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Maya steht gedankenversunken und mit einem für ein achtjähriges Mädchen beinahe schon katatonisch wirkenden ernsten Gesichtsausdruck neben dem Brunnen auf dem Pausenplatz. Sie stochert mit einem Stecken im herbstlichen Laub herum. Dabei scheucht sie einen dicken schwarzen Käfer auf. Sofort schlägt sie mit dem schmalen geschwungenen Ast nach ihm. Sie verfehlt den in panischem Zickzackkurs zwischen den Blättern Herumwuselnden mehrmals, bevor sie ihn mit ihrer hölzernen Knute erwischt und er salto mortale auf den Rücken gepeitscht wird. Sofort fixiert sie ihr kleines Opfer mit leichtem Druck des Steckens gegen dessen Thorax auf dem belaubten Untergrund.

Mami meint, dass Patrick jetzt ein Engel sei. Gotti hat gesagt, dass der liebe Gott ihn zu sich in den Himmel gerufen habe und er in unseren Herzen weiterlebt, wenn wir manchmal an ihn denken. Sie fand das blöd.

Nachdenklich betrachtet Maya das strampelnde schwarze Insekt vor ihren Füssen.

Die Aare hat ihn gefressen. Einfach so.

Sie blickt mit finsterer Miene nach unten und drückt den Stecken noch etwas fester gegen die Chitinbauchplatte des jetzt noch panischer mit allen seinen sechs Beinchen hilflos in der Luft zappelnden Käfers.

Wenige Tage nachdem Patrick gefressen wurde, haben Mami und Papi ihr einen Plüschpinguin geschenkt, den sie auf den Namen Patrick getauft hat. Immer wenn sie traurig war, hat sie mit ihm gesprochen. Ganz fest umarmt hat sie ihn dann. Auch immer beim Einschlafen. Manchmal, wenn sie wütend war, hat sie ihn aber auch gegen die Wand geworfen und manchmal sogar aus dem Fenster. Mami hat ihn dann immer gewaschen und war ganz traurig, wenn sie ihn ihr ohne etwas zu sagen zurückgegeben hat. Aber der Pinguin heisst nur Patrick. Er ist nicht wie Patrick. Ein Pinguin kann nämlich schwimmen. Ein Pinguin wird nicht vom Wasser gefressen. Nur manchmal vom Eisbären. Die blöde Schulpsychologin sagt, dass Eisbären keine Pinguine fressen, weil die nicht am gleichen Ort wohnen. Aber das stimmt nicht.


Maya beobachtet gedankenverloren die langsamer gewordenen Beinchenzuckungen des Käfers.

Immer wird sie von ihrem Mami, ihrem Papi, ihrem Grossmami, ihrem Gotti, Ihrer Lehrerin oder der Schulpsychologin gefragt, wie es ihr gehe. Und worüber sie gerade nachdenke. Und ob sie nicht dieses Spiel spielen oder etwas zeichnen möchte. Nie lässt man sie in Ruhe. Und alles nur, weil Patrick von der Aare gefressen wurde. Und nur weil sie in ihr Hausaufgabenheft bei der Aufgabe "Schreib über dich selbst" bei "Schreib wie du dich fühlst?" "manchmal wütend, aber fast immer traurig" geschrieben hat, machen alle wieder ein grosses Theater. Und jetzt redet Mami schon wieder mit dieser blöden Schulpsychologin. Über sie. Bestimmt sogar.

Mayas Mutter ruft mit schriller Stimme den Namen ihrer Tochter. Maya schliesst die Augen und atmet kopfschüttelnd und tief seufzend ein. Danach öffnet sie die Augen zu kritischen Schlitzen, hebt den Stecken mit dem inzwischen aufgespiessten Käfer hoch und betrachtet regungslos das immer noch sachte sechsbeinige Gestrampel. Nach einigen Sekunden der Verharrung dreht sie sich langsam gegen den Brunnen und klopft den Stecken bedächtig gegen den Brunnenhahn, bis der Käfer ab und ins Wasser fällt. Sie beobachtet die kleinen unförmigen Wellenringe, die sich um das Insekt mit seinen immer zaghafter werdenden Bewegungen bilden.

Bei Patrick konnte man das Plantschen, das er mit seinen Armen gemacht hat, hören. Auch wenn die Aare selbst soviel Krach gemacht hat, hat sie es trotzdem ganz genau gehört. Auch hat Patrick irgendetwas gerufen. Sie hat aber nicht verstanden was, weil die Aare so laut war.

Die Regungen des Käfers sind verstarrt. Schliesslich entzieht er sich ihrem Blickfeld, als er unter Wasser und ins Ablaufrohr des Brunnens gesogen wird.

Dann hat Patrick auf einmal nichts mehr gemacht. Und wie eine Puppe hat er ausgesehen, als er so seltsam in den Wellen herumgespickt ist. Dann war Patrick verschwunden. Und nur noch die Aare allein hat man gesehen. Und sie hat immer noch Krach gemacht. Und die Vögel haben immer noch weitergezwitschert. Und Mami und Patricks Mami haben gerufen, dass die Cervelats fertig sind und sie essen kommen sollen. Aber das war ihr egal und sie hat einfach nur weiter aufs Wasser geschaut.

Maya wendet sich vom Brunnen ab und geht langsamen Schrittes in Richtung Schulgebäude, in Richtung ihrer wartenden Mutter. Als sie dort ankommt, streichelt ihr diese über den blonden Schopf. Maya wehrt sich mit einer brüsk ausschlagenden Handbewegung. Die beiden gehen schweigend nebeneinander und auf einen roten Nissan zu. Maya öffnet die hintere Tür, steigt ein und schlägt die Türe zu. Ihre Mutter bleibt eine Weile vor dem Wagen stehen, hält sich ihre zittrige linke Hand vors Gesicht und gibt ein paar glucksende Laute von sich. Dann steigt auch sie ein. Nach weiteren dreissig Sekunden brummt der Motor auf und die beiden entschwinden allmählich im Strassenverkehr.
Im kleinen steinernen Auffangbecken des Schulbrunnens schwimmt in sanfter Wippung ein ertrunkener, schwarzer Käfer. Daneben liegt ein in der Mitte zerbrochener, nur noch durch ein paar wenige Holzfasern zusammengehaltener Ast.

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Tag der Veröffentlichung: 10.11.2010

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