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Ich hatte gerade fünfeinhalb Stunden klimatisierten Alptraum hinter mir und wollte die Erinnerungen an den verkauften Tag möglichst rasch wegschwemmen. Feierabendbier nennt man es auch. Ich sass allein und gedankenverloren am Tresen, als mich ein schlecht gefalteter Papierserviettenflieger völlig unvorbereitet an der rechten Schläfe erwischte und in mein Bierglas abstürzte. Ich barg es mit den fleischig-knochigen Kranarmen in Form meines rechten Daumens und Zeigefingers und legte das verwässerte Wrack behutsam neben das zerknüllte Zigarettenpäckchen auf den Tresen. Lethargisch drehte ich meinen Kopf in die Richtung, woher das feindliche Geschoss geflogen gekommen war. Ein speckiger rundgesichtiger Typ grinste mich besoffen an. Ich fragte ihn, ob ich mal seinen Papierflugzeugpilotenschein sehen könne. Er lachte, entschuldigte sich lustig für die eben abgezogene Pearl Harbour-Nummer und meinte, er hätte sich nur gedacht, dass ich eventuell ein bisschen Ablenkung gebrauchen könnte, da ihm aufgefallen sei, dass ich seit einer halben Stunden so tierisch ernst vor mich hin brüte. Ich lächelte ihm zu, dachte mir "Okey Dokey" und eh ich mich versah, hatte er neben mir Platz genommen und spendierte mir ein Bier.

Ich trank und unterhielt mich in der Folge zirka drei Stunden mit dem Typen. Die ersten zwei drei Viertel Stunden unseres Gesprächs waren ja ganz okay gewesen und hatten teilweise platonisch nach mehr geschmeckt. Nach viel mehr sogar. Wir schienen verdammt viel gemeinsam zu haben. Doch die letzten fünfzehn Minuten fing er an, mir immer mehr auf die Nerven zu fallen. Warum hatten wir es nicht bei den phänomenologischen Betrachtungen bewenden lassen und hatten uns selbst der Anmassung pragmatischer Lösungsansätze preisgegeben? Dabei war es zwischen uns doch so harmonisch gewesen, damals noch bis vor einer Viertelstunde. Bevor dieser Scheiss anfing und ich ihn zum Schluss angeekelt hatte sitzen lassen und zur Bar hinaus getürmt war.

Erst hatten wir uns über unsere Jobs ausgekotzt. Ich, der 40 Prozent Schreiberling für ein blasiertes Kulturkäsblatt, er der freiberufliche Filmkritiker im Auftrag einer grossen, die dumme Masse bedienenden Fernsehzeitschrift. Beide, nach eigener Ansicht zumindest, momentan noch verhinderte grosskünstlerische Schriftsteller. Zwei freiheitsliebende Galgenvögel in ihren Endzwanzigern, die des schnöden Mammons wegen gezwungen waren, dem bornierten Common Sense jobprofessionell nach dem idiotischen Plapperschnabel zu reden und sich sogleich gegenseitig sympathisch waren. Anschliessend lästerten wir über den Menschheitszustand des 21.Jahrhunderts und die moderne Sklaverei, fluchten dabei wie die Rohrspatzen, fütterten abwechslungsweise die Jukebox und liessen das Kneipenrund von den Dropkick Murphys, Turbonegro, den Ramones, Tocotronic und all den anderen wilden Stromgitarrenkonsorten beschallen. Wir schienen tatsächlich unsere Gedanken und Interessen platonisch vereint zu haben.
So zerrissen wir uns das Maul über das Prinzip der Maloche im allgemeinen und über all die Dummköpfe, welche die 42 Stundenwochenschinderei über sich ergehen liessen und deren Träume jeden Morgen früh von ihren Weckern aufs Neue erdolcht wurden, während wir hier spätabends wie anachronistische Helden, die über das System triumphierten, soffen und am morgigen Tag bis in die Puppen ausschlafen würden. Dass ich bei diesem Lebenswandel dauernd meine Eltern um Geld anpumpen musste, die Pleitegeier und Depressionswölfe regelmässig an meiner Tür kratzten und ich seit Jahren ständig zwei Meter vor dem finanziellen und selbstfinderischen existenzialistischen Abgrund herumstolperte, verschwieg ich ihm. Und auch dass er hier ein Bier nach dem anderen für mich bezahlte, liess ich als nicht erwähnenswertes universales Naturgesetz einfach mal so widerspruchslos geschehen.
Wir tranken und redeten uns immer mehr in analytisch anthropologische gesellschaftskritische Ekstase. Wir tranken auf das Carpe Diem, klopften uns verbal gegenseitig auf die Schultern, bemitleideten unsere werbetechnisch bis zur geistigen Verkümmerung halbtot suggerierten androiden Mitmenschen, die ihr Leben auf Jahre hinaus verplanten, deren Terminkalender vollgestopft mit Dreck waren und denen noch am Abend die morgendlichen Cornflakes in selbstgefälligen phatischen Milchsturzbächen aus den Ohren hinaus liefen. Ja, wir waren sehr wortkreativ und hauten mächtig auf die Phrasenkacke. Dabei prosteten wir uns vom Alkohol und unserer fabrizierten verbalen Reizüberflutung schon leicht benebelt immer wieder zustimmend zu. Und das war schön so. Ich brachte auch meinen selbst kreierten Sinnspruch, auf den ich sehr stolz war, ein, nämlich dass die Agenda das Kondolenzbuch der Freiheit sei, worauf mein neugewonnener Saufkumpel dem geilen Kerl links neben sich am Tresen auch prompt lautstark ein weiteres Bier orderte. Daraufhin ereiferten wir uns darüber, dass alle Romantik und alle Poesie in der eindimensionalen Dienstleistungs- und Massenkosumwelt verloren gegangen sei, wir von seelenloser Kreation verblödet und erdrückt würden, von einer Anhäufung von evolutionsgrossartigen Technofakten, die uns als dümmliche inaktive Zuschauer des sterilen Spektakels zurücklassen würden. Mit zunehmendem Fliessen des Biers sagten mir plötzlich Dinge wie, dass wir unser Atlantis wiederentdecken und dazu unsere geistigen Taucheranzüge anziehen müssten, da unter dem suggerierten psychischen Pflaster der Strand liege und all so einen hobbyrevolutionären schöngeistigen taktiklosen Zuckerbeutelkram. Wir tranken auf Joseph Beuys und die Situationisten und natürlich auch auf Rio Reiser, der uns aus der Jukebox heraus dazu aufforderte, kaputt zu machen, was uns kaputt mache.

Und dann kam die Taktik leider doch noch, die pragmatisch revolutionäre. Kurz nach Geisterstunde, als alles schon langsam etwas verschwommen aussah und die Lalle schon reichlich in die Artikulation eingedrungen war, meldete sie sich zu Wort. Mein spendierfreudiger Compadere meinte, dass das Problem glasklar ersichtlich sei, nämlich dass der Fisch vom Kopf her stinke. Dass man einfach all die werbe- und meinungsmachenden Konzerne, die geschmierten lobbyistischen Regierungen und systemprotektionistischen Kreditinstitute mittels weltweit koordinierten revolutionär-terroristischen Zellen in die Luft sprengen müsse, um die Menschheit von ihren Fesseln zu befreien.
Da ich mit dieser seiner Analyse nicht einverstanden war, sagte ich ihm, dass seine Verschwörungstheorie viel zu kurz griffe und irgendwelche Sprengungen gar nichts nützen würden, da der Fisch schon längst bereits tief in seinen Eingeweiden zu stinken begonnen habe. Ich plusterte mich, jetzt schon ziemlich stark lallend, viertelintellektuell mit Michel Foucault auf und versuchte ihm zu erklären, dass die diskursbestimmenden Machtstrukturen längst nicht mehr in einem einzelnen Zentrum verankert seien, sondern dass sich der systemkonservierende Common Sense in unserer globalisierten medialisierten Welt spinnennetzartig viele kleine Zentren schaffend über den Planeten gelegt hätte und sich so wie ein pandemischer Krebs fest ins Denken der Menschen gefressen habe. Ich wollte ihm begreiflich machen, dass nur durch Aufzeigen von selbst gelebten alternativen Lebensformen es überhaupt und nur ganz langsam möglich sei, eine gesellschaftliche Umwälzung zu vollziehen. Nach dieser meiner ihm das erste Mal am heutigen Abend widersprechenden Meinungskundgebung nahm er einen grossen Schluck aus seinem Glas, schaute mich erst mit irre hochgezogenen Augenbrauen an und brach alsdann in schallendes Gelächter aus. Dann meinte er, dass ich doch auf dem Mond leben würde und überhaupt keine Ahnung hätte, wovon ich hier spreche. Dass ich ein verfickter Hippie sei und viel zu feige, um den Möglichkeiten einer wirklichen revolutionären Aktion in die Augen zu sehen. Schliesslich meinte er noch mit abschätzigem Unterton in der Stimme, ich solle doch besser wieder auf den Mond zurückgehen und da oben eine Kerze für den Weltfrieden anzünden, ich verschwuchtelter Mondmann. Ich blickte ihm während seines Vortrages angewidert in sein mir plötzlich unwahrscheinlich hässlich erscheinendes rundes mit Aknekratern übersätes vom gelblichem Licht einer Kneipenlampe beschienenes Gesicht, dachte: "Halt doch die Fresse und schau mal in den Spiegel!", sagte aber irgendetwas von lächerlich und prolo und müde und wankte weitere aggressive Beleidigungen in mich hineinmurmelnd in die Nacht hinaus. Als die Kneipentür hinter mir ins Schloss fiel, hörte ich gerade noch die besoffene Stimme des Sprengmeisterrevolutionärs, die krakeelte, ich verhurter Mondhippiemann hätte mein verficktes Bier nicht bezahlt, worauf ich meinen Schritt rapide beschleunigte und einen Nachhauseumweg durch die Seitengassen einschlug.

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Tag der Veröffentlichung: 11.08.2009

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