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Seine Fußspuren im Sand waren mein einziger Anhaltspunkt. Sie führten direkt am Meer entlang, als hätte er einen Pfad für mich getrampelt, dem ich einfach nur zu folgen brauchte. Er hatte mich angewiesen, hierher zu kommen, doch noch hatte ich ihn nirgends entdecken können. Ihn, meinen Bruder.

Die untergehende Sonne tauchte alles in goldenes Licht, das Meer, den Strand selbst die Klippen. Das Wasser funkelte, als wäre es mit tausenden kleiner Diamanten besetzt. Ich fröstelte, nur mit Top und kurzer Hose bekleidet. Allmählich wurde ich müde; ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Seit gefühlten zehn Stunden folgte ich seinen Spuren, die ins Nichts zu führen schienen, in der Hoffnung, ihn zu finden.
Sein Anruf am Vortag kam völlig überraschend. Vor einem Jahr hatten wir das letzte Mal miteinander gesprochen. „Komm morgen um 19 Uhr an den Strand.“ Nur dieser eine Satz. Dann legte er auf. Seine Stimme klang ernst, müde und irgendwie traurig. Ich war verwirrt; dachte, er hätte einen Scherz gemacht oder sei betrunken. Ich rief ihn zurück, aber er hob nicht ab.

An den Strand kommen… Der Strand war mehrere Kilometer lang und ich hatte keine Ahnung, wo genau mein Bruder auf mich warten würde. Trotzdem beschloss ich hinzugehen ich machte mir eben Sorgen um ihn.

Ich lief tatsächlich wie ein Idiot seinen Spuren nach, keine Menschenseele weit und breit, nur hin und wieder eine Möwe.

Ein paar hundert Meter vor mir sah ich etwas auf dem Boden liegen. Ich begann zu rennen; war neugierig. Ein wenig skeptisch griff ich nach dem braunen Knäuel vor mir, es war seine Jacke. Seine einzige Jacke. Das Arbeitslosengeld reichte nicht für eine weitere. Vor einem Jahr hatte er seinen Job verloren und anscheinend keinen neuen gefunden. Lange war es her, dass ich mit ihm darüber gesprochen hatte. „Du packst das schon“ und „Kopf hoch!“ war alles, was ich zu ihm sagen konnte, obgleich ich wusste, dass ihm das am allerwenigsten half. Aber wie hätte ich, die erfolgreiche Karrierefrau, ihn trösten können? Vielleicht hätte ich mir mehr Gedanken über ihn machen müssen.

Ich krampfte meine Finger fest in den warmen weichen Stoff und sog den typischen Duft meines Bruders ein, der sich in der Jacke verfangen hatte. Warum lag sie hier herum? Hatte er sie verloren? Oder als eine Art Hinweis für mich liegen lassen? Was auch der Grund war, ich musste herausfinden, was hier los war.

Ich setzte meinen Weg fort, immer den Fußspuren nach. Kleine Wellen schwappten leise an den Strand; kühler Wind pfiff mir um die Ohren. Früher waren mein Bruder und ich unzertrennlich gewesen. Doch wir hatten uns auseinander gelebt, er war seinen Weg gegangen und ich meinen eigenen. Vielleicht hätte ich öfter mit ihm reden müssen.
Der Strand machte eine weite Rechtskurve und mündete in eine kleine Bucht. Weiter rechts, wo der Sand in festen Boden überging, führte ein Kiesweg hinauf auf die Klippen, die knapp zwanzig Meter hoch waren. Und zu diesem Weg führten seine Spuren. Wachsende innere Unruhe erfüllte mich. Was wollte er denn um Gottes Willen auf den Klippen? Ich lief schneller, im Jogging tempo.

Dort, wo der Kiesweg begann und somit auch seine Fußspuren endeten, fand ich eine Zigarettenschachtel seiner Lieblingsmarke. Vor zwei Jahren war er endlich zur Besinnung gekommen und hatte das Rauchen aufgegeben, doch der Lungenkrebs war schneller. Eine Operation, Chemotherapie, Bestrahlung, was hatte er nicht alles durchgemacht. Den Krebs hatte er schlussendlich besiegt, aber zu welchem Preis? Mehrere Monate war er stationär im Krankenhaus; besucht hatte ich ihn nur zwei Mal. Vielleicht hätte ich mir mehr Zeit für ihn nehmen müssen.

Ich folgte weiter dem Kiesweg, der steil bergauf führte. Die kleinen Steine bohrten sich wie Nadeln in meine nackten Fußsohlen. Als sollte ich für mein Verhalten bestraft werden.
Ich kam zu einer Gabelung, von der ein Weg nach rechts weiter ins Festland hineinführte und ein anderer nach links ganz nach oben auf die Klippen. Die Entscheidung, welchen Weg ich einschlagen sollte, hatte mir mein Bruder bereits abgenommen. Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich in die Hocke ging, um einen Ring aufzuheben, der auf dem linken Weg lag.

Es war der Ehering meines Bruders… Grausame Bilder bauten sich vor meinem geistigen Auge auf, als ich mich an den Autounfall erinnerte, bei dem seine Frau ums Leben gekommen war. Ich selbst hatte die Unfallstelle gesehen, das komplett zerstörte Auto, mit dem sie frontal auf einen Baum geprallt war. Immer hatte er gesagt, er hätte ihren Tod überwunden, er stehe wieder mitten im Leben. Doch während ich verlegen den Ring zwischen meinen Fingern hin und her drehte, wurde mir schnell bewusst, dass er ihren Verlust nie wirklich verkraftet hatte. Vielleicht hätte ich mich mehr um ihn kümmern müssen.
Ich schlug also den linken Weg ein, der ganz nach oben auf die Klippen führte. Mein Herzschlag dröhnte mir wie Pauken in den Ohren; ich fühlte mich mehr als unbehaglich. Jeder neue Schritt fiel mir schwerer als der Vorherige.
Wie oft hatte ich das Telefon in der Hand gehalten und überlegt, ob ich meinen Bruder anrufen sollte, nur um den Gedanken schlussendlich doch wieder zu verwerfen? Wie oft hatte ich daran gedacht, mich einfach ins Auto zu setzen und zu ihm zu fahren?
Nie hatte er mir Vorwürfe gemacht. Das tat ich jetzt stattdessen selbst. Ich fühlte mich wie der Teufel höchstpersönlich.

Ich bog um die letzte kleine Kurve, dann stand ich oben auf der Klippe- und brach zusammen. Mein Herz raste, ich schnappte nach Luft, Tränen ließen meine Sicht verschwimmen.
Vorne, ganz vorne am Rand der Klippen standen ordentlich nebeneinander gestellt seine Schuhe.
„Dort wo du jetzt bist, brauchst du keine Schuhe mehr“, flüsterte ich.

Ich wollte schon gehen, doch irgendwie konnte ich es nicht. Wie auch, mein Bruder hatte sich umgebracht und ich hatte Schuldgefühle und stand an seinem Todes-Ort. Was sollte ich nur machen? Ich wusste es nicht, ich setzte mich auf den Boden und dachte darüber nach, weshalb ich ihn nie besucht hatte, weshalb ich sonst nie angerufen hatte… Jedoch kamen mir diese Gedanken jetzt angesichts der Tatsache, dass mein Bruder sich umgebracht hatte so komisch dass ich unwillkürlich anfangen musste zu Lachen. Ich stand auf und ging zum Rand der Klippe. Ich schaute hinab ins kristallklare Wasser. Mir lief ein Schauer über meinen Rücken und hatte das Gefühl beobachtet zu werden. Ich drehte mich um und ging ein Stück von der Klippe weg. Ich schaute mich um, sah aber nichts. Ich setzte mich auf einen der großen Felsen und dachte selber über mein eigentlich so erfolgreiches Leben nach. So toll kam mir mein Leben jetzt gar nicht mehr vor. Ich fasste einen Entschluss. Ich wollte nicht mehr Leben, wenn er nicht mehr war. Es ging nicht, wir beide hatten unsere Eltern bei einem Schiffsunglück verloren und er noch zusätzlich seine Frau. Nein, niemand konnte mit solch einer Last leben.
Ich ging wieder ein Stück runter und sah eine kleine Fläche an der Seite der Klippe. Dort lag jemand. Ich rannte, ich rannte so schnell ich konnte. Als ich sah dass es mein Bruder war der auf dem Bauch dort lag, flammte in mir ein Funken Hoffnung auf. Ich drehte meinen Bruder um und erschrak als er sich bewegte und wurde bleich.

„Hallo, Susannah! Du bist endlich da, ich hatte schon auf dich gewartet.“
Ich trat einen Schritt zurück und schaute ihn verdutzt an.

„Ich dachte du wärst tot!“, sagte ich.

„Was?!“ Er stand auf und kam auf mich zu. „Wieso dachtest du ich wäre tot?“ Er sah mich entgeistert an.

„Unten am Strand, habe ich deine Jacke gefunden, oben an der Klippe standen deine Schuhe und vorher auf der Weggabelung lag dein Ehering. Ist das nicht Indiz genug dafür?“

„Oh, nein, ich hab meine Jacke vorhin gesucht, als mir kalt wurde und als ich sie hier oben nicht fand, dachte ich, ich hätte sie Zuhause gelassen. Den Ring hatte ich vom Finger abgemacht, aus Angst ihn im Wasser zu verlieren und habe ihn mir somit in die Hosentasche gesteckt. Mir fällt gerade ein, dass sie ein Loch hat, welches ich noch nähen wollte. Und die Schuhe stehen oben gut, da ich sehen möchte, ob der Wind stark genug ist, um sie hinunter zu wehen. Wenn ja möchte ich die Windstärke messen und es mit schwereren Gegenständen ausprobieren.“

„Aber wieso liegst du hier oben auf einer kleinen Plattform in einem Klippen Vorsprung?“

„Ich erforsche die Meere mit allen Lebensformen und ihren Kräften. Ebenso untersuche ich Plankton und ich hab gerade in dieser Höhe „Phytoplankton“ gefunden."

...

"Susannah, ich habe einen neuen Job!"

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.12.2012

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