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Genau

eine Sekunde bevor das Telefon klingelte und bevor sie überhaupt wach wurde, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf: Heute ist der Tag an dem du einfach liegen bleiben musst und nicht ans Telefon gehen darfst!
Mit noch geschlossenen Augen lag sie quer und allein in dem großen Doppelbett.
Die schweren, dunklen Vorhänge hatte sie absichtlich ganz zugezogen um so wenig wie möglich Licht ins Zimmer zu lassen und da diese ihr Bestes gaben und lediglich einen schmalen hellen Lichtstreifen an der Wand neben dem Fenster erlaubten, erschrak sie fast ein wenig, als sie endlich die Augen aufschlug und in eine fast absolute Dunkelheit starrte.
Es war ihr unmöglich abzuschätzen wie spät es war.

Nun war es dieses unheilvolle erste Klingeln!, welches sie vollends aus dem Schlaf riss und drohte ihr Leben weiter aus der Bahn zu werfen.
Genau vor einem Jahr hatte auch das Telefon geklingelt und im Jahr zuvor auch. Beide Male war es noch finsterste Nacht gewesen, letztes Jahr war es genau 4.12 Uhr, das Jahr davor kurz vor drei.
Letztes Jahr hatte sie sich dann geschworen, nie wieder an einem 6. Juni ans Telefon zu gehen.
Was ihr zeitgleich mit dem ersten Augenaufschlag bewusst wurde, war, dass sie gestern Abend und bis in die Nacht hinein, mal wieder zuviel getrunken, geraucht und definitiv zu wenig geschlafen hatte.
Doch die dumpfen, pulsierenden Schmerzen in ihrem Kopf waren ein vertrautes Gefühl.
Dennoch würde sie nicht so weit gehen, zu sagen, sie hätte ein Alkoholproblem, so wie es ihre Therapeutin behauptet. Diese blöde Kuh! Hält sich für besonders schlau. Was weiß diese arrogante Tussi schon vom richtigen Leben? Nichts!
Aber solange diese überhebliche Ziege die einzige in der Gegend war und alle paar Wochen das richtige Rezept ausstellte, musste sie halt in den sauren Apfel beißen und bei ihr zu Kreuze kriechen. Was für ein Segen diese Pillen! Besser als jede Flasche billiger Schnaps!
Ein Pille zwei Stunden vor dem Schlafen gehen und die nächste direkt nach dem Aufstehen, und schon war die Welt halbwegs erträglich.
Doch die Spirale drehte sich weiter und wenn sie jetzt ans Telefon gehen würde, würde sie dies noch viel schneller tun und sie mit hinunterreißen in eine ausweglose Tiefe aus der sie auch keine Pillen und erst recht keine noch so tolle Therapie wieder raufholen konnten!
Vor drei Tagen hatte sie morgens mit zitternden Fingern die letzte Pille aus dem Fläschchen geschüttelt, nachdem sie schweißgebadet aus einem Albtraum erwacht war.
Keine 12 Stunden später hatte das Chaos in ihrem Kopf ein bedrohliches Maß angenommen und den Weg bereitet für weitere Nächte im Alkoholrausch. Wie so oft.
Nein! Sie würde heute ganz bestimmt nicht den Hörer abnehmen.
Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie vergessen hatte den Stecker aus der Dose zu ziehen.
Das zweite Klingeln!
An ihr Handy hatte sie gedacht. Sie hatte es abgeschaltet, nachdem sie gegen halb zwei ziemlich betrunken vor ihrer Haustür aus dem Taxi stieg und nachdem sie ihre Freundin angerufen hatte, von der sie sich vor knapp zwanzig Minuten vor der Palm-Beach-Cocktailbar verabschiedet hatte, um Bescheid
zu sagen, dass sie gut angekommen sei. Dann ein letzter Blick aufs Display, bei dem ihr plötzlich bewusst wurde, dass es ja bereits der 6. Juni war, denn es war ja weit nach ein Uhr! Dann drückte sie den Daumen so lange auf die Taste mit dem roten Hörer, bis sich das Gerät mit einem letzten Vibrieren abschaltete.
Drittes Klingeln! Nein! Nicht aufstehen!
Das wollte sie am letzten 6. Juni auch schon nicht, als das Telefon sie um 4.12 Uhr erbarmungslos aus dem Schlaf riss. Dennoch machte sie sich damals mit weichen Knien aber keinesfalls mehr schlaftrunken sondern plötzlich hellwach, auf den Weg ins Wohnzimmer.
Sie nahm den Hörer nach dem dritten Klingeln von der Station, als an dieser gerade eine grün leuchtende “1” von einer “2” ersetzt wurde. 4.12 Uhr. Und in diesem Moment wusste sie, dass es ein Fehler war.
Am anderen Ende der Leitung, welches sich ungefähr 400 Kilometer entfernt in dem Haus befand, in dem sie als Kind aufgewachsen war, war ihrer Mutter.
Wie im Jahr zuvor!
Tränenerstickt.
Wie im Jahr zuvor!
Es gab einen Unfall.
Wie im Jahr zuvor!
Nein!
Ihr Bruder.
Ein Autounfall an einem Bahnübergang, dessen Schranken und Signallampen nicht funktionierten, als er sich mit seinem schwarzen Caprice Classic und ein heranrasender Güterzug ihm näherten.
Er hatte keine Chance. Im Moment des schrecklichen Zusammenpralls war er sofort tot.
Mit nicht einmal siebenundzwanzig Jahren.
Das vierte Klingeln! Damals dachte sie, das gibt es doch gar nicht! Warum? Warum er? und warum heute?
Seit diesem letzten 6. Juni vor einem Jahr, stand für sie fest: nie wieder, niemals wieder gehst du an einem 6. Juni ans Telefon!
Als das Jahr zuvor das Telefon an einem solchen um kurz vor drei Uhr klingelte, war auch ihre Mutter dran.
Bereits dieser erste schreckliche Anruf vor zwei Jahren, warf sie komplett aus der Bahn.
Damals erklärte ihre Mutter ihr mit leiser, zitternder Stimme, dass ihr Vater tot sei.
Ein Unfall auf der Arbeit, im Hafen.
Ein nicht ausreichend gesicherter Eisenträger, der verladen werden sollte, stürzte vom Kranhaken in die Tiefe und begrub ihren Vater unter sich. Der Notarzt konnte nichts mehr für ihn tun, hieß es.
Ihre Mutter sagte damals, dass sie versucht hatte, ihren Vater davon abzuhalten auf Arbeit zu gehen, denn er hatte leichtes Fieber und fühlte sich augenscheinlich nicht gut. Aber das hält ja einen knapp 60 jährigen Hafenarbeiter nicht davon ab zur Nachtschicht zu gehen.
Du kennst ihn ja, sagte ihre Mutter unter Tränen.
Zwei Tage später veröffentlichte die Betriebsaufsicht, die den Unfall untersuchte, einen abschließenden Bericht.
Daraus ging hervor, dass mehreren Kollegen ihres Vaters aufgefallen sei, dass es ihm nicht gut ging und ihm nahe gelegt wurde, nach Hause zu fahren und am nächsten Tag zum Arzt zu gehen. Ihr Vater weigerte sich aber strikt und erklärte, er mache seine Schicht zu Ende und werde nicht wegen einer lächerlichen Erkältung nach Hause fahren.
Weiterhin hieß es in diesem Bericht, dass ihr Vater selbst für die Sicherung des Eisenträgers verantwortlich war, der ihn eine Minute später erschlug.
Das fünfte Klingeln! Ein sechstes würde es nicht geben!, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf: Der Anrufbeantworter würde vorher anspringen!
Was nun? Doch noch versuchen ins Wohnzimmer zu rennen und sämtliche Stecker aus der Telefondose zu reißen? Es schien die letzte Möglichkeit zu sein, auf diese Weise zu verhindern, dass neues Unheil sie treffen und ihre geplagte Seele endgültig zerschmettern würde.
Plötzlich klammerte sie sich an die Hoffnung, dass das was jetzt unausgesprochen blieb, nicht schreckliche Wahrheit werden würde.
Sie wusste, dass es knapp werden würde, denn die Telefondose befand sich im Wohnzimmer, das ihr plötzlich so weit entfernt erschien wie einem erschöpften Schwimmer das rettende Ufer. Der Zugang wurde zusätzlich durch eine Kommode erschwert, die sicher so schwer war wie das Gewicht, welches seit zwei Jahren auf ihrer Seele lastete und sie erdrückte.
Für den Bruchteil einer Sekunde, kamen ihr Zweifel, ob der Plan gelingen würde und sie so ihrem Schicksal entkommen konnte oder ob der Fluch, der auf diesem Tag lastete, sie unweigerlich einholen würde.
Sie stürzte aus dem Bett. In letzter Verzweiflung würde sie versuchen, die Dose zu erreichen und die Stecker heraus zu reißen um so der bitteren und schmerzlichen Wahrheit einer neuen schrecklichen Botschaft zu entfliehen.
Blind stürzte sie aus dem Dunkel ihres Schlafzimmers durch die Dämmerung des Flurs ins grell von der Sonne erhellte Wohnzimmer.
Als sie neben der Kommode auf die Knie fällt und mit einer Hand versucht dahinter zu fassen um an die Stecker zu kommen, hörte sie den Piepton des Anrufbeantworters.
Zu spät!
Dann eine Sekunde unerträglicher Stille. Sie hielt inne, kniete neben der Kommode, die linke Hand immer noch dahinter, die rechte auf dem Boden, die Stirn gegen die kalte Wand gelehnt, die Augen geschlossen, den Atem angehalten.
Dann die Stimme ihrer Mutter!
Nein!
Nicht schon wieder!
“Hallo mein Schatz. Hier ist deine Mutter. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!”


Impressum

Texte: Das Copyright bleibt uneingeschränkt beim Autor.
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte meinem inneren Schweinehund...Pech gehabt, mein Lieber!

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