Man konnte viel darüber lesen. Es raschelte durch sämtliche Zeitungen. Alle sprachen von fast nichts anderem mehr. Man hörte es zwischen Kaffeetassengeklapper und Feuerzeugschnippen in Pausenaufenthaltsräumen, zwischen Babygeschrei und Aufprallknall stürzender Rentnern in Bus und Tram und zwischen Suppengeschlürf und Gabelgeklimper am Abendtisch. Dass es eine entsetzliche Tragödie sei, darüber waren sich alle einig. Dass irgendwann einmal so etwas hat passieren müssen, war ebenfalls eine ziemlich mehrheitsfähige These. Einige Mutige vertraten sogar die Meinung, dass diese Schreckenstat eine logische Folge der heutigen wirtschaftlichen und sozialen Situation sei. Wobei sich diese Gruppe untereinander aber durchaus nicht einig war, ob die hohen Managerlöhne, der steigende Leistungsdruck am Arbeitsplatz oder die allgemeine soziale Verrohung Hauptursache für Geschehenes sei. Kurzum die ganze Schweiz war für drei Wochen komplett aus dem Häuschen. Zumal der mutmassliche Täter Anton Haas zunächst spurlos verschwunden und erst zwölf Tage später von der Polizei in grausig verstümmeltem Zustand gefunden worden war. Ein Umstand der die Unglaublichkeit der Geschehnisse noch eine Liga höher zu katapultieren und das allgemeine helvetische Entsetzen in morbide Faszination zu verwandeln vermochte. Sein Körper war nämlich seltsamerweise vollständig zerfleischt. Sozusagen beinahe bis auf die blanken Knochen abgenagt. Er wurde zwar in einem jurassischen Waldstück gefunden, aber keineswegs unter freiem Himmel, wo er zum Festmahl umherziehender Waldtiere hätte werden können, sondern in einer Hütte mit verschlossener Tür und verschlossenen Fenstern. Dieser Tatbestand schien um ein Mehrfaches rätselhafter zu sein, als der von Anton Haas vor knapp zwei Wochen begangene Amoklauf, in dessen Verlauf er seine beiden Vorgesetzten, die ihn bei der Beförderung übergangen hatten, mit seiner Armeedienstpistole erschossen hatte. Regelrecht hingerichtet, wie der Blick damals titelte. Er hatte zwei Schüsse aus einer Faustfeuerwaffe abgegeben, die jeweils in den Kopf der beiden Opfer drangen und zum unmittelbaren Tod derselben führten, wie die Polizei für die Presse protokollierte. Lange Rede, kurzer Sinn, Anton Haas hatte seinen beiden Chefs Peter Sonderegger und Jakob Schmidli die Schädel weggeblasen. Nun denn, der Täter wurde also tot aufgefunden und die Ermittlungen über dessen Todesursache und den Tathergang wurden nach einem halbjährigen Herumgerätsele von Behördenseite eingestellt. Der Fall bekam das Prädikat "ziemlich seltsam" verpasst und wurde ad acta gelegt.
Rückblende auf den 14.April. Friedhof Enzenbühl.
Vier Tage nach dem Doppelmord. Es ist der Tag der erfolgreich erledigten Beerdigung von Peter Sonderegger und Jakob Schmidli. Punkt Mitternacht.
Plötzlich weht sowohl von Westen als auch von Osten ein leiser Wind über die Friedhofsstätte. Die beiden Luftzüge vereinigen sich über zwei mit reichlich Blumen geschmückten Gräbern und erzeugen einen staubigen Wirbel, an dessen Trichteröffnung ein umgekehrtes Pentagramm erscheint. Die beiden Gräber beginnen die Stille der Nacht durchschneidend ächzend zu rotieren. Ihnen entsteigen zwei furchterregend aussehende Zombies. Sie schütteln sich beide kurz die hängengebliebene Erde vom Leib und schreiten aufeinander zu. Die eine der untoten Gestalten streckt der anderen zur Begrüssung die Hand entgegen.
"Ah, Herr Sonderegger. Schön Sie wieder zu sehen."
"Na ja, wie man es nimmt."
"Schreiten wir zur Tat!"
"Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen, Herr Schmidli?"
"Haben Sie unseren Racheauftrag denn nicht gelesen?"
"Ääh, aber selbstverständlich. Ich empfinde es nur als reichlich dégoutant, was man hier von uns verlangt. Ich hoffe doch, dass Sie das ähnlich sehen, Herr Schmidli?!"
"Sie wollen sich doch nicht etwa dem Leibhaftigen höchstpersönlich widersetzen? Das wäre doch äusserst unklug, meinen Sie nicht, Herr Sonderegger?!"
"Da haben Sie wohl recht, Herr Schmidli. Nichtsdestotrotz gäbe es bestimmt eine sauberere Lösung. Eine menschenwürdigere, unserem gesellschaftlichen Stand angemessenere."
"Wir haben aber keinen gesellschaftlichen Stand mehr. Wir sind nicht einmal mehr Menschen. Wir sind jetzt Zombies, Herr Sonderegger!"
"Das ist mir durchaus bewusst, Herr Schmidli! Vielen Dank, dass Sie darauf herumreiten!"
"Gehen wir jetzt, Herr Sonderegger?!"
"Ja, schon gut! Hetzen Sie mich doch nicht so, Herr Schmidli."
Die zwei dämonischen Kreaturen entschwinden wie von Geisterhand, um nur Sekunden später in den jurassischen Wäldern wieder aufzutauchen. Sie gehen auf eine kleine Waldhütte zu. Der eine klopft an die Tür, der andere schaut diesen verschmitzt lächelnd an und schreitet durch das Holz hindurch in das Innere der Hütte. Der andere tut es ihm nach.
"Guten Abend, Herr Haas!"
"Sehen Sie sich das an, Herr Sonderegger. Wie vom Blitz getroffen, der gute Herr Haas."
"Nun, Herr Haas, ich verstehe ja, dass Sie überrascht sind, mich und den Herrn Schmidli hier und in unserer etwas ungewöhnlichen Aufmachung zu sehen. Trotzdem ist es doch sehr unhöflich, die Begrüssung seiner direkten Vorgesetzten nicht zu erwidern."
"Der zittert ja wie Espenlaub. Einen ziemlich erbärmlichen Anblick für einen Doppelmörder, den Sie da bieten, Herr Haas. Vielleicht hört dieses Zittern ja auf, wenn ich Ihnen gleich das Herz herausreisse!"
"Bitte Herr Schmidli, mässigen Sie sich. Wir können uns doch verhalten wie zivilisierte Menschen. Nicht wahr, Herr Haas?! Obwohl man sagen muss, dass ihre mit Waffengewalt vorgetragene Vorgehensweise gegenüber ihren Vorgesetzten nicht unbedingt als eine Vorgehensweise bezeichnet werden kann, die man benutzt, um Konflikte in einer zivilisierten Gesellschaft zu lösen."
"Der scheint seinen Mund immer noch nicht aufzukriegen, Herr Sonderegger."
"Das war schon immer ihr Problem, Herr Haas. Mangelnde Kommunikatiosfähigkeit. Das hat sie ja auch ihre Beförderung gekostet. Aber das hatte ich Ihnen ja im Mitarbeiterbeurteilungsgespräch schon ausführlich erläutert. Aber das, was Sie da mit mir und Herr Schmidli gemacht haben, das geht ja wirklich auf keine Kuhhaut. Nun denn, die Konsequenzen aus ihrem Handeln müsse sie jetzt selber tragen. Schreiten Sie zur Tat, Herr Schmidli!"
Der eine Zombie fährt seine langen scharfen Krallen aus und schlitzt Anton Haas ein senkrechtes fünfspuriges Blutmuster in den Oberkörper. Dann greift er ihm in die linke Brust und reisst ihm das Herz heraus. Anton Haas stiert seinen diabolischen Peiniger mit weit aufgerissenen Augen an, bevor er langsam sein Leben aushaucht und zusammenbricht. Sofort kniet sich der Zombie über sein Opfer und beginnt es mit seinen Reisszähnen zu zerfleischen. Der andere Zombie steht mit angewiderter Miene daneben.
"Kommen Sie, Herr Sonderegger, greifen Sie zu! Geniessen Sie den Tod!"
"Wenn ich Sie nicht besser kennen würde und als Geschäftspartner zu schätzen wüsste, würde ich behaupten, dass Ihnen dieser widerwärtige Auftrag sogar noch Spass bereitet, Herr Schmidli."
"Wir sind jezt aber keine Geschäftspartner mehr, sondern Zombiepartner, Herr Sonderegger. Habe Sie sich nicht so und probieren Sie den Herrn Haas."
"Ich bin doch kein Tier! Schauen Sie sich doch nur einmal an. Sie sehen aus wie ein Wolf, der gerade ein Schaf gerissen hat und dem nun das Blut von den Lefzen tropft. Ich muss schon sagen, ihr Anblick in diesem Moment ist schlichtweg widerlich. Tut mir leid, Herr Schmidli, aber ich finde keinen anderen Ausdruck dafür."
"Ich dachte immer, Sie seien ein gewissenhafter und pflichtbewusster Mensch, Herr Sonderegger. Wollen Sie etwa unseren Auftrag versauen?"
"Nein, natürlich nicht! Ich komme ja schon. Aber ich möchte zumindest etwas trinken zum Fleisch."
"Trinken Sie das Blut vom Haas. Sie brauchen nicht einmal ein Glas dazu."
"Blut?! Sagen Sie, haben Sie jetzt das letzte bisschen Anstand und Kultiviertheit verloren? Vielleicht steht hier noch irgendwo eine gute Flasche Rotwein herum. Ich bin schliesslich kein sechzehnjähriger Satanist, sondern ein wohl situierter, sich in gehobener Gesellschaft bewegender Geschäftsmann, der sich in eine Führungsposition heraufgearbeitet hat und vor der Schwelle zu seinem Fünfzigsten steht!"
"Sie haben jetzt aber keine Führungsposition mehr, Herr Sonderegger, und auch keinen fünfzigsten Geburtstag! Sie sind tot. Oder besser gesagt untot. Mein herzliches Beileid. Begreifen Sie das doch endlich! Sie haben jetzt einen neuen Job! Einen neuen Boss direkt aus dem tiefsten Höllenschlund! Schluss mit der eintönigen Bürosesselarbeit! Entspannen Sie sich und ergeben sie sich der teuflischen Fleischeslust! Kosten sie doch einmal von diesem Herzen! Ein Chauteaubriand ist ein Dreck dagegen!"
"Ich muss schon sagen, in gewisser Weise sind wir doch sehr verschieden voneinander, Herr Schmidli."
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2010
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