Die Sonne ging unter.
Jede Sekunde ein kleines Stückchen mehr, mit jedem Atemzug, den ich machte, verschwand sie weiter. Die Schatten im Zimmer wurden länger und unheimlicher, sie wirkten jetzt schon bedrohlicher als noch Sekunden zuvor. Sie ersetzten die Helligkeit; die Dunkelheit, das Unheimliche, ersetzte die Sonne, die mich unbarmherzig zurück ließ, ohne Rücksicht darauf, dass ich sie brauchte.
Sie sollte nicht gehen; ich wollte sie weiter am Himmel haben, immer bei mir, wohin ich auch ging; sie spendete mir Trost.
Wenn es Tag war, wenn die Sonne mich anlachte, ging es mir gut, dann konnte ich vergessen. Ich hatte das Gefühl, als würde sie mein Leben ein Stück weit erleuchten, mir die Angst nehmen. Ich begann nachgerade, den Tag zu lieben, zu vergöttern, während ich Angst davor bekam, dass er endete.
Denn die Nacht brachte mir keinen Trost; sie gab mir nur Panik, das Gefühl, allein zu sein, sie überschüttete mich mit Schuldgefühlen.
In der Nacht war es immer so kalt, dunkel und trostlos. Wo, bitte, sollte da auch nur der kleinste Funken Hoffnung herkommen?
Von der Stille hier im Dorf oder den Banden in der Stadt? Von den Betrunkenen, die jede Frau bedrängten, die ihren Weg kreuzte? Oder etwa von den Krankenwagen, von denen stets mindestens drei unterwegs waren?
Nein, sicher nicht. Von denen kam nichts, sie gaben mir nichts. Ich hatte keine Hoffnung mehr. Nicht in der Nacht. .
Doch eben diese rückte langsam immer näher, sie war wie ein Mörder, der langsam auf mich zu kam, ein Messer hoch erhoben. Drohend, grinsend, wohl wissend, dass ich Angst hatte, ihm ausweichen wollte, aber ich konnte nicht, er hatte mich in die Ecke gedrängt, ließ mir keinen Ausweg.
Mit jedem Herzschlag, jedem Atemzug, jeder verstreichenden Sekunde, kam er einen Schritt näher, und ich fürchtete den Augenblick, da er mich erreicht hatte und von dem ich wusste, dass er dennoch unweigerlich kommen würde.
Mörder. Ja, doch, das traf es am besten. Sie bringt mich um, die Nacht. Innerlich. Die Dunkelheit zerstört mich Stück für Stück, nimmt mir meine Träume, beendet mein Leben für kurze Zeit und lässt mir keine Möglichkeit mehr, zu vergessen. Sie macht mich kaputt, und das alles nur wegen der Erinnerung, diesem einen Moment, während dem ich unachtsam war.
Jede Nacht denke ich daran, immer und immer wieder laufen die Bilder vor mir ab, die ich nicht vergessen sollte und von denen ich mir doch immer wieder wünschte, sie würden endlich meinen Kopf verlassen; doch wenn sie gingen, dann nur für kurze Zeit, nur, solange es hell und warm war und ich etwas zu tun hatte.
Aber immer kamen sie wieder, ohne Rücksicht auf mich.
Es war die Nacht gewesen, in der ich mit ihr auf eine Party ging. Sie hatte nicht gehen wollen, sie hasste Partys, ebenso wie sie Alkohol und moderne Musik verabscheute; sie las lieber ein gutes Buch. So war sie schon immer gewesen, schon als Kinder, als wir gemeinsam die Grundschule besuchten, das wusste ich, kannte ich sie doch gut. Besser als mich selbst, behauptete ich sogar anderen Freunden gegenüber.
Und dann hatte ich sie überredet, mich zu begleiten. Gezwungen, konnte man schon fast sagen, gezwungen, weil sie meine beste Freundin war. Ich wollte sie dabei haben, an meiner Seite, wollte ihr nicht wieder nur erzählen, was passiert war, sondern mit ihr etwas erleben.
Sie hatte sich gewehrt, natürlich, und da hätte ich sie lassen sollen, aber ich hatte sie angeschrien, sie wäre eine Langweilerin, wüsste nicht, was es heißt, das Leben zu leben, sie hätte keinerlei Ahnung, was wirklich Spaß machte. Es war der Frust der vergangenen Jahre, den sie abbekam, die Wut darüber, dass sie nie mitkam, die Trauer, dass sie nicht einmal meine Gesellschaft als Grund nahm, die ein oder andere Feier zu besuchen.
Jedoch hatte sie nicht mit der Wimper gezuckt, bis ich fertig war und außer Atem gegen den Küchenschrank sank, und dann beschwichtigend gesagt: "Okay. Wenn du willst, können wir gehen. Mal schauen, vielleicht wird es gar nicht so schlimm."
Ich merkte sofort, dass sie log, ich wusste, dass sie alles lieber gemacht hätte, als mit mir zu dieser Party zu gehen, die für mich das Highlight des Jahres war, für sie jedoch einfach nur unnötig. Sie sagte nur zu, mich zu begleiten, um mir eine Freude zu machen, und wäre ich wirklich ihre beste Freundin, würde ich sie wirklich besser kennen als alles andere auf der Welt, hätte ich gesagt, dass es okay ist, dass sie nicht mit mir kommen muss, wenn sie nicht will.
Natürlich habe ich es nicht getan. Egoistisch, wie ich war, habe ich gesagt, dass es mich freute, dass es ihr sicher Spaß machen würde; dabei wusste ich doch ganz genau, dass sie dort niemals Spaß haben würde, es war eben nicht ihre Welt.
Aber so waren wir gegangen. Sie hatte sich nichts mehr anmerken lassen, trank den Alkohol, den ich ihr gab und tanzte mit mir, wenn ich das wollte. Sie hatte allen Widerstand aufgegeben, tat alles, um sich den Leuten um sie herum anzupassen, um mir einen Gefallen zu tun, doch es gefiel ihr nicht auf der Party.
In jedem Moment, in dem sie sich unbeobachtet fühlte, füllte Abneigung ihr Gesicht, und schließlich ließ sogar ich es zu, Mitleid mit ihr zu empfinden. Sie hatte gegeben, was sie konnte, jetzt war ich an der Reihe, wenigstens einmal.
Wir gingen also früher, als ich ursprünglich geplant hatte, aber ich konnte ihre Haltung nicht mehr mit ansehen. Es war offensichtlich, wie sehr sie sich quälte.
Dennoch war es für meine Verhältnisse zu früh, schon nach Hause zu gehen. Für meine Verhältnisse, nicht für ihre. Sie wäre nach vermutlich am liebsten ins Bett gegangen und hätte geschlafen, aber ich nicht.
Ob wir wenigsten noch eine Pizza essen gingen, fragte ich sie schließlich trotzdem, und wieder nickte sie aus Höflichkeit; sie hasste Fastfood, das wusste ich genau. Sie liebte frisches Essen, frisches Gemüse, kochte selbst leidenschaftlich gern, aber sie verabscheute Restaurants, in denen alles schmeckte, als sei es gerade erst aufgetaut worden. Nur ich musste sie überreden, mit mir zu kommen.
Es war dunkel gewesen, als ich den Weg über die Hügel zur Stadt einschlug.
Hier, in unserem Dorf, gab es keine Pizzeria, wir mussten zum Nachbarort laufen, in die Stadt, die sie auch nicht mochte. 'Stadt' war für sie der Inbegriff von Party, Alkohol und Fastfood, also gar nicht ihre Welt.
Sie beschwerte sich aber nicht, folgte mir, obwohl ich selbst die Orientierung schon längst verloren hatte. Ich war schon lange nicht mehr hier her gelaufen, normalerweise suchte ich mir eine Mitfahrgelegenheit, wenn ich in der Nacht noch in die Innenstadt gehen wollte.
Die Hügel sahen alle gleich aus, nur Wiese, keine Wege oder Straßen. Ich ging einfach querfeldein, nur um dann irgendwann nach links abzubiegen, als wüsste ich genau, wohin ich mich wenden müsste.
Und dann sahen wir das Licht. Es gehörte zu einem Auto, welches durch die Landschaft raste; direkt dahinter tauchte ein zweites auf, dann ein drittes, ein viertes, und schließlich fuhren ungefähr zehn Autos auf uns zu.
Ich stotterte leicht, als ich fragte, was das zu bedeuten habe.
"Hier fahren einige Jugendlich am Wochenende Rennen. Mein Neffe hat es mir erzählt", sagte sie sachlich. Sie bliebt ruhig, so, als wäre nichts dabei, hier zu stehen, während einige Wagen wild in unsere Richtung fuhren.
Warum hatte sie das nicht vorher erwähnt, fragte ich mich unwillkürlich, hätte ich dann doch niemals diesen Weg eingeschlagen. Zwar waren die Hügel flächenmäßig gut verteilt, doch viele Ausweichmöglichkeiten gab es nicht, wenn man einmal auf den Weg Richtung Tal war.
Uns blieb nur das Rennen, denn die Fahrer waren mit Sicherheit so jung, dass sie noch nicht mal alleine einen Wagen steuern konnten, und ich wusste, dass sich die Jungen früher, als wir noch die Schule besuchten, oftmals Mut antranken, bevor sie fuhren; dementsprechend würde uns niemand von ihnen auch nur im Geringsten sehen, beziehungsweise bewusst wahrnehmen.
Wir mussten weg, so schnell es ging mussten wir irgendwie zurück, aus der Bahn hier raus.
"Lauf!", schrie ich panisch, als die Lichter sich in gefühlter Lichtgeschwindigkeit näherten, und sie stürmte sofort los, so, als hätte sie nur auf mein Kommando gewartet. Der Abend schien unter meinem Kommando zu stehen, sie tat, was ich wollte und wann ich wollte. Also rannte sie, als ich rief.
Es ging alles so schnell. Sie lief, das Auto kam näher, ich wich ebenfalls aus und lief in die entgegengesetzte Richtung.
Dann fühlte ich plötzlich den Stoß. Sie war gegen mich gesprungen, hatte mich zur Seite gestoßen, stürzte und blieb kurz liegen, es war klar, warum, ich hatte deutlich das Knacken in ihrem Fuß gehört, als sie wieder auf dem Boden aufkam.
Sie hatte vorher gesehen, was ich nicht bemerkt hatte: Auch aus der Richtung, in die ich hatte laufen wollen, war ein Auto gekommen.
Ich schrie laut auf, als es auf sie zufuhr, riss an ihrem Arm, doch ich konnte sie nicht bewegen, ich war nämlich beim Fallen auf meinem Arm gelandet. Mit einer Hand alleine konnte ich sie nicht hochziehen.
Ich rief, sie sollte krabbeln, sie sollte mir helfen, dass wir beide aus dem Weg gehen konnten, aber es war zu spät.
Sie hatte dort gelegen, wo ich gestanden hatte, vor Schmerzen nicht mehr fähig, sich zu bewegen. Sekundenlang starrte ich sie an, schrie nicht mehr, weinte nicht, sagte nichts. dann rannte ich. Rannte, als ob mich jemand verfolgen würde, immer und immer weiter, schneller als je zuvor, und blieb erst stehen, als ich in meiner hell erleuchteten Wohnung stand. Dann rief ich den Notruf.
Mittlerweile sah man nur noch einige letzte Strahlen hinter den Bäumen.
Das Einatmen tat mir weh. Die Sonne sank. Ich hatte das Gefühl, das Ausatmen würde mich umbringen. Sie sank weiter, ohne Erbarmen.
Ich hielt den Atmen kurz an, sog dann so viel Luft wie möglich ein und fühlte mich, als würde ich zerplatzen vor Schmerzen. Dann war die Sonne verschwunden und die Dunkelheit hatte das Dorf komplett ergriffen. Genauso wie mich auch, ich gehörte ihr, war schutzlos ausgeliefert. Zitternd sank ich auf den Boden, sah das, was ich jede Nacht sah, das was ich niemals werde vergessen können und was mir die meiste Angst bereitete.
Ich sah sie vor mir, das Gesicht und der Körper blutig, wie ich sie zuletzt wahrgenommen hatte, und sie starrte mich mit ihren großen, schönen, blutigen Augen an.
"Hättest du mich damals nicht überredet. Hättest du mich niemals mitgenommen. Wärst du wenigstens einfach in meine Richtung gerannt, so, dass ich dich nicht hätte retten müssen. Dann wäre ich noch da. Eine schöne beste Freundin bist du gewesen. Die schlechteste dieser Welt. Du bist Schuld an meinem Tod, du ganz allein."
Und ich wusste genau, dass dieses Bild solange bleiben würde, bis die Sonne wieder hinter den Bergen aufging und ich zur Arbeit gehen konnte.Ich würde nicht schlafen, höchstens eine Stunde lang mit Unterbrechungen, wie immer, konnte ich die Augen keine Minute lang schließen, ohne schweißgebadet wieder aufzuwachen.
Irgendwann wurde ich dann regelmäßig von der Müdigkeit übermannt, döste ein wenig, doch sie verfolgte mich auch in meinen Träumen. Manchmal redete sie, machte mir Vorwürfe oder sah mich einfach nur an, doch sie schrie nie. Das hätte alles besser gemacht, aber sie tat es nicht. Es war nicht ihre Art.
Auch, wenn sie von der Sonne vertrieben wurde, wusste ich, sie würde immer wiederkommen. Jede Nacht würde sie dasitzen, nur hielt ich das nicht mehr aus. Ich hatte es jetzt fast neun Monate lang durchgehalten, hatte gehofft und gebetet, dass sie eine Nacht lang nicht erscheinen würde, aber mittlerweile wusste ich, dass es nie ein Ende haben würde. Es war schon so lange her, und doch war die Erinnerung jede Nacht wieder so lebendig, als wäre gerade mal ein Tag vergangen.
Ich wollte das doch nicht, wollte mich nicht von innen auffressen lassen. Tränen überströmten meine Wangen, als sie mir vorwarf, ich hätte sie nie gekannt, und fasste dann endlich meinen Entschluss.
"Die Welt wäre besser dran gewesen, wenn das Auto dich erwischt hätte", sagte sie gerade. Sie sagte es immer wieder zu mir, immer in dem ruhigen, sachlichen Ton, in dem sie mir auch von den Autorennen berichtet hatte, und jede Nacht hatte ich versucht, nicht hinzuhören, zu sagen, dass das alles nicht wahr wäre, was sie mir vorwirft, aber heute nicht. Ich wusste jetzt, dass es sowieso niemals aufhören würde, egal, wie oft ich auch widersprechen würde.
"Ja, das wäre sie tatsächlich", antwortete ich ihr also ebenso sachlich, dann stand ich kurzerhand auf und ging.
Ich betrat zum ersten Mal seit Monaten wieder nachts die Straße, doch es war gar nicht so schwer, wie ich erwartet hatte. Sie begleitete mich, schweigend diesmal, sie wusste genau, welchen Weg ich gehen wollte.
Wie ein Geist folgte ich ihr durch unser Dorf; wir wussten ganz genau, wo wir hingehen würden:
Heute war Wochenende, und ich wusste, dass auf den Hügeln wieder Rennen stattfanden...
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine beste Freundin. Einfach deshalb, weil sie Schreiben und Zeichnen genauso sehr liebt wie ich und sie einfach die Beste ist.