegin hatte einen Unfall und ich habe sie ins Krankenhaus begleitet. Dabei habe ich in der Eile mein Telefon liegen gelassen.»

  «Schon gut. Wie geht es ihr?» Offenbar hatte sie sich das Bein gebrochen, als sie versucht hatte, Einweckgläser in ein Regal zu stellen. Sie würde für einige Wochen nicht im Café aushelfen können. Helena fühlte sich furchtbar, als sie daran zurück dachte, welches Unrecht sie ihm gedanklich bereits angetan hatte. Unsicher biss sie sich auf die Unterlippe, als Lex nach ihrer Hand griff und sie sanft mit sich zog.

«Du bist bestimmt müde. Du solltest heimgehen und dich ausruhen, Lex.»

Er sah über die Schulter zurück zu ihr und lächelte, wobei seine grauen Augen warm auf sie zu scheinen schienen. Ihr Herz begann wild zu flattern und mit leicht geröteten Wangen fragte sie: «Was ist?» Hatte sie etwas Falsches gesagt? Oder aber empfand er sie einfach als dreist?

«Das ist das erste Mal, dass ich meinen Namen aus deinem Mund höre, Petite. Das gefällt mir.» Der Ton seiner Augen wurde eine Spur dunkler, bevor er sie wieder mit sich zog. Helena spürte kaum noch ihr im Staccato gehendes Herz, welches kaum noch zur Ruhe kam, wann auch immer er sie berührte. Wann auch immer er sie ansah und mit ihr sprach, ihr sein unvergleichlich warmes Lächeln schenkte. Aber am meisten liebte sie seine innere Ruhe.

 

Er brachte sie in den Tierpark, der weitläufig war und im Grünen lag, sodass der Stress der Großstadt ein wenig von ihnen abfiel. Während sie den Tieren beim gemächlichen Treiben ihres abendlichen Alltags beobachteten, erfuhr Helena, dass er noch einen kleinen Bruder und eine große Schwester hatte und mit ihnen gemeinsam eine Wohnung bezogen hatte. Sein Lieblingstier war der Löwe, was sie seltsamerweise als passend empfand, wirkte er doch ebenso behäbig und entspannt wie Lex. Und als die Sonne allmählich den Horizont küsste, hatten sie beinahe den gesamten Park erkundet.

«Lex?» «Mhm?» Die Sonne stand tief und zeichnete in seine dunklen Haare rotgoldene Lichtreflexe, Helena allerdings fixierte einen Punkt hinter ihm. Diese eine Frage quälte sie schon, seit er ihr seine Telefonnummer gegeben hatte. Jetzt schien der Augenblick gekommen, wo sie genügend Mut fand, um ihn direkt zu fragen. «Wieso machst du das alles?»

«Was meinst du?» fragte er verwirrt, musterte ihr Gesicht allerdings wachsam. Er war ein aufmerksamer Beobachter, wie sie festgestellt hatte. Kaum ein Detail entging ihm.

«Das alles hier. Mich. Wieso kümmerst du dich so intensiv um mich?»

«Weil ich das Gefühl habe, dass ich dich beschützen muss, Petite. Weil ich dich vor allem Bösen dieser Welt schützen möchte.» Sie schwieg. Die Sonne war nahezu vollkommen hinter dem Horizont verschwunden, lediglich einige letzte Strahlen drangen bis in den üppig begrünten Park vor. Lex lächelte, strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und vollendete leise seine Worte: «Weil ich dich nicht wieder im Gewimmel verlieren will, wie schon einmal.» Damit neigte er seinen riesenhaften Bärenkörper über ihren so viel Kleineren, nahm ihr Gesicht behutsam in die Hände und küsste sie. 

Helena spürte die Wärme seiner Hände auf ihrer Haut, roch ihn und konnte seinen großen Körper wahrnehmen, der sie in Schatten tauchte. Doch vor allem nahm sie seine Lippen wahr mit jedem erdenklichen Sinn. Sie schmeckte ihn, fühlte seine zaghaft forschende Zunge und legte vorsichtig ihre Arme um seinen Nacken. Mit einem letzten Kuss zog er sich lächelnd ein wenig zurück, seine Hände lagen auf ihrem Rücken, als wolle er sein Versprechen einlösen und sie vor allem schützen. 

«Bitte ... halt ... halt mich fest.» Ihre Worte waren leise, sodass er sie beinahe nicht verstand, doch Lex zog sie fester in seine Arme und bettete sein Kinn sachte auf ihrem Scheitel. Mit einem leisen Seufzen schloss Helena die Augen, ein Lächeln auf den Lippen.

«So muss sich das Paradies angefühlt haben.» Lex lächelte. «Von nun an werde ich dich festhalten, Petite, und nicht mehr so schnell gehen lassen.»

Helena nickte knapp, vergrub ihre Nase in seinem Shirt. «Damit bin ich einverstanden.» Leise lachend hielt er sie fest und sie genoss das Vibrieren seines Brustkorbs, während er lachte. Es war beruhigend, so wie alles an ihm sie beruhigte. Ja, so fühlt sich das Paradies an. Und ich hab es am undenkbarsten Ort angetroffen.

no. 2 # Niemand bricht mich

... nicht einmal Du

 

«Wieso musst du nur so stur sein?!» fuhr ich mein Gegenüber gewohnt rüde an, doch er lächelte wie üblich überlegen. Es wirkte beinahe, als genieße er diese abstruse Situation, statt davon vollkommen irritiert oder einfach überrascht zu sein.

Mit wachsendem Zorn presste ich meinen Unterarm gegen seine wohl definierte Brust, spürte darunter das Herz kräftig und ruhig schlagen. Gleichmäßig. Anders als meines, welches inzwischen zu einem stakkatoartigem Jagdgalopp übergegangen war. Allmählich lief das hier aus dem Ruder. Das behagte mir nicht, zudem mein Gegenüber niemand Geringeres als Logan Freshman war. Millionärserbe, Jahrgangsbester der Abschlussklasse und selbsternannter Frauenheld.

«Ich könnte dich das gleiche fragen, Dee.» Auch jetzt wich das gewinnende Lächeln nicht aus seinen Mundwinkeln, dennoch bemerkte ich tief in seinen Stahlaugen ein Gefühl, das ich nicht benennen konnte. Irritiert schüttelte ich den Kopf, nahm meinen Gedanken wieder auf und verlieh meiner Stimme einen bedrohlich rauen Unterton. «Ich werde dir wehtun, wenn du nicht antwortest, Fresh

Zur Bestätigung meiner Worte presste ich ihn fester gegen die Gipswand, spürte den Widerstand dieser in seinem Rücken und seinen Brustkorb unter meinem Unterarm. Kurz flackerte etwas wie Unsicherheit ob meiner Gewaltbereitschaft in seinen Augen auf, doch gerade, als ich begann, meinen Sieg zu feiern, brach er in Gelächter aus und übernahm die Führung.

 

Plötzlich war nicht mehr ich es, die Logan als Opfer gegen die Wand drückte, sondern der Erbe eines millionenschweren Immobiliengeschäftes, der mich mühelos zwischen seinem Körper und der Wand einsperrte. Jedem wütenden Fluch zum Trotz spürte ich mein Herz bis hinauf in meine Kehle schlagen, presste meine schwitzenden Hände gegen meine ausgeblichene Jeans und holte nur unregelmäßig Luft.

Diese ganze Situation gefiel mir einfach nicht.

Je näher Logan mir kam, umso unruhiger versuchte ich mich von ihm fortzuwinden. Schließlich erstarrte ich. Seine samtweiche Stimme glitt fast schon tastend über meine überreizte Haut, ließ mein hektisch schlagendes Herz vibrieren. «Nun bin ich dran, süße Dee. Mit meinen Methoden.»

Sein Atem streifte meine Wange, seine Stimme senkte sich auf ein berauschendes Flüstern. «Wieso verweigerst du dich mir noch immer so hartnäckig, obwohl dich bereits der Gedanke an eine Andere derart mürbe macht?» Kurz darauf spürte ich seine Lippen weich und zart die Konturen meines Halses nachfahren, während seine Hände meine Handgelenke umfasst hielten, mich an weiteren Zappelaktionen hinderten. Allerdings stellte ich mir schon nicht mehr die Frage, ob ich mich gegen ihn überhaupt weiter zur Wehr gesetzt hätte.

Ein Gedanke, der mich unter allen anderen Umständen zur Raserei getrieben hätte, jetzt jedoch hing ich schlaff und willenlos in seinen Händen. Deutlich spürte ich das Lächeln, welches seine Lippen verzog, als ich wohlig aufseufzte. Neckend strich seine Zunge über meine Halsschlagader, welche lautstark rauschend durch meinen Körper floss. Für einen Herzschlag lang verharrte Logan an jener Stelle ohne sie weiter zu berühren, hielt inne und schien abzuwarten. Angespannt tat ich es ihm gleich, spürte den Griff des Anderen an meinen Handgelenken und stieß einen kehligen Laut aus, sobald seine sündigen Lippen sich erneut ans Werk machten.

«Es ist weniger ... die Andere ... als der Fakt meiner Schwester ...» brachte ich mühsam hervor, unfähig, überhaupt noch einen klaren Gedanken zu artikulieren. Sei’s drum! Obgleich bisher über jede Sünde erhaben, spürte ich das Konstrukt aus Disziplin und Selbstaufgabe über mir bedenklich knirschen.

«Ah, das wollte ich nicht hören» wisperte er dicht neben meinem Ohr, zupfte neckend an meinem Ohrläppchen und hauchte einen zarten Kuss auf die empfindliche Stelle hinter dem Ohr. Mühsam schluckte ich, schloss die Augen – und bereute es fast augenblicklich.

Mit erschreckender Intensität nahm ich den gestählten Körper des Mannes wahr, der mich sanft, aber bestimmt an die Wand gepresst kontrollierte, spürte die schwelende Hitze, die er aussandte und in meine Haut eindrang, als lechzte ich danach wie eine Verdurstende. Als seine vorwitzige Zunge sich einen sengenden Pfad entlang meines Kieferknochens suchte, kapitulierte ich endgültig vor ihm. Verloren. Und du hast gewonnen, Freshman.

 

«Dee? Was zum ...?!» Überraschung zeichnete sich in seinem Gesicht ab, als ich mich geschickt seinem Griff entwand, das Gewicht des Größeren gegen ihn nutzte und diesen schließlich zu Boden brachte. Schwer atmend fiel ich ihm entgegen, fing mich noch rechtzeitig ab und saß schließlich auf seinem voluminösen Brustkorb.

«Dee ...?» Ich sah fiebrig auf ihn nieder, runzelte die Stirn und genoss den Anblick des zeitweilen irritierten Logan Freshmans. Ein seltener Anblick, doch war es mir nicht vergönnt, diesen länger zu genießen, denn sein Körper verriet seine wachsende Anspannung. Herablassend lächelte ich auf ihn herab. «Was ist das für ein Gefühl, Logan? Angst? Unruhe? Nervosität?» Unbarmherzig hielt ich ihn am Boden, spürte allerdings mit jeder weiteren Bewegung seinen Leib unter mir, seine Hitze ...

«Das Gefühl, von einer starken Frau dominiert zu werden? Es ist ... interessant» gab er gedehnt und nun wieder grinsend von sich, strich mit seinen Händen meine Seiten entlang und ließ sie schließlich auf meinen Hüftknochen ruhen. Doch seine Worte hatten getroffen. Er wusste es. Eine Starke Frau, die ihn dominieren, führen, kann. Eine, die ihn fordert. Ich schluckte das Gefühl der Befriedigung in mir herunter, lächelte schief und erfreute mich an der Macht, die ich nun offensichtlich über ihn besaß. «Es wird gleich noch interessanter ...» murmelte ich, sah auf das Prachtexemplar eines Mannes hinab. Langsam neigte ich das Haupt, sah ihm in die dunkler werdenden Augen, je näher ich ihm kam. Alsbald glitten meine langen Haare über meine Schulter, verbargen unsere Gesichter vor der Außenwelt. Schützten uns. «Was hast du zu ihr gesagt, dass sie anfing, auf dich zu schimpfen wie eine Rohrdrossel? Meine Schwester, die friedlebigste Person, die Gott je schuf?» wisperte ich dicht gegen seine Lippen, spürte seinen Atem wie eine stille Verheißung über mein Gesicht streichen.

Ein gequältes Lächeln schlich sich in seine Augen, sodass meine eigene Schwäche nicht weiter ins Gewicht fallen konnte. «Du bist so grausam, Dee» flüsterte er ebenso leise zurück, blickte aus halb geschlossenen Augen zu mir empor und ließ mein Herz erneut im Takt ausbrechen. «Das ist ein Geheimnis.»

 

Ärgerlich runzelte ich die Stirn, wich ein wenig zurück. Es war tatsächlich so, dass ich zunehmend gereizter geworden war, je häufiger ich meine Schwester mit Logan gesehen hatte. Ihre zunehmende Vertrautheit miteinander trug nicht zwangsläufig zur Besserung meiner Laune bei und ich ertappte mich ein einziges Mal bei der Frage, wieso es sie war – und nicht ich. Danach brach ich jeden Kontakt zu Logan und seinem Dunstkreis ab, versöhnte mich mit meiner Schwester – und mir selbst. Ebenso verdrängte ich diese seltsamen Menschen aus meinen Gedanken. Aus meinem Herzen, das aufgeregt umherhüpfte, sobald über ihn gesprochen wurde oder sein Name auch nur fiel. Es war zum Mäuse melken. Es ist irrational. Es ist nicht richtig. Es ist schwach.

Trotzdem vermochte ich das Gefühl der bohrenden Eifersucht in mir nicht länger zu unterdrücken, konnte es nicht von meinem Ärger über meine Unwissenheit trennen und packte ihn schließlich am Schlafittchen. Kurz huschte etwas wie Irritation durch seine Sturmaugen, schließlich umfasste er meine Hüften fester und zog mich energisch hinab. Dieses eine Mal gab ich nach, kapitulierte und ließ mich treiben, ließ mich gefangen nehmen von seinen Lippen, die zart über meine strichen, neckend daran zupften und mich um den Verstand brachten. Ungeduldig preschte ich vor, küsste Logan mit einer Intensität, die mir bis dato unbekannt gewesen war und schloss genüsslich die Augen, spürte den weichen Stoff seines Shirts zwischen meinen Fingern. Erst sein unterdrücktes Stöhnen riss mich unsanft wieder zurück.

«Verdammt!» fluchte ich, während ich mich noch im gleichen Atemzug von Logan herunter rollte, um dicht neben ihm zum Liegen zu kommen. Sein Brustkorb hob sich ebenso hektisch wie mein eigener, doch die übliche Genugtuung blieb aus. Es hatte mich ebenso aus der Fassung gebracht wie Logan selbst.

«Mm, hätt’ ich gewusst, dass du so reagierst, hätte ich es dir schon viel früher unter die Nase gerieben» murmelte der junge Mann, lachte leise und auch ich lächelte. Immerhin musste ich zugeben, dass er gewissermaßen Recht ... Halt! Nein!! Abrupt richtete ich mich auf.

«Dee?» «Nein!» Meine Stimme klang energischer, als ich mich nach dem Kuss fühlte, als ich allerdings aufstand, verhinderte lediglich das flinke Eingreifen Logans, dass ich wieder auf dem Boden landete. Atemlos sahen wir einander in die Augen.

«Das ist so eine widerlich kitschige Situation» knurrte ich beschämt, spürte ihn an meiner Brust unterdrückt lachen, ehe er grinsend erwiderte: «Und das du sie wieder zerstörst, ist ebenfalls typisch.» Ich schnaubte herablassend, konnte allerdings nicht leugnen, dass es etwas für sich hatte, in seinen Armen zu liegen und sich geschützt zu fühlen. Geliebt. «Dass ich von einer temperamentvollen Domina einfach nicht wegkomme.» Beinahe verschluckte ich mich an meinem Lachen, starrte ihm entgeistert in die Augen. «Wie bitte?!»

Mit einem Lächeln neigte er sich mir entgegen, streifte mit seinen Lippen über meine. «Das sagte ich sinngemäß deiner kleinen Schwester.»

Es gab kein Wort, das beschreiben könnte, was ich empfand, als er mir dieses indirekte Geständnis machte. Dementsprechend brüskiert reagierte ich, unfähig, mit meinen eigenen Emotionen zurechtzukommen.

«Du hast mich vor meiner kleinen Schwester als Domina bezeichnet?! Was fällt dir ein, du grobschlächtiger Gorilla! Ich habe einen Ruf zu verteidigen, besonders - ganz besonders – bei meiner kleinen Schwester! Du -» Logan lachte. Es war diese Art von gelassenem Lachen, welches ich bisher nur selten bei ihm gesehen hatte und mich somit noch mehr aus dem Konzept brachte, als ich es ohnehin schon war. Schließlich sah er mir in die Augen, fragte glucksend: «Ernsthaft? Ich gestehe dir meine Zuneigung ein und du denkst allen Ernstes nur an den Ruf, den du vor deiner Schwester bewahren musst?» «Eh ...» Es gab geistreichere Kommentare, aber etwas Anderes wollte mir partout nicht einfallen. Offenbar respektierte Logan das – oder aber er ignorierte es ganz einfach geschickt genug – und küsste mich erneut.

«Man möchte fast meinen, man hat dir die Krallen gestutzt» bemerkte er amüsiert ob meines entrückten Geisteszustandes. Energisch löste ich mich von ihm, stach mit einem Finger nach seiner Brust und genoss ganz frei dieses Gefühl, sich zwanglos kabbeln zu können. Es war, als kehre man nach langer Zeit endlich wieder heim.

«Zum Mitschreiben, nur, weil du unter Ausnutzung der Situation einen unfairen Vorteil hattest, bedeutet das noch lange nicht, dass du mich damit mundtot machen ka-ha-ha-» Jeder Einwand erstickte unter seinen heißen Lippen, die lasziv meinen Hals hinabwanderten, mich punktuell erregten. Zischend atmete ich aus, als diese meinen Schlüsselbeinknochen gefunden hatten, an diesem entlang wanderten und meine Halskuhle küssten. «Ich werde mich dir nicht beugen, Freshman» murmelte ich, bereits entrückt, und hörte das leise Schmunzeln in seiner Stimme. «Deshalb liebe ich dich, Dee.»

Mit einem Seufzen reckte ich mich ihm ein wenig entgegen.

no. 3 # Küss mich wieder

... und immer wieder 

 

Die Dinge hatten sich verändert.

Liam sinnierte bereits seit dem gestrigen Dreh darüber, was das ohnehin recht eigenwillige Verhalten seiner Filmpartnerin Beth derart massiv verändert haben konnte. Bisher war er der Lösung keinen Schritt näher gekommen, sodass er sich leise seufzend durch das helle, blonde Haar fuhr.

«Liam! Los, wir fangen mit der Pilotszene an. Auf Anfang bitte!» Ungeduldig wedelte der Regisseur mit seiner Hand gen Liam, der sich mit einem Seufzen erhob, den Damen vom Catering kurz, aber charmant entgegenlächelte und Position vor dem finsteren Auge der Kamera bezog. Nicht einmal seine Arbeit vermochte ihn von der Grübelei abzuhalten. Verrückt!

«Achtung!» Der junge Schauspieler sah auf und bemerkte den finsteren Blick seiner Partnerin, die sich sogleich abrupt abwendete und ihm nicht einmal mehr ein mühsames Lächeln schenkte. Irritiert und seltsam vor den Kopf gestoßen widmete er sich seiner Arbeit.

 

Sobald die ersten Szenen abgedreht waren, schien Liam sich problemlos in seine Rolle zu finden. Nichts desto Trotz umtrieb ihn noch immer Beths Verhalten, sodass er jede freie Minute nutzte, um seine Erinnerungen an den gestrigen Drehtag zu sortieren. Irgendetwas Elementares hatte sich an diesem Tag verschoben, er meinte es beinahe spüren zu können. Er musste lediglich den Anfang davon finden. Des Rätsels Lösung ... denk nach, Liam. Allerdings fand er besagten Anfang erst kurz vor Drehschluss und begriff schlagartig, was im Kopf der katzenäugigen Frau vor sich ging.

 

Es war ein bereits angenehm warmer Sommertag, die Sonne stieg soeben spektakulär am Himmel auf und tauchte seinen weizenblonden Haarschopf in flüssige Glut. Episch. Der entrückte Ausdruck in den katzenhaft grünen Augen seiner Filmpartnerin hatten ihn in dieser Annahme bestärkt, sodass er - die Sonne im Rücken - sich halb zu ihr herumwandte, den Kopf dezent geneigt und mit leiser Stimme raunte: «Diese Welt ist wie geschaffen für mich, Clairyce

Schlagartig zeichnete sich eine zarte Röte auf den aristokratisch geschwungenen Wangenknochen ab und fasziniert verfolgte Liam das Wechselspiel ihrer Augen. Sie schimmerten zart, wirkten entrückt und fernab dieser Welt, doch eben dieser Ausdruck erwärmte ihm das Herz. Wie lange hatte er gehofft, die ‘Eiserne Lady’ derart lächeln zu sehen? «Dann solltest du dieser Welt auch Respekt zollen - und eine vernünftige Performance zeigen.» Ihre erneut distanzierte Stimme ließ ihn hart auf den Boden der Realität aufschlagen. Liam blickte kurz gen Himmel, zog die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen und salutierte schließlich vor ihr. Verblüffung stahl sich in ihre Miene.

«Yes, Ma'am. Ganz zu Diensten.» «Fein.» Offenkundig verwirrt kehrte sie ihm den Rücken zu und begab sich in die Hände ihrer Visagisten und Stylisten, die aus Elizabeth Preston die Protagonistin Clairyce Heaven erschaffen würden. Es ähnelte immer wieder einem Meisterwerk, sodass es keinen Tag zu Langeweile kam, ganz gleich, wie oft Liam bereits dabei zugesehen hatte.

Da sie ihm dies bisher auch schweigend gestattet hatte, folgte er Beth in ihre Garderobe und verfolgte die fliegenden Finger von Anne, welche ihn lächelnd begrüßt hatte. Inzwischen hatte sich die Crew an dieses seltsame Paar gewöhnt. «Du siehst gut aus, Anne. Wie war dein Urlaub?» Für beinahe vier Wochen hatte die junge Brünette eine Auszeit auf den Malediven genossen und schwärmte nun begeistert von den zahlreichen Orten, die sie besucht hatte. Natürlich habe sie auch zahlreiche Eindrücke für ihre Arbeit sammeln können, doch Liam lauschte ihr mit nur halbem Interesse.

Sein Augenmerk galt der dunkelhaarigen Schönheit, die allmählich verschwand und einer erstaunlichen Persönlichkeit Platz machte. Das einst lange, glänzend dunkle Haar wurde kontinuierlich heller, bis es schließlich einen zart schimmernden Silberton angenommen hatte, während ihre ausgeprägten Gesichtszüge verschwanden und ihn schlussendlich nur ein Paar vertrauter Katzenaugen anblickte. Verblüfft bemerkte Liam das Fehlen von Anne.

«Ich werde mich nie daran gewöhnen können» gab er ehrlich zu und lachte leise, als sie verärgert schnaufte. Immerhin musste sie diese Veränderung für mehrere Stunden ertragen und dabei eine möglichst elegante Figur präsentieren, schickte der Regisseur Beth als Abgesandte eines Königshauses in den Film hinein. Liams Rolle war indessen schlichter gehalten, immerhin verkörperte er lediglich einen sympathischen, aber zum Chaos neigenden Vorstadtverkäufer, dessen Leben vollkommen durcheinander geriet, sobald er Clairyce traf, die einen Krieg mit sich bringen konnte, sofern nur eine Entscheidung falsch ausfiel. Gelegentlich erinnerte es den jungen Mann an Per Anhalter durch die Galaxie.

«Hoffentlich hält die Frisur.» Er betrachtete eingehend das kunstvoll hochgesteckte Haar, kapitulierte allerdings rasch angesichts der komplizierten Strukturen, die dort hinein gewoben worden waren. Frauenhaare. Eine schwere Last, Rapunzel. Er grinste, als er sich der veränderten Umgebung bewusst wurde. Interessiert blickte er in die grünen Katzenaugen, die ihn aus einem fremden Gesicht entgegenblickten, doch fehlte ihnen die Distanz. Er konnte Unbehagen in ihnen sehen, und auch Angst. Wovor mochte sie sich fürchten? Unwillkürlich verspürte er den Drang, sie davor zu schützen, ihre verletzlichen Augen vor der Welt zu verbergen, damit niemand ihr wehtun konnte. Schließlich erhob er sich mit einem schweren Seufzen und einer galanten Bewegung, fuhr sich durch sein eigenes Haar und grinste spitzbübisch. Beinahe war es ihm, als ob ein ähnlicher Glanz auch in ihre Augen einkehrte, als er zum Abschied rief: «Nun, ich muss mich dann auch mal in Schale werfen. Ich will ja farblich auf dich abgestimmt sein.»

 

Sie hatten ihre Positionen eingenommen, dennoch nahm das hektische Treiben um sie herum nicht einen Augenblick ab. Je kürzer die Zeit wurde, desto unruhiger schien die gesamte Crew umherzulaufen. Die beiden Hauptdarsteller standen dicht beieinander, allzeit bereit, die erste Szene zwischen Clairyce und dem Erdenmann als Liebende abzudrehen, dennoch schien etwas die junge Schauspielerin zu beunruhigen.

Immer wieder fuhr sie sich nervös über die Lippen, betrachtete eingehend ihre Umgebung und mied ohnehin jeden weiteren Kontakt mit ihm, ehe er es nicht mehr ertrug und die Initiativ ergriff. «Hast du die Essenspläne für nächste Woche gesehen? Es gibt Hühnchencurry.»

Ihr Lächeln hob kaum ihre Mundwinkel an, als er jedoch munter weiterplauderte, ließen ihre leisen Worte ihn abrupt innehalten. «Liam, ich muss ... es gibt da etwas, was du wissen solltest.»

Kurz blickte sie sich verstohlen um, rückte ein wenig dichter an ihn heran und ließ ihn das prickelnde Gefühl von Leichtigkeit fühlen. Sie bat ihn um Stillschweigen und Ernsthaftigkeit, er gewährte ihr dies nickend. Schließlich gab sie die Worte nur unwillig, beinahe schon empört von sich, ehe Liam den Sinn darin zu suchen begann. «Bisher gab es nie eine ... Notwenigkeit für mich, Liebesszenen zu spielen.» Eindringlich blickten die katzenhaften Augen zu ihm empor, ließen ihn schwer schlucken und seine wirren Gedanken in nur einer einzigen Frage formulieren. «Das heißt, du wurdest noch nie geküsst?» Sie schüttelte dezent den Kopf und er erbleichte. Seine Gedanken überschlugen sich.

Konnte er ihr den ersten Kuss geben, der ebenso bedeutungslos zwischen ihnen stehen würde, wie zwischen ihm und den zahlreichen Mädchen, die er bereits vereinnahmt hatte? Erträumte sich nicht jedes Mädchenherz ihren ersten Kuss unter romantischen Bedingungen, gegeben von Jenem, der ihr Herz erweicht hatte, in der Hoffnung, es möge etwas Besonderes bleiben? Abwartend blickte Beth zu ihm hinauf, allmählich stahl sich ein misstrauischer Glanz in ihre Augen und hastig versuchte er eben dieses zu zerstreuen. «Keine Sorge, ich pass auf.» Ich pass auf dich auf. Erleichtert nickte sie, doch genügte ihm dies nicht. Sie sollte ihn und seine Einstellung dazu tatsächlich begreifen. «Wieso musstest du nie?» Seine Stimme klang fremd, rau und starr. Sie zuckte unbehaglich mit den Schultern.

«Es hat sie eben nie ergeben. Meistens waren solche Szenen nicht vorgesehen in den Rollen, die ich spielte und als es ein einziges Mal soweit ging, scheute der Hauptdarsteller sich, aus Angst vor seiner Verlobten.» Man mochte es als belustigt betrachten, das Lächeln, welches ihre Züge umspielte und das Grün ihrer Augen leuchten ließ. Ich werde auf dich aufpassen, Elizabeth.

 

«Achtung bitte! Drei, zwei ... » «Du solltest dir deinen nächsten Schritt gut überlegen, John aus den Highlands.» Er lächelte angesichts dieses Namens, hatte er ihr den erstbesten Titel genannt, den er imstande war, ihr zu nennen: Highlander. Kurz zuvor hatte er diesen Film erst gesehen. «Es gibt nichts mehr zu überlegen. Ich kenne meine Entscheidung.» Damit umfasste er ihr Gesicht vorsichtig mit beiden Händen, zog sie mit sanftem Druck zu sich heran und schloss die Augen genussvoll, ehe seine Lippen auf die Ihren trafen. Überrascht öffnete Liam die Augen, starrte auf die weit geöffneten Augen seiner Filmpartnerin und wich leicht zurück, noch immer erstaunt auf sie niederblickend.

«CUT! Liam, was zum Henker ist los mit dir? Stimmt was nicht?» Dem Regisseur war die Wut anzuhören, ebenso die Ungeduld, waren sie ohnehin ein wenig in Zeitverzug und konnten diese kostbaren Sekunden vom Prinzip her nicht vergeuden. Dennoch bedeutete sein Patzer eine Wiederholung der Szene und als er Beth erneut küsste, kam er nicht umhin, einen Gedanken zu fassen.

Erneut zog er sich zurück, sah in die glänzenden Katzenaugen Elizabeths und verdrängte das wütende Geschrei des Regisseurs. Sanft neigte er sich ein drittes Mal hinab, spürte, wie die Frau in seinen Armen weich und nachgiebig wurde, ehe er sie wieder und wieder küsste. Das zornige Gebrüll des Regisseurs war verklungen, vermutlich nahmen sie soeben jeden einzelnen Kuss detailgetreu auf, doch kümmerte es Liam in diesen Augenblick nicht. Er wusste nur, dass John keine zweite Chance bekäme, um Clairyce zu küssen, ebenso wenig wie er selbst, Liam. Somit kostete er sie vollkommen aus, spürte ihre nachgiebigen, weichen Lippen auf seinen, ihren warmen Atem, sofern er von ihr abließ, um selbst Atem zu schöpfen und ihre zartgliedrigen Finger, die durch sein Haar fuhren.

Als sie schließlich atemlos aneinander gelehnt vor dem rotgoldenen Sonnenaufgang standen, spürte Liam sein Herz mangels Sauerstoff hart gegen seinen Brustkorb schlagen. Schließlich löste er sich sanft von Beth, hob den Kopf und versuchte seinen Blick zu klären, sprach jedoch aufs Geratewohl in die vermutete Richtung des Filmverantwortlichen.

«Habt ihr das alles im Kasten, Leute?» Zustimmendes Gemurmel - und Liam erinnerte sich schmerzhaft daran, dass Elizabeth sich ihm schlagartig entzogen hatte. Sie war ihm entglitten.

 

Ohne einen Blick hastete die hochgewachsene Frauengestalt an ihm vorbei, schien ihn nicht wahrzunehmen oder aber vorsätzlich zu ignorieren. Flink setzte Liam ihr hinterher, schlüpfte kurz nach ihr in die Umkleide und schloss behutsam die Tür hinter ihnen. Als das leise Klicken des einrastenden Türschlosses durch die Stille klang, fuhr die junge Schauspielerin herum, als stünde ihr Leben auf dem Spiel.

Beruhigend hob er die Hände, sah den Ausdruck ihrer Augen und ließ die Arme langsam wieder sinken. «Beth, ich möchte nur reden. Bitte.»

Ihre Miene blieb hart und unnachgiebig, während sie mit dem ausgestreckten Arm auf die Tür verwies. «Raus hier, ich muss mich umziehen. Ich hab keine Zeit für dich, William.» Liam spürte die Enttäuschung durch seinen Leib schneiden, mühte sich um ein Lächeln und murmelte schließlich leise: «Es tut mir aufrichtig Leid, Elizabeth, dass ich dir deinen ersten Kuss gestohlen und ruiniert habe.»

Mit einem ungläubigen Geräusch, das entfernt an das Fauchen einer Katze erinnerte, fuhr sie zu ihm herum, die Hände angriffslustig in die Seiten gestemmt. Ihr Temperament überraschte ihn, hatte sie sich bisher beherrscht und reserviert gezeigt. Unnahbar.

«Du bist unmöglich! Es ging doch nicht ... darum!» Sie wedelte aufgebracht mit ihren Händen durch die Lüfte, brachte damit die Federboas zu ihrer Rechten in Aufregung und schlug sie ungeduldig beiseite. Immer größer wurde sein Erstaunen, ehe Liam sachte grinste und ihrem Wüten folgte. «Es war ... ein guter Moment, aber du hast ihn ruiniert. Zerstört.»

Der junge Mann fuhr sich seufzend durch das helle Haar und spürte, wie dies die Aufmerksamkeit von Elizabeth einfing, auf ihn direkt lenkte. Eine zarte Röte überzog ihren Hals, ob es nun Wut oder Scham war, vermochte er in diesem Augenblick nicht genau zu sagen. Langsam trat er näher an sie heran, während sie ihn misstrauisch musterte, ähnlich einer wild lebenden Katze.

«Verzeih mir, Liebes, doch dachte ich, dass dieser besondere Moment nur uns gehören soll. Niemandem sonst.» Ihre Augen weiteten sich, Erkenntnis flackerte darin auf, ebenso die Unsicherheit. Noch immer misstraute sie seinem Wort, den Dingen, die sie zweifelsohne gefühlt hatte, ebenso wie er. «Meine kleine Wildkatze aus dem Norden.» Er lächelte, zog sie in seine Arme und hauchte ihren Lippen einen hauchzarten Kuss auf. Sie erschauderte, schloss die Lider ein wenig und blickte zwischen ihren langen Wimpern hindurch zu ihm empor.

«Was bedeutet das nun?» fragte sie leise und vorsichtig küsste Liam ihr das Auge, kurz darauf das Andere.

«Das bedeutet» murmelte er dicht an ihrem Ohr und genoss das Gefühl ihrs wohligen Erschauerns in seinen Armen, «dass ich vorhabe, diese Szene mit dir zu üben. Wieder und immer und immer wieder.» Ihr leises, glückliches Lachen klang noch lange in seinen Ohren nach, selbst, als ihr die Luft zum Lachen fehlte.

«Küss mich bis zum Abspann, mein Held» murmelte sie und lächelte zu ihm empor. Dabei funkelte in ihren katzenhaften Augen unverhohlen der Schalk.

no. 4 # In der Dunkelheit

... fand ich Dich

 

Emily zog sich den Schal fester um den Hals. Immer wieder biss der kalte Wind in ihre ohnehin geröteten Wangen, ließ sie den Kopf immer wieder ein wenig einziehen, als könne sie sich somit vor dem Wind schützen. Leise seufzend blickte sie in den dunklen Abendhimmel hinauf, der sich drohend und erdrückend über ihrem Kopf ausdehnte und jedes Licht verschluckte. Immer noch nichts.

 

Seit nunmehr drei Wochen wartete sie sehnsüchtig auf die ersten, weißen Schneeflocken, die das Hereinbrechen des Winters ankündigten und vervollständigten. Immer wieder hatte die junge Frau hoffnungsvoll gen Himmel geblickt, nur um erneut enttäuscht zu werden. Fast schon aus Trotz hatte sie an diesem bitterkalten Nachmittag den ersten Weihnachtsmarkt in diesem Jahr aufgesucht, doch nun stand sie desorientiert und zitternd in der Kälte, unwissend, was sie allein hier tun sollte.

Fangen wir damit an. Ihr Blick war auf einen Crêpestand gefallen und mit einem leichten Lächeln machte sie sich zielstrebig auf, um sich in die Schlange einzufügen. Währenddessen warf sie immer wieder sehnsüchtige Blicke zum Himmel, der kontinuierlich dunkler geworden war, sodass jetzt bereits die ersten Lichter aufflackerten.

Fasziniert verfolgte Emily diesen Wandel, der über den gesamten Markt zu ziehen schien. Immer mehr Lichter erhellten den Markt, tauchten ihn in eine fast schon mystische Atmosphäre und ließen ihr Herz schwer gegen ihren Brustkorb schlagen. Hoffnung baute sich zart keimend in ihr auf, hervorgerufen durch diesen Anblick, der sie entrückt lächeln ließ. Ergriffen hielt sie den Atem an, als auch das letzte Licht seinen Platz gefunden hatte, kurz flackerte und schließlich seinen Weg fand.

Der Weihnachtsmarkt erstrahlte nun geradezu und auch die restlichen Besucher wandten begeistert die Blicke umher. Es war wunderschön.

 

«Nächster! Was soll's 'n sein?» drang die raue Stimme des Verkäufers an Emilys Ohr und desorientiert blinzelnd fiel ihr Blick auf sein grimmiges Gesicht. Ihn schien der Zauber der Weihnachtslichter nicht erreicht zu haben, ein Gedanke, der die junge Frau resigniert seufzen ließ, ehe sie einen Crêpe bestellte. Vermutlich würden nie alle Menschen den Zauber von Weihnachten begreifen können.

Langsam schlenderte sie über den Markt, besah sich die einzelnen Stände, an denen Glühwein, selbst gestrickte Mützen und Schals, Holzfiguren und allerlei andere Dinge verkauft wurden, blieb stehen und drehte sich um. Vor ihr lag der Weihnachtsmarkt, gehüllt in das warme Licht, welches einen Teil des dunklen Himmels zu vertreiben schien. Erneut keimte die Hoffnung in Emily auf, schickte ihren Blick kurz gen Himmel und einen inbrünstigen Gedanken hintendrein. Eine weiße Weihnacht ...

Versonnen lächelnd streckte sie ihre Hand zum tiefschwarzen Himmelszelt hinauf, spreizte ihre behandschuhten Finger und betrachtete diese gedankenvoll. Plötzlich schob sich eine größere Hand in ihr Blickfeld, leicht gerötet von der beißenden Kälte, und verschränkte seine Finger mit den ihren. Verblüfft sah Emily auf ihre ineinander verwobenen Hände, ehe sie mit einem Ruck zurückfuhr und sich dabei befreite. Breit grinsend ließ der junge Mann ebenfalls seine Hand sinken. «Noah» entwich es ihrer Kehle tonlos, der zuvor hoffnungsvolle Glanz erstarb augenblicklich und ließ im Dunkeln liegende Augen zurück.

«Wie schön, dich hier zu treffen, Mily. Bist du allein unterwegs?» Suchend blickte er um sich, in Erwartung eines bekannten Gesichtes. Ihre Antwort fiel knapp und distanziert aus, wenngleich der Schmerz darin für einen kurzen Augenblick spürbar wurde. «Ja. Allein. Was machst du hier?»

Bist du mit Elaine hier? Eine Frage, die sie sich nicht mehr gestatten würde, also überging sie seine Antwort indem sie ungeduldig mit der Hand wedelte, als wolle sie ihn verscheuchen.

«Egal. Ich muss dann mal wieder. Wir sehen uns.» Ohne einen weiteren, sehnsüchtig begehrten Blick auf sein Gesicht zu werfen, drehte sie sich herum, doch waren es seine Worte, die sie innehalten ließen. «Versuchst du mir auszuweichen, Mily?» Er klang verletzt, doch vermutlich war das auf ihre unerwiderten, missachteten Gefühle zurückzuführen. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die hämischen Worte von Elaine, welche wesentlich schneller begriffen hatte als Noah selbst.

«Was denn, hast du dich etwa in meinen Noah verliebt? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass jemand wie ...  du gegen mich ankommt?! Vergiss es, Aschenputtel, der ist nicht deine Liga. Nicht mal annähernd.»

 

Zähneknirschend wandte sie sich zu ihm herum, versuchte ihn zornig anzufunkeln, doch spürte sie entsetzt die Tränen aufkommen. Mühsam presste sie ein «Tschüs, Noah» hervor, ehe sie in die Menge eintauchte und rasch vor ihm floh. Natürlich versuchte sie einer Begegnung mit ihm zu entgehen, anders ließ sich die Gewissheit nicht ertragen, dass er unerreichbar für sie blieb.

Zudem nagten die Worte seiner Freundin Elaine stärker an ihr, als sie zugeben wollte und unwillkürlich fuhr sie sich über ihre schlichte, dunkelgrüne Winterjacke. Verärgert über den Einfluss, den ihre Worte auf sie ausübten, schüttelte Emily den Kopf und versuchte exzessiv, Noah und Elaine aus ihren Gedanken zu vertreiben. Mit nur mäßigem Erfolg.

Am Ende des Tages hatte sie keine einzige Schneeflocke gesehen und ihre Hoffnungen waren erneut grausam zerstört worden. Frustriert sank die junge Frau in ihr Bett, zog die Decke über den Kopf und grübelte die Nacht über Noah nach.

 

Sie hatten einander in der Grundschule kennengelernt, waren gemeinsam durch die üblichen Phasen gegangen, in denen Jungs blöd und Mädchen doof waren und schließlich sogar auf die gleiche Oberschule gewechselt. Allerdings begriff Emily ihre immer öfter aufkommende Nervosität in Gegenwart des Blonden anfangs erst als Missfallen, entwickelte er sich immer weiter in Richtung des allseits beliebten Schülerhelden. Erst nachdem sie dem wütenden Ausbruch einer Klassenkameradin beiwohnte, in welchem sie einen Jungen als unsensibel und hohlköpfig beschimpfte, überdachte Emily ihre Gefühle grundlegend. Schlussendlich war sie nahezu verstört gewesen, als sie begriff, weshalb ihr Herz raste, sobald sein Blick sie nur streifte und sie einer Ohnmacht nahe war, wenn er sie tatsächlich anlächelte. Sie hatte sich tatsächlich in diesen Jungen verliebt!

 

Stöhnend und von Kopfschmerzen als auch bruchstückenhaften Erinnerungen an ihre Träume geplagt, quälte Emily sich aus dem Bett. Noch während sie ihr Spiegelbild musterte, entschied sie, es für heute dabei bleiben zu lassen und verließ das Badezimmer frühstmöglich. Sie ertrug den Anblick ihrer offensichtlich geschwollenen Augen nicht.

Dummkopf! Nachdem die junge Frau eine Tasse Kaffee zu sich genommen hatte, fühlte sie sich wieder einigermaßen hergestellt, um der Welt erneut entgegenzutreten. Mit einem beherzten Schwung öffnete sie die Fenster - und fuhr angesichts der niedrigen Temperaturen schnaufend wieder zurück. Ein Blick auf das Thermometer verriet ihr, dass die Temperaturen um weitere drei Grad gefallen waren - und dies weckte die Lebensgeister Emilys wieder ein wenig. Für diesen Tag besaß sie bereits weitreichende Pläne, also zog sie sich rasch um, stürmte aus dem Haus und verdrängte weitere trübe Gedanken an den gestrigen Tag.

 

«Man könnte meinen, du verfolgst mich regelrecht.» Ein leises, wohlklingendes Lachen, ehe eine vertraute Gestalt vor sie trat. Allerdings schien es ihr, als fehle seinem Lächeln ein gewisses Etwas, als habe er den Glanz verloren, der sonst darin mitschwang. Genauso wie meine Hoffnungen sich zerschlagen haben, dachte sie bitter, versagte sich aber weitere Gedanken dieser Art. Diesen Tag wollte sie optimistisch angehen, doch seine Worte erleichterten ihr dies keineswegs. Viel eher schienen sie in ihr bereits gebrochenes Herz weitere Klauen zu schlagen, die daran zerrten, um es endgültig zu zerstören.

Wenn du nur wüsstest, Noah ...  «Unwahrscheinlich. Immerhin wohne ich hier, während du ... was machst du eigentlich hier?» Ihre Stimme klang verärgert, woraufhin sich eine Augenbraue des jungen Mannes verblüfft hob. Gutgelaunt erwiderte er schließlich, dass er auf der Suche war, wonach genau wollte er allerdings nicht verraten. Kryptisch erwiderte er augenzwinkernd: «Ich sag's dir, wenn ich es gefunden habe.»

 

Am Ende schlenderten sie einträchtig nebeneinander durch die Straßen ihres Wohnviertels, welches einen kleinen, aber anheimelnden Weihnachtsmarkt veranstaltet hatte. Es erschien Emily wie eine boshafte Wendung des Schicksals, dass nun ausgerechnet sie diesen Vormittag mit Noah verbringen sollte. Argwöhnisch sah sie in den Himmel, als er begeistert nach ihr rief.

Der Tag neigte sich dem Nachmittag entgegen und allmählich verspürte die junge Frau beinahe etwas wie Entspannung in seiner Nähe. Mit einem kleinen Lächeln lud er sie zu einem Stück warmen Baumkuchen ein und ehe sie sich versah, standen sie einträchtig am Tisch und aßen gemeinsam den süßen Kuchen.

Genüsslich schloss sie ihre Augen, kostete jeden Augenblick dieser Leckerei aus und seufzte zufrieden, nachdem auch der letzte Krümel gegessen war. Allerdings war es das leise Lachen Noahs, was ihr Herz für einen Schlag aussetzen ließ, denn sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, ein fast liebevoll zu nennender Zug um seine Mundwinkel. «Was?» fragte sie schnippisch, doch dies führte lediglich dazu, dass er breiter grinste, die Augen halb geschlossen.

«Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man behaupten, du hast seit gestern nichts mehr gegessen.» Auf ihre anfangs verdutzte, später bemüht beleidigte Miene hin lachte er lauthals, zog sie an sich und drückte sie noch immer leise kichernd gegen seine Brust. «Ich esse nur sehr gern. Das ist alles» brummte sie an seiner Brust, genoss das Gefühl seiner Arme um ihre Schultern und versteifte sich augenblicklich.

Das ist nicht gut! Vorsichtig, als sei er giftig, löste sie sich von ihm, klopfte ihm betont entspannt auf die Schulter und brachte rasch die Teller zurück. Ihr Gesicht glühte, das Herz barst ihr beinahe in der Brust und ihr Atem ging stockend. Das ist wirklich nicht gut!

Offenbar vermochte selbst ein gebrochenes Herz noch zu fühlen. Emily schluckte, spähte über ihre Schulter zurück und biss sich auf die Lippen, als sie seinen irritierten Gesichtsausdruck bemerkte. Es wurde allmählich Zeit, sich von ihm zu lösen. Doch allein dieser Entschluss ließ die junge Frau innerlich verkrampfen. Mit einem resignierten Seufzen kehrte sie zu ihm zurück, ließ ihn wissen, dass sie müde war und heim wollte. Er nickte, doch der wissende Glanz seiner Augen beunruhigte Emily. Er erbat noch einen letzten Besuch von ihr, dann wolle er sie zurück begleiten und in Ruhe lassen. Widerwillig stimmte sie schließlich zu, vermochte sie sich nicht von ihm zu trennen. Immerhin wäre dies vermutlich das letzte Mal, in welchem sie derart ungezwungen miteinander umgehen konnten.

 

«Wonach hast du eigentlich gesucht, gestern, auf dem Weihnachtsmarkt?» fragte er beiläufig, während er in den zweiten Gang wechselte und nach links abbog. Die Straßen wurden immer leerer, immer weniger Häuser säumten den Rand, dafür nahm die Anzahl der Bäume kontinuierlich zu. Nervosität breitete sich in Emily aus, doch sie zwang sich zur Ruhe.

«Nach Schnee» antwortete sie abgelenkt und bemerkte somit nicht den überraschten Blick des Blonden, den er ihr rasch zuwarf. Wohin bringt er mich?

«Was für eine Schuhgröße hast du eigentlich? Neununddreißig?» Nun sah sie ihm verblüfft entgegen, nickte langsam und erwiderte mit misstrauischer Miene: «Ja. Woher weißt du das?»

«Ich hab geraten. Hab anscheinend gutes Gespür für soetwas. Vielleicht werde ich ja Schuhverkäufer.» Er lachte, bevor er wieder ernst wurde und mit dem Kinn auf die Frontscheibe wies. «Wir sind da.»

 

Glänzend und unberührt erstreckte sich der See vor ihnen, erstarrt in einem trägen Tanz, den er erst wieder im Frühling vollführen würde. Ungläubig drehte Emily sich zu Noah herum. «Was bitte hast du vor?»

Während sie sich dem See genähert hatte, dessen glitzernde Oberfläche bewunderte, hatte er im Auto nach Dingen gesucht, die für sie ohnehin keinen Sinn ergaben. Nun reichte er ihr ein Paar Schlittschuhe, in seinen Augen funkelte der Schalk. «Wir fahren Schlittschuh. Ganz einfach.»

Kopfschüttelnd griff sie nach den dargebotenen Schuhen, zog diese vor sich hin murmelnd an und erhob sich schließlich würdevoll. Ihr geringschätziger Blick glitt einmal von oben nach unten und wieder zurück über die Erscheinung des jungen Mannes, dessen Wangen leicht gerötet waren und in dessen Augen ein nicht zu definierender Glanz schimmerte. «Dir ist bewusst, weshalb man mich früher 'Eisprinzessin' nannte?»

Er grinste. «Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Auf der Mitte gibt es eine Markierung.» Herausfordernd legte er den Kopf schief, wies galant auf die Eisfläche und wartete, bis auch Emily sich wieder an das ungewohnte Gefühl des Eises unter ihren Schuhen gewöhnt hatte. Er schien bereits öfter gelaufen zu sein, stand er in einer Selbstsicherheit neben ihr, das die junge Frau in ihrem Ehrgeiz anstachelte. «Dann ... los

Beinahe im gleichen Augenblick stemmten sich beide Kontrahenten kraftvoll nach vorn, holten schwungvoll aus und nahmen kontinuierlich Geschwindigkeit auf. Emily spürte den eisigen Wind nach ihrem Haar greifen, doch mit wild donnerndem Herzen hielt sie auf die Mitte des Sees zu, stets die leuchtend rote Markierung vor Augen. Immer wieder kratzten die Kufen über das Eis, hinterließen ganz eigene Spuren. Ihre Muskeln genossen die Anstrengung, doch je näher sie ihrem Ziel kam, umso hastiger ging ihr Atem. Nicht aufgeben, Mily! Du schaffst das! Nicht aufgeben!

Mit energischen Stößen jagte sie über das Eis, duckte sich tiefer dem Boden entgegen und lachte bereits angesichts des Sieges ausgelassen, als sich ein dunkler Schemen neben ihr abzeichnete. Noah. Schlagartig spürte sie das Adrenalin, das in wilden Schüben durch ihren Körper schoss, doch ganz gleich, wie energisch sie sich antrieb, am Ende gewann er mit einer Nasenlänge Vorsprung. Keuchend, auf ihre Knie gestützt, ließ Emily ihren restlichen Schwung ausfahren, erhob sich und streckte sich genüsslich. Ein feines Lächeln zierte ihre Lippen.

Ironischerweise fühlte sie eine innere Ruhe, ganz gleich, wie hart und hektisch ihr Herz in ihrem Brustkorb schlug. Das Gefühl ihrer vor Kälte brennenden Wangen, die Euphorie über die Bewegung, ihre Hoffnung, als dies nahm sie nur am Rande wahr. Sie war für diesen Augenblick mit sich selbst und ihren Entscheidungen seit Langem wieder einmal im Reinen.

 

Sachte tanzte eine kleine Schneeflocke vor ihren Augen zu Boden. Schweigend, den Blick noch immer auf den Punkt gerichtet, an welchem die Schneeflocke auf dem Eis aufgekommen war, hielt Emily inne. Plötzlich fuhr sie herum, die Wangen gerötet und die Augen glänzend, je mehr Schneeflocken um sie herum tanzten. «Noah!» Ihr Ruf hallte jauchzend über den zugefrorenen See, während sie die Arme in die Luft hob und sich langsam drehte.

«Noah, es schneit! Sieh nur, es schneit!» Sie lächelte selig. «Es schneit» flüsterte sie andächtig, ließ ihre Hände wieder sinken und starrte in den dunklen Nachthimmel hinauf. Lediglich das leise Kratzen der Kufen auf dem Eis verrieten der jungen Frau, dass Noah sich zu ihr gesellte, ebenfalls den Kopf in den Nacken legte und die Flocken beobachtete. Behutsam legte er einen Arm um ihre Schulter, zog sie dicht an sich und lächelte sanft, als sie sich vertrauensvoll gegen ihn lehnte.

«Es schneit» wiederholte sie leise, hob ihre Hand zum Himmel - und beobachtete schweigend, wie er erneut nach ihrer Hand fasste, seine Finger mit ihren verschränkte. «Ja, das tut es. Im Übrigen hab ich damit auch gefunden, was ich gesucht habe.» Er schmunzelte, als er ihre gerunzelte Stirn sah und zog sie mit sich, glitt langsam über das Eis, umgeben von still tanzenden Schneekristallen. «Verrätst du mir jetzt, was du gesucht hast?» fragte sie ihn leise, fast schon scheu und verblüfft ob dieser Wesensänderung hob er den Kopf, sah ihr zärtlich in die Augen. «Dich. So wie du bist.»

 

Seine Worte verwirrten sie, dennoch blieb sie bei ihm, konnte sich seiner Berührung nicht länger entziehen. Den Blick abgewandt, murmelte sie in seine Jacke hinein: «Das gefällt Elaine vermutlich nicht sonderlich.» Sie spürte seine angespannte Muskulatur, wusste nicht, ob es von der Anstrengung herrührte, sich selbst und sie aufrecht zu halten oder von anderen Dingen. «Was sollte es sie auch angehen? Nicht jeder meiner Familie ist mit meinen Entsch-»

«Wie bitte?! FAMILIE?» Noch während sie dies entsetzt ausrief, während ihre Stimme voller Hysterie brach, stieß sie ihn von sich, taumelte über das Eis und fing sich im letzten Augenblick. Gleich darauf hatte Noah sie bereits wieder eingefangen. «Ja. Elaine ist eine entfernte Cousine.»

Emily stöhnte und ließ ihre Stirn an seine Brust sinken, begann leise zu kichern, ehe sie lauthals in Gelächter auslöste. «Gott, ich LIEBE den Schnee!» rief sie, streckte ihre Arme nach hinten aus und ließ sich von Noah halten. Dieser, noch immer verwirrt, betrachtete ihr gelöstes Lächeln, beugte sich vor und murmelte: «Fast so sehr wie mich, mhm?» Sie sah ihm in die Augen, ihre Wangen brannten. «Du wusstest es?» Er nickte, verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen und wies auf die verschneite Landschaft um sie herum. «Allerdings fehlte mir eine grandiose Kulisse.» Irritiert runzelte sie die Stirn. «Wofür brauchst du denn eine Kulisse?» «Für dieses Versprechen, meine süße Mily.»

Noch während sie zu einer weiteren Frage anhob, neigte er sich zu ihr hinab und verschloss ihre kalten Lippen mit den Seinen.

Was für ein atemberaubendes Versprechen, Noah. Sie lächelte. Umgeben vom ersten, dickflockigen Schnee des Jahres wurde sie von jenem Mann geküsst, der ihr Herz zum Glühen brachte.

no. 5 # Mauerblumen erblühen allein

... und lieben still

 

In wirklich großen Geschichten heißt es immer, man erkenne jenen Menschen, dem die eigene Seele gehört, indem man auf das eigene Herz lauscht. Dem Klang seines Taktes, wenn es denselbigen verliert und dabei doch versucht, noch schneller voranzukommen, um den unermesslichen Gefühlen im Blut gerecht zu werden. Dem Geräusch des angehaltenen Atems im Augenblick der Erkenntnis, die über einen hereinbricht wie die Brandung, während erfolglos nach Worten gesucht wird.

Doch vor Allem heißt es in diesen großen Geschichten immer, dass auch eine unscheinbare Blume ihren Prinzen in glänzender Rüstung treffen wird.

 

Es entsprach vermutlich dem klassischen Clichée aus Twilight oder anderen jugendkulturellen Lektüren, doch anders als die Protagonisten besagter Bücher wusste Tallie, dass dieser erste Tag weder besonders ereignisreich, noch besonders unangenehm werden würde. Es lag weniger daran, dass die Allgemeinheit sie als unkompliziert einstufte, als viel mehr daran, dass sie kaum Jemand wahrnahm.

Ein omnipräsentes Lächeln, zart und unaufdringlich, hatte sich auf ihre Gesichtszüge gelegt, die, ebenso wie die gesamte Erscheinung der Schülerin, zurückhaltend und unscheinbar waren. Letztlich raffte sie ihre letzten Reserven an Optimismus zusammen, drückte die schwere Klinke der Tür hinab und sah sich einem halben Dutzend gelangweilter Gesichter gegenüber, welche sogleich das Interesse an ihr verloren, sobald sie ihrer ansichtig wurden. Gewohnheit.

Erleichterung breitete sich in ihrer Brust aus, während sie langsam den Raum betrachtete und sich dessen Eigenheiten sogleich vormerkte. Am Fenster machte die Wand einen unangenehmen Knick, dort saßen vermutlich die wenigsten Schüler. Es standen zudem zwei altersschwach wirkende Grünpflanzen auf einem selten genutzt aussehenden Bücherregal, während die künstliche Blume gleich neben dem Lehrerpult vor Vitalität zu sprühen schien. Schließlich bemerkte sie den Lehrer, trat an diesen heran und trug ihr Anliegen mit sanfter, aber leiser Stimme vor. Tallie wurde nie laut. Es brächte ihr ohnehin nur das kurzweilige Erstaunen der Anderen.

«Ah, richtig, heute sollte eine neue Schülerin kommen. Nun, setzen Sie sich doch in die erste Reihe, dort ist noch ein Platz frei» sagte er, wies mit einer Hand auf den Platz und widmete sich gedanklich bereits wieder dem Unterricht. Leise dankend vereinnahmte das Mädchen schließlich den Platz, erleichtert, vorläufig keine Unterhaltung betreiben zu müssen.

 

Er war ihr bereits aufgefallen, während sie mit vorsichtiger Achtsamkeit ihren neuen Mitschülern in die Kantine zum Mittag folgte. Sein arroganter Charme, die lässige Haltung und sein allgemein sehr anziehendes Äußeres prädestinierten ihn geradezu dafür, zum Herrscher gekrönt zu werden. Dass dies tatsächlich so war, sah Tallie bestätigt, sobald sie ihn in seinem natürlichen Umfeld beobachtete. Ohne Zweifel erhielt er bei Weitem mehr begehrliche Blicke, als er letztlich tatsächlich bemerkte, wusste sich Gehör zu verschaffen und dies optimal auszunutzen - denn keiner verweigerte diesem Schönling seine Aufmerksamkeit. Zudem umgab ihn diese einschüchternde Atmosphäre von Macht, um welche die Schülerin generell einen Bogen machte.

Lautlos und unbemerkt glitt Tallie durch den überfüllten Raum, wich ihren unbekannten Mitschülern gekonnt aus und mied vorläufig jedweden Kontakt. Schließlich fand sie einen unbenutzten Tisch weit abseits der meisten Schüler, ließ sich dort mit einem zufriedenen Laut nieder und betrachtete eingehend das Essen. Es ist besser als erwartet, dachte sie und lehnte sich in ihren Stuhl zurück.

Unwillkürlich musste sie lächeln, während Tallie sich daran zurückerinnerte, wie furchtbar ihre Magenschmerzen gewesen waren, wann immer sie die Kantine ihrer früheren Schule besucht hatte. Es war also definitiv eine Verbesserung – und es bekam ihrer Gesundheit wesentlich besser.

 

In den nachfolgenden Tagen eignete sich Tallie jede notwendige – und auch einige weniger nützliche – Information über die Schule an. Beginnend bei den Zimmern und dem System dahinter, bis hin zu den sozialen Rangordnungen und ihren Abstufungen. Obgleich sie solches Wissen bisher kaum anwenden musste, erschien es ihr doch sinnvoll, sich mit seiner Umgebung bestmöglich vertraut zu machen. Zudem sie bereits am zweiten Tag die Bibliothek in all ihrer Pracht gefunden hatte. Ein wahrer Glücksgriff.

Während ihrer einsamen Streifzüge durch das geräumige Schulgebäude und der sich an dieses anschließenden Anlagen, hatte sie bereits das ein oder andere Gesicht wieder gesehen, besonders eingeprägt hatten sich jedoch die Gesichtszüge des Schulprinzen: Niclas Barrow. Nics. Ein Kind aus gutem Hause und sehr wahrscheinlich Zeugnis einer Affäre, wobei nicht sicher belegt ist, wer der Eltern schuldig gesprochen werden musste: Niclas besaß zahlreiche inoffizielle Halbgeschwister.

Gedankenverloren folgte Tallie ihrem inzwischen gewohnten Trampelpfad hinunter zum Bach, dort, wo die Trauerweide ihre Äste tief genug über das Wasser hängen ließ, um es sachte zu berühren. Auf dem Weg dorthin jedoch bemerkte sie eine Silhouette, die sich geschickt von ihr entfernte, sobald sie den Kopf hob. Irritiert runzelte sie die Stirn. Eine graue Maus, dachte sie bei sich, denn anderen Individuen dieser Schule gelang es kaum, sich derart unbemerkt davonzustehlen wie der untersten – und unbemerktesten – Schicht der Hierarchien. Tallie kannte sich damit gut aus.

Neugierig drehte sie sich in die Richtung, achtete nicht auf ihren Weg und stolperte letztlich über die Wurzeln der Weiden. «Na hoppla» rief eine dunkle Stimme und wenig später entdeckte sie einen Kopf, der durch den Vorhang der Trauerweide hindurch zu ihr spähte. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, die Luft blieb ihr weg.

Nics! Was machte er hier?! Panik wallte in Tallie auf, ebenso wie ein anderes Gefühl, welches sie rigoros von sich zu weisen versuchte: Hoffnung. Konnte er sie womöglich in der letzten Woche beobachtet und hier schließlich auf sie gewartet haben? Tallie spürte bei diesem Gedanken eine kribbelige Wärme durch ihren Bauch strömen, schluckte und rappelte sich unter seinem eindringlichen Blick mühsam wieder auf. Augenblicklich senkte sie den Blick, als er sie erneut ansprach.

»Sag mal, dich kenn’ ich doch irgendwoher ...» Es war die unausgesprochene Aufforderung, ihm auf die Sprünge zu helfen und hastig nickte sie, froh, dass er sie überhaupt zu erkennen glaubte. «Ich bin ... Tallie. Vor einer Woche kam ich auf diese Schule.»

Unweigerlich musste sie an sein Verhalten in der Kantine denken, wie gut er in die wild grölende Menge gepasst hatte – und wie gut doch wieder nicht. Er stand allzeit im Mittelpunkt und stand doch immer irgendwie außen vor. Ähnlich wie die Unsichtbaren dieser Schule, ähnlich wie sie selbst, Tallie. Ein kurzes Nicken, begleitet von einem nachdenklichen Stirnrunzeln, bezeugte seine Zustimmung, woraufhin das Herz des Mädchens ungewohnt heftig in ihrer Brust zu springen schien. Allerdings zersprang ihre Hoffnung in schmerzhaft kleine Scherben, als er sich aus der Umarmung der Trauerweide befreite, fast schon gereizt nach den herabhängenden Ästen schlug und an ihr vorbeischritt, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

«Was ... wieso warst du hier unten?» platzte es schließlich aus Tallie heraus und unangenehm berührt ob ihrer recht brüskierenden Frage errötete sie. Ihr stand es im Prinzip nicht zu, aber dennoch fraß sich die Neugier durch ihren Körper wie die Hoffnung durch ihr Herz. Mit angehaltenem Atem starrte sie auf seinen breiten Rücken. «Zum Nachdenken. Ausspannen. Erholen. Such dir eines davon aus» erwiderte er unwirsch und verschwand ebenso ungesehen wie zuvor der Schatten.

 

Es hatte etwas Befremdliches an sich, diesen Ort zu betreten, nachdem ausgerechnet er hier gewesen war. Obgleich sich nichts verändert hatte, selbst die alte hölzerne Bank noch an Ort und Stelle stand, erspürte die Schülerin dennoch die Veränderung. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass dieser Ort des Rückzugs für sie nicht länger unberührt war. Nicht länger still in sich ruhend. Er war okkupiert.

Nachdem diese Erkenntnis sich ihr hart eröffnet hatte, wandte sie sich herum und beschloss, diesem Platz den Rücken zu kehren, ganz gleich, wie gern sie hier nachgedacht hatte. Es behagte ihr nicht, dass ausgerechnet Niclas diesen geheimnisvollen Ort kannte und womöglich seine Freunde hierher einlud. Aber vor Allem wollte sie seiner augenblicklich erkorenen Teilzeitfreundin nicht begegnen. Diese führte Tallie nur immer wieder die eigene Unzulänglichkeit vor Augen, eine Art der Aufmerksamkeit, auf die das unscheinbare Mädchen gern verzichtete.

Auch, wenn ich für ihn wieder hierher gekommen wäre, dachte sie mit klopfendem Herzen, ließ die Weide hinter sich und suchte die Bibliothek auf.

 

Manch ein Märchenprinz wehrt sich lange gegen seine Aufgabe.

Es war ein trübsinniger Gedanke, der Tallie nach beinahe drei Monaten an dieser Schule kam. Noch immer war sie dem inoffiziellen Schulprinzen weder näher gekommen, noch hatte sie ihn des Öfteren gesehen. Eigentlich hatte sie ihn lediglich aus der Ferne heraus leise und ungesehen beobachten können.

Allmählich verflüchtigte sich ihre Hoffnung, er könnte womöglich nur auf sie gewartet haben. Dabei sind wir dafür wie geschaffen, dachte sie betrübt und spielte mit dem Stift in ihrer Hand, er ist unangefochten der König und ich bin die neue graue Maus an dieser Schule. Eine bessere Kombination gibt es gar nicht. Sie seufzte leise, hob allerdings ruckhaft den Kopf, als ihr der Stift entglitt und geräuschvoll zu Boden fiel. Tallie presste die Lippen nervös aufeinander, sah sich betreten um – doch niemand beachtete sie. Nicht einmal der höchst wachsame Bibliothekar Mr. Crow.

Noch während sie sich wieder herumdrehte und sich hinabbeugen wollte, spürte sie eine fremde Präsenz dicht neben sich stehen. Als sie ihrer ausgestreckten Hand mit den Augen zum Boden folgte, fehlte der Stift, doch stattdessen sah sie ein Paar abgetragener Sportschuhe an seiner Statt. «Verzeih, aber ich vermute, der gehört dir?»

Eine angenehm ruhige Stimme erklang und instinktiv blickte Tallie empor – und schämte sich ihres ersten Gedankens fast augenblicklich. Eine graue Maus. Er war durchschnittlich groß, besaß keine herausragenden körperlichen Merkmale und war weder außergewöhnlich attraktiv, noch ungewöhnlich unansehnlich. Er war der Durchschnitt.

«Ah, Dankeschön.» Vorsichtig nahm sie ihm den Stift wieder ab, musterte seine Gesichtszüge und hatte das Gefühl, als kenne sie ihn entfernt. Oder als habe sie ihn bereits einmal gesehen.

«Ich bin Oscar, Parallelklasse von Niclas.» Soll bedeuten, man nimmt ihn nicht weiter wahr, angesichts des weißen Prinzen. Tallie schluckte, lächelte nervös und stellte sich ebenfalls leise vor. Knapp nickte der junge Mann, verabschiedete sich devot und entschwand lautlos. Der Schatten! Ihr war es, als müsse sie sich lediglich den weichen, leicht nachfedernden Gang des Anderen näher besehen, um die Ähnlichkeit zu erkennen. Kurz darauf holte die Erinnerung sie an diese wenigen, achtlos verlebten Sekunden unbarmherzig ein. Doch als sie sich nach Oscar umsah, war er verschwunden.

Ebenso wie das Gefühl, in der Einsamkeit endlich einen Gleichgesinnten gefunden zu haben.

 

«Korrekt, Miss Lane. Vielen Dank.» Stolz durchwirkte jede Faser ihres Körpers, als der Lehrer ihr ein knappes, anerkennendes Nicken schenkte. Er galt als streng, dennoch besaß er die bei Weitem beste Quote. Ob es lediglich an seinen archaischen Methoden lag oder aber schlicht daran, in seinen Augen nicht als ungenügend gelten zu wollen, doch kaum ein Schüler versäumte während der Schulstunden bei Mr. Braham dessen Lektionen. Zudem sie sich am Ende des Jahres durchaus bezahlt machten, wie Tallie feststellen sollte.

Dementsprechend euphorisch verließ die Schülerin nach Stundenschluss den Raum und rief erstaunt seinen Namen, als sie ihn einige Meter weiter aus einem anderen Zimmer treten sah. «Oscar!»

Ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen, als er sie erkannte, woraufhin Beide dezent erröteten. Gewöhnlich hielten sich die Unsichtbaren dieser Schule fern von Anderen, ebenso von Ihresgleichen. Umso mehr überraschten seine Worte sie. «Hast du Zeit?»

Tallie nickte. Fast schon im gleichen Augenblick grinsten sie einander an.

Irgendetwas hat sich verändert, überlegte das Mädchen, während sie Oscar folgte. Die Frage blieb nur, was genau sich verschoben hatte.

 

«Du wirkst ... zufrieden» bemerkte Oscar wenig später vorsichtig und reichte ihr eine Serviette, die sie leise dankend entgegen nahm. Verwundert sah sie ihm in die Augen, bemerkte darin den Glanz von Metallstaub und spürte ihr Herz seltsam unregelmäßig schlagen.

«Wie kommst du darauf?» Er zuckte die Schultern, mied ihren Blick, sah in den blauen Himmel, der sich über ihnen erstreckte. Intuition.

Sie nickte bedächtig. «Ja. Du kennst Mr. Braham?» Oscar nickte, während er schweigend sein Brot neben ihr aß. «Seit Wochen bemühe ich mich, lerne und bereite mich vor, aber heute hat alles geklappt. Irgendwie hat einfach ...» «Alles gestimmt» half er ihr aus und lächelte. Tallie tat es ihm gleich, folgte dem verworrenen und doch strukturierten Muster seiner Augen, in denen die grauen Schlieren über das helle Grün zu wabern schienen. Irritiert zuckte sie zurück, schüttelte kurz den Kopf und konzentrierte sich auf ihr Mittagessen.

Sie saßen wieder einmal gemeinsam an einem der steinernen Tische, betrachteten die stille Landschaft vor und den weiten Himmel über ihnen. Es hatte etwas Friedliches an sich und in diesem Augenblick fühlte das Mädchen sich entspannt wie lange nicht mehr. Wenngleich ein Blick genügte und sie ihren Puls überdeutlich spürte. Es war verrückt.

«Da ist Niclas. Wir sollten langsam zusammenräumen» bemerkte Oscar einige Zeit später, doch war es der angespannte Klang seiner Stimme, die sie verwundert seinem Blick folgen ließ. Noch im selben Augenblick setzte ihr Herzschlag aus. Niclas Barrow, umgeben von Mädchen, eine schöner als die Andere. Offensichtlich buhlen sie um seine Aufmerksamkeit, als auch um den Platz an seiner Seite, der seit Kurzem wieder freigegeben wurde. «Vor nicht einmal langer Zeit war ich ähnlich» murmelte Tallie, doch schien Oscar sie nicht gehört zu haben und so half sie ihm schließlich beim Einpacken.

 

«Tallie!» Anfangs erschrocken drehten sich vier Gesichter in die Richtung des Ausrufes, ehe sich zwei davon hämisch grinsend wieder umwandten, ihrem Opfer entgegen. Das Atmen fiel der Schülerin immer schwerer, je länger sie aus brennenden Augen zu Oscar starrte, der seinen Blick nicht von ihr abzuwenden vermochte. Bitte geh wieder, flehte sie stumm, doch seine Aufmerksamkeit wurde durch die großgewachsene, männliche Gestalt von ihr gelenkt, die sich nun gelassen von der Tischtennisplatte abstieß, an welcher sie zuvor gelehnt hatte.

«Ich gebe dir genau zwei Optionen, Shortie», mit der Andeutung eines weichen Lächelns legte Niclas dem Kleineren einen Arm um die Schulter, drehte ihn zu der bizarren Szenerie und wies auf die drei am Boden ineinander verkeilten Gestalten, «du kannst deiner Freundin heldenhaft zur Rettung eilen und dabei weit mehr als deine Kronjuwelen verlieren ...», er machte eine kurze Pause, «oder du verpisst dich und hast nie etwas gesehen.»

Schweigen senkte sich über die Beiden, während Tallie in ohnmächtiger Verzweiflung dazu verdammt war, schweigend zuzusehen. Angst hatte die Panik längst ersetzt, während sich das Knie ihres Peinigers langsam zu ihrer Kehle vorarbeitete. Die Luft wurde ihr knapp.

Bitte, bitte, BITTE! Verschwinde einfach, Oscar! Ich flehe dich an! Mit verschwommenem Blick starrte sie auf die beiden Menschen, die sie nur noch als Silhouette wahrnehmen konnte, schluchzte leise, als sie die Antwort ihres einzigen Freundes hörte. Er klang angespannt, doch zum Äußersten bereit. Dennoch war die Angst nicht aus seiner Stimme zu verbannen.

«Das klingt mir ... nach recht ... einseitigen Optionen, Barrow.» Niclas lachte erstaunt, klopfte dem Anderen kräftig auf die Schulter und schüttelte noch immer lachend den Kopf. «Du bist also einer von Denen. Einverstanden. Wenn wir unsere Antworten haben, überlassen wir sie dir. Dann kannst du dich austoben.»

 

Es gab Augenblicke, in denen schien die Welt ihren Atem angehalten zu haben. Tallie tat es ihr gleich, spürte die Spannung auf ihrem Brustkorb wachsen und hustete schließlich ihre versiegte Hoffnung in die Welt hinaus. «Ich habe die Ergebnisse nicht, Niclas! Das musst du mir glauben!» Allerdings wusste sie ebenso wie ein Ertrinkender, dass er starb, dass Niclas ihr nicht glauben würde. Er hatte ihren Beteuerungen zuvor nicht geglaubt, weshalb also sollte er es jetzt tun?

«Beeil dich ein bisschen, Shortie, wir haben nicht ewig Zeit» gemahnte Niclas nun bereits etwas ungehaltener zur Eile. Die Pause verstrich in wenigen Minuten, bis dahin müssten die Verhandlungen beendet sein. Verschwinde, Oscar, wollte sie flüstern, doch ihr gelang es nicht einmal mehr, einen richtigen Ton hervorzupressen. Röchelnd schnappte sie nach Luft, während der zunehmend unruhigeren Blick Oscars auf ihr ruhte. «Also gut, fein, okay! Aber bitte, hol deine Freunde von ihr runter, sie erstickt ja fast!»

Mit einer knappen Geste seines Kopfes rief Niclas besagten Freund zurück und mit hilfloser Panik schnappte Tallie erleichtert nach Luft. Ihre Lungen brannten, die Gelenke schmerzten und der kalte Boden tat sein Übriges dazu. Erschöpft rollte sie sich auf die Seite, hörte nur dumpf die Stimmen der Anderen.

« ... lasse mir doch ... wie dir sagen .... tun und lassen ... Verpiss dich!» Damit kehrte Oscar ihr den Rücken zu, sprintete los und zählte verbissen jede Sekunde mit, die verstrich, während Tallie sich ihrem Alptraum gegenüber sah.

 

Eine sanfte Berührung an ihrer Schläfe genügte, um sie gepeinigt einen Laut von sich geben zu lassen. Leise sprach Jemand zu ihr, doch weigerte Tallie sich, nach den Qualen der gefühlten Stunden überhaupt noch einmal die Augen zu öffnen. Jedes Mal, wenn sie es getan hatte, erwartete sie doch nur wieder das widerwärtige Grinsen der drei Männer, ehe ihre Schmerzen einen neuen Grad erreichten.

Jetzt allerdings strich ihr eine Hand zärtlich über das Haar, ein grotesker Unterschied zu all den Tritten, Schlägen und Demütigungen zuvor. Vorsichtig öffnete sie die Lider, blinzelte gegen die Helligkeit an und erkannte die Gestalt, welche sich tief über sie gebeugt hatte. Oscar.

„Was machst du hier?“, wollte sie fragen, doch lediglich ein krächzender Laut verließ ihre Kehle. Suchend sah der Junge um sich, fand ein gefülltes Wasserglas und half Tallie, sich aufzusetzen, um etwas zu Trinken. Dabei sah er sie unverwandt an und konnte sie zu Anfang auch nicht diese dunkle Trübheit seiner Augen erklären, wusste sie jetzt, dass er sich schuldig fühlte.

«Es tut mir Leid, Taliah. Ehrlich. Es ... ich ... es tut mir Leid.» Zu mehr war er nicht mehr fähig, denn er wusste, er konnte nichts anderes sagen. Tallie nickte knapp, machte schreibende Bewegungen mit ihrem Zeigefinger und hielt kurz darauf Block und Stift zwischen den Händen.

Wieso hast du es überhaupt versucht?, schrieb sie und sah ihm dann ernst in die Augen. Er lächelte kurz gequält auf, griff behutsam nach ihrer Hand und legte die Seine nochmals darüber.

«Weil du mir in den Wochen eine Freundin geworden bist. Eine Vertraute. Außerdem ...» Er räusperte sich leise, blickte auf ihre Hände hinab. Tallie spürte ihr Herz schmerzhaft gegen ihre geprellten Rippen schlagen, spürte das Adrenalin durch ihren Körper fluten und ihre Atmung aussetzen. Das ist doch nicht möglich ...?

Er nahm ihr den Stift aus der anderen Hand, zog den Block zu sich heran und schrieb einige wenige Worte auf das Papier.

Drei Worte sind zu wenig für dich. Drei Worte. Drei schlichte, einfache Worte und er maß ihnen nicht genügend Bedeutung bei, um sie für sie in den Mund zu nehmen.

Drei Worte, die er nicht aussprechen wollte, weil sie nicht alles auszudrücken vermochten. Drei Worte. Und Tallie verstand.

 

Dann sag mir alles. Ich werde zuhören, schrieb sie, legte den Stift beiseite und drehte ihre Hand, sodass die Innenfläche nach oben zeigte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als er seine Hand vorsichtig in ihre legte. Schließlich begann er mit leiser Stimme.

«Ich liebe dich. Es ist eine Phrase, die ich zu oft gehört habe, als dass sie das ausdrücken könnte, was ich empfinde, wenn ich bei dir bin. Du machst mich glücklich, Tallie. Wenn du lachst, erstrahlt meine Welt und wenn du betrübt bist, möchte ich bei dir sein, um dir beizustehen. Sie kann nicht einmal annähernd beschreiben, wie entsetzt ich mich fühlte, als ich dich am Boden liegen sah, dieser ... Mensch auf dir. Es war, als würde ich die Welt aus den Angeln heben müssen und gleichzeitig fühlte ich mich so hilflos wie noch nie. Ich liebe dich kann den Schmerz nicht aufwiegen, den du ertragen hast, kann dich nicht heilen, dir nicht helfen. Doch ich ... ich kann es. Ich werde es. Ich möchte es können. Denn wenn du fällst, will ich derjenige sein, der dich auffängt. Sollte ich nicht die Kraft dafür aufgebracht haben, sollte ich aus nicht zu entschuldigenden Gründen deinen Sturz nicht verhindert haben können, werde ich bei dir sein und für meine Fehler geradestehen. Gleichzeitig möchte ich dir helfen können, möchte deine Genesung herbeiführen, wenn ich schon nicht deinen Sturz verhindern konnte. Aber vor allem möchte ich der Ritter sein, der zu deiner Rettung eilt, ganz gleich, wie groß die Gefahr ist. Denn du bist meine Prinzessin, Tallie, die ich beschützen möchte, egal, wie schwach ich mich fühle. Und deshalb genügen diese drei Worte nicht. Niemals. Nicht für dich.»

Sie lächelte noch immer, konnte es nicht verbergen, konnte ebenso wenig die in ihr rasant erblühte Hoffnung in Keim ersticken – sie wollte es nicht. Die Wärme seiner Hand füllte sie aus, hüllte sie ein und ließ sie sich in ihrer Antwort sicher sein, nachdem die Stille den kleinen Raum zurückerobert hatte.

«In großen Geschichten heißt es immer, dass selbst die unscheinbarste aller Blumen ihren Prinzen in glänzender Rüstung finden wird, aber mein Prinz stellte sich als giftiger Drache heraus.» Entzückt über seinen Gesichtsausdruck lachte sie leise, hielt sich aber schnell wieder zurück, als sie ihre Rippen wieder spürte. Leise fuhr sie fort. «Ich möchte weder den Prinzen, noch das Clichée dazu. Auch bin ich nicht erkoren, den Prinzen zu lieben, sondern den weisen König.» Erneut lachte sie leise, als die Erleichterung sein Gesicht zeichnete, ehe er sich erneut zu ihr beugte und sie sanft küsste.

«In gewisser Weise danke ich ihm für sein Unwissen in Botanik.»

«Botanik?» fragte sie erstaunt, während er ihr zärtlich über die lädierte Wange strich. Er nickte mit spitzbübischem Grinsen.

«Sonst hätte er diese wunderschöne Blume hier für sich beansprucht und dann wäre ich machtlos gewesen. Besiegt, noch ehe der Kampf begonnen hätte. Soll er doch die Disteln und Kürbisse und Fliegenfänger alle haben.» Mit einem weichen Lächeln auf den Lippen strich sie mit ihrem bandagierten Arm über seine Wange, liebkoste seine Lippen und sah ihm in die Augen.

«Vielen Dank.» Ich war nicht auserkoren, das Mauerblümchen zu sein, welches unter den Händen des Prinzen zur vollen Pracht erblüht. Ich war dazu erkoren, eine weitaus schönere Mauerblume zu finden. Tallie schloss lächelnd die Augen, genoss das Gefühl seiner sie liebkosenden Hände und war glücklich.     

no. 6 # Brüderchen, komm tanz

... mit mir 

 

 

Lange Zeit nutzte ich den Regen, um mich zu reinigen. Dann lief ich hinaus, hob die Arme gen Himmel und schloss die Augen, in der aberwitzigen Hoffnung, wenn ich sie öffne, steht er neben mir und lacht.

Doch das geschah nie.

Stattdessen floss der Regen meinen ausgemergelten Körper hinab, ließ mich zitternd und frierend allein zurück, ehe mich jemand fand und schnell wieder zurück ins Haus brachte. Nicht selten danach bekam ich eine schwere Lungenentzündung, doch noch heute denke ich jedes Mal, es bringe mich näher an ihn heran.  Das tat es natürlich nie und mit der Zeit verlor ich auch diese Hoffnung im Sumpf des Erwachsenwerdens.

Heute erinnere ich mich nur noch selten an diesen sensiblen Jungen, der mir so viel mehr bedeutet hat als mein eigenes Leben. Ehe er fort war, mit grausam entrissen wurde und nie wiederkehrte.

Der Junge, der mich sterben ließ. Dean.

 

«Dana? Kommst du bitte, Schatz?» Die Stimme Elvas hallte durch das große Haus bis zu mir hinauf und mit leisem Ächzen erhob ich mich, griff nach den Krücken und brachte meinen zerrissenen Körper hinunter in die Welt der Realität. Der Gegenwart.

Die uralten Fotoalben ließ ich aufgeblättert liegen.

« ... hoffe sehr, er wird dich berücksichtigen, Liebling ... hättest es verdient ...» Die leisen Stimmen meiner Paten drangen sachte bis zu mir, erinnerten mich an die stummen Zwiegespräche, die Dean und ich stets miteinander geführt hatten. Es ähnelte der zwischenmenschlichen Kommunikation, wie sie bei einzelnen Paaren gelegentlich vorzufinden ist, war allerdings um ein Vielfaches stärker ausgeprägt bei uns. Kurzum, wir haben einander auch wortlos verstanden und das weit mehr als nur gut.

Meine Patin, Elva, hob den Kopf, während sie ihrem Mann Stewart die Krawatte band. Ein feines, ehrliches Lächeln glitt über ihr erschöpftes Gesicht, bevor sie sich mit zuwandte.

«Ah, da bist du ja schon, Dana. Warst du wieder auf dem Dachboden?» Mit mildem Tadel in den alten Augen sah sie liebevoll zu mir empor, tätschelte meine Wange und griff nach einem Paar stilvoll verzierter, hochhakiger Schuhe. Widerwillig verzog ich die Lippen. Elva sah es – natürlich. Sie verstand mich inzwischen besser als die meisten Menschen in unserem Umfeld, doch sie würde mich nie zur Gänze begreifen. Dafür war in meinem Herzen nicht genügend Platz für sie.

«Bitte, Dana. Zieh sie an, sie sind bequem. Niemand wird bemerken, dass dein Bein künstlich ist.» Womit sie wohl oder übel Recht hatte, die ästhetische Chirurgie hatte wahre Wunder vollbracht – doch sie hatte mir nicht mein eigenes Bein wieder bringen können. Nichts und niemand würde das. Dennoch schüttelte ich trotzig mein langes Haar, drehte mich halb von Elva und den Schuhen fort, betrachtete mein störrisches Spiegelbild. Eine junge Frau, schmal im Gesicht und viel zu ernst, auf eine hölzerne Krücke gestützt, obgleich dafür augenscheinlich kein Anlass bestand. Dass ich mein rechtes Bein weder spüren, noch bewegen würde, wusste niemand, erahnte es nicht einmal. Eine perfekte Kopie, die mich jeden Tag auf ein Neues an meine eigene Unzulänglichkeit erinnerte. Daran, dass die Prothese perfekt war, ich aber nicht.

«Nein.» Als habe Elva meine Körpersprache nicht schon unmissverständlich deuten können, warf ich ihr dieses eine Wort bestimmt und unnachgiebig entgegen. Niemals. Mit einem deprimierten Seufzen suchte meine Patin Hilfe bei ihrem Mann, der vorgeblich äußerst beschäftigt mit seinem gut sitzenden Krawattenknoten war.

«Dana, bitte. Es sind lediglich Schuhe, nur für diesen einen Abend. Stewart braucht die Unterstützung seiner Familie.» Nur würde ich nie Teil dieser Familie werden, dachte ich bitter und verschränkte die Arme vor der Brust. Elva erbleichte, als habe sie meine Gedanken erraten. Schließlich ließ sie die Hände mit den Schuhen sinken, betrachtete mich nochmals eingehend, dann stellte sie das Paar ordentlich zurück an ihren Platz. Es würde sehr wahrscheinlich nie von mir getragen werden.

Ebenso wenig, wie ich mich als Teil dieser fremden Welt fühlen würde. Als Teil dieser fremden Familie.

 

Allmählich ebbte der infernalische Applaus ab. Erleichtert atmete ich auf, spähte um mich herum und entdeckte gerade einmal eine Handvoll junger Menschen in meinem Alter, die ebenso gepeinigt und gelangweilt wirkten wie ich mich fühlte. Nachdenklich betrachtete ich ein Mädchen, welches genüsslich gähnte und dafür von ihrer Sitznachbarin leise zischend gerügt wurde. Das Mädchen gähnte ein zweites Mal hinter vorgehaltener Hand, grinste spitzbübisch und verdrehte die Augen, als ihre Benimmlehrerin sich leise über ihren Schützling ausließ. Unsere Blicke trafen sich für einen Augenblick, doch ich lenkte meine Aufmerksamkeit rasch auf andere Menschen, die belanglos und langweilig wirkten.

Das Mädchen hingegen ging mir nicht mehr aus dem Kopf und während die Abschlussrede von Stewart gehalten wurde, erinnerte ich mich an Dean. Sein Lachen war ansteckend gewesen, seine gute Laune ebenso groß wie der Ideenreichtum für allerlei Schabernack. Irgendwie erinnerte mich das Mädchen ein wenig an ihn und allein für diesen Gedanken hätte ich sie ebenso umarmen wie erwürgen können. Zornig ballte ich die Hand zur Faust, versuchte das Inferno zu vergessen, in welchem sein rußgeschwärztes Gesicht mir Hoffnung zu machen versuchte. Die Erinnerungen wurden immer blasser, immer fadenscheiniger, je öfter ich sie abrief, doch sie waren auch zu Beginn nie wirklich deutlich gewesen. 

Das würden sie in Zukunft auch nicht mehr werden, wie ich wusste. Sie verblassten, ebenso wie meine emotionale Brücke zu jenem imaginären Dean, der mich verstand und mir jeden Morgen ein müdes, aber aufmunterndes Lächeln schenkte. Es würde nie wieder so sein wie damals.

Nie wieder.

 

«Dana? Hierher, Liebes, ich möchte dir jemanden vorstellen.»

Missmutig und zudem gepeinigt von Schmerzen, die mir kein Arzt erklären konnte und kein Psychologe lindern wollte, näherte ich mich Elva und Stewart. Mein Pate wirkte euphorisch und vorsichtig zugleich, während seine Frau Elva angeregt mit einer Frau ihres Alters sprach.

Eine weitere, intakte Familie. Es grauste mir davor, zu lächeln, so zu tun, als seien wir in ewiger Liebe verbunden, obgleich mich mit meiner Patenfamilie nach beinahe sieben Jahren nicht mehr verband als mein Nachname und der Wohnsitz. Es würde Elva vermutlich das Herz zerreißen, wenn sie diesen Gedanken kennen würde, doch insgeheim würde auch sie mir Recht geben müssen.

Wir waren nicht viel mehr als eine Farce; die desillusionierte Hoffnung auf ein besseres Leben, was sich nicht einstellen würde. Lautlos seufzend straffte ich die Schultern, strich über mein knitterfreies Kostüm und blickte auf. Blickte meinem persönlichen Albtraum entgegen.

«Darf ich Ihnen vorstellen, das ist Dana, meine Tochter. Dana, das ist Travis Hollister», Elva wies auf einen Mittfünfziger mit grauen, kurz geschorenen Haaren und einer Brille, «ein Investor und sehr guter Freund.»

Ich fragte mich, ob das eine das andere bedingt hatte, schwieg aber wohlweislich. Seine Frau, Helen Hollister, war klein und ein wenig untersetzt, wirkte jedoch von Grund auf ehrlich und optimistisch. Naiv. Merkt vermutlich nicht mal, dass ihr Mann mit dem Kindermädchen schläft.

«Und das ist Andrea, die Tochter von Travis und Helen. Wie alt ist sie? Sie müsste im gleichen Alter sein wie du, Dana.» Fragend sah meine Patin zu den Eltern des Kindes, die sich in Anekdoten ergossen, wie lange es nun schon her sei und dass die Zeit vergehe. Das lag in der Natur des Menschen, immerhin erneuerte sich der Zellhaufen namens Mensch nicht von Irgendwoher. Aber über solche Dinge würde ich nicht diskutieren, nicht hier, nicht jetzt – nicht mit diesen Menschen.

«Andie.» Es war das erste Mal, dass ich das Mädchen anschaute, welches mir jetzt die Hand reichte und mir dabei ernst in die Augen sah. Es überraschte mich, dass es ausgerechnet das Mädchen gewesen war, welches ich zuvor in der Menge beobachtet hatte. Ein kleines, nicht ehrlich gemeintes Lächeln zuckte um meine Lippen, während ich ihre Hand ergriff. Ihre Eltern und meine Paten unterhielten sich bereits wieder, ignorierten ihre Kinder oder aber überließen sie sich schlicht sich selbst. Inzwischen war ich den Anblick abgewandter Eltern gewohnt, doch das beklemmende Gefühl blieb.

Anders als ich, würde Andrea – Andie – später zurückkehren, in eine perfekte Familie, in ein fast perfektes Leben. Mein Groll auf sie wuchs, denn während ich um mein Leben kämpfen und Deans Tod mit ansehen musste, wurde sie von Kindermädchen behütet. Vermutlich wüsste sie nicht einmal etwas mit dem Wort Verlust anzufangen, immerhin gab es derartiges in einer Welt wie der Ihren nicht.

In einer perfekten Welt.

 

«Auf Wiedersehen, Elva. Stewart.« Die Männer nickten einander zu, ehe sich die beiden Familien wieder trennten. Kaum, dass Familie Hollister fort war, atmeten meine Paten tief ein, lächelten einander an und verließen mit mir diesen grauenhaften Ort.

Andie und ich hatten – bis auf eine äußerst kurz geratene Unterhaltung – geschwiegen. Auf ihre Äußerung hin, dass ich einem Freund von ihr sehr ähnlich sähe, erwiderte ich lediglich, dass sie Miss Piggy ähnelte. Danach nahm das gemeinschaftliche Schweigen beinahe eisige Züge an, von denen die Erwachsenen natürlich nichts bemerkten.

«Dana, du bist so ruhig. Ist alles in Ordnung, Liebes?» Besorgt drehte Elva sich auf dem Beifahrersitz zu mir nach hinten um, runzelte die Stirn, als sie mein düsteres Gesicht bemerkte und musterte mich daraufhin etwas gründlicher. Doch strafte ich sie mit eisigem Schweigen, wie zuvor Andie und ihre perfekte Familie, sodass sie sich seufzend wieder ihrem Gatten zuwandte.

Auch an diesem Abend nahm ich die Beinprothese ab, spürte aber noch immer den als allgemein deklarierten Phantomschmerz. Es mochte seltsam für Außenstehende sein, doch sie hatten keine Ahnung, wie seltsam es für mich war. Immerhin starrte ich fassungslos auf den Stumpf meines rechten Beines, wusste, dass es unwiederbringlich fort und demnach gefühlstaub war, dennoch spürte ich den nagenden Schmerz der Fäulnis noch immer in meinen Knochen.

Ein Arzt hatte erwähnt, dass der Körper nicht vergaß, ebenso wenig wie der Geist, nur das Beide unterschiedliche Varianten gefunden hatten, damit umzugehen. Der Geist zerfiel, der Körper leugnete. Irgendwie zumindest.

Ich wusste nicht, ob es am Ende nicht eventuell diese innere Zerrissenheit war, die unvollkommene Menschen wie mich in den Wahnsinn trieben. Wer wollte schon emotional zum Krüppel werden, weil er sich Schmerzen einbildete, die weder erklärbar, noch wirklich real waren?

Wütend starrte ich mein Spiegelbild an, versuchte dem bohrenden Blick meiner Augen zu entkommen und wusste doch, dass ich noch immer ihn darin sehen würde.

Dean. Auch er war unvollkommen für unsere Welt gewesen, seine Barmherzigkeit hatte ihn schwach und fehlerhaft werden lassen. Es sollte ihn am Ende das Leben kosten und mir hatte es alles genommen, was mir von unserem zerrütteten Leben noch geblieben war.

Frustriert und gereizt hievte ich meinen Körper zum Bett, ließ mich hinein sinken und starrte auf die vom Lampenlicht erhellte Zimmerdecke. Wenn Dean und ich tatsächlich einmal den Luxus eines solchen Zimmers genießen konnten – fließend Wasser, Strom, ein sauberes Bett – hatten wir Schatten über die Wände tanzen lassen. Dabei war Dean stets erfinderisch genug gewesen, um mir Glauben zu machen, wir würden in einer Welt voller Feen und verzauberten Vögeln leben, die auf uns aufpassten.

Nur das die Realität uns Beiden mehr und mehr auf die Fersen kam, ehe sie über uns hinwegrollte wie die Gerölllawine, in der viele unserer Freunde gestorben waren. Damals hielt mich einzig unsere unverfälschte Liebe auf den Beinen, heute wusste ich teilweise nicht einmal mehr, wieso ich mir das überhaupt noch antat.

Innerhalb dieser sieben Jahre, in denen der Platz an meiner Seite stets leer und verlassen war, hatte ich jede Illusion verloren. Meine Welt war nicht nur geschrumpft; sie war aus ihren Angeln gehoben und eliminiert worden.

Mit feuchten Wangen löschte ich das Licht und starrte noch lange in die dunkle Nacht hinaus.

 

Es sollte sich zeigen, dass der freundschaftliche Kontakt meiner Paten zu Familie Hollister tatsächlich nennenswerte Früchte getragen hatte, wenngleich diese indirekt eine Bedingung stellte. Elva, Stewart und ich waren zu einem offiziellen Empfang der Hollisters geladen und natürlich wurde von uns exaktes Benehmen gefordert. Erst danach würde man der Sache Stewarts weiteres Augenmerk schenken.

Noch jetzt, zwei Stunden später, spürte ich den beklommenen Seitenblick von Elva, die stumm ihre Hände miteinander rang. Stur hatte ich geradeaus gestarrt, weigerte mich, einzusehen, dass auch ich geladen war, obgleich von Familie Benedict die Rede war. Ich schnaubte höhnisch.

Nun jedoch saß ich, mein rechtes Bein abgestreckt, an einem üppig mit weißen und roten Orchideen geschmückten Tisch, während Elva und Stewart das Tanzbein schwangen. Allein der Anblick ließ mich sie in die tiefsten und dunkelsten aller Kerker verwünschen, ebenso wie den Rest der Abendgesellschaft.

Einige jüngere Gentlemen, vermutlich angehende Millionärserben und Vorstandsvorsitzende, hatten bereits versucht, mich höflich zum Tanz zu bitten, doch inzwischen hatte mein charmantes Wesen nahezu jeden Einzelnen von ihnen vergrault. Nur eine Einzige blieb beständig in meiner Nähe, betrachtete argwöhnisch mein schlichtes, dunkles Kleid und ließ mich kaum aus den Augen: Andie.

Letztlich trieb sie die Neugier – oder war es schlicht der Blutdurst? – zu mir an den Tisch. Ungefragt ließ sie sich neben mir auf einen freien Stuhl sinken, was ich mit gelüfteter Augenbraue verfolgte. Benimm und Anstand also, Mr Hollister? Beginnen Sie bei Ihrer Tochter, verdammt!

Weshalb ich ausgerechnet sie derart faszinierte, dass sie glaubte, mit mir Konversation betreiben zu müssen, blieb mir ein Rätsel. Ebenso mein gärender Hass auf sie.

«Also gut.» Andie sah sich kurz um, ehe sie ihre Ellenbogen auf den Tisch pflanzte und mich herausfordernd ansah. Stirnrunzelnd ließ ich ihr die Freude. «Nachdem du sowohl meinen Bruder Henry, als auch dessen Freunde ausgeschlagen, meinen Cousin vermutlich traumatisiert und die weibliche Gästeschar gegen dich aufgebracht hast, will ich dir eine Frage stellen: Wer zum Teufel bist du?»

Misstrauisch sah ich sie an, schwieg beharrlich. Andie fuhr unbeirrt fort, mich zu mustern, sich jedes kleinste Detail meines Gesichts anzusehen, als könne sie dadurch erkennen, wer ich früher einmal war. Doch das war ein anderes Leben gewesen, eines mit Dean an meiner Seite. Ausgelöscht.

Da die junge Hollister allem Anschein nach lediglich mit Antwort von Dannen ziehen würde, holte ich kurz Luft und sah sie kühl an. Meine Stimme klang ruhig, aber darüber hinaus spürte ich die Ablehnung darin klingen wie das Eis des Winters. «Es ist erstaunlich, eigentlich habe ich mir von dir mehr erwartet. Immerhin soll die Hollisterlinie einige unglaubliche Gedächtniswunder hervorgebracht haben. Du bist wohl keines davon, wie mir scheint.»

Ich lächelte unverbindlich, nahm einen kleinen Schluck des angebotenen Weins und schob das Glas behutsam wieder ein wenig zurück, zur Mitte des Tisches. Mein Blick fand Andies mit grausamer Zielgenauigkeit. «Ich bin Dana Benedict. Wir haben uns gestern auf der Spendengala zum ersten Mal getroffen.»

Zorn verdunkelte die ohnehin schon dunklen Augen Andies, die ihre Hand kurz ballte und wieder entspannte, ehe sie sich mühsam beherrscht vom Tisch erhob. Feindselig funkelte sie auf mich hinab; wüsste ich nicht, wie unelegant es aussehen würde, ich hätte mich ebenfalls erhoben, um auf Augenhöhe zu sein. So blieb ich jedoch stur sitzen.

«Fein, Dana Benedict von der Spendengala.» Sie spie es mir beinahe entgegen und meine Mundwinkel zuckten kurz. «Dann also nichts weiter als ein selbstmitleidiger Trauerkloß, der die Spülung verstopfen wird. Auf Wiedersehen

Damit stapfte sie empört davon, während ich meinerseits verblüfft blinzelte. Selbstmitleidiger Trauerkloß? Verstopfte Spülung? Was genau hatte das zu bedeuten? Verdammt, wollte dieses Weib mich verarschen?

 

Es hieß stets, Freud und Leid lägen dichter beieinander, als man es sich zu glauben wagte, ebenso sehr wie Liebe und Hass. Es waren lediglich zwei absolut konträre Emotionen, beide jedoch hatten die äußerst unangenehme Eigenschaft, zu absolutem Fehlverhalten einzuladen.

Mein Zorn auf Andie und deren bodenlose Unverschämtheit wuchs mit jedem Schritt, den sie sich von mir entfernte. Mit einem Mal war es mir gleich, ob die zerbrechliche Liebe meiner Paten zu mir bestehen würde, ebenso sehr, wie die entsetzten Blicke der Gästeschar, sobald sie mein humpelndes Gangbild bemerkten. Mich als minderwertig und unvollkommen bezeichnen würden, wenn auch gewiss nie laut in solch illustren Kreisen.

«Andie!»

Erstaunt und verärgert drehten sich einzelne Gäste nach mir um, folgten meinem unruhigen Lauf mit den Augen und vergaßen mich gleich darauf wieder, während meine Zielperson lediglich kurz zurückblickte. Danach entschwand sie meinem Blick, indem sie plötzlich nach rechts wich und hinter einem der zahlreichen Partyzelte verschwand.

«Das gibt’s doch nicht!» knurrte ich ungehalten, eilte so schnell es mir möglich war hinter die Plane und doch fehlte von Andrea Hollister jede Spur.

 

Letztlich kapitulierte ich gereizt, humpelte unter Schmerzen in das prunkvoll eingerichtete Haus und suchte die Waschräume auf. Allein die Gewissheit, dass Familie Hollister für nicht einmal ganz zwölf Personen mitsamt Personal sowohl vier großräumige Badezimmer besaß, als auch nochmals zwei kleinere Waschräume, ließ mich erneut in Rage geraten.

Dean hatte gehungert, damit wir ein wenig Ware besaßen, die wir mühsam für ein Nachtlager eintauschten, unwissend, wie zwei kleine Kinder sonst hätten überleben sollen. Es war eine harte Zeit gewesen, doch war sie gesegnet von Liebe und Zuwendung. Heimat.

Andrea Hollister besaß all dies, ohne sich dem Wert dahinter bewusst zu sein.

Mit einem Mal brannten die alten, verhassten Tränen in meinen Augen, während ich mich mühevoll zu Boden gleiten ließ und das Gesicht zwischen den Händen vergrub. Mehr denn je schmerzte der Verlust meines einzigen Seelenverwandten, der mir letztlich auf das Grausamste geraubt und entrissen worden war. Für mich hatte er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, nur, um mich schlussendlich doch zu hintergehen.

Verraten von dem, den ich glaubte, zu lieben. Wofür? Es waren raue Zeiten gewesen, Frauen wurden vergewaltigt, Kinder ermordet und Familien auseinander gerissen, ohne sich je wieder sehen zu können. Für zwei junge Menschen wie uns, unfähig, allein zurechtzukommen, bedeutete ein solches Umfeld emotionales Fiasko.

Es bedeutete den Tod.  

Also hatte Dean mich zurückgelassen, war aufgebrochen mit unserer letzten Ration Brot, das wir uns tags zuvor mühsam gestohlen hatten. Noch heute erinnerte ich mich an die fadenscheinigen, zarten Narben auf der Haut des Jungen. Gezeichnet durch die geübten Bewegungen eines Schneiders.

Er ließ mich zurück, zitternd, hungrig und einsam. Keine Stunde später, nachdem er fort war, schlugen die nächsten Bomben über uns ein und verstümmelten mich. Er hatte mich zum Sterben zurückgelassen.

Allein.

 

«Dana?»

Eine Stimme, weit entfernt und doch vertraut scheinend, näherte sich mir vorsichtig an. Es war ein beruhigend dunkles Timbre, weich und nachgiebig, dennoch wich ich unwillkürlich ein wenig zurück, das Gesicht abgewendet. Stewart setzte sich zu mir.

«Wir haben dich gesucht. Alles in Ordnung?» Er wirkte verunsichert, wusste nicht mit mir umzugehen und doch sehnte ich mich fast schon schmerzhaft danach, Gewissheit zu haben. Gewissheit darüber, dass ich mit Deans Verrat nicht alles verloren hatte, was mich damals ausmachte, nicht jeden Lebensfunken erlischen ließ. Hart schluchzte ich auf, dämpfte das Geräusch mit dem weichen Stoff meines Kleides und versuchte den irrationalen Schmerz lediglich auf mein Bein zu übertragen.

Stewart lehnte den Kopf gegen die kühlen Kacheln des Waschraumes, sah sich kurz um und lachte leise. Irritiert und verärgert, wie er lachen konnte, während ich neben ihm hockte und heulte, sah ich zu ihm auf.

Erleichterung stahl sich in seinen Blick und für diesen eigenen Augenblick meinte ich beinahe etwas wie einen Funken Dankbarkeit für ihn tief in meinem vernarbten Herzen zu spüren. Kurz, aber bedeutend.

«Es ist seltsam: Früher wollte ich immer in solch einem pompösen Schloss wohnen, mit Kinkerlitz und Kleinkram, ganz wie hier.» Er machte eine allumfassende Bewegung und seufzte tief. «Aber heute nicht mehr. Heute ist es gleich, wie mein Heim aussieht, solange es nur mein Heim ist.» Aus dunklen Augen sah mein Pate mich an, lächelte kurz, ehe er sich erhob und mir leicht über den Kopf strich.

Eine Geste, die so wenig zeigte und doch weit mehr bedeutete. Erst, als sich die Tür hinter Stewart leise klackend schloss, spürte ich, dass meine Tränen versiegt und der Schmerz verschwunden war.

Heimat. Und ich begann zu verstehen.

 

Es wurde Zeit.

Behutsam schritt ich den einsamen Steg entlang, bis ich den kleinen Pavillon erreichte und über den See blicken konnte. Leise zirpten die ersten Zikaden in meiner Nähe, vereinzelt flogen die Vögel über meinen Kopf dahin und ich spürte einen lauen Wind auf meinen Armen.

Freiheit. Es mochte nicht viel bedeuten in einer Welt, in der alles bezahlt und erkauft werden konnte, doch erst die unabdingbare Liebe zu Dean hatte mir die Augen geöffnet. Erst Dean hatte mir gezeigt, was es bedeutete, wahrhaftig frei zu sein. Frei in seinen Entscheidungen, frei in seinen Gedanken, frei in seinem Leben.

Unterworfen von Angst und Wut hatte ich vergessen, was es bedeutete. Lautlos seufzend schloss ich die Augen, breitete die Arme aus und lächelte.

«Dana, NEIN!»

Irritiert drehte ich mich, während Andie und ein junger Mann auf mich zugerannt kamen, ungemein panisch und leichenblass. Vollkommen außer Atem riss Andie mich zu sich herum, warf uns mit ihrem Schwung zu Boden und hielt mich fest an sich gedrückt. Schwer atmend rang sie um Worte, während ihr Begleiter, die Hände auf den Knien abgestützt, schweigend zu uns hinab sah.

 «Was sollte das ... werden ... wenn’s fertig ist?» keuchte Andie, starrte mich in einer Mischung aus Wut und Furcht an, noch immer nicht bereit, mich loszulassen. Verblüfft schüttelte ich den Kopf, unfähig, zu begreifen, was sie dort eben getan hatte.

«Wenn du ... dich umbringen willst ... tu’s, aber bitte ... nicht auf meinem See.»

Für zwei Herzschläge lang starrten wir uns grimmig in die Augen, ehe ich das zarte Flattern in meiner Brust realisierte und begann zu lachen.

Hoffnung. Ruppig und gesegnet durch viel zu viel, war Andie in mein Leben getreten, hatte es nun vermeintlich gerettet und ließ mich seit Langem wieder das Gefühl genießen, geliebt zu werden. Hoffnung zu haben. Immer flacher ging mein Atem, bis ich letztlich lachend und japsend kapitulierte und mich aus den Armen des Mädchens kämpfte.

Und während ich mich auf die Beine kämpfte, trat Andies junger Begleiter dicht zu mir heran, sah mir in die Augen und ließ mein Blut gefrieren.

 

Niemand hatte je davon erfahren.

Nie war jemand lange genug bei uns gewesen, um es zu bemerken; nie war jemand uns so nahe gekommen, dass er es hätte bemerken können.

Helles Blassblau. Helles Blassgrün.

Die Wissenschaft hatte diesem Phänomen die Bezeichnung Heterochromie gegeben, für uns war es der endgültige Beweis gewesen, dass wir zusammengehörten. Auf ewig.

Und nun blickte ein Paar beinahe identischer Augen auf mich, näherte sich mir weiter, bis sich unsere Stirn berührte. Ein Geheimnis zwischen Dean und mir. Ein ewiges Geheimnis.

«Dean...» flüsterte ich erstickt. Behutsam stich er eine Haarsträhne aus meinem Gesicht, lächelte kläglich und ließ mich Teil an seiner Trauer haben. Wehmütig schloss ich die Augen, wollte zurück in bessere Zeiten, die gefährlicher waren, aber auch intensiver. Wimmernd schlang ich die Arme um den Nacken meines lange verschollenen Zwillings, konnte mein Herz bersten und die Lungen kollabieren spüren.

«Du bist wieder da. Bei mir.» Kaum verständlich wisperte ich gegen seine Lippen, konnte das zarte Nicken spüren und öffnete die Augen. Sein Blick folgte meiner Körperlinie bis hinab zu meinem rechten Bein, ehe er kläglich lächelnd wieder in meine – unsere – Augen sah.

«Er hat die Zunge vermutlich durch Terroristen verloren, die ihn für einige Monate gefangen gehalten haben.» Andie war zu uns getreten und entsetzt umfasste ich meinen verlorenen Bruder fester, unfähig, etwas zu sagen. Kurz drückte er meine Schulter, trat einen Schritt zurück und sah mich fragend an. Lächelnd legte Andie jedem von uns einen Arm um die Schulter und führte uns Richtung Garten zurück.

«Ich denke, wir werden uns viel zu erzählen haben.»

 

Letztlich waren es Andies Beharrlichkeit und mein eindrucksvoller Charme, der Familie Hollister und meine Paten davon überzeugte, mir noch ein wenig Zeit bei Andie zu lassen. Dass ihr Freund Dean einen nicht unerheblichen Teil dazu beitrug, erfuhr kein Elternteil.

Wie es schien, hatte Dean nicht mit dem Gedanken leben können, ausgerechnet seine kleine Schwester nicht ausreichend beschützen zu können, sodass er beschlossen hatte, mich an das ansässige Waisenhaus zu verkaufen und selbst eine Möglichkeit zu finden, unser Leben zu verbessern. Dass mir ein Leben an der Seite meines Zwillingsbruders bereits Grund genug gegeben hatte, um glücklich zu sein, wollte er dabei nicht hören und noch jetzt funkelten seine Augen erbost, als wolle er mir drohen, jetzt schon zufrieden zu sein mit dem, was wir hatten.

Andie übermittelte zwischen uns, denn anders als ich verstand sie die Gebärdensprache meines Bruders eindeutig und vermochte diese für mich in Worte zu transferieren.

Es wurde eine ausgedehnte Nacht und nachdem Andie vollkommen erschöpft eingeschlafen war, blieben Dean und ich allein zurück. Doch wie früher spürte ich die Gewissheit seiner Liebe dicht neben mir pulsieren wie seinen kräftigen Herzschlag. Die Gewissheit ließ mich lächeln.

Nach sieben von Hass zerfressenen Jahren konnte ich endlich verzeihen, konnte begreifen, was es für eine Qual für meinen Bruder gewesen sein musste. Wie er allmählich und noch vor mir begriff, dass wir gemeinsam nicht würden überleben können, egal, wie groß seine Bemühungen auch sein würden.

Und nun spürte ich seinen Körper nach Jahren der Leere und Einsamkeit wieder neben mir, spürte, wie er allmählich entspannte und dicht an mich gedrängt einschlief. Als seien wir nie getrennt gewesen.

Endlich waren wir wieder ein Ganzes.

Vollkommen

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.12.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all diejenigen, die sich die Romantik erhalten haben.

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