Er sitzt in seiner Kneipe und klopft mit den Fingern auf dem Bierdeckel vor ihm auf dem Tresen herum. Ab und zu genehmigt er sich einen Schluck aus seiner Stange. Sein Blick ist finster und streift sprunghaft in der sich langsam füllenden Bar umher, ein wenig spastisch, ein wenig kirre. Mit leicht zugekniffenen Augen beobachtete er in konzentrierter Überheblichkeit einzelne Gäste, um dann wieder mit starr auf sein Glas gerichtetem Blick einfach nur regungslos dazusitzen, in sich gekehrt, die Stirn in tiefe Falten gelegt, gewissermassen als Schutzschild gegen seine ihn marternden Gedanken. Das Klopfen seiner Finger auf dem schon leicht malträtierten Bierdeckel wird immer lauter. Der Barkeeper ermahnt ihn mittels beschwichtigender Handbewegung und der beruhigenden, fast schon zärtlichen Aussprache seines Namens zu etwas mehr Ruhe. Er entschuldigt sich mit der müden Erwiderung derselben handschwebenden Geste und einem Zwinkern. Dann leert er den Rest seines Glases in einem Zug. Der Barkeeper stellt ihm ein neues hin. Die draussen einbrechende Dunkelheit und der gesellschaftsfreudige Feierabendentspannungswille treiben immer mehr Leute in die Bar, treiben sie Hocker um Hocker näher an ihn heran, bis er schliesslich von einem jungen alternativen Pärchen und einem älteren Herrn unmittelbar umrahmt ist. Er beginnt schneller zu trinken, ordert die nächste Stange präventiv schon ein paar Schlücke vor der Neige der vorherigen. Seine Mimik wird allmählich ruhiger. Seine introvertierte Rastlosigkeit weicht geselliger Entspannung. Er beginnt Gesprächsfetzten von seinen Sitznachbarn aufzuschnappen und beteiligt sich alsbald sporadisch an diversen um ihn herum stattfindenden Unterhaltungen, unaufgefordert und selbstsicher. Er ist allmählich betrunken. Nachdem der Lärmpegel in der Bar immer grösser und seine Konversationsanschlussversuche einfacher zu ignorieren geworden sind, wendet er sich, in seiner Sozialeuphorie ausgebremst, ein wenig betrübt, dafür umso bestimmter an den graumelierten Sitznachbarn rechts von ihm. Über einige sozial abgesicherte, vertrautheitsbeschaffende Belanglosigkeiten steuert er die Gesprächsthematik schnell zu seines seelenbelastenden Pudels Kern, seiner Tochter. Er erzählt seinem Nebenan, dass diese der Mittelpunkt seines Universums sei, das Beste, was ihm je passiert sei, die kleine Prinzessin, der süsse Goldschatz und so weiter und so fort. Die ganze Metapher- und Kosediminutivchenpalette rauf und runter. Dann zieht er ein zerfleddertes, an den Rändern schon leicht vergilbtes Foto aus seinem Portemonnaie und hält es seinem neuen Barkumpan unter die Nase. Dieser lächelt etwas verlegen und meint, dass es ein hübsches Mädchen wäre, worauf der stolze Vater das der allmählichen Verwesung anheim gefallene Erinnerungsstück wieder in seiner Geldbörse verschwinden lässt. Anschliessend schildert er in wilden anektdotischen Ausschweifungen das Vergangene seiner Lebensgeschichte. Hauptsächlich aus der Zeit, in der er noch ein richtiger Papi war, wie er im Buche steht. Mit mächtigen aufofiktionalen Pranken entpackt er ein grosses chronisches Bündel aus Halbwahrheiten und vom Suff gereinigten Reminiszenzen. Der nette Herr versucht ihm einigermassen aufmerksam zuzuhören, streut ab und zu ein adäquates Nicken und ein paar bestätigende Gemeinplätze ein und blickt desöfteren nach der einfach nicht schon spät am Abend werden wollenden Zeit auf der Rollings Stones-Zungenuhr an der Wand. Als der mit jedem Schluck Bier munterer werdende Erzähler dem Barkeeper zwei weitere Stangen in Auftrag geben will, fasst der zugetextete Trinkpartner wider Willen all seinen Mut zusammen und empfiehlt sich schüchtern mit dem Hinweis, dass er morgen früh raus müsse. Unser Tresenheld verabschiedet ihn mit einer Unverständnis simulierenden Handbewegung, wendet seinen Kopf in der selbstsicheren Manier eines Salooncowboys nach links und nickt dem alternativen Liebesgespann neben ihm anerkennend zu. Dann klaubt er das Foto seiner Tochter mit der ataktischen Ungeschicktlichkeit eines Betrunkenen wieder aus dem Portmonnaie in seiner Hosentasche, knallt es vor den beiden auf den Tresen und setzt seine Vita in nahtloser Chronologie fort. Er erzählt ihnen von seinen früheren Ausflügen mit der Kleinen in den Zoo, wie sehr sie sich jeweils an den Pinguinen und den Affen erfreuen konnte und wie er ihr fast jeden Abend vor dem Ins-Bett-gehen ein selbsterfundenes Märchen erzählt hatte. Die zwei Verliebten aus der Subkultur hören ihm scheinbar interessiert und mit sanfmütigem Blick zu. Das dankbare Publikum spornt den sukzessive ins Lallen abdriftenden Kneipenprosaisten weiter an. Er beginnt zusammenhangslos immer mehr Episoden aus dem verjährten Zusammenleben mit seiner Tochter aneinanderzureihen, bis ihn die unterbrechende weichherzige Stimme des Rastamädchens mit der Frage, was denn jetzt mit ihm und seiner Tochter sei, aus dem erzählerischen Konzept bringt und kurzzeitig verstummen lässt. Dann fährt er in nachdenklichem Tonfall fort und vertraut den Zwei an, dass er eben einen Scheiss gemacht habe, zu viel gesoffen habe und immer öfter um die Häuser gezogen sei. Dass sich seine damalige Frau deswegen von ihm scheiden liess und ihm vor Gericht das Sorgerecht entzogen worden sei. Darauf erklärt er in an Apathie grenzendem Nuschelton, dass er seine Tochter jetzt seit drei Jahren nicht mehr gesehen habe. Endlich erfüllt sich seine Stimme wieder mit Leben, als er mit der Faust auf den Tresen haut und laut ins Beizenrund verkündet, dass sich das aber ab sofort ändern würde. Und wie zur Zelebration seines Entschlusses bestellt er für sich und die beiden neben ihm sitzenden Zeugen dieses seines Gelöbnisses eine weitere Runde Hopfen und Malz. Diese fragen ihn, was er denn nun vorhabe, worauf er ihnen fast schon flüsternd und mit einer Intonation als ob er sie in ein freimaurerisches Geheimnis einweihen wolle erläutert, dass seine Tochter ja morgen Geburtstag habe und dass er dann bei ihr und seiner Exfrau überraschungsmässig aufkreuzen, sich für das Gewesene entschuldigen, um eine allerletzte Chance bitten und wieder ein guter verantwortungsbewusster Vater sein werde. Selbstzufrieden mit seinen Gedanken zur Vergangenheitsbewältigung im Reinen und erleuchtet von den erzählten Erinnerungen an seine Tochter genehmigt er sich einen grossen genussvollen Schluck aus seinem Glas. Hierauf fasst die junge Rastafari ihn zärtlich an der Schulter, blickt ihm tief in die vom Alkohol gezeichneten Augen und meint, er solle doch jetzt nach Hause gehen, damit er morgen ausgeschlafen und frisch sei, wenn er seiner Tochter gegenübertrete. Er erwidert ihren sanften Blick mit einem wohlwollenden, fast schon väterlichen anmutenden Lächeln, streichelt ihr mit der linken Hand über die Wange, während er mit der rechten spielerisch an ihren verfilzten Zöpfen herumzieht und meint, dass sie absolut recht habe. Anschliessend leert er sein Glas auf Ex, verabschiedet sich mit einem freundschaftlichen Boxhieb von der männlichen, mit einer betrunkenen übertrieben galanten Verbeugung von der weiblichen Hälfte seiner abendlichen Bekanntschaft und torkelt voller Tatendrang zum Ausgang. Dort angekommen dreht er sich nochmals um, stellt sich stramm vor die Tür, reckt seine Hände in die Höhe, formt seine Finger zum doppelten Victory-Zeichen und verlässt schliesslich die Bar mit der lebensbejahenden Siegesgewissheit eines Winston Churchill.
Zu hause angekommen, kippt er sich noch ein kurzen Kräuter hinter die Binde und legt sich voller beseelter Vorfreude ins Bett. Er schliesst die Augen und malt sich die morgige Begegnung mit seiner Tochter in den euphorischsten Farben aus. Wie sie ihm freudig um den Hals fallen wird, wie sie Hand in Hand wieder in den Zoo gehen werden, wie sie sich über die Affen und die Pinguine freuen wird und wie er ihr, dem blonden freudenstrahlenden Engel, ein Eis spendieren wird. Dann fällt ihm plötzlich ein, dass sie ja jetzt schon älter geworden ist und mit den Tieren im Zoo wahrscheinlich gar nicht mehr viel anfangen kann und er stellt sich vor, wie sie gemeinsam in die Badeanstalt gehen und sich spasseshalber gegenseitig mit Wasser bespritzen. Er versucht sich ihr Lachen vor Augen zu führen und ist überzeugt, dass nun alles gut werden wird . Dann zerfallen seine Gedanken in einen tiefen Schlaf.
Als er sich am nächsten Morgen mühsam aus dem Bett schält, ist das erste, was er zur Kenntnis nimmt, die Tatsache, dass sich in seinem Kopf über Nacht ein gewaltiger Kater zusammengebraut hat. Missmutig schleppt er sich ins Badezimmer, stürzt drei Zahnbürstenbecher Wasser gegen den schwelenden Brand in seinem Körper runter und betrachtet sich selbst im Spiegel. Ein Paar blutunterlaufener mattglasiger Augen, untermalt mit tiefschwarzen Augenrändern, starren ihn daraus gleichgültig an. Angewidert schlendert er stolpernden Ganges ins Wohnzimmer und wirft sich stöhnend aufs Sofa. Plötzlich schiesst ihm das imaginierte Bild seiner Tochter in den Sinn, ihr zwölfter Geburtstag, und er erinnert sich seiner Vorsätze für den heutigen Tag. Er entledigt sich der sich selbst aufgehalsten geistigen Bürde mit einem inbrünstigen bärigen Seufzer und versucht seine überforderten Gedanken zu sammeln. In diesem abgehalfterten Zustand kann er sich unmöglich bei ihr blicken lassen. Ausserdem bedarf ein solcher Schritt reiflicher Vorbereitung und sollte nicht einfach so überstürzt werden. Zudem müsste er sich vorher doch noch eine einigermassen gescheit bezahlte Arbeit suchen. Das Geld von der Arbeitslosenversicherung reicht ja kaum für seine eigenen Bedürfnisse. Wie soll er da seiner Tochter ein angemessenes Unterhaltungsprogramm bieten, wo doch heutzutage alles etwas kostet. Dieses etwas wirre, aber beruhigende Brainstorming an Ausreden, das ihn vor der sofortigen Konfrontation mit seiner väterlichen ethischen Verantwortung schützen soll, lässt seinen schlaffen Körper mit dem darin befindlichen dem kurzfristigen Schwermut anheimgefallenen Geist erleichtert in die Kissen seines Sofas zurücksinken. "Nein", sagt er sich, "ich bin noch nicht ganz soweit. Aber bald." Wenn er dann alles richtig angepackt und in vernünftige Bahnen gelenkt hat, dann wird es passieren, sein neues glorioses Zeitalter. Davon ist er fest überzeugt. Und seine zuckersüsse Tochter wird dann seine stolze Begleiterin sein. Zufrieden mit seiner persönlichen Situationsanalyse belohnt er sich, erst ein wenig unschlüssig, dann aber umso selbstsicherer mit einem promilleintensiven Kräuter, legt sich danach entspannt wieder ins Bett, schliesst die Augen und geht in seiner Fantasie mit seiner Tochter glücklich vereint nach Fuerteventura in den Urlaub ans Meer.
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2009
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