Guidopensionärszeit heisst Reisezeit. So ist es abgemacht. Jetzt da man Zeit hat. Das hat sie durchgesetzt.
Und die Taten zu diesen Worten stehen jetzt schwitzend und überfordert unter der Saharasonne und giessen sich die Plastikwasserflaschen literweise die Kehle hinunter, die dicken Beine übersäuert, das Hirn genervt, das schweissdurchtränkte Kopftuch mit den mitteleuropäischen Gartenblumen darauf quer übers Gesicht verrutscht.
Dass sie aber auch ausgerechnet mit einer Klimaschockdestination starten müssen. Und ohne jede Negerstaatenerfahrung gleich mitten hinein in die brennende Wüste. Sie hätte Guido bei der Wahl des ersten Reiseziels nicht so vorpreschen lassen sollen. Der mit seinem ewigen gedankenlosen Übereifer des etwas-ganz-neues-Ausprobierens. Einfach mal gedankenlos auf die Weltkarte draufgepfeffert mit dem geistigen Dartpfeil. Und dann tut er noch gerade so, als ob das hier alles der totale Hit sei, während ihr nebenan die Füsse stinken und sämtliche Poren nässen. Stundenlang durch den Sand stapfen, Felsen, knöchriges Gestrüpp und sich Geschichtsunterricht vom Stamm Kalamalasa, Tualek und Halligalli anhören, darauf kann sie eigentlich gerne verzichten. Gott im Himmel, ein wenig Safari, vielleicht mal ein Dorf besichtigen, bunte Schals und Holztierchen auf Märkten kaufen und abends auf einer Veranda bei Rotwein den Steppengeräuschen lauschen, so hatte sie sich ihr Afrika eigentlich vorgestellt. Und nicht sowas hier. Ruhestand mit Urlaub. Und nicht ruhe- und rastloses auf-der-Erde-Herumgewandle wie verzweifelte Pilger.
Guido muss wieder einmal alles ganz genau wissen. Privatgeschichtsunterricht von unserem Negerführer, während ihr das sich-Vorwärts-schleppen schon genug Aufmerksamkeit abfordert. Wer, wo, wieso und warum. Der wieder. Was spielt das jetzt für eine Rolle?! Mit seinem komischen Guidoenglisch versteht ihn der andere sowieso nicht. Und Guido diesen wahrscheinlich noch weniger. Und das Ganze dann noch mit seiner lauten Guidostimme, damit auch jeder in der Gruppe jedes einzelne Wort mitbekommt und sie vom bleiernen Schleier des Fremdschämens noch etwas tiefer in den Sand hinuntergedrückt wird.
Als Guido irgendwie in Erfahrung gebracht hat, dass Mali Nilpferd bedeutet, hat er zu ihr gemeint, dass sie ja wunderbar hier her passe und dazu selber wie ein Nilpferd prustend gelacht. Einen Idioten schimpft sie ihn im Geiste.
Sie hätten in Timbudingsbums bleiben, das Ganze viel langsamer angehen sollen. Sie hätte sich von Guido nicht zu diesem unsinnigen Wüstentrip überreden sollen. Sogar ein Ausflugidentifikationsshirt hatte sie sich vom ehrenamtlichen Werbeverkäufer Guido im Gruppentreffpunkttourismusbüro aufschwatzen lassen. Und jetzt muss sie durch diesen überdimensionierten Sandkasten laufen und soll sich auch noch darüber freuen. Dabei hätten sie so interessante Dinge machen können. Den Negerfrauen mit den grossen Körben auf dem Kopf und den Ringen in der Nase in der Stadt zugucken wie sie ihre Früchte verkaufen. Dem zahnlos grinsenden Alten wie er mit seinem kleinen Äffchen Kunststückchen vollführt. Dazu hin und wieder ein Kaffee im Schatten. Aber nein, Guido musste sie ja zusammen mit seiner unreflektierten Begeisterung hierhin, mitten ins Nichts zum Hochleistungsspazieren locken.
Guido mit seinem "Hast du gehört!?" und "ist doch interessant, oder!?" und den dazugehörenden geellenbögelten Rippenstössen in ihren Zahnfleischkörper. Eine Kombination, die sie hier nicht nur nervt, sondern richtiggehend quält. Und das Magenknurrding hinter den beiden Wulsten, welche das grinsende T-Shirtkamel unter dem Mali Desert tour 2010 Schriftzug zerquetschen, hat Hunger und quält sie ebenfalls. Und überhaupt ist ihr alles hier grosser Quatsch mit Folter anstatt Urlaub wie er sein soll. Guido, Hunger, Durst und Schmerz in Kopf und Leib. Da kann man das Geld lieber gleich zu Hause im Kamin verbrennen als sowas hier. Ruhestand und Weltenbummelglück geht eindeutig anders. Das würde sie Guido dann zurück im Hotel und wieder einigermassen bei Kräften schon gehörig um die Ohren hauen.
Endlich erreichen sie etwas, das Guido Oase nennt, aber eigentlich mehr eine grosse Schlammpfütze mit ein paar halbvertrockneten Palmen und Dornbüschen drumherum ist. 300 Meter davon entfernt ein langezogener Steinhaufen, die Ruine einer Moschee aus irgendsoeiner vokalintensiven Dynastie, wie ihr Guido berichtet, obwohl sie das eigentlich gar nicht wissen will. Natürlich will sich Guido das auch sofort anschauen gehen, doch diesmal bleibt sie stark und passt. Guido, der Führer und ein paar andere der Gruppe gehen also dorthin, während sie sich ans Wasser hockt und sich ihre stinkenden Socken auszieht. Sie schürft sich mit beiden Händen einen Gutsch Wasser und lässt ihn auf die Socken pflatschen. Ein Königreich für die Hoteldusche und den Hotelkleiderschrank, denkt sie sich. Dieser blöde Guido, denkt sie sich ebenfalls. Sich mit verschwitzten Socken rumplagen kann sie sich auch genau so gut in der Waschküche der Beyelerstrasse 17 in Brüttisellen. Dafür muss sie nicht extra für teures Geld in die Sahara reisen. Nun wirklich nicht.
Als sie sich vom Wüstentümpel abwendet, um die Socken zum Trocknen an einen Busch zu hängen, erblickt sie in nicht allzu grosser Ferne berittene Araber in weissen Gewändern mit schwarzen Gewehren um die Schultern, die eine Staubwolke hinter sich herziehen und genau auf das Wasserloch zuhalten. Sie schaut zur Ruine rüber, doch Guido und die anderen Hobbyarchäologen sind nirgends zu sehen. In eiliger Nervosität zieht sie sich die nassen Socken an, quetscht sich in die Turnschuhe und flüchtet sich in den Schutz der dagebliebenen Gruppe. Die arabische Dromedarkavallerie ist inzwischen angekommen, abgestiegen und unterhält sich untereinander mit chala mahala und viel Gestik. Ängstlich blickt sie auf die Männer. Eines der Dromedare blickt ihr gelangweilt direkt in die Augen und kaut auf seinen Lippen rum. Plötzlich schreiten die Männer auf die Gruppe zu. Einer ruft: "You all! You go with us, understand!? Kidnapping! No panic, no problem!" Die Männer umkreisen die Gruppe, fuchteln mit ihren Waffen und deuten in eine Richtung. Ihr erschöpfter Leib wird von panischem Adrenalin elektrifiziert. Es schüttet und flutet in ihr drin. Die Pupillen zucken irr. "Guido" schreit sie in die Saharastille, wobei das langezogene i schrill im Klangkörper der flimmernden Luft zu stehen scheint. Alle ringsherum, Banditen und Mitgeiseln in spe, starren sie entgeistert an. Sie will doch einfach nur nicht entführt werden.
Wird sie aber.
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2011
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