Cover

Vorwort

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig.

Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.

 

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Kapitel 1

Mit zittrigen Händen verstaute ich meine letzten Sachen in die Kiste. Er würde jeden Moment zurückkommen und bis dahin wollte ich alles, was wirklich mir gehörte, zusammengepackt haben. Tja, das war es dann wohl wirklich gewesen. Ich seufzte und schaute mich noch einmal im Wohnzimmer um. Hier hatten wir über drei Jahre schöne Momente erlebt, mit Freunden zusammengesessen oder gefeiert, und auch ruhige und kuschelige Abende zu zweit verbracht. Ich hatte ihn wirklich geliebt und tat es auch immer noch. Doch irgendwann musste ich einfach einsehen, dass es vorbei war.

„Du verlässt mich also?“, hörte ich seine tiefe, durchdringende Stimme hinter mir. Ein Schauer lief mir über den Rücken, denn so viele Male hatte er mit dieser meinen Namen gestöhnt, mich zum Lachen gebracht oder auch mit mir gestritten. In diesem Moment fragte ich mich, ob er mich wirklich geliebt hatte. So, wie er es mir tausend Mal versprochen hatte. Im Nachhinein denke ich, dass es bestimmt einmal so gewesen war.

Ohne ihm zu antworten klappte ich den letzten Karton zu und schob ihn zu den restlichen, die sich fein säuberlich aufgestapelt im Eingangsbereich unserer Wohnung befanden. Da war es schon wieder. Wann hatte es eigentlich aufgehört unsere Wohnung zu sein? Ich fühlte mich hier schon lange nicht mehr wohl!

Vor etwa zwei Jahren hatte es bereits angefangen. Ich hatte ihn einmal erwischt, zweimal, und irgendwann hatte ich aufgehört zu zählen. Es tat jedes Mal weh, doch ich wollte unbedingt mit ihm zusammenbleiben. Er schwor mir seine Liebe, schwor das es das letzte Mal gewesen war, doch aufhören tat es nie. Im Gegenteil, wo er es vorher noch offensichtlich getan hatte, zog er sich immer mehr zurück, kam später nach Hause oder viel zu oft sogar gar nicht. Ich hatte irgendwann einfach aufgehört zu fragen, wo er sich schon wieder rumgetrieben hatte, denn die Antwort war klar. Arbeiten!

„Hast du mich überhaupt geliebt?“ Keine Ahnung ob ich die Antwort wirklich hören wollte. Eigentlich war es doch auch egal. Ich hatte diesen Schlussstrich gezogen, nicht er. Auch wollte ich ihm keine Vorwürfe machen. Viel zu spät hatte ich es endlich geschafft ihm zu sagen, dass ich mit seinen Techtelmechtel außerhalb unserer Beziehung nicht einverstanden war. Vielleicht hatte ich zu wenig Selbstvertrauen, aber die Angst ihn zu verlieren, war immer da gewesen. Ich wollte ihm einfach gefallen, nicht wie ein kleines eifersüchtiges Mädchen ankommen. Aber dann war es schon zu spät.

Ich schloss die Augen und hatte schon damit gerechnet keine Antwort mehr zu bekommen, da wurde ich am Handgelenk zurück gerissen. Erschrocken sog ich den Atem ein und knallte mit einem dumpfen Laut mit dem Rücken gegen die Wand.

„Was glaubst du denn, Ian?“, Marc brummte mir mit seiner verführerischen Stimme ins Ohr. Dies ließ mir einen Schauer über den Rücken jagen und ich war wie versteinert. Meine Knie wurden weich und ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Wann hatte Marc mich das letzte Mal so angefasst? Wann hatte er mich überhaupt in letzter Zeit angefasst!

Mit einem „Lass es uns noch einmal tun…“, zog Marc mich von der Wand weg, in Richtung Schlafzimmer.

Mit einem Mal überkam mich eine eisige Kälte. Eine Kälte, die ich die letzten Monate schon gespürt hatte. Marc stieg mit anderen Kerlen ins Bett. Das wusste ich. Und ich wusste auch, dass es ihn in diesen Momenten einen Scheißdreck interessierte, wie ich mich dabei fühlte.

Mit einem Ruck riss ich mich los, schnappte mir meine Jacke und ging zielstrebig auf die Haustür zu. Ich musste mich dringend zusammenreißen und meinen viel zu schnellen Puls in den Griff bekommen.

„Man Ian, nun sei nicht so!“

Was bildete dieser Kerl sich überhaupt ein? Er hatte mich so lange Zeit verarscht und ich hatte die Nase gestrichen voll davon. Marc hatte nur mit mir gespielt und es war jetzt an mir, nicht wieder auf ihn herein zu fallen.

Das Klingeln an der Wohnungstür brachte mich dazu, nichts mehr zu sagen. Im Augenwinkel konnte ich nur sehen, wie Marc sich eine Zigarette anzündete und wieder zurück ins Wohnzimmer ging.

„Ich hoffe du hast alles zusammen.“, begrüßte mich mein fünf Jahre älterer Stiefbruder und klopfte mir auf die Schulter. „Es gießt grade nicht, also sollten wir uns beeilen deine Sachen hier raus zu bekommen.“

Ich nickte nur und hob eine der Kisten hoch. Gerade konnte ich mich nicht unterhalten, denn sonst hätte ich womöglich alles stehen und liegen gelassen und wäre zurück zu Marc gelaufen. Ich war innerlich völlig durch den Wind und ich hatte keine Ahnung wie ich das alles schaffen sollte. Das wars! Diese Gewissheit schwirrte mir immer und immer wieder durch den Kopf, während ich mein bisschen Hab und Gut in den weißen Combi lud. Mein Leben hier war vorbei. Mein Bruder hatte sich bereit erklärt mich vorübergehend bei sich wohnen zu lassen, bis ich etwas Eigenes gefunden hatte. Allerdings hatte ich nicht nur Marc aufgegeben, sondern auch meinen Job. Mein Bruder lebte noch immer in dem kleinen Kaff, indem wir unsere Kindheit verbracht hatten. 300 Kilometer würden mich in ein paar Stunden von Marc trennen.  

 

„Das wars. Ich bin dann weg!“, ich hoffte inständig das Marc nicht mitbekommen würde wie aufgelöst ich war. Ich hätte heulen können, aber das letzte bisschen Ehre in mir zwang mich dazu, es nicht zu tun. Mein Bruder wartete unten im Auto und ich wollte nur noch alles hinter mich bringen.

Marc saß lässig auf dem Sofa. Er hatte die Beine überschlagen und schaute mich jetzt direkt an. Ich konnte nicht herauslesen was er gerade dachte, ob all das, die letzten drei Jahre, so spurlos an ihm vorbei gingen.

Marc stand auf und kam etwas unsicher auf mich zu. Es schien als hätte er Angst, dass ich weglaufen würde, wenn er mir auch nur einen Zentimeter zu nahekommen würde.

„Hör mal, Ian. Ich habe dich geliebt. Aber…“, er brach ab und holte tief Luft. „Aber es war mir alles zu Blümchenhaft. Verstehst du? Ich brauche meine Freiheit und keine kleine Hausfrau die brav die Wohnung in Ordnung hält und abends in ihrer Omaschürze auf mich wartet. Du warst immer so strukturiert, nie spontan und…“

Ich hob die Hand. Mehr konnte und wollte ich nicht hören. Marc hatte mich so kennen gelernt wie ich war. Damals war das alles ok für ihn gewesen. Blümchenhaft? Omaschürze? War das sein Ernst? Davon abgesehen das ich niemals eine Schürze getragen hatte. Allmählich verwandelte sich meine Trauer in Wut. Wollte Marc mir nun die Schuld geben?

„Mach´s gut, Marc!“ Ich drückte ihm unsere, seine Wohnungsschlüssel in die Hand und ging. Mit einem lauten Knall zog ich die Tür hinter mir zu und nahm mir vor, nicht mehr zurück zu sehen.

 

Kapitel 2

Mit zittrigen Beinen stieg ich in den Combi meines Bruders Dan ein. Eigentlich hieß er Daniel, doch er bestand regelmäßig darauf, dass er den Namen nicht mochte und ´Dan´ genannt werden wollte. Was hatte ich nur für ein Glück mit ihm.

Vor fünf Jahren waren unsere Eltern ins Ausland ausgewandert. Sie wollten etwas neues Erleben, haben alles stehen und liegen gelassen und sind auf und davon. Hören tut man nicht viel von ihnen, aber das ist auch gut so. Meine Mutter hatte sich damals nach der Trennung von meinem Vater in Dans Vater verknallt und ihn von jetzt auf gleich zu Ehemann Nummer drei ernannt. Als ich mich mit 17 endlich vor ihnen geoutet hatte, erhielt ich mehr Verständnis von meinem Stiefvater, als von meiner Mutter. Ich glaube manchmal, dass sie absichtlich und aus gutem Grund von hier wegwollte. Sie konnte es nicht ertragen, eine Schwuchtel als Sohn zu haben. Sie hatte es nie so gesagt, aber ich hatte ihre Ablehnung mehr als einmal zu spüren bekommen. Heute bekommen Dan und ich zu den Feiertagen mal eine Karte von ihr, obwohl Carsten, mein Stiefvater, ab und zu mal anruft.

Dan war da anders. Er hatte immer hinter mir gestanden und hat mich mit viel Verständnis durch die für mich schwierige Zeit begleitet. Auch wenn ich wusste, dass ich mich immer auf meinen Bruder verlassen konnte, wollte ich auf eigenen Beinen stehen. Ich ließ also vor vier Jahren schon einmal alles hinter mir und stürzte mich in das Großstadtabenteuer. Schnell hatte ich gemerkt, dass dies nicht meine Welt war, aber ich wollte auch nicht wieder zurück. Kurz darauf lernte ich Marc kennen und ich war nur noch in rosa Wolken gefangen. Ich genoss die anfängliche Zeit mit ihm sehr, doch irgendwann schlichen sich hier und da Streitereien wegen seiner ständigen Abwesenheit ein.

Er hatte mich nicht einmal aufgehalten, schoss es mir durch den Kopf und ich lehnte meine Stirn an die kalte Fensterscheibe.

„Ian? Ist alles klar?“, Dan legte seine warme Hand auf meine Schulter und ich spürte die Liebe, die uns beide verband. Bei ihm fühlte ich mich sicher und er war auch derjenige gewesen, der mir zur Trennung geraten hatte. Mehr als einmal hatte ich ihn angerufen als Marc mal wieder bei einem anderen Typen war und hatte mich bei ihm ausgeheult.

„Hör mal. Ich sags nicht gerne, aber es ist richtig das du endlich Schluss gemacht hast. Der Kerl hat dich nicht verdient!“

„Und wenn schon. Jetzt stehe ich wieder bei null und was habe ich davon?“ Es war mir egal was Dan zu sagen hatte, obwohl seine versuchte Aufmunterung ankam. So hätte es nicht weiter gehen dürfen, denn ich tat mir und auch Marc keinen Gefallen damit. Jetzt hieß es Augen zu und durch! Dan startete den Wagen und fuhr in Richtung der alten Heimat, mit der ich eigentlich nie wieder etwas zu tun haben wollte.

 

Zwei Wochen später war ich ein wandelnder Trauerkloß. Ich hing nur in der Bude rum und bereute mehr als einmal, mich von Marc getrennt zu haben. Es ging mir beschissener als in der Beziehung mit ihm. Gefühlt jede Minute nahm ich mein Handy in die Hand, in der Hoffnung, dass er sich vielleicht doch gemeldet hatte und mich zurückwollte. Aber diese Hoffnung wurde nie erfüllt. Ich muss ihm wirklich egal gewesen sein. Wenn ich nach seiner Facebookseite ging, ging er von Party zu Party und amüsierte sich prächtig. Bei jedem Bild auf dem ich seine grinsende Fratze sah, hätte ich am liebsten vor Wut alles in meiner Umgebung zerstört. Wie konnte er nur so sein? Wie hatte ich mich so in ihm täuschen können?

„Jetzt ist aber Schluss!“, die strenge Stimme von Dan dröhnte mir durch den Kopf. Ich hatte Schmerzen! Meine Glieder taten von der wenigen Bewegung weh und der Kopfschmerz kam wohl eher durch die stickige Luft in meinem Zimmer.

„Hier stinkt es, Ian!“, angewidert rümpfte er die Nase und schaute sich in meinem Saustall um. „Und du stinkst auch! Alter, du musst mal langsam hochkommen.“

Mit einem Mal fing er an durch mein Zimmer zu stöbern, sammelte dreckige Wäsche auf, zog die Vorhänge auf und öffnete die Fenster. Kalte Luft strömte mit einem Mal herein und ließ eine Gänsehaut bei mir zurück.

„Los Abmarsch! Du gehst jetzt duschen und…“, er hob drohend den Zeigefinger. „Wage es ja nicht mir zu widersprechen!“

Obwohl ich so gar keine Lust hatte und mich am liebsten wieder unter meine Decke verkrochen hätte, gehorchte ich. Mit meinen 26 Jahren sollte ich mich wirklich nicht wie ein pubertäres Kleinkind aufführen.

 

Eine Stunde später schlenderte ich durch meine alte Heimat, ging den Weg, den ich damals zur Schule hatte gehen müssen. Ich zog mir den Schal weiter ins Gesicht und musste gegen die Sonne anblinzeln, die sich hinter dicken grauen Wolken durchquetschte. Für einen Novembertag war es nicht ungewöhnlich kalt, doch die nasse Kälte kroch mir bereits jetzt in die Knochen. Mein Kopf dröhnte noch immer ein wenig, weshalb ich meinen Blick gesenkt hielt.

Frau Weber trat gerade aus ihrer Haustür und ich hob die Hand zum Gruß. Sie schien mich nicht zu erkennen und schloss sichtlich verwirrt die Haustür hinter sich. Ich ging einfach weiter. Es waren immerhin vier Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal hier gewesen war.

An der Bushaltestelle hielt ich kurz an und zog angewidert die Nase kraus. Es roch ekelig und überall waren nicht identifizierbare Flecken an die Scheibe geschmiert. Ich schüttelte mich und ging weiter. Eigentlich hatte ich vorgehabt nie wieder hier her zurück zu kommen. Nach meinem Outing hatte ich die Hölle auf Erden erlebt. Meine besten Freunde hatten sich von mir entfernt und alle machten sich über mich lustig. Das mein Kopf im Klo gelandet war und ich Drohbriefe erhalten hatte, war noch das harmloseste gewesen. Ich konnte und wollte einfach nicht mehr. Dan zuliebe machte ich aber weiter und versuchte mich nicht unterkriegen zu lassen. Ich machte eine Ausbildung in einem Anwaltsbüro und durfte dann sogar dortbleiben. Irgendwann hielt ich es aber nicht mehr aus. Außer Dan hatte ich niemanden hier, weshalb ich meine Sachen nahm und fort ging.

In der Großstadt angekommen, kam ich in einer kleinen WG unter, fing einen Barkeeperjob an und lernte einige Zeit später Marc kennen.

 

Ich sah mich auf meinem alten Schulhof um und versuchte nicht an meine Vergangenheit zu denken. Was Marc wohl grade trieb?

Ein paar Jugendliche hatten sich auf dem Schulhof versammelt, standen in kleinen Grüppchen zusammen, rauchten und tranken Alkohol. Wenn ich mich recht erinnerte, waren grade Ferien.

„Was glotzt du denn so, Alter?“, rief einer der Typen zu mir herüber.

Echt jetzt? Alter? Normalerweise hätte ich meinen Mund aufmachen sollen, doch wie es früher schon der Fall gewesen war, ging ich dem Ärger lieber aus dem Weg. Ich machte auf der Hake kehrt und krachte mit voller Wucht in jemanden hinein.

„Autsch…sorry!“, murmelte ich und richtete meine Mütze, die bei dem Aufprall verrutscht war.

Meine Blicke wanderten etwas höher, um dem Mann vor mir in die Augen blicken zu können. Junge, war der Kerl riesig! Breite Schultern, braune Haare und unglaublich tiefblaue Augen! Wäre ich nicht schon vom Liebeskummer zerfressen gewesen, wäre dieser Typ genau nach meinem Geschmack gewesen.

„Ist schon okay.“, grummelte der Kerl und ging an mir vorbei.

Ich wollte mich schon wieder in Bewegung setzen, da wurde ich schon wieder angesprochen.

„Sag mal, bist du das Ian?“

Ich drehte mich um und musterte den Mann vor mir. Er trug einen Anzug und einen etwas längeren Cordmantel. Obwohl seine Gesichtszüge sehr fein geschnitten waren und auch diese unglaublichen Augen mir etwas hätten sagen müssen, konnte ich mich nicht erinnern, ihn schon jemals gesehen zu haben. Er schien irgendein Bankerfutzi zu sein. Jedenfalls seinem Aussehen nach zu urteilen.

„Kann schon sein. Und wer will das wissen?“, fragte ich misstrauisch und vergrub meine Nase noch tiefer in meinen Schal.

Mir war ehrlich gesagt egal wer er war. Klar, er sah verdammt gut aus, aber wenn er mich kannte, hatte dies nichts Gutes zu bedeuten. Wir lebten hier in einem beschissenen kleinen Kaff, wo jeder jeden kannte und der Tagestratsch die Lieblingsbeschäftigung meiner Nachbarn war. Ich konnte mich an keine schöne Zeit nach meinem Outing erinnern. Ich erhielt weder Unterstützung von meiner eigenen Mutter, noch hatte ich irgendwelche Freunde.

„Mensch du bist es also wirklich!“, rief er plötzlich aus und kam mir einen Schritt näher.

Automatisch vergrößerte ich den Abstand zwischen uns wieder und wäre am liebsten gleich weiter gegangen. Ich konnte es wirklich nicht ab, wenn fremde Menschen mir zu nahekamen. Das war wohl auch ein Grund, warum es Marc nicht mit mir ausgehalten hatte. Diskotheken verabscheute ich wie die Pest und es fiel mir verdammt schwer Freundschaften zu schließen. Auch dies hatte ich anscheinend nicht auf die Reihe bekommen, denn von den Freunden, die ich glaubte zu haben, hatte sich bis jetzt keiner bei mir gemeldet. Stimmte vielleicht tatsächlich etwas mit mir nicht? Hatte Marc das gemeint? Vielleicht war ich tatsächlich selber an diesem ganzen Fiasko schuld. Meine Gedanken schweiften schon wieder ab und ich bemerkte nicht, wie der Kerl mich beobachtete.

„Ich bin es. Christopher! Christopher Hoffmann!“, erklärte er mir, doch ich nahm nur irgendwelches Rauschen wahr.

Mir wurde plötzlich bewusst, dass Marc nicht ohne Grund seinen Spaß bei anderen gesucht hatte. Ich war tatsächlich furchtbar! Furchtbar langweilig, einfallslos und Blümchenhaft! Marcs Worte schwirrten mir im Kopf herum und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Mein Herz pochte wie verrückt und die Trauer kehrte zurück. Verdammte Scheiße! Ich hatte es verbockt!

„Ist alles okay?“ Eine Hand kam in mein Blickfeld und wie aus einem Reflex, schlug ich sie fort.

So schnell ich konnte nahm ich meine Beine in die Hand und rannte beinahe nach Hause. Als ich die Haustür hinter mir zugeschlagen hatte, verließen mich meine Kräfte. Ich rutschte mit dem Rücken die Wand runter, an die ich angelehnt war, und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich war so ein Baby! Ich hatte mir die Scheiße mit Marc selber eingebrockt, das wurde mir allmählich bewusst. Wäre ich nicht so ein kleiner Spießer, mit dem man nichts anfangen konnte, wäre er jetzt noch hier bei mir!

„Das ging aber schnell…“, murmelte mein großer Bruder und legte seine starken Arme um mich. Ich krallte mich in sein Shirt und heulte Rotz und Wasser. Wie ein Ertrinkender suchte ich an ihm halt und war wieder mal mehr als froh, ihn zu haben.

Dies sollte ein Neuanfang werden, doch ich hatte das Gefühl, mich mehr und mehr von mir selber zu distanzieren.

Wie sollte ich da nur wieder herauskommen?

Kapitel 3

Ich hatte keine Ahnung wie lange ich so mit Dan dagesessen hatte, aber es war mir egal. Konnte ich mir nicht einfach selbst in den Hintern treten? Musste ich immer jemanden an meiner Seite haben?

„Hör mal, Ian. Ich weiß nicht was grade vorgefallen ist, aber du musst ihn vergessen!“ Dan ließ mich los und gleich spürte ich einen kalten Luftzug. Ich protestierte gegen seine Aussage und erklärte was ich herausgefunden hatte. Wenn ich mich von Grund auf ändern könnte, würde Marc mich dann wieder zurücknehmen? Konnte ich mich denn für ihn ändern?

Mir schwirrte echt so langsam der Kopf!

„Du hast sie nicht mehr alle! Mehr kann und will ich dir dazu nicht sagen. Wenn du meinst…“ Ein lautes ohrenbetäubendes Schrillen unterbrach die Ansage meines Bruders. Zornig schaute er auf die Uhr und fragend sah er mich an.

„Keine Sorge, ich erwarte niemanden!“, pampte ich ihn an und stand auf. „Bin in meinem Zimmer.“

Völlig erschöpft schmiss ich mich auf mein Bett und schloss die Augen. Ein bisschen Schlaf würde mir bestimmt guttun. Ein letzter Blick auf mein Handy verriet mir, dass ich noch immer keine einzige Nachricht erhalten hatte.

 

Ein wenig Schlaftrunken öffnete ich die Augen und sah auf den kleinen Wecker auf dem Nachtschrank. Oha! Es war bereits nach einundzwanzig Uhr. Ich streckte meine Glieder und versuchte möglichst klar zu werden. Dumpfe Männerstimmen drangen in mein Zimmer. Dan schien also noch Besuch zu haben. Träge stand ich auf und zog mir das völlig durchgeschwitzte Shirt über den Kopf. Ich ließ es achtlos auf den Boden fallen und kramte aus der Tasche ein neues, welches ich mir im Gehen überzog. Ich hatte es noch nicht einmal geschafft meine Klamotten in die Schränke zu stopfen. Dan hatte mir sein Gästezimmer frei gemacht, in dem ich mich austoben sollte. Zurzeit fehlte mir jedoch jeglicher Elan. Ich steuerte meine Zimmertür an und schlurfte dann über den Flur geradewegs in die Küche. Müde rieb ich mir mit der Hand durchs Gesicht. Aus dem Schrank kramte ich mir eine Kopfschmerztablette und schluckte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.

„Ian?“, rief Daniel aus dem Wohnzimmer.

„Hm?“, mehr konnte ich nicht herausbringen, denn ich war noch immer mit Trinken beschäftigt.

„Komm doch mal bitte!“ Es war mehr ein Befehl als eine Bitte.

„Muss das sein? Ich bin müde!“, rief ich zurück und war schon wieder im Begriff mich in Richtung meines Zimmers zu bewegen.

„Ian!“

„Ist ja schon gut…“, murmelte ich und schlurfte ins Wohnzimmer. Dort angekommen hatte ich bald eine Herzattacke. Neben Dan auf dem Sofa saß der Typ, den ich am Mittag über den Haufen gerannt hatte. Der elegante Anzug spannte an den Oberarmen und ein merkwürdiges Grinsen legte sich auf die Lippen des Mannes, der mich nun von oben bis unten zu mustern schien. Ich versuchte mir den Schrecken nicht anmerken zu lassen und lehnte mich gelassen mit verschränkten Armen an den Türrahmen.

„Du solltest mal lieber etwas essen…“, merkte Dan an und zeigte auf mein Outfit. An seiner Miene konnte ich erkennen, dass er sich wieder zu viele Sorgen machte. Seine Stirn zog sich kraus und er schien mit den Gedanken plötzlich woanders zu sein. Hatte ich gerade jetzt Lust auf so eine Diskussion? Nein!

Ich seufzte nur und widerstand meinem inneren Drang hier abzuhauen. Sowas peinliches!

„Was ist denn?“, fragte ich also mürrisch und seufzte genervt.

Dan stand mit einem Mal auf und kam zu mir herübergelaufen. Ein wenig nervös fing er an, an mir herum zu tätscheln. Er legte seine flache Hand auf meine Stirn und schüttelte Geistesabwesend mit dem Kopf.

„Man Dan!“ Unter normalen Umständen genoss ich die Fürsorge meines Bruders, aber jetzt hatte ich da absolut keine Lust drauf. Mein Blick schoss zu Dans Besucher und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Dieser schien sich bestens zu amüsieren, denn ein süffisantes Grinsen hatte sich auf seine Lippen gelegt. Mit einem Mal fing er lauthals an zu lachen. Ich stand nur da und schmollte. Sowas peinliches war mir lange nicht passiert.

Dan schien dies endlich aus seiner Mutterrolle zu holen und beschämt ließ er mich wieder los.

„Sorry. Ich wollte nicht…“

„Schon klar. Was ist denn? Ich bin müde und will schlafen!“, grummelte ich und vermied es noch einmal zu dem Kerl auf der Couch zu sehen. Irgendwie machte er mich nervös.

„Schlafen? Du hast doch nichts anderes zu tun als zu schlafen!“ Dan war mit einem Mal völlig aufgebracht und ich konnte diesen schnellen Stimmungswechsel gar nicht richtig aufnehmen. „Ian, du…es…ahhh! Sag du es ihm!“ Hiermit wandte er sich an seinen Besuch.

„Ich?“

So langsam wurde ich aber sauer! Was war denn jetzt hier los? Was hatte ER damit zu tun?

„Ja du! Ich weiß echt nicht mehr weiter mit ihm! Wo soll das alles hinführen?“ War das sein Ernst? Besprach er etwa mit diesem Bankerfutzi meine privaten Probleme? Wortlos drehte ich mich um und flüchtete in mein Zimmer. Ich schlug die Tür so laut ich konnte und schmiss mich auf das Bett. Schnell stöpselte ich mir Kopfhörer in mein Handy ein und drehte den Ton so laut wie es ging. Ich wollte davon nichts mehr hören! Am Montag würde ich mich auf den Weg zu den Ämtern machen und mich arbeitslos melden. Vielleicht würde ich irgendwelche Gelder bekommen und mir dann eine eigene Wohnung leisten können. Dans Gemotze ging mir echt auf den Keks! Was wollte er denn? Was erwartete er von mir?

Wütend schaltete ich die Musik wieder aus, nahm das Handy und tippte eine Nachricht an Marc. „Arschloch! Ich hasse dich!“, stand darin geschrieben und ich schickte sie ab. Dieser Kerl konnte mich mal und ich hasste ihn wirklich dafür, was er aus mir gemacht hatte. Einen jammernden kleinen Feigling, der bei seinem Bruder unterkommen musste und nichts alleine auf die Kette bekam.

Als es dann auch noch an der Tür klopfte, pfefferte ich mit einem lauten „WAS?“ das Handy an die Wand. Es zersprang und landete scheppernd auf dem Boden. Ich war wirklich auf hundertachtzig!

Trotz allem wurde die Tür geöffnet, aber es kam nicht Dan herein.

„Kann ich kurz mit dir reden?“, fragte mich der Typ, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern suchte sich bereits einen Weg durch meinen Saustall und schmiss sich dann neben mich aufs Bett. Zum Glück hatte mein Bruder die Dreckwäsche bereits mitgenommen. Mein Puls beschleunigte sich nochmals und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich wütend war oder nicht. Mit einem Mal schämte ich mich für die Unordnung und dafür, so kindisch reagiert zu haben.

„Nimm es ihm nicht übel. Daniel war schon immer so eine kleine Mutti, wenn es um dich ging. Du hättest ihn damals mal erleben müssen. Er hat dich kaum eine Sekunde aus den Augen gelassen. Ich glaube manchmal er liebt dich viel zu sehr.“

Jetzt war ich aber sprachlos! Ich wusste darauf nichts zu sagen, denn insgeheim hatte er recht. Nach meinem Outing war Daniel fast immer bei mir gewesen. Erst als ich älter wurde, hatte er mich mal alleine aus dem Haus gelassen. Es war ihm damals sehr schwergefallen, mich in die Großstadt ziehen zu lassen. Widerwillig hatte er es akzeptiert, mich aber jede Woche mindestens zwei Mal angerufen, um sich nach meinem Zustand zu erkundigen.

„Du erinnerst dich nicht an mich, oder?“ Wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.

Ich schüttelte nur leicht den Kopf. Eigentlich war ich mir ziemlich sicher, mich an jemanden wie ihn zu erinnern, aber es leuchtete leider keine kleine Glühbirne auf.

„Christopher. Ich bin Daniels bester Freund. Schon seit…“, er schien genauer Nachzurechnen. „Naja, schon seit der Grundschule. Es wundert mich, dass du mich nicht erkennst!“ Dean schaute mich nun direkt an und mir war es schon wieder unangenehm. Betreten senkte ich meinen Blick und war mir seiner Nähe plötzlich ganz bewusst. Unsere Schultern berührten sich beinahe und mein Puls beschleunigte sich wieder, als ich sein markantes Parfüm wahrnahm. Er roch unglaublich gut und ich widerstand dem Drang, mich an Christopher anzulehnen. Was war ich nur für ein verkorkster Mensch! Hatte ich es so nötig?

„Also pass auf!“, sagte er nach einem Moment der Stille. „Ich habe ein Angebot für dich.“

Jetzt wurde ich doch hellhörig und fragte völlig perplex: „Ein Angebot?“

„Ja. Ich habe in Reblingen eine kleine Bar. Dan sagte mir, dass du als Barkeeper gearbeitet hast. Ich habe noch eine Stelle frei, also wenn du magst, immer pünktlich bist und auch was tust, bin ich bereit dir einen Job zu geben.“

Er hätte mir in diesem Moment genauso gut in den Magen treten können! Obwohl sich Christophers Angebot unglaublich gut anhörte, hatte ich doch das Gefühl das ich den Job nur durch meinen Bruder bekommen würde. Auf der anderen Seite hatte ich ihn dringend nötig und würde mir den Gang zum Arbeitsamt sparen. Wenn ich genug verdienen würde, könnte ich mir auch eine eigene Wohnung leisten.

Christopher stand mit einem Mal auf, suchte sich wieder einen Weg zurück zur Tür und bückte sich dann, um meine Handyteile aufzusammeln. Man konnte sich denken, dass sich unter diesem Anzug fein antrainierte Muskeln befanden, so wie dieser sich spannte.

„Überleg´s dir und sag mir morgen Bescheid!“ Dean legte die Einzelteile meines Handys und eine Visitenkarte auf die Anrichte und schaute mich direkt an. „Und das hat nichts mit deinem Bruder zu tun! Es war meine Idee gewesen, er hat mich nicht darum gebeten.“

Danach trat er aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich ließ mich rücklings auf das Bett fallen und legte meine Handfläche auf die Brust. Unter meiner Hand spürte ich einen bollernden Herzschlag. Bestimmt war dies der ganzen Aufregung zu verdanken.

Das Jobangebot hörte sich sehr gut an, obwohl wir weder über die Bezahlung, noch die Arbeitszeiten gesprochen hatten. Ich konnte mit diesem Angebot wenigstens ein bisschen in mein bisheriges Leben zurückkehren.

 

Eine Stunde später tapste ich auf nackten Sohlen aus dem Zimmer und fand meinen Bruder auf der Couch vor. Er hatte sich irgendeine Krimi Serie angemacht, schien mit den Gedanken aber ganz woanders zu sein. War ich daran schuld? Wieso musste ich ihm denn auch immer solche Probleme bereiten. Ich seufzte und holte tief Luft. Es war nun an mir, Dan keine weiteren Scherereien zu bereiten.

„Okay ich mach’s!“

Daniel flog vor Schreck beinahe vom Sofa und richtete sich erschrocken auf.

„Junge, hast du mich erschreckt!“, rief er aus und schaute mich ganz entgeistert an.

„Ich sagte ich mach’s.“

Das Gesicht meines Bruders erhellte sich mit einem Mal, doch er blieb gelassen und lächelte mich an. „Das freut mich. Wirklich, Ian!“

„Ähm…es gibt nur ein Problem. Ich…“, ich hielt die Trümmer meines Handys hoch und verzog das Gesicht. „Es ist kaputt und ich habe keins mehr.“

Verständnisvoll nickte Daniel und stand auf, um in seiner Kommode herumzukramen. Zwei Schubladen weiter hielt er mir ein beinahe neues Handy entgegen.

„Ich komme mit diesem Touchkram nicht zurecht. Es ist noch nicht so alt, also kannst du es erstmal haben.“

Ich bedankte mich eifrig und wandte mich zum Gehen, als ich mich doch noch einmal umdrehte und fragte: „Sag mal, haben wir irgendwas zu essen?“

Dans Gesicht erhellte sich noch mehr und ich wusste das ich alles richtig gemacht hatte. Obwohl ich keinen Hunger hatte, hatte ich meinem Bruder eine große Freude gemacht.

„Ich koch uns Nudeln!“, plapperte er los und war schon in der Küche verschwunden.

 

Am nächsten Morgen stand ich früh auf, ging duschen und versuchte mich einigermaßen in Schale zu werfen. Das bisschen, was ich an Stoppelbart vorzuweisen hatte, kam ab und ich versuchte meine kurzen Haare mit etwas Gel herzurichten. Als es an die Klamottenwahl ging, wurde es allerdings etwas schwieriger. Daniel schien recht zu haben und ich hatte mich in letzter Zeit vielleicht etwas zu sehr gehen lassen. Alles was ich anprobierte schlabberte an meinem Körper wie ein nasser Sack.

„Wir sollten dir ein paar neue Sachen besorgen, bis dir die alten wieder passen.“ Nachdenklich stand mein großer Bruder in der Tür und musterte mich ein wenig besorgt. „An dir ist echt nichts mehr dran.“

Obwohl ich eigentlich wieder protestieren wollte, hielt ich mich zurück und stimmte ihm lieber zu. Bis dahin musste ich wohl mit meinem bisherigen Hab und Gut auskommen.

„Mach dich fertig, dann fahren wir los. Ich kenne da einen Laden, der dir bestimmt gefallen wird.“

Ich nickte ergeben und zog mir schnell etwas über.

Als ich mit Daniel im Auto saß, fummelte ich umständlich meine SIM und die Speicherkarte in das Handy meines Bruders. Nanu, es wurde nicht einmal vernünftig gestartet. Mit schnellem Fingertippen hatte ich es allerdings im Nu hochgeladen und es wurde mir sogar eine Nachricht angezeigt. Als ich sie öffnete, musste mir das Blut aus dem Gesicht gewichen sein, denn Dan fragte mich besorgt ob alles ok ist.

„Ja, alles gut!“, log ich ihn an und setzte mein bestes Lächeln auf.

Ich durfte es nicht wieder vergeigen.

Die Nachricht allerdings brachte mich ziemlich durcheinander. Ich konnte mich kaum auf den Einkauf konzentrieren und ließ Daniel das meiste aussuchen. Hinterher steckte ich in einer neuen, engen Jeans und einem lässigen Pullover. Mein Bruder hatte noch weitere Klamotten mitgenommen, aber ich wusste schon gar nicht mehr was.

„Ian?“ Dan sah mich ernst an, als wir in einem kleinen Café Rast gemacht hatten und uns über einem Kaffee gegenseitig anschwiegen.

„Ja?“

„Sag mal, irgendwas ist doch. Ich kenne dich, auch wenn du versuchst es mir nicht zu zeigen. Egal was es ist, du kannst mit mir reden. Ich habe gestern wohl ein bisschen überreagiert. Du brauchst mehr Freiraum, das weiß ich jetzt. Es fällt mir nur so schwer.“

Ich senkte meinen Blick und schaute in die braune Brühe vor mir. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, meinem Bruder keine Sorgen mehr zu bereiten, aber die Nachricht hatte mich total aus dem Konzept gebracht. Ich zog also mein Handy aus der Tasche und zeigte sie ihm.

„Du fehlst mir…“, las er laut vor und zog die Stirn kraus. Marc hatte mir gestern Abend noch geantwortet und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

„Es ist deine Sache, was du tust. Aber du kennst meine Meinung ihm gegenüber. Ich mochte ihn noch nie und ich glaube er spielt mit dir.“

Mit dieser Antwort hatte ich gerechnet, brachte mich aber auch nicht weiter. Meinte Marc es so, wie er es geschrieben hatte? Aber wenn ich jetzt wieder zu ihm zurück gehen würde, wäre es dann nicht wieder wie vorher? Ich konnte mich nicht von Grund auf ändern. Das war mir klar. Nicht einmal für Marc konnte ich mich so umkrempeln. Ich wusste nicht einmal ob ich das überhaupt wollte.

Daniel ließ mich in meinen Gedanken und quatschte nicht auf mich ein. Ich musste mir klar darüber werden, was ich wollte. Wollte ich Marc zurück oder nicht?

Einen Kaffee später nahm ich das Handy vom Tisch und schob es zurück in die Hosentasche. Vielleicht sollte ich zuerst den Abstand zu Marc behalten, um zu sehen, wie es weiter ging.

„Ich muss deinem Freund noch eine Zusage für den Job geben. Ich hoffe nur, dass du ihn wirklich nicht darum gebeten hast.“

Dan schaute mich verblüfft an. „Wirklich? Du bleibst also?“

Ich nickte und Daniel Lächelte bis über beide Ohren. Mit einem Mal wandelte sich sein Lächeln in ein komisches, wissendes Grinsen.

„Ich schwöre hiermit Feierlich, dass ich Chris nicht um den Job gebeten habe. Ehrlich gesagt hat es mich selbst gewundert, denn so gut läuft der Laden gar nicht.“

Ich war ziemlich erstaunt darüber. Auf mich hatte Christopher so gewirkt, als wäre der Job nicht mehr lange frei.

„Verrats ihm nicht. Aber er war gestern bei der Bank, um einen neuen Kredit zu beantragen. Er wurde leider abgelehnt. Wenn es weiter so schlecht läuft, dann muss er die Bar verkaufen.“

Oh, das waren aber keine guten Nachrichten. Innerlich war ich wieder hin und her gerissen. Konnte ich dann überhaupt das Angebot für den Job annehmen?

„Hm. Meinst du ich sollte dann überhaupt bei ihm anfangen?“, äußerte ich meine Bedenken.

„Er hat dir das Angebot gemacht, also steht er auch dazu. Und er wird dich auch bezahlen, da musst du dir keine Sorgen machen. Vielleicht sollten wir grade hinfahren, dann kann er dir alles zeigen. Also, wenn du wirklich noch möchtest. Ich glaube du würdest ihm eine Freude machen. Chris war ziemlich geknickt, weil du ihn nicht erkannt hast.“

Warum sollte er denn geknickt sein?

„Ich wusste nicht mal, dass du überhaupt Freunde hast.“, stellte ich fest und knibbelte an der Serviette rum.

Irgendwie freute es mich, was mein Bruder da gesagt hatte. Auch wenn ich mich fragte warum. Ihm konnte es doch egal sein.

„Nicht viele, aber Chris kenne ich schon ewig. Als du noch klein warst, bist du immer um ihn herumgewirbelt. Ich glaube du warst sogar ein bisschen in ihn verknallt.“ Dan lachte los und ich wurde rot. Na toll. Es war komisch das ich mich gar nicht an ihn erinnern konnte.

„Das war früher!“, antwortete ich trotzig. „Er ist gar nicht mein Typ!“

„Wie auch immer.“, Dan grinste immer noch. „Wollen wir?“

 

Oh mein Gott! Ich traute meinen Augen kaum, als wir Christophers Bar betreten hatten. Offiziell hatte diese noch geschlossen, aber Daniel schien einen Schlüssel zu besitzen.

„Ich gehe mal nach Chris sehen!“, verabschiedete sich mein Bruder.

Ich bekam es gar nicht richtig mit, denn ich war völlig schockiert von dem Zustand der Bar. Kaputte Stühle standen in der Ecke herum, Spinnenweben und Schmutz bedeckte die Decke und zahlreiche Tische. Die Theke war heruntergekommen und das Ambiente lud einfach nicht zum Verweilen ein. Kein Wunder, dass diese Bar den Bach runter ging! Ich fuhr mit der flachen Hand über einen der Tische und stellte fest, dass es sich um Echtholz handeln musste. Sie mussten bestimmt schon fünfzig Jahre auf dem Buckel haben. Alles war durcheinander gestellt und ich blickte noch nicht durch das System der Tischreihen durch. Wie sollten hier die Leute anständig bedient werden? In den weiteren Räumen fand ich die Sanitäranlage vor. Zumindest hier schien alles erneuert worden zu sein, allerdings hätte auch hier alles eine Veränderung nötig. Alles war sehr lieblos gehalten, an den Fenstern hingen nicht einmal Vorhänge und man konnte auf die Straße sehen.

Ich schüttelte den Kopf. Der Laden war zum Scheitern verurteilt! Daniel konnte vergessen, dass ich überhaupt hier anfing.

Schnellen Schrittes ging ich wieder zurück und war noch immer alleine. Wo war mein Bruder denn hingegangen?

Völlig in Gedanken fing ich an, die Tische ein wenig zu verrücken. So viele Ideen schwirrten mir im Kopf herum. Veränderungen, die den Laden hier wirklich ansehnlicher machen würden. Eine halbe Stunde später hatte ich Ordnung in die Tischreihen gebracht und war wirklich stolz auf mich. Es wirkte schon viel angenehmer und vor allem übersichtlicher.

„Ian?“ Dan stand auf einmal hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um und sah auch Christopher, der mich ein bisschen verwundert ansah. Mir stieg die Röte ins Gesicht, weil mir mit einem Mal bewusstwurde, was ich hier getan hatte. Das Ganze ging mich schließlich nichts an und ich hatte hier eigenmächtig etwas verändert.

„Sorry, ich…“, stotterte ich los. „Ich dachte nur…“

Hilflos brach ich ab und sagte lieber gar nichts mehr. Jetzt konnte ich das sowieso vergessen mit dem Job.

Christopher ging Wortlos an mir vorbei und ich sah meinen Bruder Hilfesuchend an. Dieser zuckte jedoch nur mit den Schultern und war mir keine große Hilfe.

Ich wandte mich wieder um und rannte hastig zu einem der Tische. Sowas peinliches hatte ich lange nicht mehr gemacht.

„Es tut mir leid, ich stelle alles wieder hin wie vorher!“, ich musste glühen wie eine rote Tomate und das Herz schlug mir bis zum Hals. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Mit einem Mal wurde Arm festgehalten und hinderte mich daran, weiter etwas an den Tischen zu verändern. Nervös schaute ich zu Christopher auf und erwartete seinen ärgerlichen Ausdruck. Doch dies war nicht der Fall. Er schaute über die Tischreihen und schien ein wenig verblüfft zu sein.
„Lass es so! Es sieht gut aus!“, der Mann neben mir schaute mir nun direkt in die Augen und mein Herz machte einen Satz. Wieso machte er mich nur so furchtbar nervös? An der Stelle, wo er seine Hand auf meinem Arm liegen hatte, kribbelte es, aber ich konnte mich auch nicht abwenden.

„Du hast wirklich was im Kopf, Kleiner.“, stellte Christopher fest und ließ meinen Arm plötzlich wieder los. Ein bisschen wehmütig sah ich ihm hinterher, doch auch wenn ich es mir wirklich wünschte, kam er nicht wieder zurück. Eigentlich hätte ich wegen dem ´Kleiner´ einen Aufstand veranstaltet, aber aus seinem Mund hörten sich diese Worte irgendwie liebevoll an.

Christopher sah sich mein Werk noch einmal genauer an und ließ sich von mir erklären, welchen Sinn ich dahinter sah.

„Die Bar in der du gearbeitet hast. Was war das für eine?“, erkundigte sich Christopher.

„Naja, sie war schon etwas nobler. Es kamen meistens irgendwelche Leute, die mit Geld zu tun hatten. Anwälte, Bankleute und sowas. Action gab es dort nicht wirklich. Die Leute wollten nach ihrem Feierabend meistens für sich sein und noch einen Drink nehmen. Es hat sich wirklich ausgezahlt, aber das musste es auch. Das Glas Whisky kostet dort immerhin 9 Euro.“

Nachdenklich lauschte er meiner Erzählung und zog am Ende die Stirn kraus.

„Also so einen Nobelschuppen wollte ich nicht haben. Allerdings kannst du mir mit deiner Erfahrung ein bisschen den Laden aufpeppen. Um ehrlich zu sein, hatte ich von Anfang an die Hoffnung, dass du mir ein bisschen unter die Arme greifen könntest. Als Dan mir erzählte wo du gearbeitet hast.“

Ich schickte meinem Bruder einen bösen Blick zu, der abwehrend die Arme hob und einfach hinter die Theke ging und sich am Kühlschrank zu schaffen machte.

„Ich bezahle dich auch gut. Das ist kein Problem!“, versuchte Christopher mich hochnäsig zu locken.

Ich war mir allerdings immer noch nicht sicher. Mit dem Gefühl, definitiv hier anfangen zu können, war ich hierhergekommen. Aber nachdem ich mir dieses Fiasko ein bisschen näher angesehen hatte, war ich mir gar nicht mehr sicher.

„Na schön. Ich brauche mindestens einen Monat um hier überhaupt ein bisschen Ordnung rein zu bekommen. Bis dahin wird der Laden zu sein müssen.“, gab ich kleinlaut von mir und hoffte inständig, dass ich gesagtes auch halten konnte.

Ich war kein guter Handwerker, hatte nur die grundlegenden Sachen auf dem Kasten. Aber aus irgendeinem Grund wollte ich ihm unbedingt helfen.

Mein neuer Chef streckte mir geschäftsmäßig die Hand entgegen. „Also abgemacht?“

Und ich schlug ein.

Kapitel 4

 

Drei Wochen später hing ich mit meinem vorlauten Zeitplan schon ein wenig hinterher. Jeden Morgen kam ich um 6 Uhr in der Früh in die Bar und ging erst spät am Abend wieder nach Hause.

Nachdem ich den Laden erst einmal ordentlich gereinigt und geschruppt hatte, wertete ich die Sanitärräume mit ein wenig Schnickschnack auf. Die Fenster bekamen Blickdichte Gardinen, dämmrige Lampen hingen nun an der Decke, schicke Seifenspender und Düfte zierten das Waschbecken. Die herkömmlichen Handtücher mussten einem Papierspender weichen und edel aussehende Mülleimer standen direkt unter dem Spender. Ich hatte mich gegen ein paar kuschelig aussehende Läufer entschieden, denn ich wusste noch nicht auf welche Kundschaft ich mich einstellen sollte. Insgeheim hoffte ich darauf, dass die Bar wie eine Bombe einschlagen würde, doch was erwartete ich von diesem kleinen Städtchen?

Da ich auch den Barbereich freundlicher hergerichtet hatte, beschäftigte ich mich nun mit der Aufwertung des Mobiliars. Hierfür befand sich im Hinterhof eine kleine Garage, die ich mir freigeräumt hatte. Ich wusste genau, dass Christopher kein Geld hatte um neue Möbel anzuschaffen. Es war mir eh schon unangenehm, jedes Mal in sein kleines Büro zu platzen und nach neuem Geld zu fragen. Er sagte nie etwas, fragte nur wie viel und gab es mir. Wir hatten nicht mehr wirklich miteinander gesprochen. Christopher hockte in seinem Büro und tat wer weiß was und ich machte hier meine Arbeit. Ich war froh, dass Vicky, Christophers Angestellte da war und mir in ihren Arbeitszeiten unter die Arme griff. Ich war gerade damit beschäftigt die Tische abzuschleifen, als diese mir auf die Schulter tippte. Schnell stellte ich das Schleifgerät aus und nahm meine Schutzbrille vom Gesicht.

„Hier, habe ich dir mitgebracht!“, Vicky hielt mir ein Handtuch und eine Flasche Wasser entgegen. Sie hatte sich in einen kuscheligen Mantel gepackt und stieß beim Atmen kleine Wölkchen aus.

Dankbar nahm ich ihr die Sachen ab, trocknete meine nasse Stirn und trank etwas von dem Wasser. Mir war einfach nur heiß! Die Arbeit tat meinem Körper allerdings sehr gut und ich hatte sogar schon wieder etwas zugenommen.

„Das tat gut! Danke!“, ich lächelte meine Helferin an, woraufhin diese leicht rot wurde.

„Naja, ich dachte…du arbeitest so hart. Und ich kann gar nicht wirklich was machen.“, stotterte sie und senkte ihren Blick.

„Ach quatsch. Du hast mir bei dem anderen Kram schon so viel geholfen. Wenn du nicht wärst, dann würde ich noch bei den Innenräumen sein. Wenn ich den Tisch gleich fertig habe, könntest du schon mal die Grundierung draufstreichen. Dann kann ich die letzten Tische schleifen.“

Mit einem eifrigen Nicken band sie sich in Sekundenschnelle ihre halblangen blonden Haare zusammen und machte sich auf die Suche nach nutzbaren Pinseln.

Gerade als ich wieder mit meiner Arbeit anfangen wollte, klingelte mein Handy. Ein wenig unter Zeitdruck nahm ich einfach ab und hätte mir im nächsten Moment selber in den Hintern treten können.

„Ian?“ Am anderen Ende der Leitung war definitiv Marc. Seine durchdringende Stimme würde ich unter tausenden heraushören. In meinem Magen zog sich ein riesiger Knoten zusammen und ich hatte das Gefühl gleich umzufallen. So ein Mist! Was wollte der denn jetzt? Ich hatte mich nicht mehr bei ihm gemeldet. Den Sonntag hatte ich an Dans Esszimmertisch gesessen und mir eine Menge Notizen von den Ideen gemacht, was ich in der Bar alles verändern wollte. Später am Abend sah ich mir mit Dan noch einen Film an und am Montag ging die Arbeit auch schon los. Ich war Pausenlos mit dieser beschäftigt gewesen und abends tot müde ins Bett gefallen. Um ehrlich zu sein, hatte ich Marc in die hinterste Ecke meines Bewusstseins gedrängt und es tat mir gut. Nun seine Stimme zu hören, wirbelte die ganzen Emotionen wieder hoch.

„Vicky? Ich bin gleich wieder da.“, rief ich ihr zu.

Ich konnte sehen wie sie mir zunickte und eilte schnell in die Bar zurück. Mit zittrigen Fingern stand ich da und bekam kein Wort heraus. Ich war völlig durcheinander und wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir klopfte das Herz bis zum Hals.

„Ian? Bist du noch dran?“, hörte ich Marc.

Scheiße! Irgendwas musste ich doch sagen!

„Marc, was willst du?“, pampte ich ungewollt in den Hörer. Ich war beinahe selber von mir erschrocken, aber warum brachte dieser Mann mein Leben jetzt schon wieder durcheinander? Ich war grade dabei gewesen ihn zu vergessen.

„Können wir uns vielleicht sehen? Es…es tut mir leid, was ich dir angetan habe.“, eine kurze Stille entstand und in mir flackerte ein kleines Lichtchen namens Hoffnung auf.

„Ach, es tut dir also leid, ja?“, eigentlich hatte ich ihm diese Worte entgegen schmettern wollen, aber es kam nur ein leises Jammern dabei rum.

Was war ich nur für ein Versager!

„Ja wirklich! Ich vermisse dich hier. Du hast mir nicht geantwortet und…ich weiß auch nicht. Du fehlst mir einfach. Ich verspreche dir, dass ich mich ändern werde. Mir war gar nicht bewusst wie viel du mir bedeutest!“, Marc hauchte die Worte in den Hörer und ich bekam sofort weiche Knie. Es schien ihm wirklich so zu gehen, denn noch nie zuvor hatte er sich so verzweifelt und ehrlich angehört.

Ich hingegen war total verunsichert. Was sollte ich denn jetzt machen?

„Marc, ich…“, ich brach ab, denn ich hatte keine Ahnung was ich ihm antworten sollte.

Mein Herz schrie nach ihm, aber war es auch das Richtige?

„Können wir uns sehen? Ich kann auch zu dir kommen. Bitte, Ian!“

Völlig verwirrt fuhr ich mir mit der freien Hand durch die Haare. Verdammte Scheiße noch eins. Wollte ich ihn auch sehen?

Mit noch immer wackeligen Beinen stand ich da und wäre wohl vermutlich weich geworden, als mir plötzlich unsanft das Handy aus der Hand gerissen wurde. Ich war so perplex, dass ich gar nicht reagieren konnte und starrte Christopher nur verwirrt an.

„Wenn du mieser Scheißkerl dich noch einmal bei Ian meldest, lernst du mich kennen! Hast du das kapiert? Er kommt gut ohne dich klar, also tu uns allen einen Gefallen und verpiss dich aus seinem Leben!“, schrie er in den Hörer und legte auf.

Stocksauer gab er mir das Telefon zurück und funkelte nun auch mich böse an.

„Du schnallst es wirklich nicht, oder? Der Kerl fickt hinter deinem Rücken mit anderen Kerlen und du trauerst diesem Mistkerl auch noch hinterher! Mach mal deine Augen auf, Ian! Der liebt dich nicht! Denn wenn es so wäre, würde er nicht einem anderen Arsch hinterher gucken!“, Christopher brüllte mich beinahe an, wedelte wild mit den Armen und war völlig außer sich.

Es so knallhart ins Gesicht gesagt zu bekommen, versetzte mir einen heftigen Stich. Ich wusste das Chris recht hatte. Eigentlich ging es ihn gar nichts an und es war eine Frechheit, dass er sich überhaupt eingemischt hatte. Er war der Kumpel meines Bruders, also ging ihn mein Privatleben gar nichts an. Anstatt ihm dies zu sagen, stand ich wie ein begossener kleiner Pudel da, war wie erstarrt.

„Ich schwöre es dir, wenn Dan das mitbekommen hätte, er wäre ausgerastet. Weißt du eigentlich was er wegen dir durchgemacht hat? Wie oft hast du ihn angerufen? Hundert Mal, tausend? Gott, du bist so…“, er schien nicht die richtigen Worte zu finden und brach aufgebracht ab.

Und wieder etwas, was Christopher gar nichts anging. Warum hatte Dan ihm überhaupt davon erzählt? War ich meinem Bruder wirklich so eine Last gewesen? War ich so ein Versager, dass ich nicht merkte, was in meiner Umgebung passierte? Daniel war bestimmt von meiner Anhänglichkeit angenervt und Marc führte mich nur an der Nase herum. Also musste ich ja einen an der Klatsche haben!

„Verdammt noch mal, nun steh nicht so blöd da rum, sondern rede mit mir! Was geht in deinem Kopf vor, Ian? Du hättest dich doch wieder auf diesen Mistkerl eingelassen, ist es nicht so?“, ich wurde weiter angeschrien, doch ich konnte immer noch nicht antworten.

In mir zog sich alles zusammen. Christopher hatte wirklich recht. Ich war dumm. Dumm genug, dass ich meinen Stiefbruder als meine Mutter missbrauchte und dumm genug, mich wieder auf den Kerl einlassen zu wollen, der mich am meisten hintergangen hatte. Diese Erkenntnis hätte mir vorher schon einleuchten können. Daniel hatte es mir mehr als einmal versucht klar zu machen.

„Ich…ich…mache für heute Feierabend.“, brachte ich gerade noch so heraus, bevor ich mich umdrehte und ging. Christopher folgte mir nicht.

 

Am späten Abend öffnete ich die Haustür und versuchte mich in mein Zimmer zu schleichen. Ich war den ganzen Tag unterwegs gewesen, hatte versucht meinen Kopf frei zu bekommen und das, was Christopher gesagt hatte, zu verarbeiten. Ich hatte für mich alleine gelitten, war im angrenzenden Park spazieren gegangen. Es war nicht viel los gewesen, bitter kalt und der erste Schnee hatte sich auf den Weg gemacht. Eines war mir an diesem Nachmittag allerdings klar geworden. Ich musste dringend mein eigenes Leben auf die Reihe bekommen und aufhören, mich wie ein kleines Kind bemuttern zu lassen. Also nahm ich mir vor, mich weder an meinen Bruder zu hängen, noch jemals wieder Kontakt mit Marc aufzunehmen. Diese Dinge taten mir einfach nicht gut. Ich hatte eingesehen, dass Christopher recht hatte mit dem was er gesagt hatte. Immer war ich mit einer Scheuklappe herumgelaufen und gar nicht gemerkt, was ich den Menschen, die ich am meisten liebte, antat. Vergessen würde ich Marc bestimmt nicht. Dafür liebte ich ihn einfach noch zu sehr. Oder war es vielmehr die Abhängigkeit an ihm? Ich hatte meinen Tagesablauf an ihn angepasst. Es war immer das Gleiche. Ich ging arbeiten, schmiss den Haushalt, kümmerte mich um das Essen und dann wartete ich auf ihn. Zu Beginn unserer Beziehung unternahmen wir zumindest noch ein wenig was mit seinen Freunden, machten uns schöne Filmabende zu zweit oder gingen auch mal ins Kino. Viel zu schnell hatten diese Dinge einfach aufgehört und ich hatte es nicht einmal richtig bemerkt.

„Ian?“, schlaftrunken stand Daniel in der Wohnzimmertür und rieb sich die Augen. Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es bereits spät war.

„Du solltest nicht immer so lange arbeiten. Versteh mich nicht falsch, dein Engagement gefällt mir wirklich gut.“, Dan gähnte und streckte seine Glieder. „Wie auch immer. Ich hau mich hin. Schlaf gut!“

Und schon war er in seinem Zimmer verschwunden. Ein wenig perplex stand ich da und war mir nicht sicher was ich denken sollte. Hatte Christopher ihn nicht angerufen und von dem Vorfall am Mittag berichtet? Eigentlich hatte ich mich bereits damit abgefunden eine Standpauke zu erhalten. Weil ich Marc beinahe nachgegeben hatte und dabei war das bisschen, was ich mir aufgebaut hatte, wieder zu zerstören.

Nach einer kleinen Katzenwäsche schmiss ich mich völlig erledigt ins Bett, tat aber die ganze Nacht kein Auge zu. Mein Herz schmerzte und ich kämpfte gegen den inneren Drang an, wieder loszuheulen.

 

Am nächsten Morgen stand ich zur üblichen Uhrzeit auf und nahm mir vor, den Vorfall von gestern einfach zu ignorieren. Es war mir ziemlich unangenehm wie üblich zur Arbeit zu gehen, aber was blieb mir anderes übrig? Wenn ich Daniel nicht länger eine Last sein wollte, brauchte ich dringend das Geld, um mir was Eigenes zu suchen.

Als ich die Bar betrat, atmete ich erleichtert aus, weil ich niemanden sehen konnte. Ich war wie immer alleine und machte mich gleich daran, in den Hinterhof zu gehen. Vicky musste gestern noch sehr fleißig gewesen sein, denn alle Teile des Tischs, den ich gestern bearbeitet hatte, waren mit einer Grundierung und Klarlack bestrichen. Mir viel auf, dass ihr nicht mal bescheid gegeben hatte. Ich hatte mir einfach meine Sachen geschnappt und war gegangen. Eine Entschuldigung würde wohl das mindeste sein, was ich ihr schuldete.

Mit einem komischen Gefühl im Magen, sammelte ich die Werkzeuge die ich benötigte zusammen und begab mich wieder an die Arbeit. Am liebsten wäre ich wieder abgehauen, doch ich konnte nicht. Nicht dieses Mal! Schon damals hatte ich den Fehler gemacht und meine Probleme jemand anderem überlassen. Daniel hatte mich immer beschützt, die Sachen für mich geregelt und nebenbei sein eigenes Leben gelebt. Was wusste ich schon von ihm? Im Endeffekt war es doch immer um mich gegangen. Ich konnte mich ja nicht einmal an seinen besten Freund erinnern!

„Hey Ian!“, Vicky begrüßte mich lächelnd, als ich gerade eine kleine Pause eingelegt hatte. Der Tag schlauchte unheimlich. Ich war total unkonzentriert und es passierten mir immer wieder kleine Fehler. Entweder übte ich zu viel Druck auf die Schleifmaschine aus, oder nicht genug, sodass sich das Schleifpapier ständig ablöste und in die hinterste Ecke flog. Ich war völlig nervös und hatte insgeheim auch Angst, dass Christopher jeden Moment vorbeischauen würde. Wie viel wusste er eigentlich noch über mich? Und warum war er so an die Decke gegangen? Hatte er Angst, dass ich meine Arbeit nicht zu Ende brachte und ihn hängen ließ? Das musste es wohl sein.

„Ist alles in Ordnung?“, riss meine Kollegin mich aus den Gedanken.

„Ja sicher!“, ich versuchte ein ungezwungenes Lächeln aufzusetzen und stand auf. „Danke noch mal, dass du gestern so gut weitergearbeitet hast.“

„Ach gerne! Chris kam vorbei und hat gesagt, dass du Sachen erledigen musst. Da dachte ich, es kann nicht schaden schonmal weiter zu machen.“

Verblüfft schaute ich sie an. Christopher hatte das also so gesagt? Es wunderte mich, dass er meinem Bruder bis jetzt noch nichts gesagt hatte. Aber das er mich nun auch bei Vicky entschuldigte, konnte ich gar nicht glauben. Mein Chef war ziemlich verschlossen. Wir redeten das Nötigste und das wars. In seiner Gegenwart war ich irgendwie nervös. Aber das musste an seinem unheimlich guten Aussehen liegen. Christopher war sehr groß, gut gebaut und wandte seinen Angestellten gegenüber einen barschen Ton an. Er verkroch sich die meiste Zeit in seinem Büro, hing über den Papieren und manches Mal musste ich dem Drang widerstehen ihm Aufmunternd über den Rücken zu streichen. Chris schien keinen Plan über irgendetwas, was diese Bar betraf, zu haben. Er kannte sich nicht mit der Bar als solches aus und auch die Buchhaltung schien ihm zu schaffen zu machen. Ab und zu kam mein Bruder mal vorbei, um ihm unter die Arme zu greifen. Zumindest glaubte ich das. Manchmal fragte ich mich, was die beiden in dem Büro trieben. Daniel war an manchen Tagen sehr lange da, man bekam keinen von beiden zu Gesicht. Hatte Daniel eigentlich eine Freundin? Ich wusste es nicht. Irgendwie sprachen wir nie über dieses Thema.

„Na schön. Weiter geht’s!“, wollte ich die Stille unterbrechen. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass ich mich ranhalten sollte. Es war bereits zehn Uhr.

Vicky nickte und hielt mit einem Mal in ihrer Bewegung inne. Ich folgte ihrem Blick und erstarrte. Mit aufgerissenen Augen starrte ich Marc an, der in einem dicken Wintermantel steckte und mich ansah.

„Kann ich Ihnen helfen?“, meine Kollegin wandte sich an ihn und funkelte ihn Wimpernklimpernd an.

Doch Marc antwortete nicht, schaute mich weiter an und schien wohl auf eine Reaktion meinerseits zu warten. Irgendwie sah er schlecht aus, anders als auf den Bildern, die ich mir vor ein paar Wochen im Internet angesehen hatte. Was sollte ich denn jetzt machen? Wenn Christopher das mitbekommen würde!

„Ich mach das schon!“, schnellen Schrittes ging ich auf Marc zu und zog ihm am Ärmel hinter mir her.

Wir mussten irgendwohin, wo Chris uns nicht sehen konnte. Aber wohin nur? Im Gebäude angekommen war ich völlig außer Atem und schaute mich nervös um. Gut, es war keiner zu sehen.

„Spinnst du? Was willst du hier? Und wie hast du mich überhaupt gefunden?“, flüsterte ich so leise ich konnte.

Marc musste dringend hier verschwinden!

„Ich habe es dir gesagt, Ian. Ich musste dich einfach sehen! Und dich zu finden war ein Kinderspiel. Hier kennt anscheinend jeder jeden…“

„Du musst gehen! Wenn…“, aufgeregt steuerte ich, noch immer Marc am Ärmel festhaltend, dem Ausgang entgegen.

Doch dieser riss sich mit einem Ruck los und blieb wie angewurzelt stehen. Seine Augen bildeten sich verärgert zu kleinen Schlitzen. „Wenn was? Ist er hier?“

Ich antwortete nicht. Was sollte ich sagen? So, wie Marc dieses ER aussprach, musste er vermuten, dass ich in einer neuen Beziehung steckte. Eigentlich wollte ich das Missverständnis grade aufklären, doch mein Exfreund sprach einfach weiter.

„Hör zu. Es ist mir egal, wer dieser Kerl ist. Ich möchte das du mit mir nach Hause kommst! Ich brauche dich, hörst du!“ Mit zwei Schritten war Marc bei mir angekommen und zog mich in eine enge Umarmung. Er presste seine Lippen auf meine und ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Dieser Kuss ließ alte Erinnerungen hochkochen. Erinnerungen, die eine schöne Zeit mit Marc enthielten. Es war nicht alles schlecht gewesen. Mein Körper reagierte auf den Mann vor mir, als hätte er ihn sehnlichst zurückerwartet. So viele Male hatte ich mir gewünscht, dass er mich so festhalten würde. Seinen Körper an meinem. Für einen kurzen Moment verlor ich mich, nahm was mir gegeben wurde. Er schmeckte immer noch wie früher, stellte ich fest und seufzte in Marcs Küsse hinein. Das musste einfach ein Traum sein, aus dem ich erschrocken hochfuhr, als er seine kalte Hand unter meinen Pulli schob.

Mit aller Kraft drückte ich ihn von mir weg und nahm einen Schritt abstand. Mir war plötzlich richtig warm und ich legte die Finger auf meine brennenden Lippen. Das konnte ich nicht machen. Ich hatte mir etwas vorgenommen und es war nun an mir selbst, meine Vorsätze auch durchzuziehen.

„Ich…“, setzte ich an, doch die Worte blieben mir im Hals stecken.

Hinter Marc erkannte ich Christopher, der mit bitterbösem Gesichtsausdruck dastand und uns beobachtete. Mein Puls beschleunigte sich und ich hatte keine Ahnung wie ich reagieren sollte. Ich spürte, wie meine Wangen anfingen zu glühen, doch ich war zu keiner Bewegung fähig.

Christopher sog den Atem ein und hob angriffslustig die Schultern. Mit einem Satz war er bei Marc angekommen, drehte ihn zu sich um und packte ihn am Kragen.

„Du mieser kleiner Wichser! Habe ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt?“ Christopher spuckte ihm die Worte beinahe entgegen und ich konnte nichts anderes tun, als zuzusehen. Marc wurde etwa einen halben Meter nach hinten geschubst und blieb sehr verdutzt stehen. Er sah so aus, als würde er überlegen einen Gegenangriff zu starten, doch Chris ließ ihm gar nicht die Möglichkeit. Er packte mich an der Hand, zog mich zu sich rüber und legte einen seiner Arme um meine Schultern. Ich war so nah bei ihm, dass ich seinen Geruch wahrnehmen konnte. Chris roch unverschämt gut und benebelte für einen Moment meine Sinne. Am liebsten hätte ich meine Nase tief in seinen Pullover und mich selbst noch näher an ihn gedrückt. Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich hoffte inständig, dass dies hier wirklich nur ein Traum war.

„Also ist er doch dein Neuer.“, stellte Marc fest und war etwas zwischen stink sauer und zu tode betrübt. „Liebst du ihn?“

Das Blut schoss mir in den Kopf und ich versuchte mich aus der Umarmung zu befreien. Christopher hielt mich jedoch so fest, dass es mir gar nicht möglich war, auch nur einen Zentimeter Abstand von ihm zu nehmen. Was sollte das alles nur? Wieso korrigierte er denn nicht alles? Tat er es um meines Bruders Willen? Ich konnte doch jetzt nicht lügen! Die Anspannung in mir stieg noch weiter an und ich verkrampfte. Sollten mir doch alle gestohlen bleiben!

„Christopher, bitte!“, flehte ich ihn an. Ich wollte nur das alles vorbei war.

„Ist schon gut, Süßer!“, Chris lockerte ein wenig seinen Arm und zwang mich durch einen Griff an mein Kinn ihn anzusehen.

Wie bitte? Süßer?

„Du kannst es ihm ruhig sagen! Alles was du brauchst, steht jetzt genau vor dir.“, säuselte er mich an und legte seine Lippen plötzlich auf meine. Es war irgendwie ein unschuldiger Kuss, beinahe hauchte Chris ihn nur. Mir klopfte das Herz bis zum Hals und ich war völlig perplex.  

„Nun liegt es an dir…“, murmelte er mich noch ins Ohr und ließ dann von mir ab.

Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und ein wenig taumelte ich nach hinten. Ich musste mich jetzt wirklich zusammenreißen. Das, was grade hier passierte konnte ich beim besten Willen nicht gebrauchen. Ich war total durcheinander, doch ich durfte Marc nicht einfach wieder in die Arme laufen. Auch wenn ich nicht glauben konnte, dass er tatsächlich vor mir stand, holte ich einmal tief Luft. 

Marc schaute betreten und irgendwie verletzt zu Boden. „Schon gut, du musst nichts sagen. Ich habe es kapiert!“

Diese Aussage kam unverhofft. Er wandte sich ein letztes Mal an mich. „Es tut mir wirklich leid, Ian. Manchmal bemerkt man erst was man hatte, wenn es nicht mehr da ist. Aber glaub mir, ich mache meinen Fehler wieder gut.“ Diese Worte schien er wirklich ernst zu meinen. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ließ er mich zurück und verließ die Bar.

Kapitel 5

 

„Tz…der hat es nicht anders verdient! So ein mieser Wicht!“ Christopher war hinter die Theke getreten und goss sich einen Schluck Wodka ein. Er schien auf Marcs betrübtes Gesicht anspielen zu wollen. „Einfach hier aufzutauchen und dir dann auch noch an die Wäsche zu wollen!“

Er kippte sich den Drink runter und knallte das Glas auf den Tresen. Ich stand nur da und beobachtete ihn fassungslos. Hatte er einen an der Klatsche? Warum mischte er sich jedes Mal in mein Leben ein?

„Und du wärst wieder drauf reingefallen!“, stellte Chris noch immer sauer fest und funkelte mich böse an. „Du kannst froh sein, dass ich da war. Wer weiß was passiert wäre, wenn ich nicht zufällig was zu trinken geholt hätte!“

Allmählich platze mir echt der Kragen! Dieses Mal wäre ich vielleicht nicht auf ihn reingefallen. Wäre es überhaupt ein Reinfall gewesen? Marc schien es nicht gut zu gehen und ein bisschen Hoffnung blieb tatsächlich nach seinen Worten in mir zurück. Doch ganz egal was passiert wäre, oder auch nicht. Christopher hatte nicht das Recht sich da einzumischen. Allmählich leuchtete mir ein, warum er so reagiert haben könnte. Mir schoss mein Bruder wieder in den Kopf. Daniel hatte sich in letzter Zeit auffällig zurückgehalten. Ich glaubte, dass er sich weniger Sorgen machen würde, weil ich mit dem neuen Job so beschäftigt gewesen war. Insgeheim hoffte ich natürlich, dass sich mein Verdacht nicht bestätigen würde, aber sicher war ich mir nicht.

„Sag mal, warum tust du das?“, ich versuchte wirklich ruhig zu bleiben, doch der bloße Gedanke, mein Bruder könnte etwas damit zu tun haben, machte mich richtig wütend.

Chris schaute mich verblüfft an. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich ihm so eine Frage stellen würde.

„Was meinst du?“, fragte er unschuldig und wandte seinen Blick ab. Da stimmte doch etwas nicht!

„Frag nicht so blöd! Du mischst dich die ganze Zeit ein und machst mir irgendwelche Vorwürfe. Du hast doch keine Ahnung von mir und meinem Leben, also warum hältst du dich nicht einfach raus?“

Christopher schaute mich noch immer nicht an und antwortete auch nicht.

„Ihr seid echt das Letzte! Du und mein Bruder! Kümmert euch gefälligst um eure eigene Scheiße!“, schmetterte ich aufgebracht drauf los. Der Freund meines Bruders widersprach mir nicht einmal. Das war doch Beweis genug!

„Ihr könnt mich beide mal am Arsch lecken!“ Aufgebracht setzte ich mich in Bewegung. „Wenn du mich nun entschuldigst, ich habe zu arbeiten!“

 

Den restlichen Tag verbrachte ich damit, die Tische dieses Scheißkerls zu renovieren. Meine Wut wandelte sich in bloße Energie um. Wie konnten die Beiden nur so sein? Hatte Daniel wirklich nicht um den Job für mich gebettelt? Ich glaubte keinem von Beiden ein Wort. Was mich wirklich so rasend machte war, dass ich meinem Bruder vertraut hatte. Klar, ich hatte mich regelmäßig bei ihm ausgeheult und er mit Sicherheit die Nase voll davon. Aber einen für mich Fremden mit ins Boot zu holen, diesem meine Lebensgeschichte zu erzählen und ihn dann auch noch mit meinem ´Schutz´ zu beauftragen, war wohl wirklich nicht zu fassen. Daniel behandelte mich wie einen dreijährigen und ab sofort war damit wirklich Schluss!

„Sag mal, Ian. Hast du Lust heute Abend mal was trinken zu gehen?“, Vicky quatschte mich schon den ganzen Tag voll. Eigentlich mochte ich sie wirklich gerne, aber heute ging sie mir gehörig auf die Nerven. Ich versuchte mich zusammen zu reißen, denn sie konnte am wenigsten etwas für meine schlechte Laune.

„Hör mal, im Moment fehlt mir für sowas die Zeit. Ein andermal vielleicht.“, erklärte ich ihr kurz angebunden und zeigte auf die Tische und Stühle, die wir noch auf Vordermann bringen mussten.

Für einen kleinen Moment schien sie ein wenig enttäuscht zu sein, doch schnell legte sie ihr typisches Vicky-Lächeln wieder auf und nickte eifrig. Ich hoffte inständig, dass sie sich keine Hoffnungen machte. Manchmal klebte sie an mir wie eine Fliege. Unbeirrt machte ich weiter.

 

„Also, ich gehe dann jetzt!“, rief sie mir drei Stunden später zu.

Überrascht brach ich meine Schleifarbeit ab und schaute auf die Uhr. Junge, es war schon 19:30 Uhr. Vicky war wirklich lange dageblieben!

Ich drückte meinen Rücken durch und hob die Hand zum Abschied. „Bis morgen dann! Und danke für deine Hilfe!“

Sie nickte und verschwand. Erledigt setzte ich mich auf einen der Stühle, stütze meine Ellenbogen auf die Knie und bettete den Kopf in die Hände. Was für ein anstrengender Tag. Die Wut, die ich bis vor ein paar Stunden noch gespürt hatte, war wie weggeblasen und zurück blieb ein kleines Häufchen Elend. Die Anspannung, die den ganzen Tag besitz von mir ergriffen hatte, fiel ab. Marc spukte mir im Kopf herum und mein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Für eine Sekunde bereute ich, nicht mit ihm zurück gegangen zu sein. Aber hätte das irgendwas an unserer Situation geändert? Er hatte mir schon so viele Versprechungen gemacht. Und das Ende vom Lied kannte ich ja. Bilder von ihm mit anderen Männern blitzten vor mir auf. Es war nicht so, dass er nur im Versteckten gehandelt hatte. So oft hatte ich vom Fenster aus beobachten können, wie er einem anderen Kerl die Zunge in den Hals steckte. Ich wollte gar nicht wissen, was er sonst noch so mit ihnen getrieben hatte. Im Bett war schon seit langer Zeit flaute bei uns gewesen. Zum einen, weil Marc mich nicht mehr anfasste, zum anderen hatte ich natürlich auch Angst. Ich konnte nicht sicher sein, dass ich mir bei ihm nichts einfing. Warum also fiel es mir so unsagbar schwer ihn gehen zu lassen? Einfach einen Haken hinter unsere gemeinsame Zeit zu machen.

Tränen rannen mir die Wangen herunter und ein leises Schluchzen schlich sich aus meiner Kehle. Was hatte ich getan, um an diesem Punkt anzukommen? Hatte ich Marc zu sehr geliebt? Fühlte er sich von mir in die Ecke gedrängt? Und nun stand ich ganz alleine da. Ich würde einen Teufel tun und mich jemals wieder bei Daniel auszusprechen. Zu allem Übel musste ich feststellen, dass ich jetzt sogar noch beschissener dastand. Alleine, aber mit Job, bei dem der Chef ein Arschloch war. Vielleicht sollte ich wieder weg von hier gehen? Die Leute gingen mir eh aus dem Weg. Wie Marc schon festgestellt hatte, kannte hier jeder jeden. Sobald es die Runde gemacht hatte, dass ich wieder da war, wechselten bekannte Gesichter die Straßenseite oder in Geschäften wurde man notdürftig bedient. Ein Lächeln? Fehlanzeige! Mit einer Schwuchtel wollten die Leute hier nichts zu tun haben. Sie waren sehr altmodisch, was dieses Thema betraf.

Es wunderte mich, dass Vicky noch mit mir zusammenarbeitete. Mit Sicherheit war die Nachricht auch schon bei ihr angekommen. Immerhin ließ sie sich nichts anmerken.

Und dann war da noch Christopher. Warum zum Teufel brachte er mich so durcheinander? Ich hätte mehr von ihm erwartet. Gerade ihm hätte ich nicht zugetraut, sich auf die Spielchen meines Bruders einzulassen. Gedankenverloren berührte ich vorsichtig meine Lippen. Auch dieser Kuss ging mir nicht aus dem Kopf. Obwohl es für Christopher nur ein Spiel, ein Gefallen für meinen Bruder war, war es für mich wohl doch etwas mehr. Am liebsten würde ich noch so viel mehr von ihm bekommen. Er ließ mein Herz schneller schlagen und ich wollte wieder in seinen Armen sein. Für diese Gedanken und Gefühle alleine hätte ich mich Ohrfeigen können.

„Ian?“, Christopher erschien mit einem Mal in der Garage und ich wusch mir ertappt mit dem Handrücken über die Augen.

„Was willst du?“, krächzte ich beinahe und versuchte mich am Riemen zu reißen.

Langsam kam er auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Mit großen Augen starrte er mich an.

„Hast du geweint?“, fragte er gerade heraus und zeigte dabei auf mein Gesicht.

Das Blut schoss mir in die Wangen und ich sprang von Stuhl auf, der mit einem lauten Knallen auf dem Boden landete. Das ging ihn überhaupt nichts an. Ich versuchte mich an Chris vorbei zu drängeln, doch er ließ mich nicht. Er packte mein Handgelenk und hielt mich fest.

„Nun lauf nicht wieder weg! Ich wollte mit dir reden.“, murmelte er kleinlaut. „Die Aktion von heute tut mir leid.“

Ich schnaubte verächtlich und riss meinen Arm wieder frei. Böse funkelte ich den Mann vor mir an. „Ach ja? Was von alledem tut dir denn leid? Das du dich mit meinem Bruder zusammengetan hast? Das du dich mir gegenüber wie ein Arschloch aufführst? Das du dich in meine nichtvorhandene Beziehung einmischt oder das du denkst, mit der kleinen Schwuchtel kann man es ja machen?“ Bei letzterem deutete ich auf den Kuss hin, aber sobald es ausgesprochen war, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Christopher schaute mich mit einem Mal sehr merkwürdig an. Ich wusste es nicht zuzuordnen und wandte meinen Blick ab. War er jetzt sauer oder einfach nur ertappt?

„Ian! Sieh mich an!“, befahl er und aus einem mir unerfindlichen Grund gehorchte ich auch noch.

Christopher seufzte und schaute mir mit seinen unglaublich blauen Augen direkt in meine. Seine braunen Haare waren ziemlich verwuschelt und einzelne Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Er musste unglaublich weiche Haut haben, doch ich widerstand dem Drang, es auszutesten. Sein ernster Gesichtsausdruck nahm ihm nichts von seiner Schönheit. Ja, er war ein sehr schöner Mann!

„Manchmal frage ich mich, was in deinem kleinen Spatzenhirn vor sich geht.“, es war mehr an ihn selbst gerichtet, als an mich. Na schönen Dank auch!

Ich konnte meinen Blick jedoch nicht von ihm abwenden. Irgendetwas faszinierte mich an diesem Mann und ich konnte es nicht genau zuordnen. Er schien mich mit bloßem Augenkontakt gefangen zu halten und ich war nicht in der Lage mich zu bewegen.

„Zum einen habe ich mich nicht mit deinem Bruder zusammengetan. Alles was ich getan habe, habe ich gemacht, weil ich es wollte.“

„Ach, das ist ja noch schöner. Jetzt nimmst du ihn auch noch in Schutz!“, blaffte ich rum.

„Ich nehme niemanden in Schutz, glaub mir oder lass es. Ich habe keinen Grund dir ins Gesicht zu lügen! Zum anderen ja, es tut mir leid, dass ich mich wie ein Arschloch aufgeführt habe. Mir sind die Sicherungen durchgebrannt, als ich diesen miesen Fatzke gesehen habe. Ich hätte es nicht an dir auslassen sollen.“

Ein wenig war ich schon überrascht. Mit so einer Entschuldigung hatte ich nicht gerechnet. Das mit meinem Bruder kaufte ich ihm allerdings nicht ab. Was für einen Grund sollte er haben, sich da von sich aus einzumischen? Ich schnallte es anscheinend wirklich nicht.

„Wie auch immer.“, ich riss mich von Christophers Blick los und fing an, meine Sachen zusammen zu suchen. Ich wollte nur noch nach Hause, mich in mein Bett verkriechen und den heutigen Tag aus meinem Gedächtnis verbannen.

„Ich gehe jetzt nach Hause. Mach alles aus, wenn du gehst.“, sagte ich unnötigerweise und ging an dem Kerl vorbei, der mich noch um den Verstand bringen würde. Mir glühte so langsam der Kopf von dem ganzen Unfug und ich wollte nur noch meine Ruhe haben.

„Warte!“, wurde ich jedoch aufgehalten.

Ich drehte mich genervt zu Christopher um, der plötzlich direkt vor mir stand und mich ansah. Ich hatte das Gefühl er würde durch mich hindurchsehen. Wie erstarrt blieb ich stehen. Er hob seine Hand und legte sie vorsichtig auf meine Wange. Zärtlich strich er mit dem Daumen darüber und kam mir mit seinem Gesicht immer näher. Ich konnte bereits seinen Atem auf meiner Haut spüren, war nicht fähig etwas zu tun.

„Das letzte tut mir nicht leid…“ Und ich spürte seine warmen Lippen auf meinen. Mein Puls beschleunigte sich und automatisch schloss ich meine Augen. Chris kam mir mit seiner Zunge entgegen, eroberte mich im Sturm. Willig öffnete ich mich ihm und ein wilder Kampf entfachte. Ich wurde an einen warmen Körper gepresst und ich wusste gar nichts mehr. Mein Hirn setzte aus und ich ließ mich gerne in diesen Kuss hineinziehen. Als Chris an meiner Unterlippe knabberte, mir seine Zunge wieder und wieder entgegenstreckte, war es ganz um mich geschehen. Meine Sachen, die ich bis eben noch in der Hand hielt, fielen auf den dreckigen Boden, doch es war mir egal. Zögernd legte ich meine Arme um Christophers Hals, presste mich noch mehr an ihn und seufzte in die süßen Küsse hinein. Ich spürte seine warme Hand an meinem Hinterkopf, mit der er mich einfach nur festhielt. Die andere ließ er an meiner Seite entlangwandern und kam auf meiner Hüfte zum Stehen. Wie lange hatte ich auf solche Berührungen verzichten müssen? Grade war es mir egal, dass Chris der beste Freund meines Bruders war. Ich vergaß alles um mich herum.

Atemlos löste er sich von mir, nur um seine warmen Lippen auf meinen Hals zu legen. Er fing an zu knabbern, mit seinen Zähnen leicht in meine Haut zu beißen und mit seiner feuchten Zunge zu lecken. Mir schoss das Blut in untere Regionen und ich keuchte erregt auf. Scheiße, tat das gut!

Christophers Hand wanderte nun unter mein Shirt, strich sanft über den Bauch hinauf zu meiner Brust. Mir stockte der Atem, als er über die Brustwarzen strich und hätte er mich nicht festgehalten, wären mir die Beine garantiert weggesackt.

„Du machst mich verrückt…“, seufzte Chris und presste seine warmen Lippen wieder auf meine. Stürmische Küsse wurden ausgetauscht und ich wurde gegen eine Wand gedrückt. Ich klammerte mich an den Mann vor mir, als würde mein Leben davon abhängen. Das Herz schlug mir bis zum Hals und ich hatte keine Kontrolle mehr über mich selbst. Ich wollte ihn! Und zwar jetzt!

Ich ließ meine Arme nach unten gleiten, fuhr mit meinen Händen über Chris Oberkörper und konnte nur erahnen, was sich unter dem dicken Pullover verbarg. Was ich dort ertasten konnte, gefiel mir und mutig setzte ich meine Wanderschaft fort. Chris küsste mich um den Verstand, rieb seinen Schritt an meinem Bein. Deutlich konnte ich sein hartes Glied wahrnehmen. Wenn nicht gleich etwas passierte, würde ich an Ort und Stelle kommen. Meine Hände machten an seinem Hosenbund halt und ich nestelte umständlich an seinem Gürtel. Dieses verfluchte Ding war nicht aufzubekommen, also rieb ich mit meiner Hand über die dicke Auswölbung. Ein Stöhnen entkam Christopher und er löste sich von meinen Lippen. Keuchend vergrub er sein Gesicht an meinem Hals, stöhnte und atmete stoßweise, was mir einen Schauer nach dem nächsten über den Rücken jagte.

Chris machte sich nun auch an meiner Hose zu schaffen, bekam den Knopf mit einem Handgriff auf und schob mir die Hand in die Shorts. Verfluchte Scheiße noch mal! Ich war wie in Trance, rieb immer schneller und kam kurz darauf mit einem heiseren Keuchen. Blitze blinken vor meinen Augen und völlig erschöpf ließ ich mich zu Boden gleiten. Chris fing mich auf, hielt mich noch immer in seinen Armen und ich wachte allmählich auf. Sanfte Küsse wurden auf meinem Gesicht verteilt, aber in mir zog sich mit einem Mal alles zusammen. Was hatte ich nur getan? Mein Körper fing an zu zittern und ich starrte vor mich hin. Wie bescheuert musste man nur sein? Hatte ich sie noch alle? So nötig konnte es doch kein Mensch haben!

Christopher regte sich mit einem Mal, mir wurde unendlich kalt. Ich war echt das allerletzte! Wie konnte ich mich nur auf so eine Sache einlassen?

„Ist alles okay, Ian?“, seine Stimme kam bei mir nur gedämpft an.

Alles an meinem Körper schmerzte, jede Stelle die er berührte hatte, wollte mehr von ihm. Mein Herz schrie, dass er nicht aufhören sollte, mich festzuhalten, mich zu berühren. Das Chris mich noch immer leicht in den Armen hielt, machte die Sache nicht besser. Ich wusste das dies keine Zukunft hatte. Ich war nur noch ein wirres durcheinander und hatte keine Ahnung was ich tun sollte. Tränen traten mir in die Augen und ich schob Chris von mir weg. Er sollte mich nicht so sehen.

„Geh bitte!“, krächzte ich, ohne ihn anzusehen. Ich konnte ihm nie wieder in die Augen sehen, so viel war sicher.

„Aber…“

„Verschwinde endlich, hörst du!“, brüllte ich los und vergrub mein Gesicht in die Hände. Die Tränen konnte ich nicht mehr aufhalten und ich schluchzte los. Wie ein kleines Kind saß ich da und heulte. Ich wollte nur meine Ruhe haben, warum also war er noch da?

Chris schien nur einen Moment gezögert zu haben, stand dann aber auf und ging wortlos davon.

 

Wie lange ich auf dem kalten Fußboden der Garage gesessen und geheult hatte, wusste ich nicht. Irgendwann hatte ich mich mühselig erhoben, meine Klamotten aufgesammelt und es irgendwie nach Hause geschafft. Ich war völlig durchgefroren und zitterte wie ein Verrückter. In meiner Eile nach Hause zu kommen, hatte ich mich nicht einmal richtig angezogen. Durch den Schweiß, der mir beim eben Erlebten ausgebrochen war, war mir nun einfach nur noch kalt. Meine feuchte Shorts klebte mir unangenehm an der Haut, verhöhnte mich beinahe, weshalb ich gleich das Badezimmer ansteuerte und mich unter den heißen Strahl der Dusche stellte. Mit zittrigen Händen versuchte ich Christopher von mir abzuwaschen, die Erinnerungen fortzuspülen. Doch egal wie sehr ich auch schruppte, es brachte rein gar nichts. Meine Gefühle fuhren Achterbahn und jede Stelle meines Körpers, die er berührt hatte, kribbelte noch immer.

Ich war so ein Vollidiot! Was sollte ich denn jetzt machen? Verdammt noch mal, ich würde mir am liebsten selbst in den Arsch treten. Wie konnte ich ihm, nachdem was passiert war, jemals wieder unter die Augen treten?

Ich musste das einfach irgendwie vergessen!

Träge stieg ich aus der Duschkabine und band mir notdürftig ein Handtuch um die Hüfte. Das musste einfach ein Ende haben. Wie viel sollte ich noch ertragen?

In der Wohnung war es still. Sehr still. Daniel schien nicht zu Hause zu sein. Vorsichtig lugte ich in sein Zimmer, doch auch dort war er nicht. Das Ticken der Uhr hallte in meinen Ohren und ich begab mich ins Wohnzimmer, wo ich die Vitrine öffnete und mir eine Flasche Whiskey herausnahm. Ich öffnete sie und setzte die Flasche direkt an meine Lippen. Einen großen Schluck später, spürte ich das warme Gebräu meine kehle hinuntergleiten. Es brannte ein wenig, doch gleich darauf nahm ich den nächsten Schluck. Ich fasste einen Entschluss. Niemals wieder wollte ich mich auf irgendjemanden einlassen. Niemals!

Kapitel 6

 

„Man Ian. Was machst du denn hier?“

Von weiter Ferne nahm ich die Stimme meines Bruders wahr. Mein Körper wurde durchgeschüttelt und es fiel mir schwer, die Augen zu öffnen. Mein Blick wanderte verschwommen um mich herum, es war dunkel. Ich schmeckte meinen ausgetrockneten Mund und ließ mich einfach nur hängen. Meine Kraft hatte sich scheinbar verabschiedet, es fühlte sich alles irgendwie unwirklich an.  Ja, so konnte es bleiben. Innerlich spürte ich gar nichts. Alles war wie tot, wie betäubt und ich spürte wie sich meine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Es war schön. Einfach hier zu sein und nichts mehr zu spüren. Der Schmerz in meinem Herzen war weg, meine Gedanken in einen dunklen Schleier gehüllt.

 

„Jetzt steh auf, verdammt!“

Erschrocken fuhr ich hoch, blinzelte gegen das helle Tageslicht an und schaute mich verwirrt um. Ich lag in meinem Bett, so viel war sicher.

„Na Dornröschen, aufgewacht?“, Daniel stand im Türrahmen, hatte die Arme verschränkt und blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an.

„Wie spät ist es?“ Mein Kopf hämmerte wie wild. Ein dumpfer, klopfender Schmerz signalisierte mir, dass ich am gestrigen Abend wohl etwas falsch gemacht hatte.

Nur langsam kamen meine Erinnerungen zurück, aber ich wollte sie auch gar nicht.

„Du hast verschlafen. So viel ist sicher!“, kam nach einer gefühlten Ewigkeit die Antwort.

Mühselig rappelte ich mich aus dem Bett und stellte fest, dass ich völlig unbekleidet war.

Daniel seufzte und schüttelte den Kopf. „Zieh dir was an. Der Kaffee ist fertig.“ Und dann verschwand er wieder.

Er hatte gut reden. So einfach war das gar nicht. Mein Kopf bollerte und jeder Schritt tat mir weh. In meinem Hals kratzte es. Wie viel hatte ich denn gestern noch getrunken? Plötzlich musste ich auch noch niesen. Na toll. Eine Erkältung passte mir grade gar nicht!

Ich zog mir ein paar frische Sachen aus dem Schrank und zog sie mir über. Es war kalt. Mir war kalt.

Als ich in die Küche geschlurft kam und mich mit hängendem Kopf an den Tisch setzte, knallte mir Daniel eine Tasse vor die Nase. Zumindest hörte es sich so an. Ich musste schon wieder niesen.

„Gesundheit!“

Ich schaute meinen Bruder an, der sich zu mir an den Tisch begab. Emotionslos schaute ich ihn an.

„Was ist los?“, fragte er und hielt meinem Blick stand.

„Was soll sein?“, beantwortete ich ihm kurz und knapp.

Daniel seufzte und schüttelte den Kopf. „Und warum hast du dir gestern dann bitte eine Flasche Whisky reingezogen? Ich habe dich übrigens ins Bett gebracht.“

„Hatte Lust dazu. Darf man das hier nicht?“

„Doch Ian, darfst du. Aber muss es unbedingt mitten in der Woche sein? Was ist plötzlich los mit dir?“

Angriffslustig starrte ich meinen Bruder an. Er wollte also wirklich wissen was los war, oder? Aber den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Ein fieses Lächeln legte sich auf meine Lippen. „Was mit mir los ist? Ich hatte gestern einfach meinen Spaß. Großer braunhaariger Kerl, blaue Augen, hübsches Gesicht! Du kennst ihn sicher…“

Mein Herz zog sich zusammen, doch ich behielt die Fassung. „Weißt du, eigentlich geht dich das gar nichts an! Bist du meine Mutter oder so?“

Daniels Gesichtsausdruck spiegelte seine Fassungslosigkeit, doch er sagte nichts, verschränkte nur seine Arme vor der Brust. Ich hatte ihn also genau da, wo ich ihn haben wollte. Lässig stand ich auf, nahm noch einen Schluck von meinem Kaffee und stellte die Tasse vorsichtig ab.

Wortlos ließ ich ihn stehen, musste in meinem Zimmer jedoch einmal kurz schwer atmen. Innerlich konnte ich wieder diesen Schmerz spüren, doch dieses Mal lief es anders. Der Schmerz würde irgendwann vorübergehen, dessen war ich mir bewusst. Vielleicht würde es lange dauern, sehr lange, doch ich konnte mich noch genau daran erinnern was ich mir selbst gestern geschworen hatte. Denn noch einmal würde ich so eine Demütigung nicht ertragen. Ich musste mich jetzt alleine durchbeißen! Der jammernde, kleine Junge, der bisher mein Leben bestimmt hatte, war Geschichte. Ich durfte ihn nie wieder aus mir herauslassen, denn das würde mein Herz nicht weiter ertragen!

 

Vor der Bar angekommen atmete ich einmal tief durch. Es war bereits Mittag und mir dröhnte trotz der Medikamente der Kopf. Jetzt hieß es Augen zu und durch. Ich brauchte den Job weiterhin. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Arschbacken zusammenzukneifen. Der Zeitpunkt war also gekommen! Ich nahm den Türgriff in die Hand und steuerte in ein ganz neues Leben, mein neues Leben!

 

„Na, dass du auch noch auftauchst, hätte ich ja nicht gedacht!“, lachte Vicky und kam mir bereits ein paar Schritte entgegen. Ich starrte die Garage an, in der ich gestern zum zweiten Mal mein Herz verloren hatte. Meine Wangen fingen an zu glühen und ich schüttelte schnell den Kopf.

„Ja, ich hab wohl ein wenig verschlafen. Entschuldige.“, plapperte ich drauf los und ging zielstrebig weiter.

„Macht ja nichts! Also…“, sie zeigte mir, was sie bereits erledigt hatte und ich ging auf ihr Gespräch ein. Wenn wir so weitermachten, könnten wir die Bar spätestens gegen Ende nächster Woche wiedereröffnen.

„Gute Arbeit, wirklich!“

Vicky bekam rote Wangen und nickte mir aufmunternd zu, bevor wir uns beide wieder an die Arbeit machten.

„Hatschi!“ Verdammt noch mal. Diese Nieserei ging mir gehörig auf den Keks. Allgemein fühlte ich mich ein wenig schlapp, schob es aber auf den Restalkohol von letzter Nacht. Ich stellte das Schleifgerät aus und nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Schweißperlen liefen mir übers Gesicht und ich wusch sie mir mit dem Ärmel weg. Meine Kollegin schaute mich besorgt an, sagte aber nichts und pinselte fleißig weiter. Gerade wollte ich weitermachen, als ich eine nur allzu vertraute Stimme wahrnahm.

„Na, wie siehts hier hinten aus?“ Mir gefror das Blut in den Adern. Christopher erschien plötzlich hinter mir und ich konnte mich für einige Sekunden nicht bewegen. Schnell erlangte ich meine Fassung zurück und drehte mich betont lässig um.

„Wie solls schon aussehen? Wir arbeiten.“, erklärte ich kurz angebunden und deutete auf das Mobiliar, was wir noch bearbeiten mussten.

Christophers Augen ruhten auf mir und dabei schien er es belassen zu wollen. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper und er kam mit schnellen Schritten auf mich zu. So schnell wie er war, konnte ich gar nicht reagieren und hatte mit einem Mal seine warme Hand auf meiner Stirn.

„Du hast Fieber!“, stellte er entgeistert fest.

Schnell kam ich wieder zur Besinnung und schlug seine Hand weg. Er sollte mich nie wieder anfassen!

„Fass mich nicht an!“, blaffte ich ihn an und nahm ein paar Schritte abstand. Vicky war aufgeschreckt und starrte uns beide überrascht an. Sie hielt sich allerdings sehr bedeckt, beobachtete uns nur.

Christopher schien genauso überrascht zu sein wie sie und zog seine Hand allmählich wieder zurück. Ich konnte spüren wie er mich beobachtete und versuchte ein weiteres Niesen zu unterdrücken.

„Wie du meinst…“ Er wandte sich von mir ab. „Vicky? Was meinst du wie lange ihr noch braucht?“

Vicky schaute erst zu mir und dann wieder zu unserem Chef. „Ich, äh…“, stotterte sie los, erklärte ihm aber dann, was wir bereits festgestellt hatten.

Chris bedankte sich bei ihr für die Information und machte sich dann auf den Weg in sein Büro.

„Ian?“, vorsichtig beäugte meine Kollegin mich.

„Hm?“

„Keine Ahnung was da zwischen euch vorgefallen ist. Und eigentlich geht es mich ja auch gar nichts an. Aber ich muss ihm leider recht geben. Du siehst krank aus. Bist du sicher das es dir gut geht?“

Ihre Direktheit überraschte mich. Trotzdem wollte ich mich ihr nicht anvertrauen. Ich lächelte sie also an und versicherte, dass es mir gut ging. Wie es in meinem Inneren aussah, konnte und wollte ich ihr gar nicht erst erzählen.

 

Den Rest der Woche gaben Vicky und ich alles. Zwar hielt ich mich nur mit Medikamenten über Wasser, doch ich wollte meine Kollegin auch nicht hängen lassen. Wir arbeiteten bis spät in den Abend und waren eigentlich schon ein gut eingespieltes Team. Ich musste zugeben, dass diese Frau gar nicht so übel war, wie ich gedacht hatte. Wir hatten viel Spaß zusammen und sie lenkte mich von meinen miesen Gedanken ab. Meinem Bruder und Christopher gegenüber, gab ich mich betont lässig und ließ mir von meinem Gefühlschaos nichts anmerken. Daniel versuchte zwar immer wieder das Gespräch bei mir zu suchen, doch mit meiner ekeligen Art ihm gegenüber hatte ich ihn schnell vom Hals.

Am Freitag arbeitete ich alleine weiter. Vicky hatte sich freigenommen, um ihrer Familie bei Geburtstagsvorbereitungen zu helfen. Als es bereits dunkel wurde, setzte ich den letzten Pinselstrich und atmete erleichtert aus. Geschafft! Die Farbe konnte nun über das Wochenende trocknen und am Montag konnten wir die Tische und Stühle, die im neuen Glanz strahlten, wieder ins innere des Gebäudes bringen. Alles würde wunderbar aussehen und ein bisschen Stolz war ich schon.

Ein kalter Windzug durchströmte die Garage im Hinterhof und ich zog unwillkürlich meinen Schal ins Gesicht. Wenn man hier nur rumstand und mit dem Pinsel arbeitete, kroch einem die Kälte viel schneller die Knochen hoch. Ich musste husten und mir fiel auf, dass ich meine Medikamente heute Mittag nicht genommen hatte. Meine glühende Stirn hielt ich mit einem Fiebersaft in Schach. Am Wochenende sollte ich mich wohl ein bisschen ausruhen.

Ich beeilte mich, alle Materialien aufzuräumen und alles zu verriegeln. Mir fiel auf, dass ich mein Handy im Barbereich liegen lassen hatte und lief eiligen Schrittes ins Gebäude. Dort angekommen huschten meine Augen über den Tresen und wurden bald darauf fündig. Ah, da war es ja. Schnell war das Telefon in meiner Jackentasche verstaut und kurz überlegte ich, ob ich auch hier alles zuschließen musste. Christopher hatte sich heute zum Glück nicht blicken lassen und das war auch gut so. Ob er die Tür von innen wieder aufschließen konnte, wenn ich sie einfach verriegeln würde, fragte ich mich im Stillen, musste dann aber aufhorchen. Laute Stimmen drangen an mein Ohr und meiner inneren Neugierde war es zu verdanken, dass ich mich leise an Christophers Büro schlich.

„Kannst du mir mal verraten, was du mit meinem Bruder angestellt hast?“, hörte ich Daniels Stimme brüllen.

„Wieso denn bitte ich?“, brüllte Chris zurück.

„Du willst mich wirklich verarschen oder? Er säuft sich doch nicht ohne Grund so zu! Bei seinem Ex habe ich übrigens schon angerufen. Und er hat mir ein paar nette Dinge erzählt!“

Es kam keine Antwort.

„Jetzt mach schon den Mund auf! Oder soll ich dich daran erinnern, was Ian zu mir gesagt hat? Großer Kerl, braune Haare, blaue Augen, he? Klingelt es da vielleicht bei dir? Bei mir nämlich schon, und nachdem ich Marc angerufen hatte musste ich nur eins und eins zusammenzählen. Was denkst du, auf wie viele Kerle diese Beschreibung passt?“

Chris schien irgendwas zu sagen, was ich aber beim besten Willen nicht verstehen konnte. So sehr ich mich auch anstrengte. Viel schlimmer war jedoch, dass sie sich mal wieder einmischten. Daniel hatte bei Marc angerufen? Wie dreist war er eigentlich? Wut stieg in mir hoch und ich kam aus meiner Deckung heraus, straffte die Schultern und ging zielstrebig auf die Bürotür zu. Ohne anzuklopfen riss ich die Tür auf und starrte sauer in zwei völlig überraschte Augenpaare.

„Na, überrascht?“ Ich war selbst ganz perplex, dass ich so überheblich klingen konnte. Aber dieses Spiel steuerte zum ersten Mal ich und durch meine Wut angefacht, wollte ich auch gar nicht damit aufhören.

„Macht ruhig weiter!“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah die Beiden an. Doch sie schwiegen und starrten mich, wie zwei erschrockene Karnickel an. Gemächlich ging ich auf Chris zu. Auf ihn hatte ich es am Meisten abgesehen. Aus einem mir unerklärlichen Grund, wollte ich ihm wehtun. So, wie mir wehgetan wurde. Eigentlich erkannte ich mich selbst nicht mehr.

„Was ist? Hats dir die Sprache verschlagen? Vielleicht sollte ich dir behilflich sein!“ Als ich bei Christopher ankam, strich ich lasziv über seinen Oberkörper und ich merkte, wie er bei meiner Berührung zusammenzuckte. Doch noch immer sagte er kein Wort. War ja klar gewesen, dass er den Schwanz einzog! Ich schaute nun in die Richtung meines Bruders, der auch nur perplex glotzen konnte.

„Nun sag mir nicht, er hat es dir nicht erzählt.“, fragte ich ihn gespielt enttäuscht. „Wie kommt es, dass ihr sonst über alles, was mich betrifft, die Klappe nicht halten könnt und sowas wichtiges einfach auslasst?“

Ich atmete tief ein und sammelte meine Energie. Ich war so gut in Fahrt, dass ich gar nicht mehr aufhören konnte. Ihre dämlichen Gesichter bescherten mir eine unglaubliche Zufriedenheit, die ich kaum in Worte ausdrücken konnte. Was wohl grade in ihren Köpfen vorging?

„Jetzt bin ich aber enttäuscht! War ich dir nicht gut genug?“, ich klimperte Chris an und setzte einen beleidigten Schmollmund auf. „Du hast ihm nicht von unserem kleinen Erlebnis in der Garage erzählt?“

Meine Laune schwang um, ich hatte genug von der Spielerei. Verärgert verengten sich meine Augen und die Stirn zog sich kraus. „Was ist, Daniel? Wolltest du das hören? Möchtest du auch wissen wie ER…“, und ich zeigte mit meinem Finger auf seinen besten Freund. „…es mir besorgt hat? Möchtest du wissen, wo er mich überall berührt hat? Das es geil gewesen war?“

Ich konnte mich nicht mehr stoppen. Innerlich war ich einfach nur noch kaputt. Kaputt von der Folter aus meiner Schulzeit, kaputt durch meine letzten Jahre mit Marc und kaputt durch die fiese Heuchlerei dieser ach so tollen Freunde.

Ich wandte mich wieder an Chris. „Oder war es nicht so? Dir hats doch genauso gefallen, oder war es dir nicht gut genug? Wir können gerne weiter gehen! Jetzt gleich! Vielleicht mag mein Bruder ja zusehen, damit auch kein einziges Detail ausgelassen…“

Ein lautes Klatschen ertönte und mir brannte die Wange vor Schmerz. Daniel war mit einem Satz bei mir und hatte mir mit aller Kraft eine gelatscht.

„Es reicht! Hör auf damit!“, brüllte er mich an und zitterte am ganzen Körper.

Ich widerstand dem Drang mir die Wange zu halten und spürte Tränen, die mir in die Augen schossen. Vielleicht war ich zu weit gegangen, aber im Moment war mir alles gleichgültig. Mein Ziel hatte ich erreicht, also gab es keinen Grund mehr für mich, länger hier zu bleiben.

Mein Bruder bebte vor Wut und ein Blick in Christophers schmerzlich verzogenes Gesicht zauberten mir ein kühles Lächeln aufs Gesicht. So war es also, wenn man andere verletzte.

„Bitte, wie ihr wollt.“ Ich hob abwehrend die Hände und schob mich an meinem Bruder vorbei.  Mit einem „Ich mache Feierabend!“ setzte ich mich in Bewegung.

Die Rufe nach meinem Namen ignorierte ich und begab mich auf den Weg nach draußen.

Kapitel 7

 

Als ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich hielt mir meine brennende Wange und schluchzte los. Verdammt, ich konnte hier nicht so rumstehen. Mit meinem Jackenärmel wusch ich mir übers Gesicht und nahm die Beine in die Hand.

Mein Weg führte mich in den angrenzenden Park, in dem ich vor einiger Zeit schonmal gewesen war. Kleine Straßenlaternen erleuchteten den Gehweg und ich setzte meinen Weg bis zu einer kleinen Bank fort. Mit einer Hand schob ich den Schnee von dieser und setzte mich. Wie erhofft war hier niemand. Ich zog die Beine an meinen Oberkörper und atmete kleine weiße Wölkchen in den Himmel. Er war beinahe schwarz, die Sterne funkelten wunderschön und ich fühlte mich alleine.

Was mich grade zu dieser Aktion geritten hatte, wusste ich selber nicht. In diesem Moment hatte ich eine ungeheure Genugtuung verspürt. Meine Wut musste ein Ventil gefunden haben. Irgendwie bereute ich es, denn mir war klar, dass ich nun alles an den Nagel hängen konnte. Ich hatte die Gutmütigkeit meines Bruders mit Füßen getreten und den Mann verletzt, in den ich mich letztendlich verliebt hatte. Den Job war ich dann wohl auch los. Warum hatten sie sich nicht einfach raushalten können? Dann wäre das alles nicht passiert. Mir fiel auf, dass ich schon wieder andere für meine Fehler verantwortlich machte. Ich wusste nur einfach nicht mehr weiter.

Ich schloss die Augen, atmete die kühle Luft ein und schloss die Augen. Ich war alles so satt gewesen. Dieser ständige Herzschmerz, die Verwirrtheit und das ich nicht wusste, wo ich stand. In meinem alter sollte man doch ein gestandenes Leben haben, eine feste Beziehung, einen Job, der einem lag. In meinem alter sollte man nicht bei seinem Bruder unterkommen und dann auch noch was mit dessen besten Freund anfangen. Wenn die Beiden sich nun zerstritten, war das alles meine Schuld!

Ein zittern durchfuhr meinen Körper, obwohl mir immer noch unheimlich warm war. Ich musste wieder husten und die Nase lief. Mit einem Taschentuch wusch ich mir den Rotz von der Nase und kramte nach meinem Handy.

Ich musste mir irgendwas einfallen lassen. Zurück in Daniels Wohnung wollte ich nicht mehr. Aber da hörten meine Ideen auch schon auf. Als nächstes kam mir Vicky in den Sinn. Doch auch die wollte ich nicht mit mir belasten. Sie hatte genug zu tun und war bestimmt schon mit ihrer Familie in Feierstimmung.

Ein Blick auf mein Display zeigte mir 31 verpasste Anrufe. 28 waren von Daniel, vier von einer Nummer die ich nicht kannte. Ich schloss das Anrufprotokoll und ging meine Kontakte durch. Alexander, Levin und Jutta kamen nicht in Frage. Daniel, der Pannenservice und zahlreiche andere mir unbekannte Nummern, auch nicht. Mein Blick blieb an Marcs Namen hängen. Ob ich ihn anrufen sollte? Würde Marc mich von hier wegholen und wir lebten glücklich bis ans Ende unserer Tage?

Ich schüttelte den Kopf und verwarf den Gedanken gleich wieder. Ein leises Kichern entkam mir, als ich mir Marc auf einem weißen Ross vorstellte. Heldenhaft würde er mich retten und aus den Fängen des Bösen befreien. Was für ein Schwachsinn! Immerhin konnte ich wieder an ihn denken, ohne gleich diesen fiesen Schmerz zu spüren.

Seufzend schaute ich auf die Uhr. Es war bereits 23 Uhr. Ewig konnte ich hier nicht sitzen bleiben. Müde erhob ich mich von der Bank und schlenderte noch ein bisschen durch den Park.

 

Mitten in der Nacht stand ich dann doch vor der Haustür meines Bruders und knirschte mit den Zähnen. Leider war mir nichts anderes eingefallen. Ich hatte weder genug Geld um in einer Pension unterzukommen, noch um irgendwohin zu fahren. Wie ich dieses beschissene kleine Kaff doch hasste. Immerhin war ich selbst schuld an der ganzen Misere. Hätte ich mich nicht so blöde aufgeführt, müsste ich jetzt keine Angst haben, nach Hause zu kommen. Aber ich brauchte dringend ein warmes Bett. Ich war ausgelaugt und müde, wollte mir keine Gedanken mehr um irgendwas machen.

Mit zitternden Fingern kramte ich den Schlüssel aus der Tasche und versuchte ihn so leise wie möglich im Schloss umzudrehen. Vor der Tür hatte ich bereits meine Schuhe abgestreift, um unbemerkt in mein Zimmer verschwinden zu können. Daniel hatte natürlich weiter versucht mich zu erreichen und irgendwann schaltete ich dieses nervige Ding einfach aus.

Im inneren der Wohnung schien alles dunkel zu sein. Daniel war es bestimmt leid gewesen auf mich zu warten und hatte sich schon hingelegt. Ich an seiner Stelle hätte es jedenfalls so gemacht. Konnte ich das jemals wieder gut machen, was ich heute verbockt hatte?

So leise wie es mir eben möglich war, schlich ich bis zu meiner Zimmertür. Da ich wusste, dass der Knauf knatschte, betätigte ich ihn extra vorsichtig. Geschafft! Die Tür stand auf und ich hatte kaum einen Mucks von mir gegeben. Erleichtert atmete ich aus. Jetzt musste ich nur noch reingehen und…eine große Hand wurde mir auf den Mund gepresst und mein Körper umklammert. Mit einem Ruck war ich in meinem Zimmer und die Tür verschlossen. Ich versuchte mich gegen den Angreifer zu wehren, doch dieser ließ mich nicht los. An meinem Rücken spürte ich einen männlichen Körper, der mir irgendwie bekannt vorkam. Mein Atem beschleunigte sich und ich bekam durch die Erkältung kaum noch Luft durch die Nase. Was wollte dieser Kerl bei uns? In dieser Wohnung gab es doch gar nichts zu holen.

„Schsch…“, wurde mir ins Ohr geflüstert und der Griff ein wenig gelockert. „Daniel ist grade erst eingeschlafen. Es wäre ärgerlich, wenn du ihn jetzt wecken würdest.“

Mein Körper versteifte sich und ich versuchte aus Christophers Armen zu entkommen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Er hatte mir eine Heidenangst eingejagt. Der Mann hinter mir hielt mich noch immer fest, schlang seine Arme um meinen Körper. Seine wärme umgab mich und mir schwirrte der Kopf. Was wollte er nur hier?

„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht…“, murmelte Chris. Ich konnte seinen Atem in meinem Nacken spüren und mich überkam eine Gänsehaut. Am liebsten hätte ich mich an diesen Blödmann gelehnt, endlich alles fallen gelassen. Doch ich konnte es nicht. Mein Verhalten den Beiden gegenüber war unfair gewesen, das wusste ich. Wie sollte es denn weitergehen? Als wäre nichts gewesen?

„Zieh erstmal deine Sachen aus…“, Christopher sprach noch immer leise und ließ mich los. Mir schoss das Blut in die Wangen. Was meinte er denn jetzt damit?

„Deine Jacke!“, stellte er entrüstet fest und schüttelte den Kopf. Er ging an mir vorbei, bis zu meinem Bett und schaltete ein kleines Lämpchen auf dem Nachttisch ein. Sofort war ich von dem Licht geblendet, schaute ein wenig zur Seite und blinzelte gegen das Beißen in meinen Augen an. Außerdem wollte ich Christopher nicht ansehen. Und er sollte auch mich nicht ansehen. Mein Aussetzer war mir unsagbar peinlich und ich wusste noch immer nicht, was ich sagen sollte. Keine Entschuldigung der Welt konnte das wieder gut machen.

Chris schien meine Befangenheit zu merken und kam langsam wieder auf mich zu. Er stand nun direkt vor mir, ich konnte seine Wärme bereits spüren. Mit schnellen Handgriffen hatte er den Reißverschluss meiner Jacke geöffnet und sie mir ausgezogen. Kurz darauf folgte auch der Schal. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, also begab ich mich aus meiner Starre, ging an Chris vorbei und setzte mich aufs Bett. Er hielt noch immer meinen Schal in seinen Händen, beobachtete mich, aber sagte nichts mehr.

Ich hatte keine Ahnung wie lange wir uns angeschwiegen hatten, also nahm ich all meinen Mut zusammen und murmelte: „Es tut mir leid…“

Als hätte Christopher nur darauf gewartet, war er in zwei Schritten bei mir angekommen und kniete sich vor mich.

„Du musst nichts sagen. Nicht heute…“, seine warme Hand fand den Weg auf meine Wange. Ich schloss die Augen und schmiegte mich an sie.

„Scheiße! Du glühst ja!“ Seine Hand verschwand wieder und ich öffnete die Augen. Auch Christopher war verschwunden. Um seine Aussage zu überprüfen legte ich mir die eigene Hand an die Stirn und stellte fest, dass er recht hatte.

Keine Minute später kam er mit einem kühlen Lappen wieder, den er jedoch auf dem Nachttisch platzierte. Mir wurden irgendwelche Medikamente gereicht, die ich bereitwillig schluckte.

Ohne weitere Kommentare und so schnell das ich gar nicht reagieren konnte, zog Chris mir den Pullover samt Shirt über den Kopf. Er zeigte auf meine Hose und bat mich sie auch auszuziehen.

„Du spinnst wohl!“, empörte ich mich wohl ein bisschen zu laut, denn im nächsten Moment hatte er mir einen Finger auf die Lippen gepresst.

„Psst. Du willst doch nicht, dass Daniel mitbekommt das du da bist, oder?“

Wenn ich es mir recht überlegte, schon. Er würde diese peinliche Situation zumindest beenden und mich hier rausholen. Aber wollte ich das? Es war rührend wie Chris sich um mich kümmerte und sein besorgter Gesichtsausdruck war süß. Ich war froh, dass er nicht sauer auf mich zu sein schien. Der Gedanke an sein verletztes Gesicht versetzte mir einen Stich. Das ich diesen Ausdruck auch noch herbeigeführt hatte, machte es noch schlimmer.

„Nun stell dein Spatzenhirn mal aus und mach was ich sage. Keine Sorge, ich will dir nicht an die Wäsche!“

Christopher gab sich gespielt beleidigt und als ich seinen Schmollmund sah, musste ich sogar ein wenig lachen.

„Und was war das dann eben?“, deutete ich auf die Sache mit meinem Pullover hin. Immerhin saß ich hier unverschuldet mit freiem Oberkörper.

Als ich seinen erschrockenen Gesichtsausdruck daraufhin sehen musste, presste ich mir vorsichtshalber die Hand auf den Mund, um nicht laut loszuprusten.

„Du fieser kleiner…“

„Schon gut, schon gut. Ich mach ja schon.“, hastig stand ich auf und drehte mich peinlich berührt von ihm weg.

Kurz darauf wurde das Licht ausgeschaltet und ich atmete erleichtert aus. Mir glühte das Gesicht und ich wusste nicht, ob es wegen dem Fieber war, oder weil Chris mich einfach nervös machte. Wieso schien er kein Stück sauer auf mich zu sein? Er hatte doch allen Grund dazu. Ich war derjenige gewesen, der ihn vor seinem besten Freund bloßgestellt hatte. Was Daniel wohl über die Sache zwischen uns dachte?

Mit einem Seufzen stieg ich aus der Jeans und ließ sie achtlos auf dem Boden liegen.

„Und jetzt leg dich einfach hin.“

Ich gehorchte und kuschelte mich in die weichen Kissen. Ah, wie hatte ich das vermisst. Mit einem Mal war ich total erschöpft und ein bisschen von der ganzen Anspannung fiel von mir ab.

„Rutsch mal.“ Chris legte sich zu mir und schob mich ein wenig unsanft zur Seite. Ich hatte gar keine Möglichkeit zu widersprechen, denn im nächsten Moment hatte ich einen eiskalten Lappen im Nacken. Ich kommentierte dies mit einem Zischen und schon spürte ich seinen warmen Körper hinter mir. Hatte er sich etwa auch ausgezogen? Ich spürte seine nackte Haut an meiner und etwas schöneres hätte ich mir in dem Moment nicht vorstellen könne. Chris schob einen Arm unter meinen Kopf und den anderen legte er behutsam über meinen Oberkörper. Es fühlte sich nicht so an, als würde er mehr als diese Umarmung von mir verlangen, also ließ ich ihn. Christophers Wärme umgab mich wie einen Schutz und ich schmiegte mich noch mehr in seine Arme. Ich spürte wie meine Wangen feucht wurden und ich verfluchte mich, dass ich schon wieder am Heulen war. Ein leichtes Beben ging durch meinen Körper und ich versuchte krampfhaft dies zu unterdrücken.

„Ist schon gut…“, beruhigend strich der Mann, dem mein Herz einfach so zugeflogen war, über meinen Oberarm.

Mit dem Gedanken, ob dies hier überhaupt alles okay war, schlief ich kurz darauf ein.

 

Als ich wach wurde, war es irgendwie diesig. Die Vorhänge waren zugezogen und es schien noch sehr früh zu sein. Chris hielt mich noch immer in seinen Armen. Sein warmer, gleichmäßiger Atem streifte mein Gesicht. Er sah im Schlaf so ganz anders aus, irgendwie verletzlicher. Es war schön, dass er noch hier bei mir war und ich entspannte mich ein wenig. Irgendwie hatte ich die Angst gehabt, er wäre nicht mehr da, wenn ich aufwachen würde. Nur einen kleinen Moment noch, dachte ich lächelnd, schloss die Augen wieder und schlief ein.

Ein lautes Rumsen riss mich auch meinen Schlaf und erschrocken richtete ich mich auf. Was zum Henker war das gewesen? Es rumste wieder und genervt stellte ich fest, dass draußen ein Gewitter herrschte. Regen prasselte laut an die Fensterscheiben und immer wieder dröhnte ein Donnerschlag durch das Zimmer. Ich schaute neben mich und stellte fest, dass ich alleine war. Unsicher tastete ich die leere Seite meines Bettes ab und war erleichtert, dass die Laken noch warm waren. Christopher musste also noch nicht lange wach sein. Verunsichert ließ ich mich wieder auf den Rücken gleiten und legte mir den Arm übers Gesicht. Ich schien noch immer ein wenig warm zu sein, doch das Glühen war verschwunden.

Von außen drangen leise, murmelnde Stimmen in den Raum. Dan und Chris schienen sich in der Küche zu unterhalten. Ich zog mir die Decke über den Kopf und schmollte mal wieder vor mich hin. Was sollte ich denn jetzt machen? Ich konnte doch nicht einfach da raus gehen und tun, als wäre meine Arschlochseite nie aus mir ausgebrochen. Irgendwann musste ich das tun, das wusste ich.

Nervös drehte ich mich von einer Seite auf die nächste. Ahhh, ich würde noch verrückt werden!

„Willst du nicht rauskommen?“, Christophers Stimme drang an mein Ohr, doch ich konnte ihn nicht sehen. Ich hatte noch immer die Decke über dem Kopf und ich würde einen Teufel tun und meine Festung aufgeben.

„Nein…ich bleibe lieber hier und sterbe…“, denn danach war mir wirklich zumute.

Daraufhin folgte eine kurze Pause, danach hörte ich Schritte die näher kamen. Mit einem Ruck war Chris unter meine Decke geschlüpft und lehnte seine Stirn an meine. Die Jeans, die er bereits wieder trug, scheuerte unangenehm an meinem Oberschenkel.

„Ein Glück! Das Fieber geht runter…du musst also nicht sterben.“ Dieser gutaussehende Mann schaute mich liebevoll an und ich verlor mich für einen kurzen Moment in seinen unglaublichen Augen.

„Bist du sicher? Ich meine…vielleicht tickt dein Stirnthermometer nicht ganz richtig…“, maulte ich rum.

Christopher grinste mich an und zog mich in seine Arme. „Er wird dir nicht den Kopf abreißen. Jedem brennt mal eine Sicherung durch. Und außerdem hat das Ganze auch seine guten Seiten.“

„Ach, ist das so? Was bitte kann denn daran gut sein? Du müsstest sauer auf mich sein. Aber nein…“

Ich konnte es nicht fassen. Schien dem Kerl den ganzen Tag die Sonne aus dem Arsch?

„Naja…zumindest brauche ich mich nicht mehr zurückhalten, wenn ich das hier machen will…“, er kam meinem Gesicht immer näher und legte ganz zaghaft seine Lippen auf meine. Ich schloss die Augen, griff in seinen Pullover und seufzte in den Kuss hinein. Meine Zunge fand von ganz allein den Weg in seine Mundhöhle, er kam mir leicht entgegen. Mit einem Mal zog Chris sich aber wieder zurück. „Was ich sagen wollte…ich…ich mag dich sehr, Ian. Und ich hätte gerne mehr von dir…aber wenn dir das zu schnell geht…ich meine…sag es einfach…“

Chris schien diese Ansage sehr schwer zu fallen, doch mein Herz ließ sie allemal höherschlagen. Hatte ich etwa doch nicht alles verloren? Gab es wirklich noch Hoffnungen, dass dieser verrückte Kerl sich in mich verlieben konnte?

Zur Antwort presste ich stürmisch einen weiteren Kuss auf seinen Mund. Ich wurde in eine feste Umarmung gezogen und fühlte mich einfach nur wohl. Ganz vielleicht sollte ich den Glauben an die Liebe noch nicht aufgeben!

„Ach und übrigens…“, fing Christopher an, als wir eine Weile so gelegen hatten. „Ich bin schon ein bisschen sauer. Du bist da gestern ganz schön ausgerastet und hast mich in eine ziemlich verzwickte Lage gebracht.“

Betreten senkte ich meinen Blick. Er hatte auch allen Grund sauer auf mich zu sein. „Ich muss noch etwas von dir wissen.“

Überrascht schaute ich wieder in sein Gesicht. Chris schien sich einen Moment sammeln zu müssen.

„Liebst du ihn noch?“

Verwirrt von dieser Frage setzte ich mich auf und verließ meine kleine Festung. Was sollte das denn jetzt? Wieso stellte er mir so eine blöde Frage? Natürlich hatte er Marc gemeint, das war mir klar. Mir zog sich bei dem Gedanken, Christopher ehrlich antworten zu müssen, das Herz zusammen.

Ich seufzte und schaute in eine Richtung in der er mein Gesicht nicht sehen konnte. „Ja…“ Mehr konnte ich nicht sagen. Ich war so eine lange Zeit abhängig von Marc gewesen. Natürlich liebte ich ihn noch. Doch hieß das nicht auch, dass Christopher mir nicht so viel bedeutete wie er?

Dieser stand mit einem Mal vom Bett auf. Ich hatte ihn mit Sicherheit gekränkt, ihn jedoch anzulügen, kam nicht in Frage.

„Kommst du? Dan wartet mit dem Frühstück!“

Überrascht schaute ich in Christophers Richtung. Ich hatte fest damit gerechnet, dass er nun Gehen würde. Wer wollte schon bei einem Typen bleiben, der seinen Ex noch liebte. Aber was sollte ich machen? Ich war froh, dass er nicht wegging.

Ich rappelte mich also auf und zog mir meinen Jogginganzug über. Die nächste Schlacht stand bevor. Jetzt würde ich also meinem Bruder unter die Augen treten müssen.

 

Kapitel 8

 

„Ian?“, Dan sprang von seinem Stuhl auf, als ich hinter Christopher in die Küche trat. Mit gesenktem Kopf stand ich da und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Daniel war kein muskulöser Mann, aber er war groß, schlank und hatte ein sehr freundliches Gesicht. Obwohl wir in keinster Weise Blutsverwand waren, war er meine einzige Familie. Ich liebte ihn einfach, wie man nur einen Bruder lieben konnte.

Christopher setzte sich an den Küchentisch und endlich kam Bewegung in meinen Bruder. Hastig, ohne Vorsicht, kam er auf mich zu und zog mich in eine feste Umarmung. Es tat unglaublich gut seinen vertrauten Duft einzuatmen und ich presste mein Gesicht noch tiefer in sein Shirt. Meine Hände legte ich auf seinen Rücken und krallte meine Hände in den Stoff.

„Du bist so ein Dummkopf!“, tadelte er mich liebevoll und strich mir beruhigend über den Kopf. In diesem Moment war es mir egal, dass Christopher uns beobachtete und dass ich mich wie ein kleiner Junge aufführte. Viel wichtiger war mir die Beziehung zu meinem Bruder. Egal wer mich noch alles hängen lassen würde, ich war mir sicher, dass dieser Mann immer für mich da sein würde. Egal was passieren würde und auch egal wie alt wir wären.

„Jag mir nie wieder so einen Schrecken ein! Du warst auf einmal weg und ich dachte wirklich du hättest…“

Ich wusste was er sagen wollte, doch ich schüttelte den Kopf. Den Fehler, mir selber etwas anzutun, würde ich nicht noch einmal machen. Ich hatte Daniel damals mehr damit verletzt als ich mich selber. Aus diesem Grund würde ich nie wieder auf solche Gedanken kommen.

„Jetzt setz dich erstmal. Ich mache dir einen Tee!“ Dan löste sich von mir, doch ich hielt ihn am Ärmel zurück.

„Es tut mir leid. Ich schwöre, dass wird nie wieder passieren!“ Ich schaute meinem Bruder in die Augen und hoffte, dass er meine Entschuldigung annehmen würde.

Ein warmes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Kurz darauf hob er theatralisch die Arme. „Ich nehme sie an. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass du mich ab sofort von Details verschonst, die euch beide betreffen.“, er zeigte zwischen Christopher und mir hin und her. „Was ihr wann, wo und wie treibt, interessiert mich nämlich kein bisschen!“

Meine Wangen fingen an zu glühen und beschämt wandte ich den Blick ab. Er schien also mit mir und Chris kein Problem zu haben. Zwar konnte ich selbst nicht genau sagen, was es war, doch das war grade nebensächlich. Erleichtert setzte ich mich an den gedeckten Tisch und hatte auf einmal einen Bärenhunger.

 

Zwei Stunden später verabschiedete sich Christopher mit einem Kuss auf meine Stirn bei mir. Er versprach, am Abend mit ein paar DVDs wieder zu kommen und ich musste ihm versprechen, den heutigen Tag im Bett zu verbringen. Ein wenig enttäuscht war ich schon. Insgeheim hatte ich gehofft, dass er mir einen richtigen Kuss geben würde. Allerdings konnte ich ihn auch verstehen. Am Morgen gestand ich ihm noch die Liebe zu einem anderen. Es war ein Wunder, dass Chris überhaupt noch da war. Leise ließ ich hinter ihm die Tür ins Schloss fallen und lehnte meine Stirn an das Holz. Einen Moment gab ich mir die Zeit, all die Dinge zu verdauen, die die letzten Tage passiert waren.

Müde schlenderte ich zurück zu meinem Bruder in die Küche und setzte mich erschöpft auf einen der Stühle. Ich könnte schon wieder schlafen.

„Hör mal, Ian. Ich möchte nicht, dass du wieder das Gefühl hast, ich würde mich zu sehr einmischen. Allerdings möchte ich dir einen kleinen Tipp mit auf den Weg geben. Ich liebe dich, also möchte ich nicht, dass du blind in dein Unglück rennst. Was du hinterher draus machst, ist deine Sache.“

Wir drei hatten die ganze Zeit über das, was gestern passiert war geredet. Mein Bruder schien nun wohl verstanden zu haben, dass er ein bisschen zu weit gegangen war. Seine Aussage ließ mich jedoch aufhorchen, also hörte ich ihm weiter zu. Es interessierte mich brennend was er zu sagen hatte.

„Es geht um Chris. Ich mag den Kerl wirklich, sonst wäre er nicht mein bester Freund. Allerdings möchte ich auch, dass du vorsichtig bist. Er ist nicht der Typ, der es lange mit einem anderen Menschen an seiner Seite ausgehalten hat. Und da rede ich von Männlein und Weiblein gleichermaßen.“, er nahm einen Schluck aus seiner Tasse und erzählte weiter. „Du bist dir sicher, dass du ihn nicht wiedererkennst?“

Ich schüttelte den Kopf. Ziemlich sicher sogar. Chris war mir, bevor ich hierher zurückgekommen war, völlig unbekannt. Es hatte mich selbst überrascht, dass mein Bruder einen besten Freund hat, den er bereits seit der Grundschule kennt.

„Na schön. Chris und ich sind schon sehr lange befreundet. Als du und deine Mutter in unser Leben getreten seid, warst du ein fröhlicher kleiner Junge. Du hast immer gelacht, jeden gemocht. Ich war wirklich stolz, dass so ein nerviger kleiner Quälgeist mein Bruder geworden ist. Du warst immer da, wo ich war und hast mir alles nachgemacht.“

Wie Daniel diese Geschichte erzählte, erinnerte er sich gerne daran zurück. Er machte eine kurze Pause, als schien er darüber nachzudenken, wie er sich als nächstes ausdrücken sollte.

„Eigentlich ist es seine Aufgabe, mit dir darüber zu sprechen. Du musst mir versprechen, kein Wort darüber zu verlieren.“, ein verlegenes Lachen huschte aus Daniels Mund.

Ich war sowas von neugierig! Eifrig gab ich mein Versprechen ab und lauschte weiter.

„Also, da du immer in meiner Nähe bleiben wolltest, habe ich dich natürlich auch zu den Treffen mit Chris mitgenommen. Du hattest unglaublich schnell einen Narren an ihm gefressen und ich war zwischenzeitlich sogar ein bisschen sauer, weil du ihn immer so angehimmelt hast. Ich glaube, er war wie ein Gott für dich. Allerdings wurden wir auch alle älter. Christophers Mutter war gestorben und das hat ihn ziemlich runtergerissen. Zwar habe ich versucht ihn so gut es geht zu unterstützen, aber es kam eine Zeit, da haben wir den Kontakt abgebrochen. Er verwickelte sich immer mehr in irgendwelche miesen Sachen, hatte ein Mädchen nach dem anderen. Ich konnte nicht zulassen, dass er dich in sowas mit hineinzog.“

„Das wusste ich nicht…“ Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, aber ich wollte unbedingt den Rest erfahren.

Daniel seufzte. „Dann hast du diese Probleme in der Schule bekommen und ich habe ihn ganz aus den Augen verloren. Du gingst bei mir aber einfach vor. Das Mobbing, die Sachen, die ständig kaputt waren und dann warst du auf einmal verschwunden. Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Angst ich hatte. Unsere Eltern waren dabei keine große Hilfe gewesen und meinten du wärst groß genug und würdest schon wieder auftauchen. Ich bin froh, dass ich meinem Instinkt gefolgt bin und gleich nach dir gesucht habe.“

Ich erinnerte mich an diesen Tag. Nach der Schule wurde ich von ein paar Mitschülern abgepasst. Sie hatten mich über Stunden in einen alten Schuppen eingesperrt und ekeliges Zeug über mir ausgekippt. Sie hatten mich angepinkelt und mir immer wieder in den Magen getreten. Von den ganzen Schimpfwörtern mal abgesehen, war dies der schlimmste Tag in meinem Leben gewesen. Irgendwann war ich entkommen. Keine Ahnung wo ich eigentlich hingewollt hatte, aber an der Brücke beim kleinen Fluss holten sie mich wieder ein. Ich erinnerte mich, dass ich solche Angst vor ihnen hatte, dass ich mich über die Brüstung hangelte und irgendwann einfach losließ.

„An diesem Tag habe ich dich auch gefunden. Allerdings war es schon viel zu spät. Du hast bereits hinter der Brüstung gestanden, diese vier Jungs stachelten dich an und du hast irgendwas geschrien. Und mit einem Mal, es war als hätte dich der Lebensmut verlassen, hast du einfach losgelassen.“

Daniel rieb sich über das Gesicht. Es sah so aus, als würde er das, was damals passiert war, noch einmal erleben. Ich wusste nicht, dass Daniel an diesem Tag da gewesen war. Ich bin irgendwann im Krankenhaus aufgewacht, hatte einen gebrochenen Arm, zahlreiche Schürfwunden und eine dicke Gehirnerschütterung. Ich erinnerte mich an Daniels besorgtes Gesicht. Von da an war er wie eine Glucke um mich herumgeschlichen, brachte mich zur Schule und holte mich wieder ab. Ich durfte nirgends ohne ihn hin.

„Allerdings…diese Jungs, die dich so fertig gemacht hatten, waren nicht die Einzigen, die dort gewesen waren.“

„Christopher…“, stellte ich fest und verlor mich in meiner Erinnerung.

 

Ich stand wie damals hinter der Brüstung dieser Brücke. Henry, Peter, Liam und Gustav beleidigten mich, schmissen mir Wörter wie kleine Schwuchtel und Pisser an den Kopf. Von den körperlichen Schmerzen ganz abgesehen, hatte ich einfach nur Angst. Schreckliche Angst. Und dann kamen zwei Männer auf uns zu. Ich erkannte Christopher als einen von ihnen und schrie ihn an mir zu helfen. Er stand jedoch nur teilnahmslos da. Es schien, als würde ich gar nicht zu ihm durchdringen, als er seinen Kopf endlich hob. Ich erinnerte mich genau an diesen kalten Blick mit dem er mich bedachte und sein fieses, dreckiges Grinsen. Schon damals hatte er diese strahlend blauen Augen, die mich irgendwie an arktisches Eis erinnerten. Und dann sagte er die Worte, die mich dazu veranlasst hatten, meinem Leben ein Ende zu bereiten. Warum ich mich überhaupt die Brücke runtergestürzt hatte.

„Was bist du nur für ein Feigling? Du bist für jeden eine Last, also tu uns allen einen gefallen und spring endlich!“

Christopher war damals mein Held gewesen. Er war neben meinem Bruder das Wichtigste, was ich in meinem Leben hatte. Viel vorweisen konnte ich nicht. Ich hatte keinen Vater mehr und meine Mutter behandelte mich wie Dreck. Was Freundschaft war konnte ich nur bei den anderen sehen. Daniel und Chris waren die Einzigen, die immer für mich da gewesen waren. Und grade für die Beiden sollte ich eine Last sein? Damals schien es mir das Beste zu sein, einfach loszulassen.

Hätte ich mehr Verstand gehabt, hätte mir klar sein müssen, dass ich mich durch diesen Sturz nicht hätte umbringen können. Der Fluss war nicht sehr tief, schon bald ausgetrocknet und die Brücke vielleicht vier Meter hoch.

 

„Weißt du. Er stand einfach nur da und hat nichts gemacht. Er hat dich einfach hängen lassen und ich habe Angst, dass er es irgendwann wieder tut. Danach hast du ihn nicht noch mal wiedergesehen und auch nicht nach ihm gefragt.“, riss Daniel mich aus meinen Gedanken. Also wusste er gar nichts davon, was wirklich passiert war! Vielleicht war es auch besser so. Wüsste Daniel davon was Chris damals zu mir gesagt hatte, dann würde das nur im Ärger enden. Er könnte ihm das nie verzeihen!

„Chris fängt viele Sachen an, bringt sie aber nicht vernünftig zu Ende. Er hat sich auch diese Bar ans Bein gehängt, obwohl er überhaupt keine Ahnung hat. Dass er so weit ist wie jetzt, ist dir und deiner Kollegin zu verdanken. Zumindest das hat er selbst so gesagt. Ich greife ihm wo es geht unter die Arme mit der Buchhaltung, aber er rafft es einfach nicht und macht immer wieder dieselben Fehler.“

Daniel stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Er hielt jedoch in seiner Bewegung inne und schaute mich ernst an.

„Ich würde mich freuen, wenn es mit euch beiden klappt. Ehrlich, Ian. So verrückt war Chris schon lange nicht mehr nach jemandem. Aber ich bitte dich, einfach vorsichtig zu sein!“

Ich nickte ihm zu und überlegte. Warum hatte Christopher damals so ekelig mir gegenüber reagiert? Ich war noch ein halbes Kind gewesen. Aber dieser Mensch hatte nichts mehr mit dem zu tun, der er heute war. Gut, so lange kannte ich ihn noch nicht. Aber der Chris, der mir jetzt begegnet war, war einfühlsam und ein bisschen störrisch. Vielleicht sogar ein bisschen überheblich und von sich selbst überzeugt.

Was, wenn ich mich jedoch in ihm täuschte? Einen zweiten Marc konnte ich an meiner Seite nicht gebrauchen. Auf was war Christopher wirklich aus? Gut, er hatte mir gesagt, dass er mich sehr mochte. Und ich mochte ihn genauso. Leider viel lieber, als mir eigentlich recht war. Aber ich kam gerade aus einer Beziehung und liebte diesen Kerl auch immer noch. Vielleicht wollte Chris tatsächlich nur ein bisschen Spaß. Konnte ich mich darauf einlassen und mein Herz dabei ignorieren? Denn verliebt hatte ich mich bereits in ihn. Konnte man zwei Menschen gleichzeitig lieben? Ich schien so einfach nicht weiter zu kommen.

„Falls…falls es nicht klappt und er tut es…“, murmelte ich und bezog mich damit auf Daniels Sorge, dass Christopher mich hängen lassen würde. „Bist du dann da?“

Mein Bruder drehte sich verwundert zu mir um und kam dann auf mich zu. Mit seiner großen, aber zierlichen Hand wuschelte er mir durchs Haar. „Du Trottel! Natürlich!“

Mir ging das Herz auf und ich wusste, was für ein unverschämtes Glück ich mit ihm hatte.

„Ach übrigens. Wenn wir schon dabei sind die Karten auf den Tisch zu legen.“, verlegen kratzte Daniel sich am Hinterkopf.

Meine Augen wurden groß und ich wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Das konnte doch nicht sein!

„Bist du etwa auch schwul?“

„Was? Nein!“, rief er aus und gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf. „Gott bewahre! Im Leben nicht!“

Puhh. Ich glaube diese Botschaft hätte ich heute nicht auch noch vertragen.

„Im Ernst. Es ist bald Weihnachten und ich würde dir vorher gerne jemanden vorstellen.“

Ich musste ein unglaublich dummes Gesicht gemacht haben, denn Daniel bekam gleich darauf einen Lachanfall. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte.

„Du hast eine Freundin?“, fragte ich verblüfft.

„Ja, man glaubt es kaum. Und ich hoffe du reißt mir nicht den Kopf ab wenn ich das jetzt sage. Aber wir sind schon seit einem Jahr zusammen. Ich wollte sie am ersten Weihnachtstag zu uns einladen, wenn es für dich ok ist.“

„Man, natürlich ist das ok! Erzähl schon, wie ist sie so?“ Ich freute mich für meinen Bruder und war ein wenig beschämt, weil ich ihn nie über sein Liebesleben ausgefragt hatte.

Daniel schien erleichtert zu sein und erzählte mir alles über Charlotte. Wo er sie kennengelernt hatte, wie sie war und ich bemerkte schnell, dass er sie aufrichtig lieben musste. Es war ein bisschen traurig, dass Daniel mir nicht eher von ihr erzählte. Aber wie so oft ging es die meiste Zeit nur um mich. Ich nahm mir vor, alles dafür zu geben, mehr Interesse an dem Leben meines Bruders zu zeigen.

„…deshalb habt ihr die Bude heute für euch.“

Na super. Da ging mein Vorsatz schon gleich gut los, indem ich die Hälfte von dem was er gesagt hatte, nicht mitbekam.

„Heute Abend. Ich bin bei Charlotte und werde wohl auch über Nacht bleiben.“

Oh, achso!

„Und nun leg dich ein bisschen aufs Sofa. Du musst bis Montag wieder fit sein.“

Da hatte er wohl recht. Ab Montag würden die Vorbereitungen für die Neueröffnung laufen. Mir graute es jetzt schon davor.

Kapitel 9

 

Ich tat wie mein Bruder mir befohlen hatte und legte mich gleich nach einer ausgiebigen Dusche auf die Couch. Obwohl ich mich schon wieder viel besser fühlte, nutzte ich die Gelegenheit mal ausgiebig faulenzen zu können. Als Daniel sich gegen Nachmittag bei mir verabschiedete, zog sich die Zeit wie Kaugummi. Welche Zeit war noch mal ausgemacht gewesen? Gegen Abend, rief ich mir in Erinnerung. Nicht mal Christophers Nummer hatte ich.

Lustlos nahm ich mir mein Handy und surfte durch das Netzwerk. Es schien auch hier nichts Interessantes für mich zu geben. Den Drang auf Marcs Profilseite zu gehen unterdrückte ich schnell und legte das Telefon zurück auf den Tisch.

Ich beschloss, mich noch einmal ordentlich frisch zu machen und mir wenigstens ein frisches T-Shirt überzuziehen.

Doch auch hiermit war ich viel zu schnell fertig. Ich überlegte mir, wo ich mit Chris den Filmeabend am liebsten verbringen würde, doch da klingelte es bereits an der Haustür. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass Chris ziemlich früh dran war. Ich atmete noch einmal tief ein und straffte meine Schultern. Mit einem Mal war ich furchtbar aufgeregt.

Als ich die Wohnungstür öffnete, hielt Chris mir zwei große Einkaufstüten entgegen.

„Ich war so frei und habe einfach was mitgebracht!“, er grinste von einem Ohr bis zum anderen und schlängelte sich dann an mir vorbei. Ich verschloss die Tür wieder und folgte ihm ins Wohnzimmer, wo ich ihn nur beobachten konnte. Er rückte den Wohnzimmertisch an die Seite und zog das Sofa aus. Er holte Gläser und beförderte aus einer der Einkaufstüten Getränke heraus. Schalen wurden mit Chips gefüllt.

Ich war wirklich erstaunt und mir wurde erst jetzt bewusst, wie gut Chris meinen Bruder wirklich kannte. Er kannte sich in dieser Wohnung besser aus als ich und nahm alles mit einer Selbstverständlichkeit hin, die ich wirklich bewunderte.

„Ich hätte dich auch zu mir eingeladen, aber ich war mir nicht sicher, ob du gekommen wärst.“, beichtete er mir, als alles vorbereitet war. Ich hatte nur dumm dagestanden und zugeschaut.

Ehrlich gesagt wusste ich nicht, was ich darauf sagen sollte. Doch das musste ich auch nicht. Mir wurden gleich darauf verschiedene DVDs unter die Nase gehalten, von denen ich nur eine auswählen sollte. Ich entschied mich für irgendeinen Actionfilm, der auch gleich darauf von Chris in den Player gelegt wurde.

Entweder ich machte mir wieder zu viele Gedanken, oder die Situation hier zwischen uns war irgendwie komisch. Christopher gab sich wirklich sehr viel Mühe und ich wollte auch nicht undankbar erscheinen, doch alles kam mir wie abgespult vor.

Chris schmiss sich aufs Sofa, machte seine Beine lang und klopfte auffordernd auf den Platz neben sich. „Kommst du? Der Film geht los.“

„Äh, ja…“, grummelte ich ein wenig und nahm den Platz neben Christopher auf dem Sofa ein.

Wie zwei normale Bekannte saßen wir da und schauten die actiongeladenen Szenen. So wirklich bekam ich gar nichts mit. Meine Gedanken schweiften mal wieder in andere Richtungen ab.

„Hast du noch Fieber?“ Ein wenig ertappt fuhr mein Kopf herum.

„Nein. Danke, mir geht’s echt gut.“

„Gut! Dein Gesicht ist nur wieder so rot. Deshalb frage ich.“

Scheiße noch mal! Ich hätte mir in den Hintern beißen können. Ich war froh, dass Chris nicht noch weiter nachfragte und versuchte die Erinnerungen an ihn und mich in der Garage beiseite zu schieben. Woher diese Gedanken plötzlich gekommen waren, konnte ich gar nicht sagen. Es kam eins zum anderen und plötzlich waren sie da. Unruhig rutschte ich hin und her, versuchte die dicke Auswölbung in meiner Hose zu verbergen. Allein der Gedanke daran hatte mich bereits in Stimmung versetzt.

„Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“, fragte der Mann meiner wilden Gedanken besorgt.

Er sah mich nun direkt an und kam mir ein bisschen näher. Er verengte seine wundervollen Augen und mein Puls beschleunigte sich automatisch.

„Du weißt es, oder?“

„Wie bitte?“

Christopher nahm wieder Abstand zu mir und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du bist die ganze Zeit schon so komisch. Ich wusste gleich, dass etwas nicht stimmt. Daniel hat es dir erzählt, oder? Du weißt, was ich getan habe!“

Mit diesem Stimmungswechsel konnte ich nicht so schnell umgehen. Ich konnte mir vorstellen, wovon er sprach, doch er lag total falsch. Natürlich machte ich mir meine Gedanken dazu, doch das, was damals passiert war, gehörte jetzt grade der Vergangenheit an. Eigentlich wollte ich nur einen schönen Abend mit Christopher verbringen, obwohl ich mir geschworen hatte, mich nie wieder auf jemanden einzulassen. Ich war es satt, ständig diese Magenschmerzen bringenden Gespräche zu führen.

„Ja, ich…“

„Ich wusste es doch!“, brachte er aufgebracht hervor und war dabei aufzustehen. Meinem inneren Instinkt folgend, griff ich nach seinem Arm und hielt ihn fest. Dies hier lief ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.

 

Im nu hockte ich mich auf die Knie und griff mit meiner freien Hand in Christophers Pulli. Langsam zog ich ihn näher zu mir heran, ließ ihn nicht aus den Augen. Dieser schien sehr überrascht zu sein und als ich meine Lippen auf seine legte, entspannte er sich. Ich schob ihm fordernd meine Zunge in den Mund und zog ihn noch näher ran. Chris kam mir mit seiner entgegen, warme Arme schlossen sich um mich und ich drängte mich noch näher an den Mann vor mir.

„Du scheinst es heute eilig zu haben…“, keuchte er, als er meine Erregung an seinem Bein spürte.

Mein Puls beschleunigte sich und ungeduldig nestelte ich an seinem Pullover, bevor ich ihm diesen einfach über den Kopf zog. Bewundernd strich ich mich meinen Fingerspitzen über seinen leicht antrainierten Oberkörper. Auf Christophers Haut bildete sich eine Gänsehaut.

„Halt die Klappe und mach einfach…“, ich zog Chris im Nacken wieder zu mir, verlangte mehr nach seinen Küssen. Dieser kam mir entgegen, schob seine Zunge zwischen meine Zähne und dirigierte mich weiter nach hinten, sodass ich zum liegen kam. Eine Hand fand unter mein Shirt und es wurde einfach nach oben geschoben. Er liebkoste meine Haut, strich mit den Fingerspitzen über meine Seiten. Chris löste sich einen Moment später von mir und begab sich mit seiner Zunge auf Wanderschaft. Sein Blick war erregt und er strahlte eine unglaubliche Wärme ab. Chris züngelte über den Hals, biss zaghaft in die empfindliche Haut und glitt weiter nach unten. Ein kribbeln durchfuhr meinen Körper, als er leicht mit seinen Zähnen über die Brustwarzen strich. In meiner Hose wurde es immer enger und ich krallte mich in Christophers Haare. Er schien zu merken, wie ungeduldig ich war und zog mir die Jogginghose samt Shorts über den Hintern. Meine prall gefüllte Erektion wippte ihm bereitwillig entgegen und ich stöhnte erleichtert auf, als er seine Zunge endlich über meinen Schaft streichen ließ. Wie ein verrückter lutschte Chris an mir, ließ mein Glied immer wieder in seinem Mund verschwinden, bis ich es kaum noch aushielt.

Mit leichtem Druck signalisierte ich diesem unglaublichen Mann, dass er aufhören musste, bevor es zu spät war. Dieses Mal sollte auch er an der Reihe sein. Chris gehorchte und beugte sich mit verlangendem Blick wieder über mich. Er stützte sich mit einem Arm neben meinem Kopf ab, mit der freien Hand strich er mir sanft über die Wange.

„Ich…“

Schnell nahm ich sein Gesicht in die Hände und zog ihn zu einem weiteren Kuss zu mir herunter. Ich wollte keine Gespräche führen!

Während Chris mich wieder um den Verstand küsste, fummelte ich an dem Knopf seiner Jeans. Ich musste leicht grinsen als ich festellte, dass er dieses Mal auf einen Gürtel verzichtet hatte. Ein wenig unbeholfen zog ich ihm die Hose über seinen straffen Arsch und knetete ihn leicht. Doch das war mir nicht genug. Ich griff nach seinem Schwanz, rieb zuerst langsam, dann immer schneller. Während ich ihn berührte, striff ich auch meine eigene Erregung. Christopher stöhnte und atmete schwer. Seine erregten Laute heizten mich noch mehr an und ich hatte das Gefühl, gleich zu platzen. Ich wollte mehr von ihm, so viel mehr!

Bereitwillig spreizte ich meine Beine und…

Scheiße! Ich hatte gar keine Kondome!

„Hosentasche…“, murmelte Chris und sein Arm begann leicht zu zittern.

In mir stieg die Vorfreude und grinsend griff ich in die Taschen der Hose, die noch immer an seinen Beinen hing. Ah da war es ja! Mit geübten Griffen öffnete ich die Verpackung und holte das Gummi heraus. Anschließend zog ich es Chris über den Penis und spuckte mir einmal in die Hand. Normalerweise ließ ich sowas nicht zu, ohne vorbereitet zu werden, doch ich konnte und wollte nicht länger warten. Ich verteilte die Spucke auf seinem Gemächt und lehnte mich dann entspannt zurück.

„Bist du sicher…“, fragte Christopher unsicher, funkelte mich mit seinen tiefblauen Augen an.

Zum Beweis versuchte ich meine Beine noch weiter zu spreizen, legte die Hände auf seinen Hintern und drückte mich ihm entgegen. Als ich seine Eichel an meinem Eingang spürte, schloss ich die Augen und versuchte langsam und gleichmäßig, gegen den aufkommenden Schmerz, zu atmen.

„Entspann dich…“ Chris griff nach meiner leicht weich gewordenen Erektion und begann sie zu massieren. Seine trockenen Lippen fanden meine, es wurde an meiner Unterlippe geknabbert. Mir schlug das Herz bis zum Hals und ich konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als Chris sich langsam in mich schob. Er ließ mir einen kurzen Moment, um mich an ihn zu gewöhnen, begann dann sich zurück zu ziehen, nur um sogleich wieder tiefer einzudringen. Erst langsam, dann immer schneller. Ich versuchte mich auf Christopher zu konzentrieren, nur ihn wahrzunehmen. Sein betörender Geruch, vermischt mit Schweiß stieg mir in die Nase, benebelte meine Sinne und trieb mich immer höher. Ich keuchte, krallte mich in Chris Nacken fest und biss ihm in die Schulter, als ich endlich kam. Die Sahne spritzte mir über den Bauch und ich spürte ein, zwei Stöße später, wie auch Christopher laut Aufstöhnend seinen Höhepunkt erreichte.

 

Ich spürte Chris warmen Körper auf meinen, als er sich erschöpft auf mich legte und strich, noch immer schwer atmend, über seinen muskulösen Rücken. Ich drückte die Nase in sein wohlriechendes Haar und schloss die Augen. Konnte ich in diesem Moment glücklicher sein? Mir schien nicht so. Obwohl es mir schon etwas peinlich war, so rangegangen zu sein. Doch diese Gedanken schob ich beiseite und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. Christopher bettete seinen Kopf auf meiner Brust und es schien, als würde er dem darunter bollernden Herzschlag lauschen. Ob er spüren konnte, dass er mir viel bedeutete? Bis jetzt verlor ich darüber kein Wort, aber war es nicht wichtig, sich der Gefühle des anderen bewusst zu sein?

Nachdem wir eine Weile so dalagen, ich einfach nur verträumt war, erhob Chris sich. Er hinterließ eine unangenehme kühle auf meiner Haut und schnell schnappte ich mir die Wolldecke, die auf der Lehne des Sofas ihren Platz hatte. Mit einem Kuss auf meine Stirn verabschiedete er sich ins Badezimmer und ich streckte meine verkrampften Glieder. Autsch. Tat mir der Hintern weh! Umständlich hangelte ich nach meinen Klamotten, die völlig verwirrt und umschlungen auf dem Boden lagen. Schnell entwirrte ich sie und zog mir eilig etwas über.

Als Chris zurückkam, zog er sich eine Shorts über und steuerte den Tisch an. Seine nackten Füße tapsten leicht auf den Fliesen und ich betrachtete ihn mir genauer. Da er mir grade seine Kehrseite bot, huschte mein Blick über seine breiten Schultern, hinunter über den unglaublich geraden Rücken und blieb an diesem verdammten Knackarsch hängen. Mir lief beinahe das Wasser im Mund zusammen und ich musste mich zügeln nicht gleich aufzustehen und ihn erneut in meine Hände zu nehmen.

Die Röte schoss mir in die Wangen und ich wandte beschämt meinen Blick ab. Woher kamen solche Gedanken auf einmal? So war ich doch sonst nicht. Bei Marc zumindest verspürte ich nicht dieses unglaubliche Verlangen nach Sex.

Ich hörte wie der DVD Player sich öffnete, eine CD eingelegt wurde und er sich wieder schloss. Gleich darauf krabbelte Christopher zu mir aufs Sofa. Ich vermied es immer noch ihn anzusehen, weshalb er sich über mich beugte, um mir ins Gesicht zu sehen. Alleine seinen Körper an meinem zu spüren, brachte mich wieder in Fahrt und in meiner Hose regte es sich verdächtig. Jetzt nur nicht durchdrehen. Noch eine Runde würde mein Hintern nicht überstehen.

„Ist alles okay? Hast du wieder Fieber?“

Himmel noch eins! Warum musste er mich das immer fragen? Konnte er sich nicht denken, was für eine Anziehungskraft er auf mich ausstrahlte?

Ich drehte mich in seinen Armen zu ihm um und schaute in sein besorgtes Gesicht. Das mir der Arsch brannte, sagte ich ihm wohl besser nicht.

„Du spinnst!“, und tickte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn, die sich kurz darauf kräuselte. Ich schmollte ihn an.

„Ach ja?“ Chris kam mir mit seinem Gesicht immer näher, setzte ein fieses Grinsen auf und ich erwartete schon einen Kuss, als er plötzlich stoppte. „Und warum bist du dann so rot?“

Ich tatschte ihm meine Hände ins Gesicht, damit er mich nicht länger ansehen konnte, und drückte ihn ein Stück von mir weg. Die Situation schien mir aus den Händen zu gleiten und ich war plötzlich nicht mehr so mutig, wie gerade eben noch. Ich kniff die Augen zu, damit ich mich ein wenig sammeln konnte. Chris ließ sich daran nicht hindern, kam mir wieder näher und ich spürte seinen warmen auf dem Gesicht, bevor er seine Lippen auf meine legte. Es war ein zaghafter Kuss, der auch irgendwie verspielt war. Er hatte nichts Forderndes und als wir uns wieder voneinander lösten, musste ich seufzen. Mein Glied hatte sich zum Glück wieder ein wenig beruhig.

Chris begab sich in eine bequemere Position und breitete seine Arme aus. Nur allzu gerne kuschelte ich mich in seine starken Arme. Der Fernseher flackerte und spielte einen Horrorfilm ab. Irgendein Kerl rannte mit einer Kettensäge durch die Gegend und weil die Trottel viel zu viel Quatschten und rumschrien, wurden sie einer nach dem anderen abgemurkst.

„Ich wusste nicht, was du so magst. Deswegen habe ich lieber mehrere Filme mitgebracht!“

Ich war froh, dass Christopher nicht wieder mit dieser Vergangenheitssache anfing.

„Alles gut. Mir ist egal was wir schauen.“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Das nächste Mal können wir auch gerne zu dir. Dieses Ding ist irgendwie ein bisschen unbequem.“ Ich rückte meinen Hintern in eine andere Position und atmete erleichtert aus, als eine gefunden hatte, in der ich es aushalten konnte.

Chris lachte leicht. „Tuts sehr weh?“

Meine Wangen nahmen wieder einen leicht roten Ton an, das konnte ich genau spüren.

„Über sowas spricht man nicht…“

„Doch schon. Wenn man selbst derjenige war, der die Schmerzen verursacht hat. Wobei, eigentlich bist du ja selbst schuld. Ich hatte ja gar nichts zu melden.“

„Ach, halt einfach den Mund!“, ein wenig beleidigt boxte ich ihm leicht in die Seite, als mein Handy mit einem Mal zu klingeln begann.

 

„Sorry, ich habs nicht ausgestellt.“ Erklärte ich unnötigerweise und versuchte nach dem Ding zu greifen. Chris kam mir zu Hilfe und reichte es mir. Als ich sah, wer da grade anrief, drückte ich den Anruf weg. Was wollte der denn jetzt? Kurz darauf klingelte es wieder und genervt, wehrte ich auch diesen Anruf ab.

„Scheint dringend zu sein. Vielleicht solltest du dran gehen.“

Ich wollte ihm grade widersprechen, als es zum dritten Mal klingelte. Ein wenig sauer löste ich mich aus Christophers Umarmung, versuchte aufzustehen und ging auf vorsichtigen Sohlen in den Flur.

„Was willst du, verdammt?“, motzte ich leise in den Hörer und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand.

„Hey Ian. Ich wollte deine Stimme hören. Du fehlst mir so unheimlich und ich weiß auch nicht. Hast dus dir überlegt? Kommst du nach Hause? Ich liebe dich doch.“ Marc war definitiv betrunken. Solche Sachen würde er sonst nicht so sagen. Klar, er hatte mir schonmal seine Liebe gestanden, aber irgendwie war es anders gewesen. Im Nachhinein betrachtet, klatschte er mir jedes Mal, nachdem ich mal wieder die Nase voll gehabt hatte von seiner Fremdgeherei, ein ´Ich liebe dich´ vor die Füße. Wieso nur war ich sonst immer damit zufrieden gewesen? Diese Säuselei passte definitiv nicht zu ihm! Und doch schien sie etwas in mir zu bewegen.

„Ach Süßer, komm schon. Ich…bin so alleine ohne dich…“ Am anderen Ende der Leitung konnte ich ein leichtes Schniefen ausmachen. Heulte er etwa? Mein verräterisches Herz bekam Mitleid.

„Hör mal, Marc. Ich…“, setzte ich an, doch ich konnte nicht weitersprechen.

„Du liebst mich, Ian. Ich weiß es. Du bist nicht der Typ, der sich so schnell entfremdet. Es wird alles anders als die letzten Male. Ich verspreche es dir! Was soll ich noch machen, damit du mir glaubst?“

„Ich weiß es doch auch nicht. Es ist so viel passiert und…“, ich seufzte und versuchte Marc halbherzig abzuwürgen. Wie oft hatte ich auf so eine Liebeserklärung gehofft? Warum nur war ich ihm mit einem Mal so wichtig?

„Dir geht’s doch genauso! Dein Bruder hat angerufen und ich wusste gleich, dass etwas nicht stimmt. Man, Ian. Ich habe genug gelitten, meinst du nicht? Hast du meine Blumen bekommen?“

Blumen? Was redete er für einen Schwachsinn? Da leuchtete es mir ein! Daniel musste sie abgefangen haben. Meine Gedanken schweiften von meinem Bruder zu seinem besten Freund, mit dem ich mich grade in den Laken gewälzt hatte. Die Röte stieg mir ins Gesicht und ich rief mich selbst zurück. Ich durfte es Marc nicht so leicht machen. Ich spürte das Klopfen meines Herzens und stellte fest, dass ich beinahe wieder auf ihn eingegangen wäre.

„Marc, ich habe keine Blumen bekommen und es ist auch egal. Ich bin beschäftigt…“

Ich wurde immer nervöser, denn ich bekam Angst, dass Chris alles mitbekommen würde.

„Wieso?“ Marcs Stimme klang plötzlich so kalt.

„Wieso was?“ Das alles verwirrte mich irgendwie. Der Kerl war definitiv betrunken! Wie sonst waren seine Stimmungsschwankungen zu erklären.

„Lässt du dich grade von ihm ficken, oder warum bist du so beschäftigt?“

Ich konnte nicht antworten. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit. Das, was ich grade noch als schönes Erlebnis mit Christopher empfunden hatte, machte mir Marc irgendwie madig. Er machte mir ein schlechtes Gewissen und versetzte mir einen leichten Stich. Ich fühlte mich wie ein Verräter, als wäre ich ihm fremdgegangen.

„Also hab ich Recht! Aber ich durfte nicht mehr ran, weil klein Ian Angst hatte sich was einzufangen? Aber bei ihm kannst du dir sicher sein, dass du dir nichts wegholst?“, er brüllte mir nun ins Ohr und ich wusste einen kurzen Moment nicht, was ich machen sollte. Mein Puls war auf einhundertachtzig. Dieser miese Kerl! Solange ich um ihn herumschwänzelte, alles nach seiner Nase ging, konnte er mir schöne Sachen sagen? Und jetzt das? Marc redete oft so mit mir. Ich kam mir unterlegen vor, sagte aber nie etwas, weil ich Angst hatte, ihn zu verlieren. Doch was hatte ich jetzt noch zu verlieren? Nichts!

„Weißt du was, Marc? Leck mich am Arsch! Wer hat mit anderen rumgevögelt und mich nur kritisiert? Hast du mir bei nur einer Gelegenheit gezeigt, dass du mich wirklich liebst?“, ich wetterte einfach drauf los und machte meinem Ärger Luft. „Nein, hast du nicht! Und jetzt machst grade du mir irgendwelche Vorwürfe? Ich darf ficken mit wem ich will, wann ich es will und es geht dich einen Scheißdreck an! Und selbst wenn ich dich noch lieben würde, würde ich dich in einer Million Jahre nicht zurücknehmen. Weißt du auch warum? Du bist Notgeil, überheblich und nur auf dich bedacht. Schau dich mal in deiner Umgebung um. Was hast du denn schon? Und jetzt ruf mich nie wieder an, du blöder Scheißkerl!“

Mit zitternden Fingern legte ich auf und stellte das Handy aus. So ein Penner! Warum mein beschissenes Herz immer noch was für diesen Kerl erübrigen konnte, war mir schier ein Rätsel! Als mir daraufhin auch noch Chris wieder einfiel, fuhr ich mir wirsch mit den Händen durchs Gesicht. Warum war ich überhaupt dran gegangen? Mir war klar, dass er meinen Ausbruch mitbekommen haben musste. Ich war einfach nur stink sauer!

Es brachte ja nichts, früher oder später musste ich ihm unter die Augen treten. Ich nahm also all meinen Mut zusammen und ging zurück ins Wohnzimmer. Mir fiel auf, dass es bereits dunkel geworden war. Nur das Flackern des Fernsehers erleuchtete den Raum. Als ich Christopher so daliegen sah, durchfuhr ein Kribbeln meinen Körper und durchflutete ihn mit Wärme. Er lag auf dem Rücken, stütze seine Arme hinter seinem Kopf und sah unbeteiligt zum TV. Sein Oberkörper war freigelegt und glänzte in dem schwachen Licht. Mein Blick fuhr weiter nach unten, doch die Decke verbot mir den Blick auf andere Körperteile.

Schwerfällig setzte ich mich in Bewegung. Irgendwie lag mir das Gespräch mit Marc schwer im Magen. Wie konnte es sein, dass er immer auftauchte, wenn ich es am wenigsten gebrauchen konnte? Ich sollte mir wohl eine neue Nummer besorgen, um solchen Sachen aus dem Weg zu gehen.

Als ich mich wieder neben Chris legte, bettete ich einen Arm auf meiner Stirn und schloss die Augen. Obwohl wir uns gar nicht berührten, stellten sich meine Härchen auf. Ich nahm seinen warmen Körper überdeutlich wahr.

Christopher drehte seinen eigenen Körper auf die Seite und schaute mich an. Ich konnte das genau spüren! Ich stellte mir vor, wie er wieder besorgt dreinblickte, oder vielleicht auch sauer. Wer wusste das schon?

Ich rechnete schon mit einer Standpauke, doch die blieb aus. Zaghaft legte Chris seine Lippen auf meine, streifte sie nur, als hätte er Angst von mir zurückgewiesen zu werden. Mein Herz fing wieder an zu bollern und ich kam ihm ein Stück entgegen. Was nur hatte dieser Mann an sich, dass ich so reagierte?

 Als Chris sich von mir löste, öffnete ich meine Augen, damit ich ihn ansehen konnte. Sein Gesicht war noch immer nah bei mir und er schaute mich nachdenklich an. Ein Finger legte sich auf meine Stirn, fuhr über die Nase und zog die Konturen meiner Lippen nach.

„Du bist so anders als die anderen…“, murmelte Christopher eher zu sich selbst, als zu mir. „Im einen Moment so eingeschüchtert und dann kommen solche fiesen Wörter über deine Lippen…“

Scheiße! Er hatte es also tatsächlich mitbekommen. In den Mann neben mir kam Bewegung. Mit einem Ruck beugte er sich über mich und dränge sich zwischen meine Schenkel. Ich zog die Luft in meine Lungen, als ich seine harte Männlichkeit neben meiner eigenen spüren konnte. Als hätte mein Körper nur darauf gewartet, schoss mir das Blut in die Lenden. Christopher fixierte mich mit seinem Blick, eine Hand fuhr über meinen Oberkörper.

„Ficken, hm? Ist es das was wir tun?“ Seine Hüfte fing an sich zu bewegen, rieb sich an mir.

Ich war zu keinem klaren Gedanken fähig und stöhnte nur leicht auf. Nach einem kurzen, anheizenden Kuss, unterbrach er sich, fixierte mich wieder mit seinen eisblauen Augen.

„Was ist? Soll ich mit ihm reden?“ Chris keuchte nur leicht, er schien sich verdammt gut unter Kontrolle zu haben.

Ich wollte nicht an Marc denken, hob meine Arme, um ihn zu mir heranzuziehen. Doch sie wurden an den Handgelenken neben meinen Kopf gedrückt. Christopher verstärkte den Druck in seiner Hüfte und ich konnte nur noch schwer atmen.

„Sag schon, ich kann das klären.“

Ich schüttelte den Kopf, konnte aber nichts sagen. Viel zu heiß war mir in diesem Moment, mein Schwanz pulsierte und sehnte sich nach mehr Berührungen.

„Denkst du an ihn, wenn ich dich berühre?“

Ich schüttelte leicht den Kopf, drängte mich näher an ihn.

„Liebst du ihn jetzt immer noch?“, raunte er mir ins Ohr, leckte über dieses und mich überkam eine Gänsehaut.

Ich wollte ihm darauf keine Antwort geben und ich hatte das Gefühl, er wollte auch keine. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und er vergrub das Gesicht in meiner Halsbeuge.

Sein Atem kam stockend. „Ian, ich…“

Chris drückte seine Lenden nun immer heftiger, rieb seinen Schwanz durch die dünnen Stofflagen an meinem. Ich schloss die Augen, sog den Moment in mich auf.

Ein Ziehen durchfuhr meinen Körper und auch Chris spritzte seine Lust mit einem heftigen Stöhnen heraus.

Kapitel 10

 

Wie ich den Abend überstanden hatte, konnte ich nicht mehr genau sagen. Am nächsten Tag brannte mir der Hintern noch mehr als vorher und ich glaubte, nie wieder einen Orgasmus haben zu können. Keine Ahnung wie oft wir es getrieben hatten. So scharf war ich noch nie auf jemanden gewesen! Heute bekam ich die Quittung dafür. Ich war einfach nur platt, müde und erschöpft, weshalb ich bis in den Mittag schlief. Als ich aufwachte, war Christopher nicht mehr da, was mir einen unheimlichen Stich versetzte. Der Kerl hatte sich mit jeder Faser seines Körpers in mein Hirn gebrannt und ich konnte nicht mehr aufhören, an ihn zu denken. Ein kleiner Zettel lag neben mir auf dem Kopfkissen, auf dem er sich entschuldigte, abgehauen zu sein. Er musste noch arbeiten und hinterließ mir seine Handynummer.

Das krumme Herz, was er aufgemalt hatte, ließ meinen Puls ansteigen. Mit klopfendem Herzen presste ich mir das Stück Papier auf die Brust, zog mir das Kissen über den Kopf und atmete Christophers Geruch tief ein.

Mit einem Ruck war ich hochgeschreckt und schüttelte über mich selbst den Kopf. Ich benahm mich wie ein verliebter Teenager!

In der Küche wurde bereits gewerkelt und ich bekam einen Schrecken. Ich räumte am Abend zuvor nicht mehr auf. Das Wohnzimmer musste furchtbar aussehen und die Kondome waren auch noch überall verstreut.

Mit hochrotem Kopf stand ich in Windeseile auf, ignorierte meinen schmerzenden Körper und begab mich in den Wohnbereich.

Okay. Ich war überrascht, dass es hier so ordentlich war. Es war nichts mehr von dem Abend zu sehen. Inständig hoffte ich, dass Chris das Chaos beseitigt hatte.

„Oh, hey!“, begrüßte mich mein Bruder und ich zuckte erschrocken zusammen.

„Sorry, wollte dich nicht erschrecken!“ Er klopfte mir auf die Schulter. „Magst du Frühstücken?“

„Ähm, ne, danke!“, murmelte ich und vermied es ihn anzusehen. Die Aussicht, mich auf mein Hinterteil setzen zu müssen, war nicht sehr angenehm.

„Na schön. Wenn du doch was Essen willst, du weißt wo du es findest.“

„Sag mal, wie war dein Abend?“, versuchte ich meine Gedanken umzulenken und Christopher aus meinem Kopf zu verbannen. Schon der Gedanke alleine an ihn, machte mich ganz wuschig.

Überrascht schaute Daniel mich an. „Danke. Sehr gut! Ich habe es ehrlich gesagt auch ein bisschen eilig. Ich möchte heute mit Charlotte in die Kletterhalle.“

„Oh achso. Dann ganz viel Spaß!“ Ich wandte mich zum Gehen.

„Und wie war es bei dir?“

Ertappt zuckte ich wieder zusammen. Das mir das Blut schon wieder in den Kopf schoss, konnte Dan zum Glück nicht sehen.

„War ganz okay. Filmeabend eben.“, versuchte ich so lapidar wie möglich klingen zu lassen und steuerte das Badezimmer an. Ich war froh, so weiteren Fragen aus dem Weg gehen zu können und außerdem hatte mein Körper dringend eine Dusche nötig. Alles an mir klebte, doch irgendwie zierte ich mich die Spuren von Chris von mir runter zu spülen. Ich wollte noch viel mehr von ihm! Gedankenverloren griff ich mir an die Lippen. Seine Küsse konnte ich noch überdeutlich spüren. Als ich daran dachte, wie ich ihn gestern gelutscht hatte, pulsierte es bereits in meiner Hose.

Notgeiler Bock! Schimpfte ich mich selber und versuchte mir Bilder von alten, schwabbeligen Männerhintern ins Gedächtnis zu rufen. Ein bisschen funktionierte es, also brachte ich die Dusche hinter mich.

Eine halbe Stunde später lag ich auf meinem Bett und hielt aufgeregt mein Handy in der Hand. Sollte ich Chris anrufen oder ihm doch lieber eine Nachricht schreiben? Natürlich speicherte ich seine Nummer gleich ein, nur für den Fall der Fälle. Morgen würden wir uns eh auf der Arbeit sehen, doch am liebsten wäre ich jetzt gleich in den Bus gestiegen. Da dieser sonntags aber leider nicht fuhr, konnte ich das schonmal vergessen. Mein neuer Vorsatz war, mir ein Auto zu besorgen. Ein bisschen was hatte ich noch beiseitegelegt. Dann musste ich mich auch nicht immer an den Fahrplan halten.

Ich tippte also eine Nachricht, die lediglich ein rotes Herz enthielt. Einen Moment starrte ich auf das leuchtende Display und löschte es lieber wieder. Gott! Warum war ich nur so nervös? Von einer bescheuerten, kleinen Verliebtheit konnte das doch nicht kommen!

Schnell tippte ich eine weitere Nachricht.

´Hey. Was macht die Arbeit? Ian´ Nach einigen Überlegungen schickte ich sie ab. Das war schon besser. Unverfänglich, neutral. Er musste ja nicht unbedingt wissen, wie es in mir aussah. Das dies in die Hose ging, hatte ich bereits mit Marc erlebt. Wobei meine Gefühle ihm gegenüber nicht so waren wie die, die ich Chris gegenüber hatte. Die Beiden waren eh nicht miteinander zu vergleichen. Marc war sich seines guten Aussehens durchaus bewusst, wusste wie er auf andere wirkte und nutzte es aus. In der Beziehung mit ihm war er nie der romantische Typ gewesen. Eher rabiat und dominant. Christopher hingegen wusste zwar auch, dass er ein gutes Aussehen besaß, allerdings nutzte er dies nicht zu seinem Vorteil aus. Er war ein kleiner Schmuser und ich hatte das Gefühl, dass er seinen Gegenüber einfach wahrnahm.

Als das Handy piepte, machte mein Herz einen aufgeregten kleinen Hüpfer.

´Es geht so. Es wartet eine Menge Arbeit auf uns. Hab eine Liste gemacht, was wir nächste Woche alles besorgen müssen. Die Eröffnung ist schon am Samstag. Chris´

Das wars. Enttäuscht blickte ich die schwarzen Buchstaben an. Doch da kam noch eine Nachricht: ´Wie geht es dir? ;)´

´Mach dir keine Gedanken. Vicky ist morgen früh um 8 da. Wir erledigen das. Gut und dir?´ Auf seinen zwinkernden Smiley achtete ich gar nicht. Chris wollte mich damit nur wieder auf den Arm nehmen und spielte darauf an, wer überhaupt schuld an meinem brennenden Hinterteil war. Genau, ich selbst, weil ich einfach den Hals nicht voll genug bekommen konnte.

´So? Mit Vicky, der hübschen rothaarigen? Magst nicht mehr alleine mit mir sein?´

Wenn das so weiter ging, sollte ich mich an den roten Kopf gewöhnen. Ich versuchte einen auf trotzig zu machen. ´Lieber nicht! Bei dir kann man nie wissen, wann du als nächstes zuschlägst! :P´

´Muss ich dich daran erinnern, wer als erstes zugeschlagen hat?´

Darauf wusste ich nichts mehr zu schreiben. Er hatte leider recht.  Ich hielt das Telefon eine Weile in meiner Hand und war mir total unsicher.

´Also, Kleiner. Ich mach weiter. Du lenkst mich ab! Kuss´

Wer hier wohl wen ablenkte! Ich lief mit einer Dauerlatte durch die Gegend und ich lenkte ihn ab?

Das Wort ´Kuss´ fiel mir besonders ins Auge. Vielleicht sollte ich ihm jetzt das Herzchen schicken? Ich verwarf den Gedanken wieder und antwortete lieber gar nichts mehr.

 

Am nächsten Morgen hatte ich es eilig zur Arbeit zu kommen. Ich wollte unbedingt vor meiner Kollegin da sein, um noch ein paar Minuten alleine mit Chris zu sein.

Als ich jedoch schon ihr entzückendes kleines Lächeln sah, als ich die Bar um halb 8 betrat, grummelte ich nur ein ´Morgen´. Das vermieste mir grade echt die Laune.

„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, begrüßte Christopher mich und ich wäre am liebsten auf ihn losgegangen. Wessen Schuld war das denn? Wenn er nicht so unverschämt gut aussehen und mich nicht so anmachen würde, wäre das alles gar nicht passiert. Gut, Vicky konnte am wenigsten dafür. Ich wusste, dass wir uns auf der Arbeit zurückhalten mussten. Wie schwer das werden würde, konnte ich mir gar nicht vorstellen.

Da Chris von mir keine Antwort erhielt, richtete er das Wort an die hübsche rothaarige: „Also Vicky, es wäre gut, wenn du diese Sachen besorgst, bevor ihr euch auf den Weg macht.“

Er suchte nach Zettel und Stift und schrieb. Danach reichte er ihr das Stück Papier und sie nickte eifrig. „Bekomme ich hin. Ich denke eine halbe Stunde, dann bin ich wieder da. Ian? Wollen wir dann gleich los?“

Ich nickte nur und versuchte auf ihren Zettel zu linsen. Hatte er ihr auch ein kleines, krummes Herzchen aufgemalt? Ich konnte es nicht richtig erkennen, las nur irgendwas mit Brötchen, Mett und dann war der Zettel verschwunden.

Vicky verabschiedete sich und sobald sie die Tür zuzog, kam Chris mit schnellen Schritten auf mich zu. Er packte mich am Handgelenk und schleifte mich beinahe hinterher. Junge, junge, er schien es aber eilig zu haben. Naiv wie ich war, fragte ich mich natürlich ob ich etwas falsch gemacht hatte. War es, weil ich ihm gestern nicht mehr antwortete? Als wir in seinem Büro ankamen, schlug er die Tür hinter sich zu und stand mir gegenüber. Er musterte mich einen kleinen Augenblick und kam noch näher auf mich zu.

„Sag schon, was ist los?“, forderte Christopher mich auf und ich schaute ihn an.

Im ersten Moment wusste ich gar nicht, worauf er hinauswollte, doch dann fiel es mir seidenheiß ein. Er meinte meine schlechte Laune! Beschämt senkte ich meinen Blick. Was sollte ich denn sagen? Ich konnte ja schlecht die Wahrheit raushauen. Wie peinlich war das denn bitte?

„Komm schon, Ian. Hab ich was falsch gemacht?“

Himmel, nein!

„Nein, ich…“ Oh Gott. Peinlicher konnte es ja nicht mehr werden.

„Nun sag schon! Bin ich mit irgendwas zu weit gegangen?“

„Nein, nein, nein! Du verstehst das ein bisschen falsch. Ich hab einfach nur schlechte Laune gehabt.“, versuchte ich mich rauszureden. Wobei, es stimmte ja. Als Vicky endlich weg war, war auch meine Laune besser geworden.

„Du hast sie jetzt also nicht mehr?“ Chris schaute mich mit hochgezogener Augenbraue an. Warum musste er denn jetzt noch mehr nachhaken?

Ich seufzte theatralisch und rückte mehr oder weniger mit der Wahrheit heraus. „Gut, wenn du es unbedingt wissen willst. Ich bin heute extra früher gekommen. Ich wollte vor Vicky da sein und dann stand sie schon da. Mehr nicht.“

Der Mann vor mir starrte mich völlig perplex an. Na toll, schon wieder rot! Ich senkte meinen Blick wieder und hoffte, er würde es nicht sehen. Das Licht hier drinnen war eh nicht so toll, das spielte mir gut in die Karten.

Ich wurde plötzlich an eine warme Brust gepresst und mein Haar geküsst.

„So? Du bist also heute früh gekommen und du wolltest mit mir alleine sein, richtig?“ Ich konnte sein blödes Grinsen spüren. Wie er das ´gekommen´ aussprach, meinte er nicht das Erscheinen. In meiner Liste für Christophers Charakter fügte ich sehr überheblich und von sich selbst überzeugt hinzu. Und Idiot.

„Du bist blöd.“, antwortete ich nur kindisch und drückte mich näher an seinen Körper. Meine Hände legten sich um seinen Rücken und ich genoss die wohlige Wärme. Christopher war immer warm und hüllte mich damit ein. Vielleicht fühlte ich mich deshalb so wohl bei ihm.

„Ich weiß! Aber wenn das so ist und du jetzt doch nicht gekommen bist, wie wäre es, wenn ich dir nach Feierabend behilflich bin?“, raunte er in mein Ohr, stieß einmal mit seiner Zunge hinein und schob mich solange Rückwärts, bis ich an die Wand gedrückt wurde. Der Aufprall presste mir ein wenig die Luft aus den Lungen. Gleich darauf legten sich seine Lippen auf meine. Chris besaß die unglaubliche Gabe, mich alleine durch seine Worte zu erregen. In meiner Hose regte es sich bereits wieder.

Ich musste das hier schnell beenden, denn sonst würde ich den ganzen Tag mit einer nassen Shorts rumlaufen. Schnell löste ich den Kuss und drückte Mister ´Ich bin so von mir selbst überzeugt´ ein wenig von mir weg. Nur so weit, dass er mir nicht mehr ganz so nahe war.

Ein grinsen huschte über seine Lippen und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. In ein schwarzes Loch gesprungen oder mich sonst irgendwo anders verkrochen. Er hatte es bemerkt!

Ich räusperte mich und sagte betont lässig: „Keine sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz, der Herr. Sowas ist Strafbar. Und außerdem habe ich heute keine Zeit!“ Letzteres war gelogen.

Chris lachte. „Und was hast du heute vor, wenn ich fragen darf?“

Ich gab ihm noch einen schnellen Kuss und schlängelte mich an ihm vorbei. „Das weiß ich noch nicht, aber ich glaube ich treffe mich mit einem verdammt heißen Kerl!“

Danach verließ ich schnell das Büro und zog die Tür hinter mir zu.

 

Christopher hatte mich vorgewarnt. Eine Menge Arbeit war noch gewaltig untertrieben. Vicky und ich schafften nicht mal die Hälfte der Einkäufe und mussten in die nächste Großstadt fahren, um überhaupt etwas Brauchbares zu bekommen. Die Liste war lang. Von neuen Lampen, LED Streifen, Gläsern, bis hin zu passender Dekoration war alles vertreten. Der Chef wollte nicht nur sein Mobiliar in neuem Glanz erstrahlen lassen, sondern auch den Rest dahinter. Vicky kannte sich bestens aus und schliff mich von einem Geschäft ins nächste. Es war jedoch kaum was Passendes dabei. Mein Blick huschte über die altmodischen Gläser. Dieser Laden war die letzte Option gewesen und wirsch fuhr ich mir durch die Haare. Alles passte vorne und hinten nicht.

„Die sind auch nicht gut, oder?“, Vicky stand ebenso zähneknirschend vor dem Regal, wie ich.

„Ne! Christopher bringt uns um, wenn wir denselben Mist anschleppen, den er schon zu genüge hat.“

„Hmh.“

Unverrichteter Dinge machten wir uns dann gegen Abend wieder auf den Rückweg. Mein Treffen mit Chris fiel ins Wasser, weil wir einfach keine Zeit fanden und am Abend völlig erledigt waren. So fing das ja gut an.

 

Am Dienstag hatte ich mir Vicky in Christophers Auto geladen und war mit ihr in mein 300 Kilometer entferntes, altes Zuhause gefahren. Hier kannte ich mich aus und in der riesigen Einkaufsmeile bekam Vicky glänzende Augen. Überall leuchtete und glänzte es Weihnachtlich. Die Gänge waren überflutet und das Gedrängel ging los. Etwas anderes war uns allen nicht eingefallen und über das Internet etwas zu bestellen war zu kurzfristig gewesen.

„Oh, schau mal!“ Bald hätte ich meine Kollegin aus den Augen verloren, weil sie einfach an jeder Schaufensterscheibe anhielt und ihre kleine Nase gegen drücken musste. Genervt schnappte ich mir ihre Hand und zog sie weiter.

„Wir müssen uns ranhalten. Shoppen kannst du wann anders mal.“, maßregelte ich sie.

Betreten senkte sie ihren Blick und folgte mir bereitwillig. Ah hier war es. Vor einigen Wochen besorgte ich in diesem Laden alles für meinen letzten Arbeitsplatz. Gläser gingen häufiger zu Bruch, als einem lieb war.

„Mensch, Ian!“ Freundschaftlich wurde mir von hinten auf die Schulter geschlagen und ich wandte mich erschrocken um.

Tobias, einer von Marcs Kumpels stand hinter mir und grinste mich an. Oh Mist! Ich hätte mir denken können, dass ich hier ein bekanntes Gesicht wiedersehe. Doch darauf war ich nicht eingestellt. Meine Gedanken waren nur um die bevorstehende Neueröffnung gekreist. Es sollte alles perfekt sein, damit der Laden gut lief und Christopher endlich einen Nutzen daraus ziehen konnte. Ihn zu unterstützen war mir das wichtigste gewesen.

„Oh hey, Tobi.“, murmelte ich und sah an ihm vorbei. Hinter ihm tauchte seine Freundin Laureen auf, die ihr Gesicht mal wieder mit Schminke gekleistert hatte. Sie nickte mir nur zu, weshalb ich es ihr gleichtat. Ich mochte Tobi nicht. Er hielt sich für den größten Fisch im Teich und war mir gegenüber immer sehr unfreundlich gewesen.

„Ich hab gehört, Marc geht’s nicht so gut. Du bist ausgezogen?“ Was bitte ging ihn das an? Er hatte schon lange keinen Kontakt mehr zu Marc gehabt. Jedenfalls nicht, dass ich es wüsste.

„Ja, bin ich.“, antwortete ich kurz angebunden.

„Der ärmste soll leiden wie ein Hund. Aber ah, ich sehe schon. Die Kleine ist deine Freundin? Ich wusste nicht, dass du neuerdings auf Mädchen stehst.“ Er blickte Vicky mit einem unverschämt charmanten Lächeln an, weshalb er von Laureen in die Seite geboxt wurde. Er deutete auf unsere Hände und ich versteifte mich automatisch. Ich wollte sie loslassen, die Situation klarstellen, doch meine Kollegin hielt sie eisern fest. Verflixt noch mal. Obwohl ich vermutete, dass sie von meiner Orientierung wusste, haben wir noch nie darüber gesprochen. Ich vermied das Thema gerne, denn ich befürchtete, sie würde dann nicht mehr so unverfänglich mit mir umgehen.

„Freut mich sehr! Ich bin Vicky.“, sie lächelte zurück. „Ich möchte nicht drängeln, aber wir müssen dringend weiter, richtig Schatz?“

Wie bitte? Schatz? Wieder wurde meine Hand gedrückt. Ich wusste nicht, ob es so eine gute Idee war, ihr Spielchen mitzuspielen, doch ein Blick in Tobias blöde dreinschauende Fratze genügte mir.

„Äh, ja.“

„Wir müssen Sachen besorgen, wo wir doch grade erst zusammengezogen sind. So viel Arbeit.“, seufzte sie.

Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Sie konnte das sehr gut.

„Ich hätte dich nicht so eingeschätzt. Aber immer mit Männern vögeln wird ja auch langweilig, oder?“, sagte Tobias und nahm kein Blatt vor den Mund.

Bevor ich auch nur einen Ton von mir geben konnte, richtete meine neue Freundin das Wort an ihn.

„Ach weißt du. Manchmal tun wir es sogar zu viert. Kannst du dich noch an das Pärchen aus dem Club erinnern, Schatz?“, sie stierte Tobias förmlich an. „Ich sag euch, der Kerl war der Hammer. Er hats Ian so richtig besorgt! Und seine Freundin. Man, man. Ich würde euch gerne noch mehr erzählen, aber die Zeit rennt. Vielleicht habt ihr ja auch mal Lust. Ihr wisst schon! Also, bis dann!“

Vicky hob ihre freie Hand und zog mich mit sich in das Geschäft. Tobias und Laureen brauchten einen Moment, gingen dann aber völlig verdutzt weiter.

Ich stand nicht weniger belämmert da und konnte meine Kollegin nur dumm anglotzen.

„Nun sei nicht so. Hat doch Spaß gemacht, oder?“, grinste sie mich an.

Vicky war eine sehr fröhliche Natur, hatte immer ein Lächeln auf dem Gesicht. Ihre zierliche, schlichte Natur rundete das Ganze ab. Das sie sowas bringen würde, traute man ihr gar nicht zu.

„Weißt du, Ian. Ich weiß es schon länger. Also das du auf Männer stehst. Du bist wirklich eine Kämpfernatur, wenn es darum geht, was die Arbeit betrifft. Dabei bist du in allem anderen so engstirnig und lässt keinen an dich ran. Ich kenne dich noch nicht so lange und weiß auch nicht ob ich mir ein Urteil erlauben sollte. Aber du solltest zu dir selber stehen und den anderen den Mittelfinger zeigen. Denn du bist ein guter Mensch. Das kann ich ganz sicher sagen! Diese Weisheit habe ich von meinem Freund gelernt. Es gab mal jemanden wie dich, dem er sehr weh getan hat. Aber er hat aus seinen Fehlern gelernt und mir die Augen geöffnet. Es werden nicht alle so sein wie er, aber scheiß einfach auf die, die mit dem Finger auf dich zeigen.“

Ich war wirklich sprachlos! Meinem inneren Instinkt folgend, zog ich die Frau vor mir in eine kurze Umarmung. Ich war ihr so dankbar für das, was sie für mich getan hatte. Als ich sie wieder losließ, schenkte sie mir ein aufmunterndes Lachen und stieß mich an.

„Wenn die Eröffnung vorbei ist, darfst du mir einen Drink spendieren!“

Und innerlich schwor ich mir, dies auch wirklich zu tun.

 

Die weiteren Tage flogen nur so dahin. Vicky und ich besorgten alles, was wir benötigten. Danach ging es mit dem Einsortieren und Dekorieren der Bar weiter. Alles musste an seinen Platz und wir werkelten fleißig herum. Während meine neue Freundin sich um die Tische kümmerte, unterrichtete ich Christopher hinter der Theke. Bis wir wussten wie das Geschäft einschlug, musste er mit ran. Er nahm es nur grummelnd hin, wollte lieber seine Büroarbeiten erledigen, doch es ging nicht anders. Ich musste ihn wirklich davon überzeugen nicht leichtfertig jemanden einzustellen. Ich zeigte ihm also das perfekte Maß, welches er in die Gläser zu füllen hatte und auch, wie er einige Cocktails mischen musste. Die Speisekarte wurde um einige Snacks und Getränke erweitert, weshalb auch zwischendurch jemand in die Küche musste. Mich von ihm fernzuhalten, seine Nähe nicht richtig spüren zu können, machte mich fertig. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Am Abend waren wir alle so erledigt, dass wir nur noch nach Hause wollten.

Am Samstag war es dann soweit. Ich begutachtete mich im Spiegel unseres Wohnzimmers und fummelte in meinen Haaren rum.

„Du schaust wirklich gut aus! So professionell!“, staunte mein Bruder und erschien hinter mir.

Mein Blick glitt über meine Beine, die in einer engen schwarzen Jeans steckten und weiter hinauf. Vicky, Chris und ich hatten uns außerdem für ein weißes Hemd und eine schwarze, halblange Schürze mit dem Namen der Bar entschieden. Wir würden ab sofort alle das Gleiche tragen, damit die Kundschaft uns direkt ansprechen konnte, ohne erst zu rätseln, wer in der Bar arbeitete. Meine fast schwarzen Haare wurden am Vormittag noch von einem Friseur in Schwung gebracht. An den Seiten trug ich sie nun ziemlich kurz, während der Rest ziemlich lang war. So war das modern, meinte der gute Herr im Salon, doch ich kam nur mit Mühe damit klar. Eine durchgehende Länge wäre mir lieber gewesen.

„Zeig mal her.“ Daniel schien die Geduld mit mir zu verlieren und drehte mich zu sich um. Er verteilte einen Klecks Gel auf seiner Hand, verrieb es ordentlich in den Handflächen und knetete dann zügig in meinen Haaren herum. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen und zufrieden sah er mich an.

„So kannst du bleiben! Außer das Hemd, das muss in die Hose, sonst sieht es zu lässig aus.“

Ich tat wie mir befohlen und blickte noch einmal mein Spiegelbild an. So schlecht sah ich wirklich nicht aus. Was mir fehlten, waren Muskeln. Ich war eher der schlaksige Typ, nicht besonders groß. Was fand Christopher nur an mir, dass er sogar mit mir ins Bett stieg? An mir war nichts Besonderes. Eher der normale Durschnitt. Bei Gelegenheit sollte ich ihn wohl mal fragen. Das ich das eh nicht tat, war zwar klar, aber darüber nachdenken konnte man mal.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es Zeit wurde, sich auf den Weg zu machen. Daniel hatte seine normalen Klamotten an, würde mich aber begleiten. Er wollte wohl nichts verpassen. Und außerdem würde Charlotte nach ihrer Spätschicht im Krankenhaus vorbeikommen.

Ein wenig nervös, schnappte ich mir also meine Jacke und folgte meinem Bruder zu seinem Auto.

„Wird schon schiefgehen!“ Versuchte er mich aufzumuntern und klopfte mir auf die Schulter. Ihm konnte ich natürlich nichts vormachen. Irgendwie schien er immer zu wissen, was in mir vorging.

Da Vicky, Daniel und seine Freundin ordentlich die Werbetrommel gerührt hatten, hoffte ich, dass der Abend ein vielversprechender Anfang werden würde. Doch sicher konnte ich mir in diesem kleinen Kaff nicht sein. Würde sich die ganze Arbeit auszahlen und Chris schwarze Zahlen bringen? Diese benötigte er nämlich dringend, sonst konnte er den Laden dicht machen.

 

Als ich mit Dan im Schlepptau die Bar betrat, kam meine Kollegin mir schon ganz aufgeregt entgegengehüpft. Ihre kurzen Beine steckten nun auch in dieser verdammt engen Jeans und das Hemd hatte sie sich lässig vorne in die Hose gesteckt. Ihre Füße steckten, genau wie meine, in schlichten schwarzen Turnschuhen und ihre roten Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden.

„Bist du auch schon so nervös? Oh man, du siehst aber heiß aus in dem Teil!“ Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. „Kann ich das so tragen oder sieht das blöd aus? Bin ich auch nicht zu dick dafür?“

Daniel neben mir fing an zu lachen und ich schüttelte den Kopf. Wo nahm sie nur diese Energie her?

„Du wirst die hübscheste Kellnerin heute Abend sein!“, versuchte ich sie aufzumuntern.

Sie verzog jedoch ihre leicht rot angemalten Lippen zu einem schmollen. „Ich bin ja auch die einzige Kellnerin heute Abend!“

Nun musste auch ich Lachen.

„Ist Chris noch gar nicht da?“, richtete nun mein Bruder das Wort an sie.

„Doch schon, hinten in seinem Büro. Er mault rum, wegen der Klamotten. So einen Scheiß zieht er nicht an und sowas. Aber es steht ihm recht gut, finde ich. Grade bei seiner Figur. An so eine starke Schulter würde ich mich auch gerne mal anlehnen.“

Mein Puls stieg an. Niemals würde sie sich an seine Schultern anlehnen können. Die war nämlich für mich reserviert. Obwohl es gar nicht so abwegig war. Sie müsste Christopher nur schöne Augen machen. Von Dan wusste ich immerhin, dass der Kerl nicht nur mit Kerlen ins Bett ging. Und wir waren nicht zusammen. Genau genommen konnte er tun und lassen was er wollte und ich würde einen Teufel tun, ihm irgendetwas vorzuschreiben. Einverstanden wäre ich wohl nicht. Aber würde dies eine Rolle spielen?

„Ich sehe mal nach ihm.“, bot sich Daniel an und setzte sich bereits in Bewegung. „Zu dem Rest sage ich besser nichts.“ Er zwinkerte mir zu und verschwand.

Hoffentlich hatte Vicky das nicht gesehen. Doch die schien mit sich selbst beschäftigt zu sein, zupfte hier und da an ihren Klamotten rum.

„So, genug gefummelt. Die ersten Leute müssten gleich eintreffen. Wir sollten noch mal alles durchgehen und die Tische kontrollieren. Auch ob genug Getränke kalt gestellt sind und…“

„Ja, ja. Ich mach ja schon. Du bist echt ein Kontrollfreak, aber ich mag dich trotzdem!“, sie gab mir einen leichten Kuss auf die Wange und tat, was ich ihr gesagt hatte.

Hoffentlich hatte sie keinen Lippenstift auf meiner Wange hinterlassen.

 

Kapitel 11

 

Eine Stunde später konnten wir uns vor Arbeit kaum retten. Mir lief beinahe der Schweiß die Stirn runter und Vicky lief, als wäre der Teufel hinter ihr her. Christopher war irgendwann doch aus seinem Büro gekommen. Daniel schien ihn jedoch ordentlich bearbeitet zu haben. Dass er verdammt gut in diesen Klamotten aussah, musste ich bestimmt nicht erwähnen. Ich vermied also ihn weiter anzustarren und konzentrierte mich auf meinen Job. Eine große Hilfe war er allerdings nicht. Alles lief viel zu langsam ab, weshalb er und Daniel in die Küche bugsiert wurden. Meine Kollegin und ich waren also auf uns allein gestellt.

Es waren beinahe alle Tische belegt. Bis auf einen. Den hielt Vicky für ihre Freunde frei, die noch kommen sollten.

Auch an der Bar tummelte es sich, angeregte Gespräche drangen an mein Ohr. Ich versuchte wirklich so schnell es ging mit den Getränken hinterher zu kommen, doch diese Menge an Menschen war auch für mich neu.

„Ich hätte gerne noch einen!“, sprach ein älterer Herr und hielt mir sein Glas unter die Nase. Was hatte er noch gleich? Ach ja! Ich nahm ihm das Glas ab, spülte es schnell durch und nahm ein neues Schnapsglas aus dem Schrank. Ich füllte es mit Obstler und reichte es ihm. Er bezahlte auch gleich. Gleich darauf mixte ich in Windeseile einen ´Caipirinha´ für die Dame am anderen Ende des Tresens. Nebenbei musste ich noch die Bestellungen für Vicky erledigen. Ich hätte mir in den Arsch treten können. Warum nur riet ich Christopher zu einer neuen Angestellten ab? Oder auch ein Kerl. Jetzt grade war mir alles recht. Alles Jammern brachte nichts. Ich musste zusehen. Ob ich wollte oder nicht. Zumindest beschwerte sich niemand, weil es so lange dauerte.

Und schon wieder ging die Tür auf. Wenn das so blieb, musste Christopher sich eine neue Bar suchen. Es hatten nicht mal alle Menschen einen Platz zum Sitzen. Mein Blick huschte zur Eingangstür und ich erstarrte in meiner Bewegung. Das waren doch Gustav und Liam, die da reingekommen waren? Sie waren ein bisschen älter geworden, doch ihre Gesichter hatten sich kaum verändert. Liam trug jetzt einen leichten Bartschatten. Beide waren groß gewachsen, Gustav ein wenig pummeliger, als Liam. Die Beiden konnte ich nun gar nicht gebrauchen. Wenn sie mich hier sehen würden, würde das nur in einer Schlägerei enden. Schon damals, als sie mich in dem Schuppen eingeschlossen hatten, waren sie richtige Arschlöcher gewesen. Als Vicky Liam auch noch freudig um den Hals fiel und ihn küsste, wäre ich beinahe hinten rüber geflogen. War das ihr Ernst? Was wollte diese liebe Persönlichkeit mit so einem Kerl?

„Entschuldigung. Ich hätte gerne noch ein Bier!“, wurde ich zum tausendsten Mal von der Seite angequatscht. Immerhin blieben die Leute freundlich und einige schenkten mir sogar ein freundliches Lächeln.

Ich musste mich dringend zusammenreißen und versuchte mich wieder zu konzentrieren. Jetzt war nicht die Zeit, um mir über diese Kerle den Kopf zu zerbrechen.

 

Gegen zwei Uhr nachts wurde es endlich ruhiger. Die Menschenmassen waren verschwunden und nur noch etwas über die Hälfte der Tische waren belegt. Mir taten die Arme und Beine weh. Von meinem Rücken ganz abgesehen. Sowas war ich einfach nicht gewohnt. Ich brauchte dringend eine kleine Pause!

„Hey, kleiner Bruder. Wie siehts aus? Willst du kurz ne Pause machen?“, Daniel kam hinter den Tresen und nahm mir das Handtuch ab. „Für 10 Minuten werde ich das hier schon schaffen!“ Mein Retter! Dankend legte ich die Schürze ab und ging in Richtung des Hinterhofs. Doch Vicky fing mich ab.

„Hey Ian. Ich möchte dir kurz meinen Freund vorstellen!“ Na großartig! Dazu fehlte mir grade wirklich die Lust! Ohne meine Antwort abzuwarten, hing sie sich an meinen Arm und zog mich mit sich. Kurz darauf fand ich mich vor Liam und Gustav wieder, die mich beide komisch ansahen. Bestimmt wussten sie genau wer ich war und planten eine ihrer Intrigen. Vicky konnten sie vielleicht täuschen, aber mich ganz bestimmt nicht.

„Und hier ist er. Mein bester Kollege! Ian? Das ist Liam mein Freund…“, sie zeigte auf ihn. „…und das ist Gustav. Ein kleiner Holzkopf, aber er hat das Herz am rechten Fleck.“

„Tag.“, konnte ich nur gequetscht herausbringen. Sie sollte gefälligst hinne machen, immerhin ging dies hier von meiner Pause ab.

Für eine Weile herrschte Stille. Wir starrten uns an und die Frau an meiner Seite blickte zwischen uns hin und her.

„Jungs? Was ist hier los?“, sie blickte Liam auffordernd an. Im ersten Moment schien er nichts sagen zu wollen, doch dann räusperte er sich.

„Maus? Du weißt doch noch. Das ist er. Also der, von dem ich dir erzählt habe. Von früher.“ Er schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen und eine leichte Röte zog sich über seine Wangen.

„Wie bitte?“ Vicky bekam große Augen und musste das Gesagte wohl erst verdauen. Bevor sie jedoch loswettern konnte, stand Liam auf.

„Ian? Es tut mir wirklich leid, was wir dir damals angetan haben. Ich meine, wir waren jung und so blöd. Als dir dann dieses Schreckliche passiert ist, haben Gustav und ich umgedacht.“ Er fuchtelte mit seinen Händen hin und her, redete viel zu schnell und war sich bestimmt bewusst, wie blöd er sich anhörte.

Ich konnte nichts sagen, stand nur dumm da und glotzte. Konnte ich das wirklich ernst nehmen? War er nicht derjenige gewesen, der meinen Kopf ins Klo gedrückt und sich im Schuppen über mir erleichtert hatte? Ich wusste es nicht mehr. Meine Hände fingen an zu zittern. Einen Fehler konnte ich mir nicht erlauben.

„Nun sag doch auch mal was!“, Liam richtete sich an Gustav, der wie von der Tarantel gestochen auch aufstand.

„Ja, ich…“, er reichte mir die Hand. „Es tut uns wirklich sehr leid. Die Entschuldigung kommt vielleicht etwas spät, aber wir hoffen du nimmst sie an.“

Vicky stieß mir leicht in die Seite, um mich aus meiner Starre herauszuholen. Nur ihrem flehenden Blick war es zu verdanken, dass auch ich die Hand hob und den beiden Männern vor mir die Hand reichte. Ob dies ein Fehler war, würde sich zeigen. Aber was tat man nicht alles, für so eine Frau.

„Ich bin echt froh, dass du uns verziehen hast. Ehrlich gesagt wussten wir nicht, wie wir reagieren sollten. Vicky hat uns die Ohren mit dir vollgequatscht, aber ich habe mich nicht getraut es ihr zu sagen.“ Liam richtete sich an seine Freundin und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Vielleicht magst du mal was mit uns unternehmen?“

So eine Frage überrumpelte mich noch mehr, doch ich stimmte zu. Vicky schien sich sehr zu freuen und klatschte begeistert in die Hände. Sie wollte doch glatt ein Treffen vereinbaren.

„Am besten warten wir erstmal ab, wie es hier weiter geht. Die Wochenenden werden sicher voll werden.“, wandte ich ein. Und ehrlich gesagt, wollte ich mich nicht allzu sehr auf diese Sache einlassen. Wie ich mich kannte, konnte das eh nicht gut ausgehen. Spätestens nach einer Weile würden sie alle die Nase von mir, dem Langweiler, voll haben.

„Du hast recht.“, seufzte meine Kollegin und schaute sich um. „Ich mach mich besser wieder an die Arbeit.“

„Wirklich unglaublich, was ihr aus dem Laden gemacht habt. Er ist gar nicht wiederzuerkennen.“, sagte Gustav und sah sich bewundernd um. „Wir werden auf jeden Fall öfter herkommen.“

Ein Lächeln huschte über meine Wangen. Es freute mich einfach. Vor allem für Chris!

„Das ist schön! Aber wenn ihr mich entschuldigt. Ich hab nur eine kleine Pause und wollte kurz vor die Tür.“

„Ja, sicher. Und danke nochmal. Es wäre echt cool, wenn wir mal was zusammen machen würden.“ Liam schien es tatsächlich ernst zu meinen.

Ich nickte den Beiden noch mal zu und ging in den Hinterhof zu der Garage, in der ich Woche für Woche mithilfe meiner Kollegin die Tische und Stühle renoviert hatte. Ich nahm mir einen kleinen Klappstuhl und ließ mich völlig erledigt darauf nieder.

Junge, war das ein Tag. Am liebsten hätte ich mir eine Zigarette angemacht. Wenn Marc in der Wohnung geraucht hatte, flippte ich beinahe aus. Also verwarf ich den Gedanken wieder.

Plötzlich öffnete sich die Hintertür mit einem kleinen Quietschen und Christopher kam heraus. Ich beobachtete ihn, wie er mit lässigem Gang auf mich zu kam. Obwohl ich ihn nicht richtig erkennen konnte, wusste ich, dass er umwerfend und verdammt attraktiv aussah. Das weiße Hemd spannte an seinen Schultern und in dieser verflucht engen Jeans konnte ich schon vor ein paar Stunden seinen knackigen Hintern ausmachen. Chris nahm sich einen zweiten Stuhl, setzte sich neben mich. Seine Wärme konnte ich sogar spüren, obwohl wir uns gar nicht berührten.

„Diese Frau ist ein Albtraum! Wie Daniel es mit ihr aushält, kann ich nicht verstehen.“

Ich musste grinsen. „Wieso? Sie war doch bestimmt eine große Hilfe, oder nicht?“

Da Chris und Daniel in der Küche nicht alleine klargekommen waren, hatte Charlotte sich bereit erklärt ihnen unter die Arme zu greifen. Naja, es war vielmehr ein Befehl von ihr gewesen. Charlotte war eine taffe Frau. Vor ein paar Tagen durfte ich sie endlich kennenlernen. Sie hatte eine durchschnittliche Figur, schulterlanges, straßenköterblondes Haar und eine Art, die einem eiskalt den Rücken runter laufen konnte. Manchmal glaubte man, sie würde in keinem Krankenhaus, sondern bei der Bundeswehr arbeiten. Doch sie war trotz allem eine liebe Frau.

„Hör mir auf. Sie hat nur gemotzt und mich durch die Gegend gescheucht. Alles hab ich falsch gemacht.“, schimpfte Chris.

Ich musste ein bisschen lachen.

„Kannst du überhaupt was? Der Tresen liegt dir nicht, die Buchhaltung nicht und selbst in der Küche bist du ein Versager!“, provozierend blickte ich ihn an und schaute in sein völlig verwundertes Gesicht.

Mit einem Mal legte sich sein Arm um mich und ich wurde in den Schwitzkasten gezogen.

„Du kleiner Teufel! Ich zeig dir gleich, was ich alles draufhabe!“

„Hey, hör auf! Du machst noch meine schicke Frisur kaputt!“, jammerte ich gespielt und versuchte meine Haare zu retten. „Ich muss gleich weiterarbeiten!“

Der Griff um mich wurde gelockert. „Wenn das so ist. Ich will dem Herrn ja nicht die Frisur zerstören. Immerhin bringt sie mir Geld ein.“

Eigentlich wäre mein Weg nun frei gewesen, doch so nah bei Christopher zu sein, konnte ich mir nicht entgehen lassen. Ich lehnte meinen Kopf also an seine Schulter und schloss die Augen. Nur einen kurzen Augenblick wollte ich den Moment genießen. Chris seufzte und legte mir den Arm um die Schulter.

„Ich vermisse dich, Ian.“

Ich riss die Augen wieder auf. Mein Herz machte wieder diesen kleinen Hüpfer. Blödes Ding. Es sollte sich nicht zu viele Hoffnungen machen. Ich hob meinen Kopf und blickte Chris in die Augen. Hier im Dunkeln leuchteten sie noch mehr, als sonst. Zaghaft kam ich ihm mit meinem Gesicht immer näher. Als er seine Lider senkte, küsste ich ihn. Ich versuchte all meine Gefühle in diesen einen Kuss fließen zu lassen. Wie sehr auch ich ihn vermisste, die Zuneigung ihm gegenüber und dass er mir so viel bedeutete.

Chris küsste mich zurück, strich sanft mit der Zunge über meine Unterlippe und stupste dann in meine Mundhöhle. Unsere Zungen umkreisten sich, tanzten leicht miteinander und ich konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. Widerwillig löste ich mich von ihm und sah den Mann vor mir an. Seine Augen waren noch immer geschlossen, doch als er sie öffnete, legte sich ein warmes Lächeln auf seine Lippen.

„Ich muss wieder rein…“, meine Stimme klang heiser und mein dummes Herz ziepte verdächtig. Ich wollte nicht gehen, diesen Moment noch länger auskosten. Ihm sagen, wie sehr ich ihn brauchte und dass ich kaum schlafen konnte, weil er mir so sehr fehlte. Dass er mein Herz höherschlagen ließ, er so viel anders war als Marc. Dass ich mich in seiner Gegenwart einfach wohlfühlte, seine Umarmungen und Küsse viel zu wenig für mich waren. Am liebsten hätte ich ihn bei der Hand gepackt und uns in seinem Büro eingesperrt. Die Welt um uns herum konnte mir getrost gestohlen bleiben. Doch ich tat es nicht und schon gar nicht sagte ich etwas von alledem. Ich war einfach zu feige. Die Angst, von ihm abgelehnt zu werden war so viel größer, als ich es mir vorstellen konnte. Eines war jedoch klar: Dass ich für Christopher nicht das Gleiche darstellte, wie er für mich. Er mochte mich bestimmt. Doch mehr als ein bisschen Sehnsucht nach Sex war ich für ihn nicht. Eine willkommene kleine Abwechslung. Doch es war gut so. Ich wollte ihn nur solange haben, bis er etwas Besseres gefunden hatte. Ich war schließlich nicht blöd. Als Christopher zwischendurch aus der Küche kam, sich angeregt mit der Kundschaft unterhielt, waren auch schöne Frauen unter ihnen gewesen. Es war nicht schlimm, dass er sich mit ihnen unterhielt. Im Gegenteil. Ich konnte gut verstehen, was in ihren Köpfen vor sich ging. Immerhin fühlte ich das Gleiche, wenn ich Chris ansah. Er war ein attraktiver Mann, der einen unheimlich in seinen Bann ziehen konnte. Mir waren seine Blicke ihnen gegenüber auch nicht entgangen. Natürlich hinterließ es ein unangenehmes Gefühl bei mir. Ich war eben nur die Abwechslung, die er fallen lassen würde, wenn er keine Lust mehr hatte. Daniels Ausführung zu dem Thema hätte ich für diese Schlussfolgerung gar nicht gebraucht. Aber es war gut so, wie es war. Insgeheim hoffte ich natürlich, dass ich mich selbst nicht belog.

Chris seufzte, zog mich im Nacken noch einmal zu sich heran und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

„Na schön. Dann schwing deinen kleinen Knackarsch da wieder rein und mach mich reich.“ Er piekte mir in die Seite und ich stand auf.

„Wird gemacht, Chef!“ Ich versuchte meine Fassung zu bewahren und versteckte mich hinter dieser blöden Alberei. Jetzt grade war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich über solche Sachen den Kopf zu zerbrechen. Drinnen wartete schließlich tatsächlich potentielle Kundschaft. Und wie sagte man so schön – der Kunde war König.

Ich setzte mich also in Bewegung, doch Chris packte nach meiner Hand und hielt mich somit auf.

„Kommst du später mit zu mir?“

Mein Kopf schrie nein, doch das blöde Herz machte mir wieder mal einen Strich durch die Rechnung.

„Sicher…“, nickte ich und ging.

Kapitel 12

 

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Obwohl ich nach der Neueröffnung, mehr oder weniger, die Nacht bei Christopher verbracht hatte, passierte nichts. Ich war völlig müde und kaputt in das riesige Bett gefallen. Als Chris dann auch noch seine Arme um mich legte, war ich völlig hinüber. Ich konnte zwar noch zarte Küsse in meinem Nacken wahrnehmen, doch danach waren mir einfach die Augen zugefallen. Nach dem Aufstehen verbrachten wir noch ein paar Stunden etwas unverfänglich miteinander. Es gab Frühstück, wir haben ein bisschen gequatscht und danach brachte er mich nach Hause.

Nach der Neueröffnung war die Bar an keinem einzigen Tag geschlossen gewesen. Zwar öffnete sie erst gegen siebzehn Uhr, doch Vicky und ich mussten jeden Tag ran. Meist bis in die frühen Morgenstunden. Es war der Hammer, wie gut der Laden wirklich lief. Beinahe jeden Tag war dort der Bär los.

Nach Woche zwei waren meine Kollegin und ich total erledigt. Wir brauchten dringend eine Auszeit. Christopher stellte also eine Anzeige und hing auch ein Schild in das Schaufenster, dass er neues Personal benötigte. Es dauerte nicht lange und es trudelten zahlreiche Bewerber ins Haus. Schnell hatten wir zwei qualifizierte Kräfte gefunden. Dominik und Anna würden das neue Team bilden und über die Feiertage meine Freundin und mich ablösen. Vicky wollte am heiligen Abend unbedingt bei ihrer Familie sein und die restlichen Feiertage, bis nach Silvester bei Liam verbringen. Es freute mich wirklich, dass sie so glücklich war und es gab Tage, da konnte sie gar nicht mehr aufhören über ihren Freund zu reden. Doch innerlich versetzte es mir einen Stich. Denn ich konnte von mir nicht sagen, dass ich sowas wie eine Beziehung führte. Wenn ich Christopher mal zu Gesicht bekam, war ich meist ziemlich am Ende mit meinen Kräften. Wenn dann mal der eine beim anderen übernachtete, schlief ich meist gleich ein. Ab und an zog Chris mich nach Feierabend in sein Büro, wir holten uns gegenseitig einen runter oder es gab einen Blowjob. Wirklich feinfühlig war das nicht und obwohl ich immer mitmachte, merkte ich, wie ich mich langsam zurückzog.

 

„Und wenn du das Eis drin hast, gibst du 4cl Wodka und erst dann 1cl blue Curacao rein. Danach vorsichtig mit Soda aufschütten und…“, ich hielt meinem neuen Kollegen Dominik das bläulich leuchtende Glas ins Gesicht. „…fertig ist der ´Polar Crush´!“

„Junge, das sieht echt verschärft aus!“ Dominik leckte sich verstohlen über die Lippen.

„Tja. Sieht schwierig aus, ist aber simpel. Ich habe dir hier eine Liste mit Rezepten gemacht, falls du dich an die Herstellung der einzelnen Cocktails nicht mehr erinnern kannst.“, ich reichte ihm meinen handgeschriebenen Block, den ich in der letzten Woche bearbeitet hatte. „Und mach dir keinen Kopf. Wenn sich viele Bestellungen verschiedener Getränke häufen, schadet so ein Blick nicht.“

Eifrig nickte er und einzelne Haarsträhnen lösten sich aus dem Gummi meines Kollegen. Ich lachte ein wenig und amüsierte mich über das aufgeregte Verhalten von Dominik. Obwohl er schon Erfahrungen vorweisen konnte, fiel es ihm manchmal schwer, die unterschiedlichen Getränke voneinander zu unterscheiden. Ich war mir jedoch sicher, dass er es hinbekommen würde.

„Morgen wird sicher eh nicht viel los sein. Es ist Heiligabend, also werden die Meisten bei ihren Familien sein.“, versuchte ich Dominik weiter aufzubauen und klopfte ihm einmal auf die Schulter. „Wenn was sein sollte, kannst du mich auch anrufen. Die Nummer steht in unserem Ordner. Schrank, rechts oben.“

„Du hast gut reden. Dir gelingt auch immer alles. Was mach ich denn, wenn die Kundschaft sauer wird und ich es nicht hinbekomme?“ Verlegen rieb er sich den Hinterkopf.

„Wie gesagt, dann rufst du an.“ Ich nahm ein großes Cocktailglas und instruierte meinen Kollegen weiter, ließ mir verschiedene Getränkesorten von ihm zeigen und war mir sicher, dass der kleine Kerl es schon schaffen würde. Obwohl ich mit meinen 1,75 m selbst nicht der größte war, so war Dominik sogar noch ein kleines bisschen kleiner als ich. Er trug seine etwas längeren, blonden Haare zu einem Pferdeschwanz und trug ein seidenglattes Gesicht mit sich herum. Obwohl er auch Haare auf den Zähnen haben konnte, war er eigentlich ein ganz cooler Typ.

Morgen war es soweit und ich bekam endlich meinen ersten, freien Tag. Ich würde den Vormittag ordentlich ausschlafen, mir keine Gedanken um die Bar machen und am Nachmittag sowohl mit meinem Bruder, als auch mit Christopher den heiligen Abend verbringen. Seit meinem Auszug hatte ich kein Weihnachten mehr mit Daniel verbracht. Er lebte sein Leben, ich meines. Ich erinnere mich noch an das erste Fest mit Marc. Es war total romantisch gewesen, wir waren alleine und haben uns unsere Gefühle gestanden. Ein wenig Herzklopfen bekam ich bei dieser Erinnerung schon, doch das war es auch schon. Wir hatten eine schöne Zeit, doch die war schon lange vorüber.

 

„Also, bis dann, Kleiner!“ Vicky drückte mich und gab mir nach dem Feierabend noch einen Kuss auf die Wange. Das hatte sich irgendwie so eingebürgert.

„Pass auf dich auf. Und hab schöne Feiertage!“, ich drückte meine Freundin auch noch kurz an mich und begleitete sie mit nach draußen.

Draußen stand wie immer Liam. Er war ein echter Gentleman und holte seine Liebste immer ab, wenn Vicky ihm vorher eine Nachricht schrieb.

„Hey Liam.“, grüßte ich freundlich.

„Hey! Ist wieder ganz schön spät geworden, hm?“

„Ja, du sagst es. Pass gut auf diese Quasselstrippe auf und bring sie mir im neuen Jahr wieder heile hier an.“ Ich hob meine Hand zum Abschied und hörte, wie Vicky sich gespielt über meine Bemerkung aufregte. Danach schloss ich die Tür hinter mir und drehte den Schlüssel um. Für heute war Schluss. Ich ließ meinen Blick durch die Bar schweifen und musste unwillkürlich lächeln. Es war schön hier. Viel schöner, als ich es mir ausgemalt hatte. Das Christopher nun auch schwarze Zahlen schrieb, war nicht nur mir, vor allem aber dem kleinen rothaarigen Flummi zu verdanken. Vicky spürte eine ähnliche Leidenschaft wie ich, wenn es darum ging, seine Gedanken in etwas Optisches zu verwandeln. Zumindest hatte sie die ganze Deko hier übernommen und es war irgendwie kuscheliger geworden, als ich es hinbekommen hätte. Vielleicht, oder gerade deshalb war der Andrang der Menschen hier so groß. Hier fühlte man sich einfach wohl.

„Na, über wen denkst du denn grade nach? Du guckst so verliebt!“

Erschrocken zuckte ich zusammen und die Wangen wurden rot. Himmel, hatte er mich erschreckt.

Christopher stand gelassen im Türrahmen, der zu den Sanitärräumen und seinem Büro führte. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt und er sah mich mit hochgezogener Augenbraue auffordernd an. Ich hatte ihn leider nicht mehr in dieser sexy Arbeitskluft sehen dürfen, dafür trug er heute einen weit ausgeschnittenen Pulli. Sein Hals lag frei und ich dachte darüber nach, wie ich meine Zunge über diesen gleiten ließ, weiter nach unten zu dieser leicht trainierten Brust. Mein Weg würde unweigerlich an den Brustwarzen vorbeikommen, die sich selbst, wenn man sie nur anpustete, aufrichteten.

Ich schüttelte den Kopf und räusperte mich.

„Ich und verliebt? Ne. Ach, ich dachte grade nur an Vicky. Sie hat das alles wirklich gut hinbekommen!“ Ich schaute über die Tische, das gedimmte Licht und all die kleinen Details, die das Gesamtbild einfach perfekt machten.

„Hmh.“, Chris folgte meinem Blick und nickte andächtig. „Du hast deinen Teil aber auch dazu beigetragen. Ohne dich, würden immer noch diese dusseligen alten Dinger da stehen.“

Ich lachte verhalten. Es war mir ein bisschen unangenehm, wenn er mich so lobte.

„Schon. Aber ohne sie wäre es hier nicht so, wie es ist.“

„Muss ich mir jetzt um eine Gehaltserhöhung für Vicky Gedanken machen?“ Auch Chris lachte leicht. „Ich dachte immer bei sowas wäre jeder Angestellter für sich selbst verantwortlich.“

Wenn ich es mir genau überlegte, hatte er nicht ganz unrecht. „Vielleicht schon. Verdient hätte sie es jedenfalls!“

Ich sah auf meine Uhr und mir fielen schon beim bloßen Anblick die Augen zu. Kurz nach 3. Ich setzte mich in Bewegung.

„Ich mach jetzt alles zu. Bleibst du noch?“, fragte ich zwar, doch begann schon damit die Lichter zu löschen. Die Kasse hatte Vicky vorhin schon in den Tresor geschafft.

„Nein. Ich wollte auch los.“

Als ich an Christopher vorbei ging, hielt er mich auf. Er umarmte mich von hinten und fuhr mit seiner Hand über meinen Oberkörper. Ich konnte seinen Atem in meinem Nacken spüren.

„Magst du nicht noch mit zu mir?“, säuselte er in mein Ohr und jagte mir damit einen Schauer über den Rücken. Ich konnte spüren, wie sich die Härchen an meinen Armen aufstellten.

Ich atmete einmal tief ein. Sanft aber bestimmend löste ich seine Umarmung. Mir stand heute wirklich nicht mehr der Kopf nach Sex.

„Sorry. Aber heute musst du dir dafür jemand anderen suchen.“ Als ich es ausgesprochen hatte, hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. Wie konnte ich nur so blöd sein? Chris reagierte einen Moment nicht und ich hoffte inständig, dass er mir gleich eine Standpauke halten würde. Das nur ich für ihn zählen würde und es niemand anderen für ihn geben würde. Eine Liebesbekundung musste es ja nicht gleich sein, doch zumindest irgendwas in der Art. Mein Puls beschleunigte sich automatisch, als ich auf eine Reaktion wartete. Ich glaubte schon daran, dass er gar nicht erwidern würde, doch er seufzte und sagte ungewöhnlich kühl: „Das sollte ich wohl tun!“

In meinem Inneren schien etwas kaputt zu gehen, denn in meinen Ohren klingelte es. Mein Herz schlug noch schneller und etwas schnürte mir die Kehle zu. Ich versuchte meinen Atem ruhig zu halten und mir nichts anmerken zu lassen. Scheiße, tat das weh!

„Schön. Dann bis morgen!“, verabschiedete ich mich und war froh, kurz darauf auf dem Fahrrad meines Bruders sitzen zu können. Ich hatte es mir geliehen, weil ich noch keine Zeit fand, um nach einem Auto zu schauen. Da der letzte Bus um 1 Uhr nachts fuhr, war dies die zeitsparendere Variante gewesen.

Der kalte Wind fegte mir ins Gesicht, doch ich war froh darüber. In mir tobte es und ich war wirklich enttäuscht. Würde Chris sich tatsächlich noch jemanden für die heutige Nacht suchen? Vögelte er vielleicht sogar schon mit jemand anderem oder einer anderen? Ich schimpfte mich selbst einen Idioten, dass ich nicht vorher auf diese Idee gekommen war. Wie viel hatte ich Christopher denn in letzter Zeit schon geboten? Nicht viel. Ich war ständig ausgelaugt und müde. Die Mühe einfach nicht mehr wert. Sonst gab er sich auch nicht so leicht geschlagen, also musste da doch was dran sein. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie er mit anderen ins Bett stieg, mich hinterher noch ohne mit der Wimper zu zucken küsste. Doch hatte ich ein Recht darauf, sauer auf ihn zu sein? Diese Frage konnte ich mir mit einem klaren nein selber beantworten. Von Anfang an hatte ich gewusst, was auf mich zukommt, dass ich nur vorübergehend die Beine breit machen durfte. Christopher hatte es bestimmt satt, mit mir in die Kiste zu steigen. Sonderlich viel war ja auch nicht gelaufen. Wieder stellte ich fest, was für ein Langweiler ich doch war. Marc schien wirklich recht mit dem zu haben, was er gesagt hatte. Ich stink langweilig und vergraulte sowieso jeden, der mir etwas bedeutete. Meine Chancen waren eh bei Null gewesen.

So in meinen Gedanken vertieft, bemerkte ich gar nicht, dass ich schon zu Hause angekommen war. Völlig angespannt, brachte ich leise das Fahrrad in den Keller und begab mich in die Wohnung.

In meinem Zimmer angekommen, zog ich mir Hemd und Hose aus und legte mich ins Bett. Dass es so schnell vorbei sein würde, hätte ich nie gedacht. Doch so war es. Wenn Christopher wirklich mit wem anders ins Bett stieg, wollte ich da einfach nicht mehr mitmachen. Das könnte ich nicht aushalten. Es fiel mir ohnehin schon schwer genug, mich von ihm fernzuhalten. Wenn ich jetzt einen klaren Schlussstrich zog, würde es nicht allzu lange dauern, bis der Schmerz verging.

 

Am nächsten morgen drang ohrenbetäubende, weihnachtliche Musik an mein Ohr. Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es bereits nach 15 Uhr war. Ich zog mir das Kissen über den Kopf und blieb noch eine Weile liegen. Ich war so müde, dass es sogar schmerzte. Moment. War es wirklich, weil ich müde war? Ich versuchte mich zusammen zu reißen und stand auf wackeligen Beinen auf. Mein Mund war irgendwie ausgetrocknet und es fiel mir schwer, in Gang zu kommen.

Nur in Boxershorts bekleidet, schlurfte ich ins Wohnzimmer und bekam bald einen Schreck. Über glitzerte und glänzte es. Unzählige Weihnachtsmänner, Engel und Schneegestalten grinsten mir frech ins Gesicht. Lichterketten waren an den Fenstern befestigt und überall standen Kartons herum. Daniel hockte an einem riesigen Nadelbaum und versuchte umständlich die Lichterkette an ihm zu befestigen. Dabei schien er aber die Geduld nicht zu verlieren, summte fröhlich vor sich hin.

„Morgen!“, brummte ich los. Meine Laune hielt sich in Grenzen und ich konnte diesem ganzen himmlischen Schnickschnack nichts abgewinnen.

Daniel zuckte erschrocken zusammen, die Lichterkette, die bereits befestigt war, rutschte wieder runter.

„Gott, hast du mich erschreckt!“, sagte er atemlos und fasste sich an seine Brust.

„Gott hat damit nichts zu tun.“, stellte ich nüchtern fest und starrte immer noch auf das Chaos, welches mein Bruder im Wohnzimmer veranstaltet hatte.

„Was?“, dümmlich starrte Dan mich an und schüttelte kurz darauf den Kopf. Er machte sich wieder an die Arbeit. „Du hast ja gute Laune. Mit dem falschen Fuß aufgestanden oder ist was passiert?“

„Ich habe gute Laune!“

„Das sieht man. Du schmollst wie sieben Tage Regenwetter!“

„Entschuldige, dass ich kein Dauergrinsen auf dem Gesicht mit mir rumtragen kann, weil ich nämlich grade erst durch diesen Krach geweckt wurde.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und stierte ihn an.

„Tschuldige. Mir war danach es lauter zu drehen. Da habe ich wohl für einen kleinen Moment vergessen…“

„…dass dein armer kleiner Bruder die halbe Nacht auf den Beinen gestanden hat und arbeiten musste!“, beendete ich seinen Satz.

Dan hielt in seiner Bewegung inne und schaute mich an. Kurz darauf brach er in schallendes Gelächter aus und auch mir huschte ein Lächeln über die Lippen.

„Du könntest mir wenigstens mal helfen!“, quetschte er hervor und widerwillig stand ich auf.

Es war kaum mit anzusehen, wie dieser Kerl sich abmühte. Zumindest bei der Lichterkette sollte ich ihm helfen.

Kein Wunder, selbst zu zweit gelang es uns mehr schlecht als recht, diese blöden Birnen an die Zweige anzubringen. Eine halbe Stunde und zahlreiche Kratzer später hatten wir es endlich geschafft. Ganz zufrieden betrachteten wir unser Werk und Daniel stemmte seine Hände auf die Hüfte.

„Perfekt! Oder meinst du nicht? Chris wird Augen machen, wenn er den Baum sieht. So einen großen hatten wir noch nie!“, rief er begeistert aus.

Mir versetzte alleine sein Name einen Stich.

„Wie auch immer, ich geh unter die Dusche!“, ich wandte mich zum Gehen.

„Bist du sicher, dass alles okay ist?“, erkundigte sich mein Bruder vorsichtig.

„Ja, sicher.“

 

Der warme Strahl der Dusche besänftigte meine müden Knochen und belebte sie ein bisschen. Ich schloss die Augen, hielt mein Gesicht kurz in den Strahl und schaute dann wieder nach unten. Sowohl der Nacken, als auch die Schultern wurden sanft berieselt. Es tat gut, von dieser Wärme umhüllt zu sein. Christopher, schoss es mir durch den Kopf. Seine Wärme hatte mir auch gutgetan. Jetzt war es wohl vorbei damit, ob ich es wollte oder nicht. Was ich wusste war, dass ich nicht das dritte Rad am Wagen sein wollte. Ich wollte mich nicht an etwas Festbeißen, was eh keine Zukunft hatte. Denn hätte ich das gewollt, wäre ich bei Marc geblieben.

„Ian?“, mein Bruder riss mich aus meinen Gedanken. Er trat ungeniert ein, hielt mein klingelndes Handy in der Hand. „Sorry, aber es hört seit einer halben Stunde nicht mehr auf zu klingeln. Es scheint wichtig zu sein.“

Na super. Nicht mal an seinem freien Tag konnte man in Ruhe duschen gehen. Ich stellte das Wasser ab, öffnete die Dusche und trocknete mir schnell die Hände an einem Handtuch ab. Daniel reichte mir das Telefon. Genervt nahm ich den Anruf an: „Was denn?“

„Entschuldige. Stör ich grade?“ Es war Vicky. Sofort versuchte ich mich ein wenig zu beruhigen.

„Ne. Ich stehe unter der Dusche. Ist also grade schlecht.“, brummelte ich nur noch. Daniel verließ in diesem Moment das Badezimmer wieder, schloss die Tür aber nicht.

„Tür zu!“, brüllte ich ihm also hinterher. Zwei Sekunden später klappte sie ins Schloss.

„Was?“, Vicky schien ein bisschen verunsichert zu sein.

„Ach, nicht du! Was gibt’s denn?“

„Ja…also…ich weiß nicht wie ich es sagen soll…“

„Vicky, bitte. Sag es einfach. Ich frier mir grad den Arsch ab!“ Auf meiner Haut bildete sich eine Gänsehaut. Ich hing immer noch zwischen Dusche und Ausgang fest und wartete darauf, dass ich wieder unter den warmen Strahl der Dusche zurückkehren konnte.

„Gut, Anna wird heute nicht kommen. Also gar nicht mehr.“

Mir fiel beinahe das Telefon aus der Hand.

„Wie bitte?“

„Ja, sie hat mir geschrieben. Ihr Mann hat sich gestern getrennt und jetzt steht sie mit den beiden Kindern alleine da. Sie wird wohl erstmal bei ihrer Mutter unterkommen.“

„Das ist jetzt nicht wahr, oder?“

„Leider schon. Ich weiß. Es ist meine Schuld. Ich wollte unbedingt, dass sie eingestellt wird und jetzt das.“

In meinem Hirn arbeitete es. Wenn Anna heute Abend nicht zur Stelle wäre, wer sollte dann ihre Schicht übernehmen? Bevor ich irgendetwas sagen konnte, sprach meine Freundin weiter: „Ian, bitte. Kannst du?“ Sie zog das u besonders in die Länge. „Ich habe mich so auf meine Familie gefreut. Weihnachten, die Lieder, das Beisammensein. Ich mach es auch wieder gut.“

Na klasse. Und ich hatte mich nicht auf meine freien Tage gefreut? Dennoch, so wie Vicky an ihrer Familie und dem ganzen weihnachtlichem Tamtam hing, musste ich ihr einfach den Gefallen tun.

„Na schön. Aber morgen bist du dran!“ Willigte ich unter der Voraussetzung ein. Daniel würde mich umbringen, wenn ich bei dem Essen mit Charlotte nicht erscheinen würde.

Ein schrilles Kreischen war zu hören, es dauerte eine Weile bis sie sich wieder beruhigt hatte.

„Abgemacht! Danke Ian! Knutscha und frohe Weihnachten wünsche ich dir!“

„Dir auch. Und jetzt leg auf, damit ich mich fertig machen kann.“

Sie kicherte und ich wusste, dass sie sich vorstellen würde, wie ich hier wie ein begossener Pudel stehen würde.

„Mach´s gut. Und danke nochmal!“ Danach legte sie auf. Mein Handy flog im hohen Bogen auf den flauschigen Badezimmerläufer und ich verkroch mich zitternd zurück unter die Dusche. Ich wartete ein bisschen, bis ich mich wieder aufgewärmt hatte, wusch mich dann zügig und stieg aus der Kabine aus. Schnell trocknete ich mich ab und band mir dann das Handtuch notdürftig um die Hüften. Ich sollte mich ranhalten, damit ich es auch pünktlich in die Bar schaffte. Dominik würde alles alleine nicht hinbekommen.

Ich angelte also nach meiner Uhr und stellte fest, dass mir nur noch eine dreiviertel Stunde bleiben würde. Während ich meine Achseln mit Deo einsprühte und mein Gesicht auf mögliche Bartstoppeln überprüfte, rief ich nach meinem Bruder.

„Was ist los?“, ein wenig atemlos kam er ins Bad.

„Ich muss arbeiten. Anna kommt nicht. Krieg mit dem Mann oder so.“

„Und du musst ran? Kann das nicht Vicky machen?“, ich konnte Daniels enttäuschten Blick im Spiegel auffangen.

„Leider nicht. Sie hat mich drum gebeten. Aber dafür bin ich morgen da, wenn Charlotte kommt.“

„Schade. Ich hatte mich auf einen richtigen Männerabend mit euch gefreut. Vor allem ist das unser erstes Weihnachten, seit du damals weg bist.“

„Ich weiß.“ Ich klatschte mir etwas Aftershave an Wangen, Kinn und Hals. Eine Rasur war heute nicht notwendig.

„Gut. Aber morgen, versprochen?“

„Klar!“, ich grinste ihn an.

„Du gehst aber und erklärst das einem gewissen jemand selbst!“ Dan deutete mit seinem Finger in Richtung Tür.

War Christopher etwa schon da? Das Bollern in meiner Brust fing wieder an und innerlich motzte ich mit mir selbst, dies zu unterlassen.

Ich ging an Daniel vorbei und steuerte zuerst mein Zimmer an. Ich brauchte Kleidung auf meinem Körper, um ihm gegenüber zu treten. Als ob es Chris so wichtig war, dass ich heute dabei war. Vermutlich hatte er sich gestern Nacht eh noch so richtig durchgevögelt. Sollte er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst!

 

Kapitel 13

Als ich in meiner Arbeitskleidung in die Küche trat, konnte ich Christophers blöden Gesichtsausdruck bereits sehen. Ein bisschen Schadenfroh war ich schon, doch bei seinem Anblick hätte ich am liebsten alles über Bord geworfen und mich an ihn geschmiegt.

„Wo willst du denn hin?“, fragte er völlig überrascht und ich glaubte auch ein bisschen Enttäuschung aus seinem Blick entnehmen zu können. Das war jedoch bestimmt nur Einbildung gewesen.

„Arbeiten. Anna ist raus. Dominik schafft das nicht alleine. Morgen übernimmt Vicky die Schicht mit ihm.“ Ich goss mir eine halbe Tasse Kaffee ein und schlurfte in großen Schlucken das Gebräu hinunter.

„Warum das auf einmal? Und warum informiert mich keiner darüber?“ Chris zog sein Handy aus der Tasche und quittierte mit einem Brummen, dass er weder eine Nachricht, noch einen Anruf auf diesem hatte.

„Mach ich doch jetzt. Sie hat sich bei Vicky gemeldet. Ist ihr bestimmt unangenehm dir zu sagen, dass ihr Mann sie verlassen hat und sie jetzt mit den beiden Kindern alleine dasteht.“, zickte ich ein bisschen rum und ergriff automatisch für Anna Partei, obwohl ich das gar nicht wollte. Vielleicht tat ich es auch, weil wir beide verlassen wurden. Irgendwie zumindest.

„Wir können den Laden heute auch zu machen. Ich meine, es ist ein Feiertag. Und bestimmt wird nicht viel los sein.“

„Und wenn doch?“

„Dann ist es eben so!“

Ich schnalzte mit meiner Zunge und wurde allmählich wirklich sauer. Es machte mich verrückt, nicht zu wissen, ob Christopher wirklich mit jemand anderem geschlafen hatte. Fragen konnte ich ja schlecht. Der Gedanke alleine machte mich furchtbar wütend, traurig und ich hätte ihn am liebsten am Kragen gepackt und ihn ordentlich durchgeschüttelt.

„Wenn wir alle so eine Arbeitsmoral wie du hätten, dann hättest du den Laden schon längst dicht machen können!“, stänkerte ich los und knallte meine Tasse auf die Arbeitsplatte.

Christopher schwieg und ich schnappte mir meine Jacke. Daniel hatte uns mit verschränkten Armen beobachtet, sagte aber auch nichts. Ich gab meinem Bruder einen Kuss auf die Wange und ging in den Flur, um mir meine Schuhe anzuziehen.

„Er ist den ganzen Tag schon schlecht drauf. Ist irgendwas passiert?“, Daniel sprach leise, doch ich konnte ihn trotzdem hören.

Ich schüttelte den Kopf, öffnete die Wohnungstür und ging.

 

Dominik lief völlig nervös hin und her, als ich die Bar betrat.

„Na endlich! Ich dachte schon, ich müsste alleine klarkommen. Wo zum Henker ist Anna?“, er plapperte wie ein Wasserfall und nur mit Mühe konnte ich ihn ein wenig beruhigen. Ich erklärte ihm also alles und auch, dass ich die Schicht mit ihm zusammen machen würde.

„Du bleibst am Tresen. Ich übernehme die Tische. Dann bekommst du Übung und ich bin da, falls was sein sollte, einverstanden?“ Fragend sah ich Dominik an.

„Ok, gut!“

Danach überprüfte ich, ob genügend Getränke kaltgestellt waren, füllte Salzstangen in dafür vorgesehene Behälter und schloss die Tür auf. Es stand zum Glück noch niemand vor der Tür. Aber das war bereits schon vorher meine Vermutung gewesen.

Die Zeit zog sich dieses Mal wie Kaugummi. Nur vereinzelt kamen mal ein paar Leute herein, gingen aber ziemlich schnell wieder, um bei ihren Familien sein zu können. Der Abend lohnte vorne und hinten nicht, doch ich konnte somit Christopher aus dem Weg gehen. Es ärgerte mich maßlos, dass der Kerl recht behalten würde.

„Und dann war es einfach nur geil gewesen. Verstehst du? Als würdest du Fliegen!“

Während ich den Eingang um Mitternacht abschloss, war Dominik mit Händen und Füßen am Erzählen. Ich musste ein bisschen Schmunzeln, denn er war irgendwie wie Vicky, nur in männlich versteht sich. Er quatschte mich schon den ganzen Abend mit seinen abenteuerlichen Geschichten voll, doch ich mochte ihn.

„Du musst echt mal mitkommen. Wenn das Seil zu Ende ist, spürt man zwar diesen unangenehmen Druck, aber das ist es allemal wert.“ Dominik kam mir in die Küche hinterher und schwang sich mit seinem Hintern dort auf die Arbeitsplatte. Ich räumte das dreckige Geschirr in die Spüle und überlegte, ob ich es tatsächlich mal wagen sollte. Für Bungeejumping hatte ich mich vorher nie interessiert. Doch nach den Erzählungen meines Kollegen zu gehen, gab einem das einen richtigen Kick.

„Ja, vielleicht. Sag das nächste Mal Bescheid.“

Für einen Moment herrschte Stille, doch sie wurde schon bald wieder unterbrochen.

„Sag mal, wie es eigentlich so mit Männern?“, fragte mich Dominik grade heraus. Mein Blick huschte zu meinem Kollegen, während ich den Topf, den ich grade spülte, fester umschloss.

„Woher…“, nuschelte ich nur und wusste nicht wie ich reagieren sollte. Doch Dominik grinste über beide Ohren und starrte mich weiter so offenherzig an.

„Weiß doch jeder. Glaube ich zumindest. So viele Schwule gibt’s hier nicht. Zumindest ist unser Chef ebenso auf der anderen Seite aktiv. Der steigt nämlich nicht nur mit Frauen ins Bett. “ Er lachte laut los.

Mein Körper spannte sich an und ich biss die Zähne aufeinander.

„Woher willst du das wissen?“, ich versuchte möglichst ruhig zu sprechen und mir nichts von meinem aufgewühlten Inneren anmerken zu lassen.

Dominik zuckte die Schultern. „Er war mit einer Bekannten im Bett. Die hat mir das Erzählt. Also das er auch mit Männern was hat. Sie hat mir heute Morgen ganz aufgeregt erzählt, dass sie ihn gestern in so ner Diskothek getroffen hat. Da ist er wohl mit einem Typen wieder raus.“, er machte eine kurze Pause und sprach dann weiter. „Wie auch immer. Los, spuck es schon aus! Ich bin neugierig!“

Ich war nun noch angespannter als sonst, stink sauer und enttäuscht. So war das also. Hatte er ja schnell Ersatz gefunden. Ich wandte mich erneut dem Topf zu und versuchte mich selbst unter Kontrolle zu halten. „Wie soll es schon sein? Es ist…“, ich überlegte eine Weile. „Anders. Anders jedenfalls, als mit einer Frau!“

„Das ist mir schon klar. Ich wills ein bisschen genauer wissen!“

„Frauen sind irgendwie weicher. Ich meine nicht nur ihr Wesen, sondern der Körper alleine. Mich hat noch nie eine Frau interessiert, deswegen ist das schwer zu erklären. Ich fahre mit meinen Händen lieber über eine harte Männerbrust, als Weibern an die Möpse zu gehen.“

Da ich noch nie so direkt darauf angesprochen wurde, fiel es mir wirklich schwer die richtigen Worte zu finden. Ich spülte den Schaum vom Topf, stellte ihn auf dem Waschbecken ab und trocknete mir die Hände ab. Gleich darauf knotete ich meine Schürze auf und legte sie über den Stuhl vor mir.

„Das ist mir irgendwie zu lahm. Kann mir nicht vorstellen, dass es nur an den Möpsen liegt. Wie siehts aus, fickst du lieber oder lässt du dich ficken?“

So unschuldig dieser Kerl auch aussah, so undurchschaubar war er. Auf der einen Seite war er total nervös, wenn er glaubte etwas nicht zu schaffen und auf der anderen Seite stellte er mir solche Fragen. Stellte er mich etwa auf die Probe? Wollte er wirklich eine ehrliche Antwort oder führte er mich an der Nase herum?

Ich entschied einfach aufs Ganze zu gehen. So gut es mir eben möglich war, versuchte ich auf cool zu tun und setzte ein hämisches Grinsen auf. Ich fixierte Dominik mit meinem Blick, der nur hoch interessiert dreinschaute.

„Ich lass mich lieber ficken!“

Dominiks Augen wurden noch größer, eine leichte Röte schlich sich auf seine Wangen.

„Boah echt jetzt? Ist das nicht ekelig oder so?“

Als ob Sex jemals ekelig sein würde!

„Nein, wenn dich vorher jemand ordentlich in Fahrt gebracht hat, nicht.“

„Und wie macht man das so? Jemanden in Fahrt bringen?“

Allmählich glaubte ich wirklich daran, dass der Kerl mich verarschen wollte. Das konnte doch nie und nimmer sein Ernst sein! Doch ich ließ mich auf dieses kleine Spiel ein. Hinterher konnte man immer noch schauen, was dabei rumkommen würde.

„Ein Blowjob zum Beispiel. Du kannst dir nicht vorstellen, wie geil es ist, wenn deine eigene Länge langsam in dem Mund eines anderen Kerls verschwindet. Langsam raus und wieder rein. Wenn an deinem Schwanz gelutscht wird, als gäbe kein morgen mehr. Weiber sind vermutlich vorsichtiger. Männer wissen einfach, was ein Mann braucht. Du wirst halt härter angepackt. Oder besser gesagt, genau richtig. Wenn dann auch noch ein Finger in deinem Arsch verschwindet und diesen einen Punkt trifft, bist du willig für alles.“

Dominik starrte mich mit offenem Mund an, sein Atem hatte sich beschleunigt. Ein Blick in seinen Schritt verriet mir, dass er eine Latte bekommen hatte. Unsicher wandte ich meinen Blick ab. Was sollte das denn? Hatten nur meine Worte so eine Reaktion bei ihm ausgelöst?

Mein Kollege rutschte unruhig auf seinem Hintern hin und her. Er schien es nicht mehr auszuhalten und sprang auf leichten Sohlen von der Arbeitsplatte.

Ich war wirklich bemüht ihn nicht anzustarren, doch ich konnte nicht anders. Irgendwie faszinierte mich seine Reaktion und mein Blick glitt zurück.

„Schau mal!“, mit roten Wangen zeigte er auf seinen Schritt. „Ist doch witzig, oder? Hätte nicht gedacht, dass du sowas mit deinem Gerede anstellen kannst!“

Plötzlich setzte er sich in Bewegung, kam immer weiter auf mich zu, bis er genau vor mir stand. Sein Gesicht kam meinem immer näher.

„Willst du mal anfassen?“, flüsterte er mir mit rauer Stimme ins Ohr.

Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Irgendwas stimmte doch mit dem Kerl nicht. Fand er vielleicht erst jetzt heraus, dass er auch auf Männer stand? Dominik probierte gerne alles aus. Dies konnte ich aus seinen Erzählungen heraushören. Er zierte sich nicht, etwas Verbotenes zu tun, setzte alles auf eine Karte. Wenn ihn etwas interessierte, dann tat er einfach alles.

Plötzlich wurde nach meinem Handgelenk gegriffen. Mit bestimmendem Druck schob Dominik meine Hand in seine Hose und ich fühlte sein pulsierendes Glied in meiner Handfläche.

„Komm schon. Hab dich nicht so.“ Ich konnte seinen Atem an meinem Hals spüren und er krallte sich vorne in mein Hemd.

Und ich spürte einfach nichts. Nach einem kurzen Moment bewegte ich wie mechanisch meine Hand. Was hatte ich schon zu verlieren? Ich tat meinem Kollegen einen Gefallen. Immerhin schien er mit seinen dreiundzwanzig Jahren noch nicht zu wissen, wo genau er hingehörte. Obwohl ich drei Jahre älter war als er, benahm er sich erwachsener als ich. Er wollte, dass ich ihm einen Handjob verpasste und sagte dies auch. Er scheute sich nicht, seine Gefühle offen zu zeigen.

Ich rhythmischen Bewegungen holte ich ihm also einen runter, wurde immer schneller. Irgendwann krallte er sich noch fester in mein Hemd, stöhnte an meinem Hals. Mich ließ das irgendwie kalt, obwohl es schon interessant war, welche Töne er von sich gab. Zwei, drei Längen später, entlud er sich endlich. Zwischen meinen Fingern fing es an zu kleben. Doch ich rührte mich nicht.

Grade jetzt durfte ich mir keinen Fehler erlauben. Dominik war nun in einer ganz beschissenen Situation. Mit Sicherheit wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Sein Atmen ging immer noch schnell und er lehnte sich schwer an mich.

„Das war echt nicht schlecht…“, stellte er heiser fest.

 

Im Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr und wandte meinen Blick in die Richtung. Scheiße! Christopher stand im Türrahmen, versuchte wohl die Situation zu analysieren. Sein Blick war starr, beinahe schockiert und ich wäre am liebsten auf ihn zu gerannt und hätte alles erklärt. Dass es nicht so war, wie es aussah und dies hier nichts bedeutete. Mein Herz schlug heftig und ich war zu keiner Reaktion fähig. Wie immer, wenn es darauf ankam. Meine Hand steckte noch immer in Dominiks Hose, fühlte sein Glied, was langsam weicher wurde. Ich war ein echter Versager!

Mit einem Mal kam Bewegung in Chris. Er schüttelte leicht den Kopf, drehte sich um und ging. Ich biss meine Zähne zusammen, in mir drinnen schmerzte es. Warum eigentlich? Er war doch derjenige, der es mit anderen trieb. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was er alles tat, wovon ich keinen blassen Schimmer hatte.

Langsam kam auch Bewegung in Dominik und ich zog meine Hand aus seiner Hose. Verstohlen wusch ich sie mir an meiner eigenen ab.

„Also, ähm…“, leicht verlegen löste er sich von mir. „Danke dafür…ich meine…“

„Schon ok.“, unterbrach ich ihn und drehte mich zum Waschbecken um, um mir die Hände zu waschen.

„Willst du nicht?“, kam es leicht gedämpft hinter meinem Rücken.

Himmel, nein! Was dachte er sich? Das ich auf ihn stehe?

Langsam drehte ich mich wieder zu Dominik um.

„Also, nicht das wir uns missverstehen…“, fing ich vorsichtig an. „Ich steh nicht auf dich. Also, sieh es als kleinen Gefallen unter Bekannten! Ist noch so eine gute Seite, wenn man es mit Männern macht. Die brauchen keine Gegenleistung.“

Das ich ihm einen vorlog, musste er ja nicht wissen. Wenn alles passte, der andere einen selbst auch erregte, gehörten beide Seiten dazu. Doch ich hatte keinen Nerv auf noch ein Drama. Das ich nicht hinter Christopher herrennen konnte, war schon genug. Er war sicher schon über alle Berge. Insgeheim war ich jedoch froh, dass Dominik ihn nicht gesehen hatte. Hinterher hatten wir noch einen Mitarbeiter weniger, weil er sich schämte, in so einer Situation erwischt worden zu sein. Wie es in ihm drinnen aussah, wollte ich gar nicht wissen.

Einen Moment stand mein Kollege völlig perplex da, hatte sich allerdings schnell wieder im Griff und fing an zu lachen. „Puh…da bin ich aber froh. Ich dachte schon, ich müsste jetzt auch…“

„Keine Sorge!“

„Gut. Dann mache ich mich langsam auf den Weg. Wir sehen uns.“

Ich nickte ihm zu und er ließ mich alleine.

Die Anspannung ließ leider nicht locker. Was hatte der Kerl überhaupt hier zu suchen? Christopher sollte mit meinem Bruder Weihnachten feiern. Nicht hierherkommen. Eine schöne Bescherung war das. Wie sollte ich denn jetzt darauf reagieren? Wieso in Gottes Namen hatte ich überhaupt ein schlechtes Gewissen und wieso fühlte ich mich wie ein Betrüger?

Ich atmete einmal tief ein. Es brachte doch sowieso alles nichts. Die Sache mit Christopher war vorbei. Ende. Aus die Maus. Ich löschte das Licht in der Küche und betrat den Barbereich. Verstohlen sah ich mich um und sah Chris mit meinem Bruder an der Theke sitzen. Auch das noch. Bestimmt hatten sie sich wieder über mich das Maul zerrissen. Wie ich nur so bescheuert sein konnte und Hand an einen Kollegen anlegte. Das wäre schlecht fürs Geschäft und ich ein notgeiler Bock.

„Ach Ian. Da bist du ja. Chris sagte, du brauchst noch einen Moment in der Küche. Junge, bin ich froh, dass du schon zugeschlossen hast.“, er kicherte und warf die Arme in die Luft. „Überraschung! Wir dachten, wir holen dich ab. Chris hat extra auf den Alkohol verzichtet. Dafür musste ich natürlich mehr trinken.“

Dan schwankte leicht, fing sich aber am Tresen wieder ab. Er hatte eindeutig einen im Tee. Christopher saß auf einem der Barhocker. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, da er mir den Rücken zuwandte.

Ich versuchte ihn so gut es ging zu ignorieren und ging noch einmal zurück, um die Hintertür zu verschließen. Danach löschte ich das große Licht im Barbereich. Nur noch die Theke leuchtete schwach. Jetzt, wo mein Bruder auch anwesend war, brachte es nichts mit Christopher zu sprechen.

„Ach komm schon. Freu dich doch. Wieso so mürrisch?“, quakte Dan weiter und goss sich einen Schnaps ein. „Wir mögen beide den lächelnden Ian lieber, weißt du?“

Er zeigte unbeholfen zwischen sich und Christopher hin und her.

„Dan!“, ermahnte ihn sein Freund. Seine Stimme hörte sich irgendwie sauer an.

„Ist doch so!“, schmollte mein Bruder. „Hast du mir nicht vorhin noch erklärt, dass du dich deswegen in ihn…“

„Daniel, es reicht!“, brüllte Christopher und sprang wie von der Tarantel gestochen von seinem Hocker. Dan zuckte erschrocken zusammen und hielt den Mund.

In mir rumorte es. Konnte das sein? Wollte Daniel etwa grade verliebt sagen? Ich stand mit aufgerissenen Augen da, wusste nicht mehr wo vorne und hinten war. Die Zeit schien still zu stehen, keiner von uns sagte etwas oder bewegte sich. In meinem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn und ich glaubte, gleich umzufallen. Natürlich hielt ich meinen Mund. Ich war wohl der, der am wenigsten ein Recht dazu hatte, irgendwas von sich zu geben. Nur konnte das wirklich wahr sein? Hatte ich es mir durch diese Dummheit selbst verbockt? Vielleicht bildete ich mir aber auch nur wieder etwas ein und Daniel wollte gar nicht verliebt sagen. Aber was zum Henker wollte er dann sagen?

 

Kapitel 14

 

Christopher schien auch nicht zu wissen, was er sagen sollte. Er stand nur da, mit den Händen auf den Tresen gestemmt und atmete schwerer. Einen tollen Tag hatten wir da. Warum musste denn immer alles im Ärger enden?

„Wisst ihr? Ihr seid beide blöd!“, stellte Daniel fest und ich konnte ihm nicht einmal wiedersprechen. Wir waren tatsächlich blöd und benahmen uns wie kleine Kinder. Es fiel mir nur so unglaublich schwer mit offenen Karten zu spielen. Wieso waren wir überhaupt an diesem Punkt angekommen? War es meine Eifersucht, die alles komplizierter machte? Ich hatte das Gefühl, meinem Bruder und allen anderen in meiner Umgebung Schwierigkeiten zu bereiten. Schon seit ich denken konnte. Damals wie heute.

Chris seufzte schwer, trank sein Bier aus und stellte es lautlos auf den Tisch.

„Ich bringe euch nach Hause.“ Er stand auf, nahm seine Jacke und ging zur Tür. Daniel schien kurz zu überlegen, folgte ihm dann aber. Er schwankte zwar mehr, als das er lief, doch das schien ihn nicht zu stören.

Da ich keinen weiteren Ärger verursachen wollte, hielt ich mich bedeckt und löschte die restlichen Lichter.

Als ich die Bar verließ, kroch mir die Kälte bereits die Knochen hoch. Es war verdammt kalt! Weiße Wölkchen bildeten sich vor meinem Gesicht und ich senkte die Lider ein wenig. In mir drinnen fühlte sich alles so schwer an. Warum musste auch immer alles so kompliziert sein? Wäre es einfacher alle Segel zu streichen und zu Marc zurückzukehren? Er hatte mir so viele Nachrichten geschickt, dass ich sie kaum zählen konnte. Vielleicht meinte er es wirklich ernst und liebte mich wirklich? Doch war es das Gleiche? Womöglich nicht. Marc hatte kaum noch einen Platz in meinem Herzen. Jahrelang machte sich das Gefühl in mir breit, dass ich nicht ohne diesen Mann leben konnte. Doch ich erkannte, dass dies nicht der Fall war. Ich fühlte mich in diesem kleinen popeligen Kaff irgendwie wohl. Die Arbeit machte mir unglaublich viel Spaß. Ich hatte Vicky. Das war schon mehr als vorher.

Wortlos stieg ich in Christophers Wagen ein. Daniel setzte sich wie selbstverständlich auf den Beifahrersitz. Mir war es nur recht, hier hinten meine Ruhe zu haben. Als nächstes stand definitiv das Auto an. Noch vor der eigenen Wohnung.

Eine viertel Stunde später hielten wir an dem Dreifamilienhaus, in dem mein Bruder seine Wohnung hatte. Dieser war mittlerweile eingeschlafen. Auch das noch! Nur mit Mühe konnten wir ihn zu zweit in den dritten Stock befördern. Mir fiel dreimal der Schlüssel runter, weil er so schwer war und ständig zappelte. Als die Wohnungstür endlich offen war, bugsierten Christopher und ich Daniel in sein Zimmer und legten ihn auf sein Bett. Es war wohl meine Pflicht, es ihm ein wenig gemütlicher zu machen. Ich zog ihm also bis auf Shirt und Boxershorts alles aus, deckte ihn zu und gab ihm noch einen Kuss auf die Stirn. „Frohe Weihnachten, großer Bruder.“, flüsterte ich ihm zu und löschte sein Nachtlicht.

 

Als ich das, von bunten Lichtern durchflutete, Wohnzimmer betrat, konnte ich Christopher bereits auf der Couch sehen. Er hatte sich ein Bier genommen und starrte Gedankenverloren den Verschluss der Flasche an.

„Er schläft jetzt. Danke fürs herfahren.“, sagte ich nüchtern und blieb im Türrahmen stehen. Was sollte ich auch sagen? Sollte ich ihm meine Gefühle gestehen? Ihm die Sache mit Dominik erklären? Was brachte das schon? Mein Interesse mit Chris zu reden, hielt sich grade sehr in Grenzen. Ich wollte ihn nicht ansehen, mir weiter einbilden, dass etwas Besonderes zwischen uns war. Ich wollte nicht hören, dass er mich nicht liebte. Dass es ihm egal war, was zwischen Dominik und mir gelaufen war. Dass er mit anderen Weibern und Kerlen vögelte, während ich vor Sehnsucht nach ihm verging. Ich wollte, dass mein schmerzendes Herz zur Ruhe kam, wollte ihn vergessen, wie ich auch Marc vergessen konnte. Die Liebe, die ich einst für Marc spürte, hatte sich in etwas viel intensiveres für Christopher entwickelt. Auch das wollte ich nicht. Ich war so bescheuert! Wie konnte man nur so dumm sein und sich gleich in den nächsten verlieben? Und das hier war nicht mit einer dummen Verliebtheit zu vergleichen. Ich wollte ihn so sehr, dass es wehtat. Jede Sekunde ohne ihn war eine Qual gewesen und ich konnte es mir zuerst selbst nicht eingestehen. Jeden Abend hing ich an diesem bescheuerten Zettel mit diesem furchtbar krummen Herz und angelte mich daran hoch. Hegte Hoffnungen, die nie erfüllt werden würden.

„Warum hast du das gemacht?“ Christopher reagierte gar nicht auf meine Aussage, schaute mich nun direkt an und sprach furchtbar gefasst.

„Warum habe ich was gemacht?“ Stellte ich mich blöd und bemerkte, wie mein Körper unruhig wurde. Ich fühlte mich nicht wohl, so von ihm angeschaut zu werden. Als hätte ich einen Fehler gemacht.

„Das mit Dominik! Was sollte das?“

Christopher war wie immer furchtbar direkt. Ich fragte mich insgeheim, ob er überhaupt ein Recht dazu hatte, mich so etwas zu fragen.

„Er wollte es.“, antwortete ich Wahrheitsgemäß. „Er wollte wissen, wie es mit einem Kerl ist.“

Er schien einen Moment darüber nachzudenken, schwieg eine Weile und starrte wieder den Verschluss an.

„Machst du sowas öfter? Jemandem einen runterholen, nur weil derjenige es will?“

„Christopher, was willst du von mir?“, fing ich barsch an. Meine Hände zitterten leicht, doch ich versuchte es zu verstecken. „Er hat mich um einen Gefallen gebeten, ich habe es gemacht. Mehr nicht. Ich könnte dich genauso gut fragen, was du in der Diskothek getan hast. Suchst du dir immer jemanden zum Vögeln, nur weil es dir jemand sagt?“

Mein Puls beschleunigte sich und ich wurde allmählich wirklich sauer. Sein Kopf ruckte hoch und er starrte mich völlig entgeistert an.

„Jetzt schau nicht so. Wer so beliebt ist, egal ob bei Mann oder Frau, der sollte damit rechnen, dass über ihn getratscht wird. Hats wenigstens Spaß gemacht?“

Christopher wandte schon wieder den Blick ab.

„Nein…“, murmelte er.

Bei mir schlug es ein wie eine Bombe. Das war wirklich das Letzte. Er hatte es also tatsächlich getan! Ich versuchte mich selbst unter Kontrolle zu behalten. Auch wenn es verdammt weh tat, hatte ich nicht das Recht ihm Vorhaltungen zu machen.

„Weißt du. Daniel hat mich vorgewarnt. Du bist ein Mensch der seine Sachen nie zu Ende bringt. Ich war darauf vorbereitet, ehrlich. Ich mache dir auch keine Vorhaltungen. Du kannst tun und lassen was du möchtest. Allerdings bin ich für sowas nicht geschaffen und teile nicht gerne. Das wars also. Uns verbindet ab heute nichts weiter mehr als das Geschäftliche, verstanden? Was die Bar angeht kann es meinetwegen so bleiben wie es ist. Aus allem anderen was mich betrifft, hältst du bitte deine Nase raus.“

Und wieder dieser Stich in meiner Brustgegend. Doch ich konnte nicht anders. Ich konnte mich nicht schon wieder auf einen Kerl versteifen, der mir sowieso nicht treu bleiben konnte. Insgeheim hatte ich mir natürlich gewünscht, dass Christopher an diesem Abend mit niemandem ins Bett gestiegen war, doch dem war nicht so. Und es war genug. Genug um zu sagen, dass es vorbei war.

Ich wartete Christophers Reaktion gar nicht erst ab. Schnell wandte ich mich ab, ging in die Küche und holte mir auch eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, die ich gleich öffnete und einen großen gierigen Schluck nahm.

„Ian, ich…“, Chris erschien hinter mir in der Küche. Ich konnte seine Wärme bereits überdeutlich wahrnehmen.

„Verschwinde einfach, okay. Es ist gut so wie es ist. Es war eine schöne Zeit. Aber wir sind uns keine Rechenschaft schuldig. Wir lieben uns nicht und sind auch ansonsten ziemlich unterschiedlich. Es würde gar nicht funktionieren.“ Ich war ein schlechter Lügner, doch ich hatte immerhin das Gefühl, dass es gut rüberkam. Er sollte einfach gehen. Aus meinem Leben verschwinden und mich in Ruhe lassen.

„Jetzt warte doch mal…“

„Auf was denn?“ Ruckartig drehte ich mich um. Meine Hände zitterten noch mehr als vorher und es fiel mir immer schwerer meine Fassung zu bewahren. „Es ist vorbei. Du hast mich hängen lassen und bist mit einem anderen Kerl ins Bett gestiegen. Damals konnte ich mich nicht auf dich verlassen und heute erst recht nicht. Und gerade du machst mir Vorhaltungen, weil ich Dominik einen runtergeholt habe. Immerhin habe ich mich selbst nicht anfassen lassen. Einen zweiten Marc brauche ich nicht. Verschwinde einfach und lass mich endlich in Ruhe! Und das ist mein letztes Wort!“

Ich drängelte mich an ihm vorbei, sah nicht nochmal in sein Gesicht und verzog mich in mein Zimmer. Für alle Fälle, schloss ich Sicherheitshalber hinter mir ab, verbannte diesen Menschen aus meinem Leben. Zumindest soweit es mir möglich war. Der Zettel von Christopher lag auf meinem Kopfkissen. So schnell mich meine Beine tragen konnten, rannte ich zum Bett, schnappte mir das verflixte Ding und zerriss es in tausend kleine Einzelteile. Mein Herz zerbrach und ich klappte schluchzend zusammen.

 

Die nächsten Wochen waren einfach nur hart. Mit einem Lächeln auf den Lippen herumzulaufen, obwohl mir eher zum Heulen zumute war. Ich brachte das Weihnachtsessen mit meiner Schwägerin in Spe hinter mich und ich war froh, an Silvester mit der Arbeit beschäftigt zu sein. Es war voll, es war laut und gab mir keine Möglichkeit an irgendwelchen trüben Gedanken teilzuhaben. Irgendwann stellte Christopher eine neue Kellnerin ein. Marie. Vicky lernte sie an und sie wurde Dominik zugeteilt, der fortan die Schichten im Wechsel mit Vicky und mir übernahm. Christopher und ich gingen uns aus dem Weg. Es war schwer ein vernünftiges Gespräch über die Arbeit mit ihm zu führen, jedes Mal brachte er mein Gefühlschaos erneut in Gang. Aber ich wusste, dass ich mich richtig entschieden hatte. Daniel hakte natürlich nach und fragte mich, was passiert sei. Ich gab ihm nur die Antwort das es vorbei war. Und dass es gut war, er sich keine Sorgen um mich machen brauchte. Ich log ihm einen vor und mir selbst erst recht. Obwohl der Schmerz in den letzten Monaten besser zu ertragen war, war er nie ganz verschwunden. Nachts träumte ich von Chris. Wir waren irgendwie glücklich miteinander, wohnten sogar zusammen. Es war immer das Gleiche. Irgendwann wachte ich schweißgebadet auf, weil er mich mal wieder betrogen hatte. Ich versuchte mich wirklich abzulenken. Traf mich nun auch mit Vicky und ihren Freunden, unternahm viel mit ihnen und hatte meinen Spaß dabei. Selbst mit Dominik unternahm ich gelegentlich etwas. Der Sommer wurde eingeläutet und wir sprangen tatsächlich von dieser beschissen hohen Brücke. Er behielt recht und es war ein unglaublich geiles Gefühl. Ich hatte mir ein Auto zugelegt, allerdings noch keine eigene Wohnung gefunden. So sehr ich mich auch bemühte, mein ganz neues Leben zu akzeptieren, so wirklich angekommen war ich noch nicht. Denn abends, wenn ich alleine zu Hause war, fing das ganze Elend wieder von vorne an.

 

„Hey, schaut mal hier!“ Ich hielt meinem Bruder und Charlotte an einem Samstagmorgen die Tageszeitung unter die Nase und tippte mit meinem Zeigefinger auf eines der Inserate.

„Dreizimmerwohnung, großer Balkon, Zugang zum Garten, Kellerraum, Waschküche und Garage. Preis liegt bei 350 Euro kalt.“, las Daniel vor. „Und ist sogar nur zwei Straßen weiter. Das hört sich nicht schlecht an. Aber bist du dir sicher, dass du so viel Platz brauchst?“

Ich überlegte einen Moment. Eigentlich benötigte ich den Platz tatsächlich nicht, doch etwas Vergleichbares, was auch zu bezahlen war, schien es seit Monaten nicht zu geben.

„Eigentlich nicht. Aber die Miete ist bezahlbar und ihr hättet eure Ruhe. Und ich kann mal jemanden Einladen ohne alles vorher abzusprechen. Zumindest anschauen würde ich mir die Wohnung gerne.“

Wie Charlotte mir Vertrauen verraten hatte, wollte sie gerne bei Daniel einziehen. Sie hatte das Thema mit meinem Bruder zwar noch nicht besprochen, doch ich glaubte fest daran, dass auch er nichts lieber tun würde. Sie waren ein komisches Paar, sie die Herrische, er der Ruhigere. Doch sie liebten sich und ich wollte nicht der Grund sein, warum sie ihr Leben nicht ausleben konnten.

„Bist du dir Sicher? Ich meine, es ist Sommer, viel zu warm für Renovierungen und außerdem…“

„Daniel! Ich bin doch gleich nebenan. Wir können uns jederzeit sehen. Und außerdem weiß ich ja noch gar nicht ob sie überhaupt noch frei ist.“

Mein Bruder überlegte eine Weile, nickte aber.

„Dann solltest du mal da anrufen!“, mischte nun auch Charlotte mit und ich konnte die Aufregung aus ihrer Stimme heraushören.

Lächelnd zog ich das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer. Es ging recht zügig eine ältere Dame ran und wir vereinbarten bereits für den Nachmittag einen Termin.

So aufgeregt war ich schon lange nicht mehr und konnte es kaum erwarten. Charlotte und Daniel waren sehr überrascht, dass auch an einem Samstag Besichtigungstermine angeboten wurden. Mir war es egal.

„Nun bleib mal ruhig!“, ermahnte mein Bruder mich ein paar Stunden später und tippte mir gegen die Stirn. „Wir gehen ja schon los. Wenn du weiter so aufgedreht bist, kriegst du noch eine Herzattacke!“

Ich konnte es tatsächlich kaum erwarten, innerlich hatte ich die Wohnung bereits schon. Doch mein großer Bruder behielt recht. Als wir das ältere Gemäuer betraten und ich schlussendlich die Wohnung sah, musste ich hart schlucken. Es war viel zu tun. Sehr viel. Wie ich das neben der Arbeit noch schaffen sollte, war mir ein Rätsel. Doch sie war einfach perfekt. Ich konnte in fünf Minuten bei Daniel sein, wenn ich wollte. Es lebte nur die ältere Dame in dem Haus.

„Ich weiß es ist so viel zu tun hier. Wenn Sie nicht wollen, würde ich das verstehen.“, sagte sie mit zittriger Stimme und sie tat mir unglaublich leid. „Die Kosten für die Renovierung würde ich übernehmen. Aber ich kann es nicht erledigen. Ich bin alleine.“

Das war doch was! Die Arbeit würde hart werden, doch es war im Bereich des Möglichen.

„Ich nehme sie!“, rief ich auf einmal ungewollt aus.

Daniel und Charlotte starrten mich an, als wäre ich aus dem All.

„Bist du dir sicher?“, fragte die Freundin meines Bruders.

„Ähm…naja…also alleine werde ich das hier wohl nicht alles schaffen. Allerdings könnte ich Vicky, Liam und Gustav fragen, ob sie mir ein bisschen unter die Arme greifen.“

Ein wenig mulmig war mir bei der Sache schon, doch egal wie lange es dauern würde, ich wollte diese Wohnung unbedingt.

„Eine Sache wäre da noch. Sie müssten den Garten ein bisschen in Ordnung halten. Rasenmähen, Unkraut zupfen.“

„Das ist für mich kein Problem.“, sagte ich großspurig und überlegte, ob ich schon jemals einen Rasenmäher bedient hatte.

„Na das kann ja was werden…“, murmelte Dan und sah sich mit großen Augen noch einmal in dem ganzen Chaos um.

 

Sechs Wochen später war es endlich soweit. Der Umzug stand an. Meine gesamte Freizeit verbrachte ich mit Renovierungsarbeiten, kaufte alles Mögliche an Möbeln und malte mir aus, wie es wäre, meine ersten eigenen vier Wände zu haben. Ganz alleine, nur für mich. Ohne meine Freunde, Daniel und Charlotte wäre dies alles nicht möglich gewesen. Auch jetzt schufteten alle wie die Hunde, bauten meine Möbel zusammen und schleppten die Umzugskartons in das etwas heruntergekommene Haus. Es war unglaublich was wir aus dieser Wohnung gemacht hatten. Wir erneuerten das komplette Badezimmer, die Wände wurden neu tapeziert, alle Böden wurden ausgetauscht und auch die Türen, inklusive Zargen erstrahlen im neuen Glanz.

„Ian? Wo kommt der hier hin?“, Vicky schnaubte wie ein Pferd und ich nahm ihr schnell den schweren Karton aus dem Arm.

Ich sah mich ein wenig hektisch um. In jedem Raum wurde irgendetwas aufgebaut, alles stand herum.

„Ich hab keine Ahnung…“, murmelte ich hilflos.

„Stapel die Kartons doch einfach im Flur. So viele sind es doch nicht.“

Ich folgte dem Vorschlag meiner Freundin und stellte ihn an die Seite. Ein bisschen war ich schon überfordert. Jeder wollte etwas von mir, fragte mich, wo die einzelnen Möbelstücke hingehörten. Löcher wurden für Spiegel und Hängeschränke in die Wand gebohrt. Ich hatte ein Vermögen für dies alles hingelegt. Alles roch neu und ungewohnt. Die Küche war am teuersten gewesen und fraß beinahe mein gesamtes Erspartes.

Am späten Abend war alles aufgebaut. Nur die Kisten musste ich noch ausräumen. Wir saßen alle in dem kleinen, aber kuscheligen Wohnzimmer und ich schaute mir meine Freunde an. Alle lachten, unterhielten sich bei einem Bier und amüsierten sich. Man sah jedem einzelnen von ihnen an, dass er völlig erledigt war. Obwohl ich sehr glücklich war, fehlte mir etwas. Oder jemand. Wie gerne hätte ich diesen Moment mit Christopher geteilt. Was der allerdings an einem Samstagabend trieb, konnte ich nicht sagen. Vicky und ich hatten für dieses Wochenende frei bekommen. Marie und Dominik übernahmen die beiden Tage für uns. Und Christopher trieb sich bestimmt in irgendeinem anderen Bett herum. Und obwohl ich die Sache schon vor so langer Zeit beendet hatte, ging der Kerl mir einfach nicht aus dem Kopf. Die Vorstellung, dass er mit jemand anderem was am Laufen hatte, störte mich gewaltig. Obwohl ich es natürlich nicht genau wusste.

Ich schüttelte leicht den Kopf, um diese Gedanken wieder zu vertreiben, stand auf und ging in die Küche.

„Was ist los, Ian?“ Vicky tauchte hinter mir auf. „Kriegst du jetzt doch die Muffe?“

„Was? Nein, es ist nichts.“, stellte ich klar, holte kaltes Bier aus dem Kühlschrank und stellte warmes wieder rein.

„Hör mal. Du bist mittlerweile mein bester Freund. Ich kenne dich nicht erst seit gestern. Und ich durchschaue dich. Seit Monaten ist irgendetwas, an dem du zu knabbern hast und jedes Mal, wenn ich dich darauf anspreche, blockst du ab. Also sag schon. Was ist los?“

Vicky konnte ich anscheinend nichts mehr vormachen. Ich versuchte alleine mit der Sache fertig zu werden. An manchen Tagen gelang mir dies ganz gut. An anderen Tagen eher weniger. Meiner Freundin war es von Anfang an aufgefallen, dass etwas mit mir nicht stimmte. Doch ich wollte sie nicht in diese Angelegenheit hineinziehen. Ich wollte niemanden haben, bei dem ich mich wieder ausheulen konnte. Wollte ihre Gutmütigkeit nicht ausnutzen. Scheinbar brauchte ich aber doch Hilfe, denn sonst würde ich noch verrückt werden. Wieso ging mir Christopher nicht aus dem Kopf? Diese Frage beschäftigte mich jeden Tag aufs Neue.

„Na schön. Du weißt ja, dass Chris der beste Freund von meinem Bruder ist, oder?“, fing ich also vorsichtig das Thema an.

„Ja sicher.“

„Naja…als ich hierher zurückgekommen bin…wie soll ich es sagen…“

„Ihr hattet was am Laufen, oder?“

„Woher weißt du das?“, fragte ich sie ziemlich geschockt. Damit hätte ich nicht gerechnet.

„Schätzchen. Ich bin nicht blöd. Glaubst du, ich habe nicht mitbekommen wie zwischen euch die Funken gesprüht sind?“

„Hm…“

„Und weiter?“, hakte Vicky ungeduldig nach.

„Ich habe es Weihnachten beendet.“, sagte ich es kurz und knapp und hoffte, sie würde sich mit dieser Antwort zufriedengeben.

„Und warum?“ Sie kam nun auf mich zu, schnappte sich ein kaltes Bier und öffnete es zügig.

„Er ist mit einem anderen ins Bett gestiegen, als wir was am Laufen hatten. Ich habe in der Zeit zwar einem anderen einen runtergeholt, aber das tut nichts zur Sache. Er wäre eh nicht treu gewesen, also habe ich es beendet.“

Vicky schwieg einen Moment. Schien zu überlegen was sie sagen sollte.

„Also deine Ausführung ist nicht sehr ausführlich. Aber gut. Wer war es denn?“ Meine beste Freundin schaute mich aus dem Augenwinkel an.

„Wer war was?“

„Na wem hast du einen runtergeholt?“

„Man, Vicky!“ Theatralisch warf ich die Hände in die Luft. Wollte sie mir nun helfen oder nicht? Es fiel mir verdammt schwer ihr diese Sache zu erzählen und sie hatte nur sowas im Kopf.

„Ist ja schon gut. Und wie geht’s weiter? Wo liegt das Problem?“

„Mein Problem ist er! Er hat sich in mein Hirn eingebrannt und hat sich dort eingenistet. Ich bekomme ihn da nicht mehr raus.“

„Du liebst ihn, oder?“

Ich nickte, konnte aber nichts mehr sagen, weil Daniel die Küche betrat.

„Sorry. Wollte nur wissen wo das Bier bleibt.“, er lächelte irgendwie gezwungen. Hatte er etwa mitbekommen, über was wir gesprochen haben? Das war das letzte was ich wollte. Daniel sollte sich nicht für eine Seite entscheiden müssen. Er liebte Chris genauso wie einen Bruder, wie mich.

Ich schaute meinen Bruder von der Seite an. Irgendwie war er plötzlich komisch und bekam ein bisschen Angst. Sein sonst so fröhliches Gesicht war finster und ernst.

„Daniel?“, ich berührte ihn an der Schulter. Sein Blick ruckte zu mir herüber, er musterte mein Gesicht, behielt diese undurchdringliche Fassade bei.

„Ich bringe ihn um!“

Ich tauschte nur einen hilfesuchenden Blick mit Vicky aus. Diese zuckte genauso ratlos die Schultern.

„Ich habe ihn gewarnt. Wenn er dich verletzt, bringe ich ihn um!“ Und mit diesen Worten drehte er sich um und rannte beinahe aus der Wohnung.

Kapitel 15

 

Mein Herz raste, ich war völlig verwirrt und konnte nicht richtig denken. Was war das denn gerade gewesen?

„Man, du musst ihm hinterher! Der sah aus, als würde er ernst machen!“, rief Vicky ganz aufgebracht und schüttelte mich an der Schulter.

Die hatte gut reden. Das sollte sie mal meinen Beinen erklären, die wie zwei Pfosten auf der Stelle festgestampft waren.

Vicky stieß einen genervten Laut aus, packte mich am Arm und zog mich einfach hinter sich her.

„Wir kommen gleich wieder!“, schrie sie in Richtung des Wohnzimmers und zerrte mich gleich darauf aus der Wohnung.

„Wo ist er hin?“, blaffte sie mich an.

Na toll. Jetzt bekam ich es auch noch ab.

„Woher soll ich das wissen?“

„Man Ian. Streng dein Hirn an.“ Vicky war total hektisch, blickte in alle Richtungen. „Gib mir den Autoschlüssel!“

Suchend kramte ich in meiner Hosentasche, doch er war nicht da. Vicky schaute sich das Ganze 10 Sekunden an, dann rannte sie wieder rein und kam kurz darauf wieder zurück, hielt den Schlüssel in der Hand. Sie schloss meinen kleinen blauen Fiat auf, befahl mich auf den Beifahrersitz zu setzen und startete den Motor.

„Also, wir fahren erst in die Bar. Wenn er nicht da ist, dann zu seiner Wohnung!“

Ich sagte nichts. Was sollte ich auch sagen? Das Daniel so reagieren würde, war mir nicht bewusst gewesen. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Nicht mal Marc gegenüber war er so. Er hatte ihn immer ignoriert.

Keine zehn Minuten später hielten wir vor der Bar. Vicky parkte sogar im Halteverbot, doch ihr war alles egal. Sie zerrte mich beinahe aus dem Auto, trieb mich an, etwas zu tun. Als wir beinahe durch den Barbereich rannten, ignorierten wir die Begrüßung unserer Kollegen und marschierten weiter bis zu Christophers Büro. Von draußen konnte man bereits sehr laute Stimmen hören, es polterte und erst da wachte ich aus meiner Starre auf. Mutig riss ich die Bürotür auf und sah Daniel, wie er Christopher am Kragen gepackt hatte. Stühle lagen auf dem Boden, der Schreibtisch war leergefegt. Mein Bruder brüllte seinen besten Freund an. Er schien nicht er selbst zu sein, benahm sich beinahe wie ein Irrer. Als Daniel auch noch seine Faust hob, konnte ich nicht anders. Ich musste einfach dazwischengehen. Immerhin war es meine Schuld, das dies hier grade passierte. Also rannte ich auf die beiden Männer zu, hielt Daniel am Arm fest. Danach ging irgendwie alles ganz schnell. Ein weiteres Gerangel entstand, Daniel wehrte sich, versuchte mich abzuschütteln. Eine Sekunde hatte ich nicht richtig aufgepasst und bekam seinen Ellenbogen mit voller Wucht ins Gesicht. Ein heftiger Schmerz durchfuhr meine Nase. Für einen Moment sah ich kleine Sterne. Reflexartig hob ich meine Hände ins Gesicht.

„Verschwinde!“ Hörte ich noch seine Stimme, bevor ich nach hinten geschubst wurde. Ich kam ins Straucheln, konnte mich nicht mehr abfangen und knallte mit voller Wucht gegen die Kante des großen Büroschrankes.

Nun schmerzte es auch heftig an meinem Rücken und ich konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Ich nahm Vickys spitzen Schrei wahr, gleich darauf war sie an meiner Seite.

„Hört auf ihr Idioten!“, brüllte sie, legte einen Arm um meine Schultern.

Ich versuchte gegen den Schmerz zu atmen, etwas Warmes lief über meine Lippen. Da sich alles in meinem Kopf drehte und der Schmerz leider nicht weniger wurde, schloss ich meine Augen. 

„Einfach ruhig atmen, Ian. Ich hole schnell ein Tuch!“ Vickys Stimme war irgendwie besorgt. Sie schrie nach Dominik und innerhalb kürzester Zeit hatte sie mir ein Handtuch aufs Gesicht gedrückt. Vorsichtig öffnete ich meine Augen, sah in die besorgten Augen meiner besten Freundin. Meine Nase bollerte, der Schmerz war kaum auszuhalten. Da der Druck durch das Tuch den Schmerz noch verstärkte, nahm ich es ihr aus der Hand und schaute mir das Desaster an. Alles war voller Blut, es lief wie verrückt.

„Das tat weh…“, nuschelte ich und versuchte zu Grinsen. Heraus kam nur ein schiefes Lächeln, doch Vicky entlockte es ein selbiges.

„Zeig mal her!“ Vorsichtig sah sie sich meine Nase an, verzog das Gesicht, als hätte sie selbst die Schmerzen.

„Oh Gott, Ian. Das tut mir so leid!“ Rief Dan auf einmal aus.

Kurz darauf hörte ich es wieder rumpeln und Christopher erschien in meinem Blickfeld. Mein Herz setzte einen Takt aus, bevor es weiter unkoordiniert in meiner Brust weiterbollerte. Seine Hand legte sich vorsichtig auf meine Wange, inspizierte ebenso wie Vicky meine Nase. Die Haut unter seiner Hand kribbelte angenehm und ich spürte den Drang mein Gesicht weiter in seine Handfläche zu drücken. Doch ich riss mich zusammen und tat es nicht.

„Das sieht übel aus. Ich glaub sie ist gebrochen.“, stellte er fest und sah mich mit seinen wundervollen Augen besorgt an. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Viel zu sehr fraß mich die Sehnsucht zu Chris innerlich auf.

„Scheiße. Das wollte ich doch nicht!“ Die Stimme meines Bruders hörte sich verzweifelt an.

„Schon gut. Es geht schon wieder. Wird wohl nicht so schlimm sein.“ Ich wandte schnell meinen Blick von dem Mann vor mir ab und rappelte mich mühselig hoch. Chris packte mich unter einem Arm und half mir. Diese kleine Berührung alleine machte mich schon wahnsinnig. Wie gerne hätte ich seine warmen Arme um meine Schultern gespürt. Doch dies war vorbei. Nie wieder würde ich in diesen Genuss kommen. Ich riss mich also von ihm los, um mein Hirn nicht noch weiter damit zu belasten.

Ich schaute mich einmal um und sah in viele besorgte Gesichter. Dominik stand im Türrahmen, hatte einen Sack voll Eis in der Hand. Daniel war kreidebleich im Gesicht, weshalb ich als nächstes auf ihn zuging.

„Hey, ist nichts passiert. Schau!“, versuchte ich ihn aufzumuntern, doch als ich das bereits durchgeblutete Handtuch wegnahm, lief es trotzdem noch wie ein Wasserfall aus meiner Nase. Schnell kam Dominik angerannt, reichte mir wortlos ein frisches Tuch und verabschiedete sich wieder. Er schien sich sichtlich unwohl zu fühlen und nutzte die Gelegenheit, als Marie nach ihm rief gleich aus.

„Ian, das tut mir so leid!“ Endlich erwachte Dan aus seiner Starre. Sein Blick war wieder sanftmütig, so, wie ich ihn nicht anders kannte. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Er schien sich wirklich nicht mehr unter Kontrolle gehabt zu haben.

„Es war ja meine eigene Schuld. Hättest du das nicht mitbekommen…“, ich brach ab, denn ich wollte dieses Thema hier nicht ansprechen.

„Kann mir mal einer verraten, was hier los ist? Warum gehst du so auf mich los?“, mischte sich nun auch Christopher ein und stierte Daniel böse an. Er schien wirklich angepisst zu sein.

Na ganz toll. Das hatte mir grade noch gefehlt!

„Ich…“, fing Daniel an, doch unterbrach sich, als er meinen flehenden Blick bemerkte.

Neben mir stieß Vicky einen langen Seufzer aus, fuhr sich wirsch durch ihre rote Mähne.

„Ihr habt sie doch nicht mehr alle!“ Sie wurde jetzt richtig grantig. „Du bist schuld!“

Sie zeigte auf Christopher. „Und du, weil du deinen Mund nicht einfach aufmachst und die Wahrheit sagst!“ Nun traf auch ihr Zeigefinger auf mich.

„Vicky, bitte!“ Flehend sah ich sie an, doch sie schien es gar nicht richtig wahrzunehmen. Sie wetterte einfach weiter.

„Nur weil ihr zwei Trottel nicht richtig miteinander redet, ist das alles passiert.“

Bevor Vicky noch irgendein Wort sagen konnte, packte ich sie mit meiner freien Hand am Arm und zog sie raus. Sie hatte schon genug gesagt. Ich wollte nicht, dass Christopher wusste, das er mir noch so viel bedeutete. Das ich eine Abfuhr kassieren würde, war wohl klar. Ich schämte mich und war wirklich sauer, dass Vicky es nicht einfach akzeptierte.

„Halt bitte den Mund!“, quetschte ich so leise hervor, wie es mir möglich war. Alleine das Sprechen, verursachte mir Schmerzen.

Meine Freundin verschränkte bockig die Arme, hielt aber den Mund.

„Du musst das selber wissen. Aber gut finde ich es nicht. Du solltest mit offenen Karten spielen.“, gab sie mir nach einem Moment den guten Rat. Sie löste ihre verschränkten Arme und schenkte mir wieder ihren lieben Blick. Sie zog das Handtuch vorsichtig weg, drückte es dann aber wieder vorsichtig auf meine Nase.

„Du solltest besser ins Krankenhaus!“

Mit diesen Worten wandte sie sich von mir ab und ging in das Büro zurück. Ich konnte hören, wie sie den anderen Beiden förmlich befahl mit mir in das nahegelegene Krankenhaus zu fahren. Vermutlich hatte sie recht, doch mussten es gleich beide sein?

 

Eine Stunde später begleitete mich der diensthabende Oberarzt aus dem Krankenzimmer und drückte mir zum Abschied die Hand. Da sich das Wartezimmer genau vor dem Behandlungsraum befand, sprang mein Bruder gleich auf und kam schnellen Schrittes auf mich zu. Ich konnte sein bedrücktes Gesicht sehen und es tat mir unsagbar leid für ihn. Es war eigentlich nicht seine Schuld. Er konnte sich nicht zurückhalten, der Beschützerinstinkt war wohl mit ihm durchgegangen.

„Und?“, fragte mich der große, gutmütige Kerl zähneknirschend.

„Könnte nicht besser sein. Du hast mir nur das Nasenbein gebrochen. Die Nase war ein bisschen schief, aber der Doc hat sie gleich gerichtet.“, versuchte ich so lapidar wie möglich zu erzählen. Das Richten tat höllisch weh, obwohl ich eine lokale Betäubung gespritzt bekommen hatte. Wie ich aussah, wollte ich mir gar nicht vorstellen. Dieses blöde Stützpflaster nervte irgendwie, aber die Schmerzen waren auszuhalten.

„Scheiße! Das war wirklich nicht meine Absicht. Ich habe euer Gespräch mitbekommen und dann sah ich einfach nur noch rot.“, versuchte er sich zu erklären.

„Ist schon okay. Du hast nur so ausgesehen, als würdest du ihn umbringen wollen. Vicky ist es zu verdanken, dass du es nicht gemacht hast.“, flüsterte ich und signalisierte meinem Bruder so, dass er bitte leise sein sollte.

Christopher saß immer noch im Wartebereich, schaute zu uns herüber. Er besaß zumindest soviel Anstand, uns kurz alleine zu lassen. Er sah ein wenig besorgt aus, doch das bildete ich mir bestimmt nur ein.

„Man, Ian. Hast du dich denn wirklich in ihn verknallt? Ausgerechnet in ihn? Ich habe dich doch gewarnt.“

Ich schwieg einen Moment, sah noch einmal zu Chris herüber. Unsere Blicke trafen sich und ich war unendlich traurig. Es zerriss mir das Herz, zu wissen, dass er nie mit mir zusammen sein würde.

„Ich schätze schon. Aber weil eingetroffen ist, was du vorausgesagt hast, habe ich es gleich beendet. Es wird schon vorbei gehen.“ Ich setzte ein Lächeln auf und versuchte so gut es ging mir selber zu glauben.

„Na komm, ich denke wir sollten dich jetzt erst einmal nach Hause bringen.“ Dan legte einen Arm um mich. Sein Griff drückte aus, was er nicht aussprach. Es würde alles gut werden.

 

Christopher war uns schweigend gefolgt. Und auch als wir drei in sein Auto einstiegen, sagte er nichts. Mir war es ganz recht. Was hätte ich auch zu ihm sagen sollen? Daniel entschuldigte sich bei ihm, erklärte aber nicht, warum er so reagiert hatte. Sein bester Freund nahm dies einfach hin und ich wunderte mich schon ein bisschen. Mir persönlich wäre eine einfache Entschuldigung nicht genug gewesen. Innerlich hoffte ich, dass die Beiden sich wieder zusammenraufen würden. Sie waren so lange Freunde und sie brauchten sich.

„Oh Gott. Charlotte hat bestimmt hundert Mal angerufen!“, stellte mein Bruder fest, als er das Handy aus der Tasche geholt hatte. „Ich rufe besser mal zurück.“

Mir war es egal. Ich wollte nur noch nach Hause, diesen Tag endlich hinter mich bringen. Ich schaute aus dem Fenster, beobachtete die Straßenlaternen, die an uns vorbeizogen. Buff, buff, buff. Dieser gleichmäßige Rhythmus ließ meine Augen schwer werden.

„Wie bitte?“, brüllte Daniel plötzlich ins Telefon und schien völlig fassungslos zu sein.

Ich war mit einem Mal hellwach. Junge, hatte ich mich erschreckt. Auch Christopher schaute Daniel immer wieder von der Seite aus an.

„Ja, gut. Alles klar. Bis gleich.“ Und er legte auf.

„Ist was passiert?“, fragte ich vorsichtig nach und Daniel fuhr sich wirsch durch die Haare. Er schien total angespannt zu sein, etwas auf dem Herzen zu haben, was er aber nicht sagen wollte.

„Schon. Aber…vielleicht solltest du heute doch noch mal bei mir übernachten.“

Nun wurde ich noch hellhöriger.

„Du spinnst wohl. Ich will zu mir nach Hause. Das ist die erste Nacht!“, näselte ich aufgebracht.

Auf gar keinen Fall wollte ich bei Daniel und Charlotte bleiben. Soweit kam es noch!

„Du bist so ein Sturkopf, Ian! Du musst immer mit dem Kopf durch die Wand. Kannst du nicht einmal auf meinen Rat hören und mit zu mir kommen? Glaub mir, du willst jetzt nicht nach Hause!“

Und jetzt erst recht! Was war denn nur los mit ihm?

„Wenn ich dich an unser Gespräch vorhin erinnern darf, habe ich deinen Rat bereits vor einiger Zeit eingehalten.“ Versuchte ich ihn durch die Blume zu erinnern, ohne das Chris mitbekam worum es ging. Dieser fragte auch nicht nach, fuhr stur seinen Weg ab. „Ich will nach Hause, basta!“

„Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!“ Daniel brummelte die Worte nur noch angenervt. Gut so. Für heute war es wirklich genug. Ich mochte nur noch in mein Bett.

Daniel erklärte Christopher kurz den Weg und ich hing wieder meinen Gedanken nach. Was hatte ich mir hier nur eingebrockt? Ich konnte Christophers Gesicht nicht sehen und ich fand, dass er ungewöhnlich ruhig war. In den letzten Monaten redeten wir zwar nur das Nötigste miteinander, benahmen uns wie Fremde, doch so ruhig hatte ich ihn noch nie erlebt. Was erwartete ich eigentlich? Irgendwie lief für ihn heute einiges schief und keiner gab ihm eine wirkliche Erklärung, was in der Bar überhaupt passiert war. Ich an seiner Stelle wäre aber ziemlich angepisst gewesen. Mir fiel Chris besorgter Blick wieder ein, als Daniel mich vor ein paar Stunden umgehauen hatte. Mein Herz schlug bei diesem Gedanken wieder ein bisschen schneller.

Plötzlich hielt der Wagen an. Ich schaute mich um und stellte fest, dass wir schon bei mir zu Hause angekommen waren. Mit einem Blick stellte ich fest, dass Vicky mein Auto hier abgestellt hatte. Morgen sollte ich wohl mal nachschauen, ob auch kein neuer Kratzer dazu gekommen war. Ansonsten war alles dunkel. Meine Helfer schienen alle nach Hause gegangen zu sein. Schnell schnallte ich mich ab und räusperte mich: „Ähm. Danke fürs Fahren.“ Zumindest Anstand lernte ich bei meiner Mutter.

Christopher antwortete mir nicht, er starrte aus dem Beifahrerfenster. Im ersten Moment dachte ich, er würde Daniel so anschauen, doch als ich seinem Blick folgte, blieb mir fast das Herz stehen.

„Wir telefonieren morgen…“, murmelte ich Dan zu und stieg mit wackeligen Beinen aus dem Auto aus. Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich auf den Hauseingang zuging. Eine Silhouette kam mir mit langsamen Schritt entgegen und blieb genau vor mir stehen. Eine kühle Hand legte sich auf meine Wange.

„Was ist mit dir passiert?“, drang es leise und besorgt an mein Ohr.

„Was machst du hier, Marc?“ Dass er so nah bei mir stand, brachte mich irgendwie durcheinander. Er wirkte anders als früher. Irgendwie Erwachsener. Die Überheblichkeit war irgendwie verschwunden. Es kam mir vor, als hätte er an Reife zugelegt. Ich konnte seinen noch immer vertrauten Geruch wahrnehmen und ich konnte meine Gefühle ihm gegenüber nicht ganz zuordnen.

„Ich hab doch gesagt, dass ich noch nicht aufgebe. Es tut mir leid, Ian. Und egal, wie du dich entscheidest, ich möchte, dass du das weißt. Ich habe viele Fehler gemacht. Und dich gehen zu lassen, war der Größte gewesen. Als du weg warst, war alles anders. Als ich dann auch noch diesen Typen bei dir gesehen habe, bin ich völlig durchgedreht. Ich war egoistisch, nur auf mich bedacht und ich habe mir keine Gedanken um dich gemacht.“ Marcs Blick wanderte zur Straße, ich folgte ihm. Noch immer stand Christophers Wagen mit laufendem Motor da und obwohl ich es nicht sehen konnte, wusste ich, dass die Beiden uns beobachteten. Sie warteten wohl nur auf eine falsche Bewegung von Marc, um wie zwei Helden aus dem Wagen stürmen zu können, um mich zu retten. Doch diesen Gefallen würde ich ihnen nicht tun. Dies hier ging nur mich etwas an. Ich schnappte mir also die Hand meines Exfreundes und zog ihn mit mir mit.

„Wir sollten drinnen weiterreden.“, murmelte ich nur und Marc folgte mir bereitwillig.

Dass eine Autotür geöffnet wurde und sich schnelle Schritte näherten, versuchte ich so gut es ging zu ignorieren.

 

Kapitel 16

 

Als wir bei der Haustür ankamen, stellte ich entsetzt fest, dass ich gar keinen Schlüssel dabeihatte. Und das alles wegen dieser blöden Hauruckaction. Ich lächelte Marc ein wenig verlegen an und drückte wie ein Verrückter auf meiner eigenen Klingel herum. Hoffentlich war noch jemand da. Um diese Uhrzeit würde ich meine Vermieterin ganz sicher nicht aus dem Bett schmeißen und für einen Schlüsseldienst war ich zu geizig. Dass sich hinter mir die Schritte immer weiter näherten, ignorierte ich gekonnt. Zum Glück ertönte kurz darauf der Summer und ich drückte die Tür auf.

„Ian, warte!“ Christopher war hinter mir. Seinen merkwürdigen Gesichtsausdruck konnte ich nicht zuordnen. Er schien etwas sagen zu wollen, öffnete seinen Mund und schloss ihn dann wieder. Er sah mich an. Ich sah ihn an. Wie sehr ich mich nach ihm sehnte, konnte ich nicht in Worte fassen. Es war still. Sehr still. Die Zeit schien einen Moment stehen zu bleiben, das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich war gespannt was kommen würde. Ein Flämmchen Hoffnung stieg in mir hoch. Doch noch immer sagte er nichts. Er stand nur da, starrte mich an und es schien, als wären ihm die Worte im Halse stecken geblieben. Ich war total angespannt und als Chris seinen Blick von mir abwandte, drehte ich mich enttäuscht um und ging, mit meinem Exfreund im Gepäck, ins Haus. Das kleine Flämmchen erlosch und ich schob meinen Frust, all den Ärger und die Wut auf Christopher an die Seite. Wie konnte ich nur so blöd sein und mir tatsächlich Hoffnungen machen?

 

In meiner Wohnung angekommen, begrüßte Liam uns.

„Alter, du siehst ganz schön heftig aus!“, rief er aus. Sein Blick wanderte irritiert von Marc zu mir, trat dann zur Seite, um uns herein zu lassen.

„Marc – Liam, Liam – Marc.“, stellte ich sie kurz vor und streifte mir im Flur die Schuhe von den Füßen. Marc tat es mir gleich und kurz darauf kam Vicky verschlafen um die Ecke. Als sie mich sah, sprang sie mir um den Hals.

„Oh Gott. Du siehst furchtbar aus! Ich dachte schon, sie hätten dir die Nase abnehmen müssen!“ Sie entließ mich aus ihrem Klammergriff und ich grinste sie schief an. Obwohl mir nicht so sehr nach Scherzen zumute war, sprang ich auf ihre kindische Art an. „Hättest du wohl gerne! Der schöne Schwan, wird seinen Posten nicht an dich abtreten. Da ihr mir alle so schön sagt, wie perfekt und einfach umwerfend ich aussehe, darf die Magd mir gerne ein Bier bringen! Das kann ich jetzt echt gebrauchen.“

Meine Freunde schauten mich einen Moment mit großen Augen an, brachen dann aber in schallendes Gelächter aus. Marc stand neben mir, wie bestellt und nicht abgeholt und regte sich nicht. Er schien sich ein wenig unwohl zu fühlen. Ich räusperte mich und stellte ihm nun auch meine Freundin vor.

„Ich kenn dich doch.“, stellte sie fest und musterte ihn von oben bis unten.

„Vicky bitte. Dürfen wir erstmal reinkommen?“, bat ich.

„Aber klar doch.“, summte sie fröhlich und schien gar nicht mehr müde zu sein. Sie beäugte Marc von oben bis unten, während sie wie eine Katze hinter uns herschlich. Ich war wirklich überrascht, als wir alle das Wohnzimmer betraten. Alles war aufgeräumt und nicht ein Glas stand mehr herum. Liam ging in die Küche, Vicky grinste stolz und Marc schaute sich anerkennend um. Doch irgendetwas schien ihn zu bedrücken. Er holte tief Luft und sah mich direkt an.

„Also ehrlich. Ich habe Tobi das alles nicht geglaubt. Jetzt grade bin ich ein wenig überrascht.“

In meinem Hirn ratterte es, Vicky schien genauso dumm dazustehen und zog die Augenbrauen nach oben. Tobi. Tobi. Tobi? Ach du scheiße! Mir schoss die Röte in die Wangen und war froh, als Liam mir ein Bier reichte. Ich nahm einen Schluck und schaute den rothaarigen Teufel hilfesuchend an.

„Hä?“, machte sie jedoch nur.

„Das ist alles deine Schuld, du Biest!“, zischte ich sie an. „Erinnere dich an unseren kleinen Ausflug.“

„Ihr habt einen Ausflug gemacht?“, mischte sich nun auch Liam ein, der grade wieder ins Wohnzimmer getrottet kam.

„Nein! Ich meine ja. Sowas in der Art. Wir mussten geschäftliches erledigen.“, antwortete ich und legte meine Betonung auf das Wort geschäftliches. „Er ist der Kumpel von du weißt schon wem!“

Vicky stand immer noch doof da, doch mit einem Mal veränderten sich ihre Gesichtszüge. Sie schien es endlich geschnallt zu haben.

„Oh. Äh…achsooo. Oh Gott!“, sie lief rot an, wandte sich dann an Marc. „Du bist Ians Ex? Marc? Also der Marc?“

Marc nickte betroffen, schien nicht zu verstehen was hier vor sich ging. Kein Wunder, er musste denken, er wäre in einem Irrenhaus angekommen.

„Oh Mist!“, stieß Vicky hervor.

Marc schien dies als Anreiz zu nehmen und meldete sich wieder zu Wort. „Nicht das ihr mich missversteht. Die Sache zwischen euch dreien…“, und er zeigte zwischen meinen Freunden und mir hin und her. „…geht mich eigentlich gar nichts an. Ich hätte nur nicht gedacht, dass Ian so aus sich herauskommt. Als wir noch zusammen waren…“

„Stopp!“, unterbrach Liam völlig irritiert. „Kann mir bitte mal jemand erklären, was zum Geier hier los ist?“

Ich schaute Vicky an, sie mich. Keiner von uns sagte etwas und ich ließ mich seufzend aufs Sofa fallen. Himmel, konnte der Tag noch schlimmer werden? So viel konnte ein Mensch an einem einzigen Tag doch gar nicht erleben.

„Vicky hat mir ein bisschen aus der Patsche geholfen. Sie hat dabei eine kleine Notlüge erzählt.“, erklärte ich knapp. Marc musste immerhin nicht alles wissen.

„Und die beinhaltete?“ Liam gab sich hingegen noch nicht zufrieden.

„Sie hat einem von Marcs Freunden erzählt wir wären zusammen, grade erst zusammengezogen und…“ Ich schüttelte mich alleine bei dem Gedanken an das, was Vicky von sich gegeben hatte.

„Man ja. Ich hab gesagt wir stehen auf Sex mit anderen Männern und Frauen und habe ihm erzählt das naja, du weißt schon. Der eine Typ es Ian richtig besorgt hat. Was ja nicht ganz gelogen war, nur das ich nicht dabei war!“ Preschte sie schulterzuckend vor.

Mir fiel die Kinnlade runter, Liam gab seiner Freundin einen Klaps auf den Hinterkopf. Eine Weile sagte keiner mehr etwas, bis Marc sich zu mir setzte. Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf und räusperte sich.

„Nun. Tobi hat es dir zumindest abgenommen. Er ist mit einem Mal hin und weg von dir.“, sagte er und schaute mich nickend, um sich selbst noch einmal zu bestätigen, an.

Na prima! Welche große Ehre, dass Tobias Palutschki mich endlich akzeptierte. Was kümmerte der Typ mich denn schon? Mir war das alles total peinlich und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Hätte ich gewusst, was hier auf mich zukommt, dann hätte ich meine herzallerliebste Freundin gleich gestoppt.

„Ähm, Schatz? Wollen wir dann mal los?“ Vicky schien es genauso wenig auszuhalten und sprang mit einem Mal auf, wie von der Tarantel gestochen.

Ihr Liebster tat es ihr gleich, kramte seine Sachen zusammen und nickte Marc zu.

„Also, vielleicht sieht man sich noch mal.“

Meine beste Freundin tat es ihm gleich und ich folgte den Beiden in den Flur. Nachdem die Zwei sich angezogen hatten, drückte ich sowohl Vicky, als auch Liam einmal an mich.

„Danke! Ohne euch hätte ich das alles nicht geschafft. Und du…“, ich schaute Vicky direkt an. „…kommst in den Himmel. Ich glaube du hast heute jemandem das Leben gerettet!“ Ich meinte es ehrlich so. Ohne die Beiden wäre ich vollkommen aufgeschmissen gewesen. Und mein Herzensmensch wäre vermutlich von meinem Bruder umgebracht worden.

„Nicht dafür!“, bestand Liam darauf und öffnete bereits die Wohnungstür.

„Ist schon gut. Die Quittung hast leider du bekommen. Melde dich bitte morgen mal. Kannst du mit der Rumpelnase überhaupt arbeiten gehen?“ Vicky beäugte kritisch mein Gesicht und stupste dann mit ihrer Fingerspitze auf meine Nase.

„Autsch!“, stieß ich hervor und schreckte ein Stück zurück. „Wenn du deine Finger bei dir behältst, dann schon.“

„Will ich wohl meinen! Lass mich ja nicht hängen. Dominik hat übermorgen frei und ich mag echt nicht mit Chris zusammenarbeiten. Und schon gar nicht, seit ich weiß was ihr beide miteinander gemacht habt!“, sie kicherte und hielt sich die Hand vor den Mund.

„Was?“ Liam schien irritiert, doch ich schüttelte nur den Kopf.

„Ach nichts, Liebling!“, trällerte sie, gab mir noch einen kurzen Kuss auf die Wange und verschwand mit Liam.

Ich atmete einmal tief ein, straffte meine Schultern und begab mich zurück ins Wohnzimmer. Jetzt galt es noch eine Sache zu klären.

Marc saß noch immer auf dem Sofa, hatte die Bierflasche mit beiden Händen umklammert und musterte mich. Er sah irgendwie anders aus. Die Haare waren länger und er war dünner geworden. Als er mich sah, klopfte er sanft neben sich auf die Couch und bedeutete mir, sich zu ihm zu setzen. Seinem Wunsch kam ich nur ungerne nach. Irgendwie behagte es mir nicht, so in seiner Nähe zu sein. Als ich den Platz neben ihm eingenommen hatte, griff Marc auch gleich nach meiner Hand.

„Ian, ich muss das jetzt noch loswerden, bevor ich wieder fahre.“, er starrte auf unsere Hände. „Als ich vorhin von dieser Frau erfahren habe, dass du umgezogen bist, dachte ich, ich hätte endgültig keine Chancen mehr. Ich dachte, du wärst mit diesem Kerl zusammengezogen und eigentlich wollte ich gar nicht herkommen. Aber wie mir scheint wohnst du alleine. Ich möchte mich noch einmal bei dir entschuldigen. Es tut mir so leid, wie ich mit dir umgegangen bin. Das hattest du nicht verdient. Aber ich liebe dich und ich möchte, dass du mir eine zweite Chance gibst.“

Wir schwiegen eine Weile und ich glaubte Marc tatsächlich, was er sagte. Wie oft wollte ich diese Worte hören? Worte, die aus seinem tiefsten Inneren kamen, die vor Wahrheit nur so strotzten. Doch was empfand ich bei der ganzen Sache? Marc war mir nach wie vor nicht egal. Er war bis vor ein paar Monaten, der wichtigste Mensch in meinem Leben gewesen.

Ich atmete einmal tief ein und wieder aus. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich mir gewünscht habe, dass du es wirklich ehrlich mit mir meinst. Ich glaube dir und deine Worte waren bestimmt noch nie so ehrlich gewesen. Allerdings…“ Ich entzog ihm meine Hand und legte sie auf meinen Schoß. „…liebe ich dich nicht mehr. Und selbst wenn, das mit uns hat keine Zukunft. Du brauchst jemanden, der dir ordentlich die Meinung geigt, wenn es nicht nach deiner Nase gehen kann. Der sich nicht auf irgendwelche Spielchen einlässt oder es gar zulässt, dass du etwas mit jemand anderem anfängst. Ich bin nicht derjenige. Glaub mir, ich habe es wirklich versucht, aber du siehst was dabei rausgekommen ist. Unsere Liebe war nicht so unbesiegbar wie ich es mir vorgestellt habe.“

Marc lauschte meinen Worten und ein leichtes Lächeln huschte kurz um seine Lippen. Hätte ich es nicht besser gewusst, würde ich glauben er dachte bei meinen Worten an jemanden. Ich würde es ihm zumindest wünschen, den Menschen zu finden, der wirklich zu ihm passte.

„Vielleicht hast du recht. Gibt…gibt es jemanden in deinem Leben?“, fragte er vorsichtig und ich glaubte zu erkennen, dass er die Antwort eigentlich gar nicht hören wollte.

Ich wusste auch nicht, was ich ihm sagen sollte. Deshalb schwieg ich vorerst, bis mir die richtigen Worte einfielen: „Es gibt jemanden, ja.“

Den Rest ließ ich ungesagt. Es war ja auch nicht gelogen. Ich liebte Chris wie verrückt. Mit dem Unterschied, dass er es nicht tat. Sonst hätte er doch vorhin wenigstens etwas gesagt. Dass er Marc einfach mit mir hatte ziehen lassen, war Beweis genug für mich. Ich musste lernen, damit umzugehen. Den Schmerz, den ich so viel intensiver wahrnahm als bei Marc, würde ich irgendwann überstanden haben. Es war doch eigentlich ganz einfach. Ich musste mich nur entlieben. Damit war die Sache erledigt. Doch warum fühlte es sich nicht so einfach an? Wieso zum Henker trauerte ich Christopher schon so lange nach?

„Komm her, Ian.“, riss Marc mich aus meinen Gedanken und ich bemerkte erst jetzt, wie mir Tränen aus den Augen traten. Marc legte einen Arm um meine Schultern und zog mich zu sich ran. Im ersten Moment war ich noch ziemlich versteift, lockerte mich jedoch nach und nach. Ich drückte mein Gesicht schluchzend in sein Shirt, ignorierte dabei den Schmerz den meine Nase verursachte und verfluchte mich und mein blödes Herz.

„Schsch…er wird es irgendwann sehen. Glaub mir. Du bist ein unglaublicher Mensch geworden, Ian. Und er wird es erkennen. Ich habe keine Ahnung warum du dich so verändert hast, aber es tut gut es zu sehen. Du hast tolle Freunde, bist offener geworden und dein Bruder ist auch bei dir. Sieh nicht immer alles so schwarz und bleib so offen wie jetzt.“ Es war als blickte Marc in mein Innerstes, sagte genau die Worte, die ich hören wollte. Aber glauben tat ich sie nicht. Nicht alle zumindest. Er hatte recht, wenn er sagte, dass ich mich anderen geöffnet hätte. Obwohl besonders Liam, Gustav und mich eine unschöne Vergangenheit verband, so war ich doch froh, mich ihnen angenähert zu haben. Vicky konnte ich mir sowieso nicht wegdenken. Insgeheim fragte ich mich, wer der Mann hier neben mir war. Es war als wäre er neu geboren. Als hätte er den Arschlochanzug ausgezogen. Eine Weile saßen wir so da, bis ich mich peinlich berührt von ihm zurückzog.

„Sorry.“ Ich wandte meinen Blick ab. Wie konnte ich mich nur so gehen lassen?

„Du musst dich nicht entschuldigen. Und auch wenn ich langsam verstehe, dass das mit uns vorbei ist, so möchte ich trotzdem nicht aus deinem Leben verschwinden. Du bist mir einfach wichtig und wenn es für dich okay ist, würde ich den Kontakt gerne halten.“

Ich musste gar nicht lange überlegen und stimmte lächelnd zu.

Eine Stunde später machte Marc sich wieder auf den Weg nach Hause. Er lehnte mein Angebot, über Nacht zu bleiben ab. Wir redeten noch eine Weile und ich wurde das Gefühl nicht los, zwar meinen Exfreund hinter mir gelassen, aber dafür einen neuen Freund dazu gewonnen zu haben. So wie wir uns unterhielten, konnte ich noch nie mit ihm über irgendetwas reden.

Müde und erschöpft legte ich mich, nachdem ich mir noch eine Schmerztablette eingeworfen hatte, in mein neues Bett und schlief auch bald darauf ein.

 

Gegen zehn Uhr in der Früh wachte ich mit schmerzendem Rücken auf. Mein Gesicht war noch schlimmer dran und ich fühlte mich, als wäre ein Auto über meine Nase gefahren. Mit knackenden Gelenken stand ich auf und schlurfte als erstes in die Küche. Ich spülte eine weitere Schmerztablette herunter und setzte mir einen Kaffee auf. Irgendwie war es still hier, woran ich mich wohl besser gewöhnte. Nachher sollte ich besser einmal schauen, wo mein Radio geblieben war. Nachdem ich mich vorsichtig geduscht hatte, lümmelte ich mich ein wenig aufs Sofa und schaute mir einen Film an. Morgen musste ich wieder zur Arbeit und sollte fit sein, wenn es soweit war. Die Umzugskartons konnten warten, immerhin war es nicht eilig, alles auszupacken.

Meine Gedanken kreisten um den gestrigen Tag und zu dem, was Marc mir gesagt hatte. Er war der Meinung, ich solle mit Chris reden. Ihm reinen Wein einschenken. Wieso ich ihm alles erzählte, wusste ich gar nicht mehr. In diesem Moment fühlte ich mich Marc so nahe, wie sonst niemals zuvor. Die Worte waren einfach aus mir herausgesprudelt und er strich mir nur beruhigend über den Rücken, hörte zu. Er meinte, dass ich Chris nicht für seine Fehler bezahlen lassen konnte. Seine Meinung war, dass Christopher mir nicht direkt Fremdgegangen war. Nicht so, wie er selbst es getan hatte. Und insgeheim wusste ich, dass Marc recht hatte. Aber was brachte es mir, wenn ich ihm die Wahrheit sagte? Er hätte tausende von Gelegenheiten gehabt mit mir zu sprechen. Wenn er denn das Gleiche für mich empfand.

Das Klingeln an meiner Tür riss mich aus meinen Gedanken und ich stand auf. Da ich leider keine Gegensprechanlage besaß, drückte ich den Türöffner und wartete auf meinen Besuch. Eingeladen hatte ich niemanden, weshalb mir bald alles aus dem Gesicht fiel, als Christopher die Treppe hochkam.

„Wir müssen reden.“, sagte er plump und ohne meine Antwort abzuwarten, schob er sich an mir vorbei und ging in die Wohnung.

Er schaute sich einen Moment um und steuerte dann direkt die Küche an. Er knallte einen Stapel Papiere auf den Küchentisch und setzte sich ohne Einladung auf einen der Stühle. Seine Miene war finster und da ich keinen Ärger haben wollte, bot ich ihm wenigstens einen Kaffee an. Christopher lehnte jedoch kopfschüttelnd ab.

„Setz dich!“ Es war mehr ein Befehl, als eine Bitte und ich kam seiner Aufforderung nur angespannt nach.

Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Christopher sah mich nicht an, als er ein paar Blätter von dem Stapel nahm und sie vor mir auf den Tisch klatschte. Ich las die dicken schwarzen Buchstaben der Überschrift mit runzelnder Stirn und konnte gar nicht glauben, was ich dort sah. Den Rest wollte ich mir gar nicht ansehen.

„Was soll das?“, fragte ich total verunsichert und in mir zog sich alles zusammen. „Du bist dir schon im Klaren was dort steht?“

Christopher schaute mir grimmig ins Gesicht. Seine wunderschönen Lippen kräuselten sich und die unheimlich blauen Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt.

„Auch wenn du meinst, ich bin bescheuert, weiß ich sehr wohl was dort steht. Lies dir den Vertrag durch. Unterschreib ihn oder eben nicht.“, stellte er mich vor die Wahl.

„Was soll das alles? Wir haben so viel Arbeit in die Bar gesteckt und du willst auf einmal verkaufen?“, fragte ich völlig fassungslos. Wie konnte er nur sowas machen? Die Bar brachte ihm gutes Geld ein und aus seinen roten Zahlen hätte er längst raus sein müssen. Jetzt pfefferte er mir einen Übergabevertrag auf den Tisch und glaubte, ich würde das alles so einfach hinnehmen.

„Was ist mit Vicky und den anderen?“, schob ich noch hinterher.

„Du brauchst dir keine Gedanken machen. Vicky und Marie sind freundliche Menschen und haben Erfahrungen im Servicebereich. Dein Betthäschen wird ebenfalls mit übernommen.“ Er spuckte mir den letzten Satz beinahe entgegen. In mir rumorte es. War er blöd, oder was? Allmählich wurde ich wirklich sauer und ich knirschte mit den Zähnen.

„Ich steige nicht mit Dominik ins Bett. Das war eine einmalige Sache!“, brachte ich aufgebracht hervor.

„Nein stimmt. Dafür hast du ja jetzt deinen Exfreund wieder.“ Chris sprach ruhig und gelassen, obwohl seine Mimik verriet, dass er fürchterlich sauer war. War er wirklich deswegen angepisst? Was kümmerte ihn das schon.

„Selbst wenn, …“

„Ja, ja. Es geht mich nichts an. Ich habe es verstanden. Unterschreibst du jetzt oder nicht?“, schnitt er mir schnippisch das Wort ab.

Ich wurde noch wütender. Wenn das überhaupt ging. Am liebsten wäre ich diesem verfluchten Mistkerl an die Kehle gegangen. Warum schmiss er alles hin, obwohl es so gut lief? Das konnte doch alles nicht wahr sein!

„Du kannst nicht einfach hier aufkreuzen, mir so einen Mist vor die Füße werfen und denken, ich nehme das alles so hin!“ Wütend sprang ich vom Stuhl auf und brüllte Christopher an. Vor Wut stiegen mir Tränen in die Augen, die ich nur schwer zurückhalten konnte.

„Kann ich und mache ich grade. Und dass ich verkaufe geht dich einen verdammten Scheiß an! Ich packe meine Sachen und bin weg. Den Mist tue ich mir nicht länger an!“, brüllte er zurück.

Das hatte gesessen und versetzte mir einen unglaublichen Stich in der Magengegend. Er hatte Recht! Und mir wurde bewusst, dass ich ihn nun endgültig verloren hatte. Christopher würde die Bar verkaufen und ich konnte nichts dagegen tun. Er würde seine sieben Sachen packen und von hier verschwinden. Vielleicht würde ich ihn nie wiedersehen. Doch warum wollte er hier weg? Es lief doch alles blendend für ihn, es gab keinen Grund, warum er weggehen sollte. Mir leuchtete das alles nicht ein. Es wollte mir einfach nicht in den Schädel.

„Warum tust du das?“ Ich zitterte am ganzen Körper, ballte meine Hände zu Fäusten. Wie konnte er nur so kalt sein? Warum war ihm mit einem Mal alles egal?

Chris fuhr sich mit einer wirschen Handbewegung durch die Haare. Er schien irgendetwas mit sich herumzuschleppen, doch sein Gesicht zeigte noch immer wie wütend er war. Auf einmal sprang er auf, drehte sich zum Fenster um. Einen kleinen Moment schwieg er.

„Was glaubst du denn, Ian?“

Ja, was glaubte ich denn? Woher zum Henker sollte ich das wissen? Ich konnte ja schlecht in seinen Kopf schauen. Er drehte sich langsam zu mir um und ich glaubte meinen Augen nicht trauen zu können. Tränen liefen sein Gesicht herunter, die Wangen waren leicht gerötet.

„Glaubst du, ich tue es mir noch länger an, dass du um mich herumwirbelst, mich aber nicht an dich ranlässt? Ich versuche einfach zu akzeptieren, dass du mich nicht willst. Ich habe einen beschissenen Fehler gemacht und du gibst mir nicht einmal die Chance dir das zu erklären. Eigentlich hatte ich geglaubt, dass das zwischen uns etwas Besonderes ist. Aber ich habe mich getäuscht. Ich bin es leid, Ian. Ich kann nicht mehr. Und noch weniger halte ich es aus, dich jeden Tag sehen zu müssen. Zu wissen, dass du mich nie lieben wirst, egal was ich mache. Es reicht einfach, sonst gehe ich kaputt. Ich brauche Abstand von alledem hier, vor allem von dir. Ich werde dich vergessen und mir keine weiteren Hoffnungen machen. Du sagtest, ich soll aus deinem Leben verschwinden, meine Nase heraushalten. Das tue ich hiermit. Und das ist dieses Mal mein letztes Wort!“ Während Christopher die Worte aufgebracht über seine Lippen brachte, fing es in mir drinnen an zu Arbeiten. Ich stand völlig geschockt da, konnte das Gesagte nur schwer verarbeiten und mein eigener Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. War das grade wirklich passiert oder bildete ich mir nur ein, es gehört zu haben? Liebte Christopher mich genauso, wie ich ihn liebte? Mein Herz schrie ja, mein Gehirn schien noch im Verarbeitungsmodus zu sein. Ach verdammt! Diese ganze Grübelei hatte mir diesen Ärger doch nur eingebrockt.

Langsam ging ich auf den Mann vor mir zu, bereit alles zu riskieren und mit gebrochenem Herzen zurück zu bleiben. Wenn ich jetzt nicht meinen Arsch hochkriegen würde, dann würde ich es nie wissen. Vorsichtig legte ich meine Hände auf das Gesicht des Mannes, der mir so viel bedeutete. Sanft strich ich die Tränen von seinen Wangen, fuhr mit den Fingerspitzen über die dichten Bartstoppeln. Ich wollte seine Wärme wieder spüren, wollte, dass er seine schützenden, warmen Arme um mich legte. Doch Christopher starrte mich nur an, bewegte sich keinen Millimeter. Das Herz schlug mir bis zum Hals, mein Atem kam nur noch stockend. Ich hatte Angst. Fürchterliche Angst davor, von ihm zurückgewiesen zu werden. Allerdings war mir auch klar, dass dies hier meine letzte Chance war. Es war alles meine Schuld gewesen. Ich hatte Chris den Vorschlag gemacht, sich jemand anderes für die Nacht zu suchen. Wenn er tatsächlich dasselbe für mich empfand, wie ich für ihn, dann wäre ich vor lauter Verzweiflung auch zu jemand anderen gegangen.

Vor lauter Aufregung hielt ich den Atem an. Vorsichtig und immer mit dem Wissen, dass dieser Mensch mich von sich stoßen könnte, legte ich meine Lippen auf seine. Es schien als würde eine Ewigkeit vergehen und allmählich stieg die Panik in mir hoch. Chris rührte sich weiterhin nicht.

 

 

 

 

 

Enttäuscht und verletzt löste ich mich von Christopher und nahm ein bisschen Abstand zu ihm. Das war es. Aus und vorbei. Die Erkenntnis sickerte nur langsam zu mir durch und ein heftiger Stich fuhr mir durch den Brustkorb. Er hatte den Kuss nicht erwidert und stand immer noch wie versteinert da, glotzte mich dumm an. Dies war meine letzte Chance gewesen, doch scheinbar schien ich seine Worte in den falschen Hals bekommen zu haben.

Es fiel mir unglaublich schwer, meine Enttäuschung zu verbergen, meinen verfluchten Tränen den Weg nach draußen zu verwehren. Aber ich würde jetzt nicht anfangen zu heulen. Diese Blöße würde ich mir nicht geben.

In meinem Kopf arbeitete es. Alles was grade eben passiert war, würde nun mein weiteres Leben bestimmen. Dass aus Christopher und mir kein Paar werden würde, war mir nun mehr als klar. Er sollte einfach gehen.

Schnell wandte ich meinen Blick von dem Mann vor mir ab und ging zu dem Küchentisch, auf dem die Übergabepapiere lagen. Innerlich war ich total aufgewühlt, doch bevor ich Christopher rausschmeißen konnte, musste ich die Papiere unterschreiben. Ich konnte es mir nicht leisten, ohne Job dazustehen. Immerhin war ich grade erst in eine eigene Wohnung eingezogen. Außerdem waren da Verpflichtungen, die bezahlt werden wollten. Ohne weiteres Zögern unterschrieb ich auf der Linie, auf der mein Name stand und reichte Christopher den Stapel. Zögernd griff er danach, sah mich jedoch nicht an. Als Chris sich zum Gehen wandte, kam mir eine Idee.

„Ich kaufe dir die Bar ab. Wenn du noch ein paar Tage mit dem Verkauf warten kannst.“, warf ich hastig in den Raum. Vielleicht war es überstürzt, doch ich wollte sie auf gar keinen Fall aufgeben. Ich konnte nicht einmal etwas mit dem Namen des potenziell neuen Besitzers anfangen. Vielleicht bekam ich auch das Geld von der Bank nicht. Ich wusste es nicht. Doch sie lief gut. Mehr als gut. Und einen Versuch war es wert.

„Ich schmeiße dir die Unterlagen mit allen wichtigen Informationen in den Briefkasten.“, hörte ich Christophers Stimme und gleich darauf, wie er die Wohnung verließ.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich in der Küche herumgestanden hatte. Irgendwie lief hier doch grade ein ganz schlechter Film! In diesem Moment bereute ich es einfach nur noch, wieder hierher zurück gekommen zu sein. Vielleicht hätte ich, nach der Trennung von Marc, meinen alten Job behalten und mir nur eine andere Wohnung suchen sollen. Es lief alles schief. Alles was mir etwas bedeutete, konnte ich nicht festhalten. Wieso war ich nur so? Hatte ich Christophers Worte so fehlinterpretiert oder war der Zug einfach nur schon abgefahren? Ich wusste es nicht. Und ich würde es wohl nie erfahren. Ob das Angebot mit der Bar eine gute Idee gewesen war?

Kapitel 17

 

Zaghaft und ein wenig nervös, klopfte ich an die weiße Tür vor mir. Mir pochte das Herz bis zum Hals und ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal so aufgeregt war.

„Ja?“, drang es dumpf und ein wenig erschöpft von innen.

Ich straffte meine Schultern und betrat, mit einem Blumenstrauß und Geschenken bewaffnet, auf leisen Sohlen den Raum. Es handelte sich um ein ziemlich pragmatisch eingerichtetes kleines Einzelzimmer, dem die Liebe zum Detail fehlte. Ein wenig schreckte mich die kalte Atmosphäre ab, doch dann sah ich sie. Die Frau, die mir in den letzten vier Jahren so viel mehr als eine einfache Freundin gewesen war. Sie saß leicht aufrecht in ihrem Bett und ein kleines weißes Bündel lag in ihren Armen.

„Hey…“, brachte ich gerade so hervor und musste den Kloß in meinem Hals herunterschlucken.

Vicky grinste mich an und bedeutete mir mit einem auffordernden klopften auf ihr Bett, näher zu kommen. Vorsichtig setzte ich mich zu ihr und gab meiner Freundin einen kleinen Kuss auf die Stirn, während ich das entzückend grunzende Wesen in ihren Armen bewunderte.

„Sie ist wunderschön, Vicky!“, flüsterte ich und legte einen Arm um ihre Schultern.

„Ja, nicht? Ich hab noch nie etwas schöneres gesehen…“, sie lächelte mich einem Blick an, den ich noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Sie sah ziemlich erschöpft aus, doch alles an ihr verriet, wie unsagbar stolz und verliebt sie gerade war.

„Willst du sie mal halten?“

Wie ich? Nervös verstaute ich die Mitbringsel auf dem etwas zu klein geratenen Nachttisch und setzte mich wieder neben Vicky. Ich bekam fürchterlich schwitzige Hände und am liebsten hätte ich ihre Frage abgelehnt.

„Na komm, du machst schon nichts kaputt!“, lachte sie und legte mir ihre Tochter behutsam in den Arm.

Obwohl ich mir geschworen hatte, mein Herz niemals wieder an einen Menschen zu verlieren, war es um mich geschehen. Ich bewunderte voller Entzücken das kleine Händchen, welches sich kräftig um meinen Zeigefinger schloss, die schmatzenden Geräusche, die aus ihrem Mund kamen.

„Sie ist perfekt, Vicky! Wirklich! Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für euch Drei!“

Bevor Vicky etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür und Liam kam herein. Ich wollte das Baby schnell wieder abgeben, damit die jungen, erst 24 Stunden alten Eltern, ihr Glück genießen konnten, doch Liam bedeutete mir ruhig sitzen zu bleiben.

„Wir haben uns schon gefragt, wann du endlich vorbeischaust!“, lachte Liam und klopfte mir kurz auf die Schulter. Er zog sich einen Stuhl heran und ließ sich auf diesem nieder. Er sah auch ziemlich müde aus und ich befürchtete er würde jeden Moment umfallen. Aus dem sonst so starken Mann schien alle Kraft entwichen zu sein. Ein überhaupt nicht unangenehmes Schweigen breitete sich aus und ich bewunderte die kleine Tochter meiner zwei besten Freunde weiter. Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus und ich wusste, dass dieses kleine Mädchen keine besseren Eltern hätte haben können. Sie würde wohl behütet und mit viel Liebe im Kreise ihrer Eltern aufwachsen, die alles für sie tun würden. Dessen war ich mir ganz sicher.

Ich musste an die letzten vier Jahre zurückdenken, in denen mir Vicky und auch Liam sehr gute Freunde gewesen waren. Als Christopher mir damals die Unterlagen auf den Tisch gehauen hatte, war alles den Bach runter gegangen. Obwohl er mir, wie versprochen die Unterlagen der Bar hatte zukommen lassen, bekam ich von der Bank den Kredit nicht. Wie denn auch? Ich konnte keine Sicherheiten vorweisen, geschweige denn, dass ich irgendwelche Rücklagen hatte. Innerlich hatte ich mich schon damit abgefunden bei diesem anderen Heini anfangen zu müssen, denn ich wollte unter keinen Umständen diese Bar verlassen. Daniel versuchte mich mehrfach zu überreden, es einfach sein zu lassen, mich von diesem Ort fern zu halten, der mich so sehr an die Liebe zu Chris erinnerte. Doch ich konnte es nicht. Ich konnte das alles nicht wieder zurücklassen. Ich hatte mir geschworen mir ein neues Leben aufzubauen, mich nicht mehr zurück zu ziehen und vor mir selbst davon zu laufen. Doch egal welche Zahlen ich der Bank auch vorlegte, sie lehnten mich immer wieder ab. Bis Vicky die zündende Idee hatte. Sie wollte als geringe Teilhaberin mit einsteigen, brachte einen erheblichen Teil als Eigenkapital mit und würde fortan alles gemeinsam mit mir regeln und entscheiden. Als wir schon dachten die Bank würde auch dies Ablehnen, bekamen wir den Zuschlag und kauften die Bar, die uns beiden sehr am Herzen lag. Ich war einfach nur froh, dass sie da war, denn sie war nicht nur eine hervorragende Kollegin, sondern holte mich auch so manches Mal aus meinem schwarzen Loch hervor. Christopher habe ich nie wiedergesehen und weil auch Daniel angeblich keinen Kontakt zu ihm hatte, gab ich die Hoffnung nach einem Jahr auf. Ich versuchte ihn zu vergessen, die Liebe zu ihm in meinem Inneren zu verschließen. Auch wenn ich noch immer an ihn denken musste, hatte ich mein Leben ganz gut im Griff. Die Bar lief, ich war noch viel offener geworden und unternahm öfter was mit Freunden und ich kümmerte mich wieder mehr um mich selbst. Alle zwei Tage besuchte ich das Fitnessstudio und auch wenn ich niemals zu einem Muskelprotz mutieren würde, konnte ich meinen Körper mittlerweile mehr als sehen lassen.

Seufzend übergab ich der frisch gebackenen Mama ihren Sprössling wieder und erhob mich. Liam tauschte seinen Platz mit mir und nahm an der Seite seiner Frau Platz, um seine Tochter mit einem ebenso stolzen Blick zu bedenken. Als ich die Drei beobachtete, kam mir nur ein einziger Gedanke: Perfekt!

So musste sich die große Liebe anfühlen, die ich wohl nie erfahren würde. Liam und Vicky haben vor zwei Jahren geheiratet und sehr für dieses Kind gekämpft. Vicky war teilweise sehr Depressiv gewesen, weil sie einfach nicht schwanger wurde und manches mal glaubte ich, die Ehe zu Liam würde auseinander gehen. Doch sie rissen sich beide zusammen, bewältigten die Probleme gemeinsam und zogen an einem Strang. Als sie es schon aufgeben wollten, kam die erfreuliche Nachricht. Vicky hatte mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, fürchterlich geweint und nicht gewusst, wie sie Liam den positiven Schwangerschaftstest beibringen sollte. Ich musste leicht grinsen als ich daran dachte, dass es doch das einfachste der Welt war. Dies war es, was die Beiden sich so lange Zeit gewünscht hatten.

„Ich frag mich ja wirklich, wo du wieder mit deinen Gedanken bist, so wie du grinst!“, bemerkte meine beste Freundin und holte mich aus meinen Gedanken.

Nun musste ich lachen und ließ sie an meinen Gedanken teilhaben.

„Hör mir auf, es war schrecklich. Ich dachte ich kippe um.“, schmollte sie und Liam fing an zu lachen.

„War schon sehr aufregend! Aber jetzt ist sie ja endlich da.“, bemerkte er und bedachte die Kleine mit einem seligen Lächeln.

Apropos! Die wichtigste Frage war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen.

„Wie heißt sie überhaupt?“

Vicky und Liam tauschten ein paar Blicke miteinander aus, die mir nichts sagten. War das etwa immer noch ein Geheimnis?

Vicky seufzte und übergab das Kind seinem Vater. Schwerfällig erhob sie sich und kramte aus der Nachttischschublade eine kleine Karte hervor, die sie mir in die Hand drückte und wieder auf der Bettkante Platz nahm.

Bevor ich sie mir jedoch genau ansehen konnte, fing Vicky schon an zu sprechen: „Also, eigentlich wollten wir eine große Überraschung daraus machen, aber ich glaube, im kleinen Rahmen unter uns ist es auch okay.“

Sie machte eine kleine Pause und holte tief Luft. Nun war ich aber wirklich gespannt.

„Ian? Darf ich dir unsere kleine, bezaubernde Tochter Iana vorstellen? Sie wurde nach ihrem großartigen Patenonkel benannt, den wir hiermit feierlich in unsere Familie aufnehmen möchten! Du wirst doch ihr Patenonkel, oder?“

Mit aufgerissenen Augen und völlig geschockt starrte ich meine, bis über beide Ohren grinsenden Freunde an. Mein Herz machte einen erfreuten kleinen Hüpfer und als ich aus meiner Starre aufwachte, sprang ich auf.

„Ja!“, rief ich ein wenig zu laut aus. „Ja! Es wäre mir eine Ehre!“

Vicky erhob sich wieder und schloss mich in ihre Arme. „Wir sind so froh! Alles Gute zum Geburtstag, Süßer!“

 

Gegen 16 Uhr betrat ich mit dickem Grinsen die Bar und sog den mir allzu vertrauten, Geruch ein. Ich hatte noch eine Stunde Zeit, bevor wir heute öffnen würden und es war noch einiges zu erledigen. Obwohl dieser Ort mich jeden Tag aufs Neue an meine unglückliche Liebe erinnerte und mir jedes Mal einen kleinen Stich versetzte, liebte ich es hier zu sein. Vicky und ich hatten schon so manch feuchtfröhliche Feier für die Kundschaft geschmissen und auch der Regelbetrieb schien nicht abzureißen. Es lief zurzeit einfach wunderbar. So glücklich war ich schon seit langer Zeit nicht mehr gewesen und der Gedanke an das kleine Mädchen, welches beinahe meinen Namen trug, ließ mein Herz glücklich hüpfen. Ich knipste die dämmrige Beleuchtung an und …

Pang! Erschrocken fuhr ich zusammen und starrte in zahlreiche grinsende Gesichter, Konfetti flog durch die Luft.

„Alles gute zum Geburtstag!“, riefen alle gemeinsam und ich stand völlig geschockt da. Das Herz war mir in die Hose gerutscht und schlug wie wild.

Es nahm erst langsam einen normalen Rhythmus an, als Daniel mich in seine Arme schloss und mich fest an sich drückte.

„Happy Birthday, kleiner Bruder! Boah, dreißig Jahre! Das ist schon eine Hausnummer!“, er lachte und schien bester Laune zu sein.

„Ja, ja. Die Dreißig hast du ja schon lange hinter dir gelassen!“, neckte ich ihn und boxte leicht in seine Seite.

Kichernd ließ er mich los, als sich schon die nächste Person durchdrängelte, um mir zu gratulieren. Dominik hielt mir kollegial seine Hand entgegen, doch ich zog ihn in eine kräftige Umarmung. In den letzten Jahren war er ein verlässlicher und unabdingbarer Kollege und Freund geworden. Sogar Marc war mit seinem Freund hergekommen. Unser Verhältnis hatte sich grundlegend geändert und wir waren einfach nur normale Freunde geworden. Höflichkeitsfloskeln, zahlreiche Gratulationen und manches Schulterklopfen musste ich in der nächsten Stunde über mich ergehen lassen. Ich sah bekannte Gesichter und Neue wurden mir vorgestellt. Ein Berg an Geschenken zierte einen Tisch in der Ecke des Raumes. Es wurde angestoßen, gelacht und fröhliche Musik gespielt. Nachdem ich auch noch im Hinterhof tausende Kronkorken und abgekochte Glasscherben auffegen musste, ließ ich mich gegen 21 Uhr völlig erschöpft und ein wenig angeschwipst auf den Barhocker nieder. Ich ließ meinen Blick über die Gästeschar schweifen und musste unwillkürlich grinsen. Dass dies hier nur meinetwegen geschah, machte mich unsagbar glücklich. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, die Leute tanzten zur lauten Musik, hatten sichtlich ihren Spaß. Mein Bruder, der sonst nicht so der flippige Typ war, bewegte sich ziemlich verrückt im Takt der Musik, um seine Charlotte zu beeindrucken. Diese legte lachend den Kopf in den Nacken, zog Dan zu sich heran und küsste ihn leidenschaftlich. Auch Marc und sein Freund Alexander tanzten engumschlungen, küssten und warfen sich verliebte Blicke zu. Während ich ihnen so zusah, nahm ich noch einen Schluck von meinem Bier und spürte die aufkommende Sehnsucht. Es war schön zwei Liebende zu beobachten, wie sie sich gegenseitig ansahen, das Vertrauen, welches in jedem Blick zu spüren war. Es war nicht so, dass ich ihnen allen dieses Glück nicht gönnte, doch ein wenig wünschte ich mir dies auch.

„Magst du noch was?“ Dominik beugte sich über den Tresen und riss mich so aus meinen Gedanken.

„Was?“, fragte ich ein wenig verwirrt.

Mein Kollege schnappte sich die leere Bierflasche und schwenkte sie bedeutend hin und her. Ah, achso!

„Ja sicher!“, versuchte ich gegen die Lautstärke anzubrüllen und drehte mich auf dem Hocker zu ihm um. Schnell hatte ich ein neues Getränk vor meiner Nase stehen und nahm einen kräftigen Schluck.

„Hast du mal wieder Lust auf eine neue Runde springen?“ Dominik wackelte mit seinen Augenbrauen und sah mich grinsend an.

„Meinst du nicht, ich bin langsam zu alt dafür?“ Lachend schüttelte ich den Kopf. Dominik war verrückt wie eh und je. Das wir nach unserem kleinen intimen Moment nicht mehr Hand aneinandergelegt hatten, war gar nicht schwer gewesen. Im Gegenteil, wir gingen nach einer Weile wieder normal miteinander um, scherzten rum und unternahmen gelegentlich etwas zusammen. Soweit ich wusste, ließ Dominik sich mittlerweile auf beide Geschlechter ein, womit er jedoch nicht hausieren ging.

„Ach was. Du stehst in der Blüte deines jungen Lebens. Du brauchst diesen Kik doch genauso. Also komm schon!“

Wo er Recht hatte. Es war super und bereits nach dem ersten Mal, als er mich damals zum Bungeejumping mitgenommen hatte, hatte ich Blut geleckt.

„Na schön. Überredet!“, stimmte ich also zu. Wir plauderten noch eine Weile über Vicky, die in der nächsten Zeit ausfallen würde und ich musste unwillkürlich stolz grinsen, als ich an die kleine Maus dachte.

„Wie heißt das Kind denn jetzt? Sie sagte, es wäre ein Mädchen, oder?“ Dominik drückte meinem Bruder, der bereits völlig betrunken war, ein Bier in die Hand.

„Ja, genau! Wie geht’s denn der kleinen Familie?“, mischte sich Daniel ein und legte seinen Arm um meine Schulter.

„Denen geht’s super. Sie freuen sich, wenn sie endlich mit der Kleinen nach Hause können. Sie sind müde und erschöpft, aber da werden sie sich dran gewöhnen müssen.“, plapperte ich drauf los.

„Und wie heißt sie jetzt? Vicky hat ja so ein Geheimnis draus gemacht.“, bohrte Dan noch mal nach.

Ich strahlte jetzt noch mehr, bekam beinahe einen Krampf, so sehr kam dieses Glücksgefühl wieder hervor.

„Iana! Sie haben sie nach mir benannt und mich gefragt, ob ich ihr Patenonkel werden möchte. Ist das nicht geil?“

Daniel stieß einen spitzen Schrei aus, jubelte und verkündete allen, in einer immensen Lautstärke, die frohe Botschaft. Alle Gäste, die etwas zu trinken in der Hand hielten, prosteten mir zu, freuten sich und gingen dann ihren Beschäftigungen wieder nach. Charlotte kam hinzu und entführte, nach einer weiteren Gratulation an mich, meinen Bruder wieder zurück auf die Tanzfläche.

Als ich meinen Blick noch immer lachend von der tanzenden Menge zu Dominik umschweifen ließ, war diesem das Blut aus dem Gesicht gewichen. Er war kreidebleich und starrte mit undurchdringbarem Blick an mir vorbei. Besorgt stand ich von meinem Sitzplatz auf.

„Dominik? Ist alles okay?“ Doch er reagierte gar nicht.

Plötzlich schlangen sich von hinten zwei Arme um mich und ich fuhr erschrocken zusammen.

„Überraschung! Entschuldige, Babe. Ich hab´s nicht eher geschafft!“, wurde mir verführerisch ins Ohr gesäuselt und ein Kuss auf meine Wange gedrückt. Mariks vertrauter Geruch stieg mir in die Nase, doch so ganz konnte ich mich nicht auf ihn konzentrieren, obwohl ich mich sehr darüber freute, dass er hier war. Dominik starrte immer noch vor sich hin und schien gar nicht anwesend zu sein. Er würde doch nicht umfallen? Marik drängte sich an meine Seite, schlang einen Arm um meine Hüfte. Eine Geste, die mir mittlerweile sehr vertraut war. Er war ein wenig kleiner als ich, hatte feine Gesichtszüge und wuscheliges weißblondes Haar. Vor einem halben Jahr lernten wir uns im Internet kennen. Obwohl wir nicht zusammen waren und rein freundschaftliche Gefühle füreinander hatten, stiegen wir ab und an zusammen ins Bett. Dort harmonierten wir sehr gut miteinander, doch mehr entwickelte sich aus dieser Beziehung leider nicht.

„Ist alles okay?“ Versuchte ich noch einmal mein Glück bei Dominik und fuchtelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. Dieser schien endlich wieder zu sich zu kommen, schüttelte kurz den Kopf und richtete seinen Blick wieder auf mich.

„Äh ja, ich dachte nur…vergiss es.“ Die Farbe kehrte in seine Wangen zurück und er richtete sich wieder seiner Arbeit zu.

„Bist du sicher? Wenn du eine Pause brauchst…“

„Nein, schon gut. Ich habe mich gerade nur glaube ich verguckt.“, er schien noch immer ein bisschen verwirrt zu sein, doch ich ließ ihn. „Marik! Schön, dass du es noch geschafft hast. Was willst du trinken?“

Marik schmiegte sich noch näher an mich heran und ich legte einen Arm um seine Schulter. „Hmm. Ich glaube ich nehme deinen Spezialcocktail!“ Er zwinkerte Dominik zu und drehte sich in meinen Armen, sodass er nun direkt vor mir stand.

„Dein Geschenk darfst du später dann im persönlicheren Rahmen alleine auspacken. Happy Birthday!“, säuselte Marik mich an und presste willig seine Lippen auf meine. Auch wenn es am Anfang ziemlich komisch für mich war, jemanden zu küssen, obwohl man keine tiefgründigeren Gefühle für denjenigen hatte, war ich nun umso glücklicher, dass dieser junge Mann an meiner Seite war. Er gab mir wenigstens ein bisschen das Gefühl zu jemandem zu gehören. Seine Andeutung bezüglich des Geschenks konnte ich mir schon ausmalen und küsste den Mann, der drei Jahre jünger war als ich, leidenschaftlich zurück. Dies würde dann wohl der Höhepunkt dieses Geburtstages werden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als wir uns wieder voneinander lösten, wackelte ich mit den Augenbrauen und grinste Marik an. Um ihm zu verstehen zu geben, dass ich sehr wohl verstanden hatte, rieb ich mein Becken an seinem.

„Ich freu mich schon…“, flüsterte ich in sein Ohr und bemerkte wohlwollend die Gänsehaut, die sich auf seinen Armen bildete. In seinem Schritt konnte ich die leichte Auswölbung wahrnehmen und am liebsten hätte ich ihn sofort zu mir nach Hause geschleift. Marik drückte mir noch einen Kuss auf die Lippen und seufzte dann leicht theatralisch los.

„Oh Ian. Wenn doch alle so wären wie du! Versteh mich nicht falsch, du bist ein heißer Feger und mit ein bisschen mehr Herzgefühl würdest du mich nie wieder los werden, aber…“, hilflos brach er ab und nahm sich seinen Cocktail, der bereits vor ihm auf der Theke stand.

„Oh. Geht’s wieder um den Kerl im Büro?“, fragte ich interessiert nach.

Marik arbeitete in der Stadtsparkasse in der Nähe. Er hatte mir vor ein paar Wochen schon erzählt, dass dort ein neuer Kerl angefangen hätte, dem sein Herz wohl einfach so zugeflogen ist. Ich freute mich wirklich für ihn und ich wäre der Letzte, der ihm im Weg stehen würde. Ein wenig fehlen würden mir unsere gemeinsamen Stunden schon, aber wenn aus den Beiden tatsächlich was werden sollte, wären wir nur einfache Freunde.

„Ich sag´s dir. Heute hab´ ich ihm vor lauter Nervosität Kaffee auf den teuren Anzug gekippt. Er war natürlich stink sauer, aber als ich ihm in der Küche wohl etwas zu nah auf die Pelle gerückt bin, naja “ Er brach ab und grinste dümmlich vor sich hin.

Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und hakte weiter nach: „Na los, raus mit der Sprache!“

„Na gut, na gut. Also ich hab´ dann versucht wie ein Bekloppter diesen Kaffeefleck aus seinem Hemd zu rubbeln. Hat er nicht so gut gefunden. Er hat versucht mich abzuwehren, aber ich war so nervös das ich das gar nicht so richtig geschnallt hab. Ein kleines Gerangel, hin und her, dann waren wir uns plötzlich so nahe. Ich konnte einfach nicht anders. Du weißt ja wie ich bin. Jedenfalls hab´ ich ihn dann einfach geküsst.“ Verträumt strich Marik sich über die Lippen, von denen auch ich gerade noch kosten durfte. Bei mir allerdings zog er nicht so ein unglaublich niedliches Gesicht.

„Na und dann?“ Wenn er nicht gleich weitererzählen würde, dann müsste ich es wohl höchst persönlich aus ihm herausschütteln. Marik stieß mir leicht in die Seite, zog mich dann aber am Kragen zu sich heran. Unser Atem streifte jeweils das Gesicht des Anderen und Marik lächelte zufrieden. „Du willst es wohl ganz genau wissen, hm? Wir waren uns so nahe, alles in meinem Inneren kribbelte wie verrückt, als er dann seine Augen geschlossen hat, hab´ ich ihn geküsst und…“ Eine bedeutende Pause entstand, ich konnte die Spannung förmlich greifen und hielt unwillkürlich und ohne es zu wissen den Atem an. „Dann…ach Ian!“ Verzweifelt brach er ab und fiel mir in die Arme. „Ich hab´ erst geglaubt er küsst zurück. Jedenfalls hat er keine Anstalten gemacht sich zurückzuziehen, aber dann kam jemand. Er hat´s wohl rechtzeitig gehört und mich weggestoßen. Dann ist er abgehauen.“

Ich legte meine Arme um seinen schlanken Körper und versuchte meinem Freund ein bisschen Trost zu schenken. Schöner Mist. Ich konnte sehr gut nachempfinden, wie ihm zumute war. Oft genug in den ersten zwei Jahren hatte ich mit Christophers Abgang zu kämpfen gehabt. Nicht zu wissen wo er steckte, warum genau er überhaupt abgehauen war, hatte mir an manchen Tagen den Boden unter den Füßen weggezogen. Teilweise war ich in ein so tiefes Loch gefallen, dass ich von alleine nicht wieder herausgefunden habe. Nur meinem Bruder, Vicky und Liam war es zu verdanken, dass ich meinen Hintern hochbekam und endlich anfing, ihn zu vergessen. So ganz war mir dies nie gelungen, doch der Schmerz pochte nicht mehr so nah an der Oberfläche. Und heute war ich ein ganz anderer Mensch. Langsam löste ich mich von Marik, gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange und zog ihn an der Hand mit mir auf die Tanzfläche. Heute würde ich ihm ein bisschen von seinem Schmerz nehmen können, doch er musste diesem Kerl reinen Wein einschenken. Sonst würde Marik sich selbst nur kaputt machen.

Der Abend verging wie im Fluge und auch ich feierte ausgelassen mit meinen Leuten auf der Tanzfläche, genehmigte mir mehr Alkohol als üblich. Gegen Ende wurde nur noch ruhige Musik gespielt und ich konnte schon seit einer Weile nicht die Finger von diesem frechen Kerl lassen, der mich ständig umgarnte. Es schien als würden wir uns gegenseitigen Trost spenden wollen. Als ich kurzfristig meinen Blick umherschweifen ließ, denn in Gedanken war ich bereits mit Marik ganz woanders, stellte ich fest, dass fast alle Leute bereits gegangen waren. Marc und Alexander waren bestimmt vor gut einer Stunde schon mit meinen Hausschlüsseln abgehauen und ich hoffte inständig, dass sie diesen auch in die Zeitungsrolle gelegt hatten. In dieser Nacht würden sie mein Gästezimmer beziehen, doch das war in Ordnung für mich.

Nur noch Dominik war da, der bereits das Chaos beseitigte. Charlotte, die die Sachen meines Bruders zusammensuchte und eine Bekannte vom Sport mit ihrem Freund.

„Lass uns gehen. Ich habe so richtig Lust mein Geschenk auszupacken…“, bereits völlig erregt rieb ich meinen Schritt an dem von Marik, griff ihm mit der einen Hand in den Nacken, um ihn zu einem Kuss heranzuziehen, mit der anderen fuhr ich unter sein T-Shirt und berührte die feine Haut. Marik fühlte sich so ganz anders an als Christopher oder Marc. Seine Haut war weich, seine Figur sehr grazil und in keinster Weise muskulös. In dieser Konstellation war ich der führende Part und auch wenn es am Anfang merkwürdig war, so fand ich schnell gefallen an der aktiven Rolle.

Marik ließ sich nicht zweimal auffordern und zog mich schwankend hinter sich her. Auch mir wackelten ein bisschen die Beine vom Alkohol und ich hoffte, dass wir auch heile bei mir zu Hause ankommen würden.

„Kommst du klar, Charlotte?“, rief ich meiner Schwägerin in Spe noch zu und erhielt ein Nicken. Zwinkerte sie sogar? Ich konnte es gar nicht richtig wahrnehmen, denn Marik schmiegte sich wieder eng an mich, küsste mich leidenschaftlich und zog mich während unserer wilden Knutscherei bereits vor die Tür. Draußen strömte uns warme, sommerliche Luft entgegen und ich musste lachen, als wir beinahe wie zwei aneinandergeklebte Körper nach draußen stolperten. Als die Tür sich hinter uns schloss, drückte ich meinen Freund an die Hauswand, streifte die leicht freigelegte Haut an der Hüfte mit meinen Fingern. Fordernd schob ich dem blonden Engel vor mir die Zunge in den Mund, Marik kam mir mit seiner freudig entgegen. Unsere Ständer rieben sich durch den dicken Jeansstoff aneinander und mir entwich ein leichtes Stöhnen, als Marik seine Hände auf meinen Hintern legte und mich noch näher an ihn heranzog. In diesem Moment gab es nur ihn und mich, doch wenn ich ihn nicht gleich hier auf der Straße flachlegen wollte, sollten wir wohl dringend nach Hause.

„Scheiße, wir müssen noch ein Taxi rufen…“, kicherte ich zwischen unseren Küssen und fühlte mich völlig benebelt. In meinem Kopf drehte sich alles und ich konnte mit dem Kichern gar nicht wieder aufhören. Marik schien es ähnlich zu gehen, schob mich ein wenig von sich weg.

„Dann mach endlich! Sonst komme ich gleich hier auf der Stelle…“ Marik kratzte durch den Stoff meines Shirts über meine Brustwarze und ich keuchte auf. Verdammt, er wusste genau wie empfindlich ich dort war. Mit nervösen Händen fummelte ich das Handy aus meiner Hosentasche, versuchte es umständlich zu entsperren. Als ich es endlich geschafft hatte, verschwammen die Zahlen auf dem Display und ich musste noch mehr albern Lachen.

„Fuck!“ Marik nahm mir das Telefon aus der Hand, schien jedoch genau die gleichen Probleme wie ich zu haben.

 

Plötzlich konnte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehmen. Ich richtete meinen Blick auf die Silhouette, die sich uns langsam näherte, konnte jedoch aufgrund des Alkoholpegels und der Dunkelheit nicht viel erkennen. Mein Herz fing laut an zu wummern, denn irgendwie überkam mich ein ungutes Gefühl. Hoffentlich hatten wir es hier nicht mit einem homophoben Arschloch zu tun. Automatisch presste ich meinen Körper noch enger an Marik, um ihm ein bisschen mehr Schutz zu bieten. Sollte die Situation eskalieren, musste ich ihn einfach beschützen. Marik hob verwundert seinen Kopf und folgte meinem Blick.

„Hallo Ian!“, vibrierte mir die Stimme entgegen, von der ich glaubte, sie nie wieder zu hören.

Das Herz in meiner Brust schien einen Moment still zu stehen und mein ganzer Körper spannte sich an. Verfluchte Scheiße! Den Alkohol sollte ich in Zukunft wohl besser dosieren.

 

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Bildmaterialien: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2019

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine beiden Jungs, die nie den Glauben an sich selbst verlieren sollten! Möget ihr wachsen und euren Platz im Leben finden! Ich liebe Euch

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