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Sie steht ganz rechts in der Ecke des Courts, den Blick starr auf die innere vertikale weisse Linie vor ihr gerichtet, breitbeinig und mit leicht nach vorne gebeugter Körperhaltung. Die beiden dunklen Schweissflecken auf ihrem rosa Poloshirt pflanzen sich langsam flächengewinnend von der Achselhöhle nach unten fort. Schweiss läuft ihr auch über die Wangen, tropft von ihrem Kinn und ihrem krausen unter ein grünes Lacoste Cap gepacktem Haar. Eine doppelte Speckrolle ihres Bauches hängt ihr fleischig hervorquellend über die hellblauen Shorts.
Ihre vormals unstete Atmung erholt sich langsam wieder und auch der Unterleibsschmerz klingt allmählich ab. Vor zwei Minuten war sie nämlich von einem aus dem Halbfeld geschmetterten 160 Stundenkilometer schnellen Crossvorhandwinner von Raffaele Correcha in den dicken Bauch getroffen worden. Trotzdem mag sie den heissblütigen braungebrannten spanischen Filzballmatador nach wie vor. Mit seinen schulterlangen schwarzen Haaren, der muskulösen einen Meter Neunzig grossen Figur und der gelbleuchtenden Stirnbinde über seinen feurigen Augen. Sein schlaksiger nonchalanter Gang, seine souveräne Coolness in den TV-Interviews, seine ekstatischen Triumphschreie und das animalische temperamentvolle Gebrüll, wenn er einen Ball verschlägt. All das, es haut voll rein in ihre Libido, schleicht sich immer wieder in ihre Tagträume und füttert das junge liebeshungrige Teengirl in ihrem vierzigjährigen Kopf. Am liebsten würde sie ja ihr Wohn- und Schlafzimmer mit Postern von ihm tapezieren, was ihr dann aber vor ihrem Ehemann doch zu peinlich kindisch erschiene, so dass sie ihren Correchaaltar auf eine an den Kühlschrank geheftete Autogrammkarte und einen virtuellen Ordner auf ihrem PC mit heruntergeladene Bilder aus dem Netz beschränken muss.
Aber hier und jetzt steht sie nicht als supportende Verehrerin des gallizischen Weltranglistenvierten auf dem Platz, sondern als neutrale Linienrichterin eines der weltgrössten Tennisturniere und gibt sich entsprechend professionell, obwohl Correchas heutiger Gegenspieler ausgerechnet Sven Krösche ist, ein ihr äusserst unsympathischer bleichgesichtiger Norddeutscher mit hartem Aufschlag und abtörnender rotblonder Bürstenmatte.
Wieder schnellt ein Ball mit horrender Geschwindigkeit auf sie zu und schliesslich einen knappen Meter an ihr vorbei. Sie streckt ihren Arm pfeilgerade nach rechts und schreit: "Out!"
Das Match hat es in sich. Keiner der beiden Kontrahenten schafft es sich ein spielerisches Übergewicht zu verschaffen und sie beginnen sowohl die Ballwechsel, als auch die Sätze mit Fortdauer des Spiels immer mehr in die Länge zu ziehen. Dabei peitschen sie ihre Schläge wieder und wieder nahe an die ihr zugehörige Outlinie. So ist sie gezwungen in höchster Konzentration, eine knifflige Millimeterentscheidung über in oder out nach der anderen zu fällen. Dazu beginnt die zunehmende Gluthitze ihr spürbar auf die Pelle zu rücken. Diese verdammte Hitze und auch ein quälendes plötzlich auftretendes Hungergefühl verbunden mit den verantworteten Linienschiedsentscheidungen im Fokus von über viertausend Zuschauern versetzen ihr physisches und psychisches Wohlbefinden in eine sich stetig schneller drehende Negativspirale in Richtung "ich will eigentlich lieber nach Hause".
Die Partie dauert jetzt schon gut drei Stunden. Die ersten beiden Sätze haben sich die beiden Tennisantipoden alternierend unter einander aufgeteilt. Und sie scheinen auch im fünften und entscheidenden Satz nicht daran zu denken, eine rasche Entscheidung zugunsten des einen oder anderen herbeiführen zu wollen. So tönt es in für sie immer unerträglicher werdender Regelmässigkeit vom Schiedsrichterstuhl "Advantage Correcha" und "Deuce" und "Advantage Krösche". "Nur ja nie "Game Correcha" oder "Game Krösche" oder gar "Game, Set, Match Correcha oder Krösche", denkt sie sich verzweifelt. Die Ansagen des Schiedsrichter beginnen ihr regelrecht in den Ohren zu rauschen. Ihr wird schwindelig und ihr Hungergefühl hat sich mittlerweile zu einem regelrechten Hungerast ausgeweitet. Jetzt ist sie allmählich mehr als nur am Anschlag. Ihr Magen knurrt wie sieben auf engstem Raum zusammengepferchte, zwei Tage lang nicht gefütterte Wölfe. In ihrer eigenen Wahrnehmung überlaut hörbar. Für einen Sekundenbruchteil wird ihr gar schwarz vor den Augen. Als sie wieder zu sich kommt, verspürt sie zunächst einen stechenden Schmerz, der ihren Kopf durchschiesst. Flackernde Sternchen und amorphe kaleidoskopeske Farbgestalten tanzen vor ihren Augen. Sofort kneift sie diese wieder zu, schüttelt sich und öffnet sie langsam wieder. Flugs sind ihre Schmerzen verschwunden und ein wohliges Gefühl erfüllt ihren gesamten Körper. Vor ihr schwirrt plötzlich ein köstlicher mit Mayo und Ketchup garnierter Hotdog umher, dass ihr das Wasser im Mund zusammenläuft. Sie will ihn gerade erhaschen, um ein saftiges Stück von ihm abzubeissen, als der "Out!"-Ruf des Schiedsrichters ihre Trance schlagartig unterbricht. Plötzlich merkt sie, dass das vor ihr herumwuselnde Etwas gar kein Hotdog ist, sondern ein Balljunge in seinem weissroten Tenue. Sie fährt erschrocken zusammen, zieht ihre in seine Richtung ausgestreckten Arme schnellst möglich wieder zurück und versucht ihre streichspielenden Hirnaktivitäten wieder zu ordnen. "Was war denn das für ein seltsamer Traum?" fragt sie sich verwirrt. Aber davon darf sie sich jetzt nicht irritieren lassen. "Jetzt ist Tennis angesagt", sagt sie sich bestimmt, beinahe schon befehlerisch. Um Konzentration bemüht versucht sie wieder die weisse Linie vor ihrer hungrigen Schnauze zu fixieren. Ihre Nervosität über ihren vorübergegangen spinnerten Geisteszustand verfliegt aber erst nach dem nächsten Seitenwechsel, als sie den braunen Nacken und den knackigen Po von Raffaele Corracho, der in Erwartung eines Aufschlags von Sven Krösche unmittelbar vor ihr verharrt, betrachtet. Leider ist aber die Freude über die wiedererlangte Selbstbeherrschung nur von kurzer Dauer. Nach nur zwei gespielten Punkten meldet sich das verdammte Loch im Bauch von neuem. Und diesmal mit solch brutaler Intensität, dass es ihr sämtliche Gedärme zusammenzuziehen scheint. Sofort beginnt auch der Verstand wieder auszusetzen. Angestrengt eine neuerliche Wegtretung in die Gefilde des psychovisuellen Blödsinns vermeiden wollend, versucht sie ihre Sinne auf den begehrenstimmulierenden vor ihr herumlaufenden und wegen eines verschlagenen Smashs herumfluchenden Raffaele Corracho zu fixieren. Doch als sie ihn so ansieht, ist seine vormalige erotische Anziehungskraft auf einmal wie weggeblasen. Stattdessen nimmt er plötzlich die Gestalt eines kross gebratenen Hühnerschenkels an. Seine muskulösen Beine verwandeln sich in einen fetttriefenden Knochen und sein geiler Body in einen mit leckerer Knusperhaut überzogenen Fleischhaufen, dass sie diesen am liebsten gleich aufessen will.

Das Publikum applaudiert frenetisch einem spektakulären Ballwechsel, der Raffaele Corracho das vermeintlich vorentscheidende Break zum Fünf zu Vier gebracht hat. Dieser ballt die Faust und schreitet zur rechten Ecke seiner Platzhälfte, um sich vom Balljungen ein Handtuch reichen zu lassen. Verwundertes Stimmengewirr macht sich unter den Zuschauern breit, als plötzlich die pummelige Linienrichterin, die in den letzten paar Minuten schon drei neben die Linie gespielte Bälle nicht angezeigt hat und darum vom Headschiedsrichter korrigiert werden musste, händereibend und mit über ihre Lippen leckender Zunge auf Correcha, welcher schützend sein Racket vor sich hält, zuwankt, kurz bevor sie ihn erreicht aber kraftlos zusammensackt, sich bäuchlings in den Sand legt und sich nicht mehr bewegt. Sofort eilt der Bewusstlosen die Linienrichterkollegin von der linken Courtseite zu Hilfe, während der oberste Turnierschiedsrichter auf den Platz sprintet.

Völlig konfus ob der Tatsache, dass sie im roten Sand liegt und ihre Kollegin Michelle und ihr Chef ihr stützend auf die Beine helfen, wird sie sich langsam bewusst, dass sie schon wieder Opfer einer spirituellen fressattackiösen Realitätsabwesenheit geworden war. Peinlichst berührt bemüht sie sich um Orientierung. Ängstlich blickt sie ins raunende Publikumrund. Dann auf Raffaele Correcha, der seinerseits verdutzt und kopfschüttelnd in ihre Richtung schaut. Daraufhin wendet sie ihren Blick beschämt auf den Sand und lässt sich vom Platz führen.

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Tag der Veröffentlichung: 09.03.2010

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