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Es war im letzten April, als mich im wahrsten Sinne des Wortes wie aus heiterem Himmel die Theosophie überrumpelte. Unaufgefordert und plump. Es war eine gewaltsame Entsäkularisierung meines so geliebten nüchtern-sachlichen Verstandes, auf die ich gerne verzichtet hätte. Sie beinhaltete die totale Zerstörung meines in langjähriger Liebe aufgebauten Atheismus und meine damit verbundene vereselnde Degradierung vom überheblichen Rationalisten zum irrigen Blasphemaniac.
Als vermeintlich aufgeklärter Student der philosophischen Fakultät, stolz den Nietzsche in der Tasche mit mir herumschleppend, stattete ich meiner Grossmutter einen Besuch im Kreuzschwesternspital ab. Wie zwischen den betrübten telephonierten Zeilen meiner Eltern und in den priesterlich anmutenden Trivialdiagnosen der Ärzte zu lesen war, lag sie in ihren letzten Tagen.
Ich hatte ihr ein Gestrüpp Blumen mitgebracht, deren Stengel mit eingesteckten Plastikvögelchen verziert waren. Meine Grossmutter mochte Vögel. Als ich ihr Krankenzimmer betrat, schlief sie gerade. Ich stellte den mitgebrachten Strauss in eine auf ihrer Kommode stehende Vase, zog einen Vogel raus und setzte ihn ihr auf den träumenden Kopf, was ich ziemlich lustig fand. Gerührt betrachtete ich mein schlummerndes Grosi mit dem Piepmatz auf der Stirn. Plötzlich bemerkte ich, dass ihr ein blutiger Rinnsal über das Gesicht lief. Die Stecknadel des Vogels musste ihr wohl die poröse Haut ein wenig aufgerieben haben. In Windes Eile steckte ich den bösen Plastikflattermax zurück in den Blumenstrauss und wischte meiner Grossmutter mit einem Taschentuch das Blut von der Stirn.
Danach erwachte meine Grossmutter auch schon und blinzelte mich freudestrahlend an. Sie freute sich riesig über die Blumen mit den herzallerliebsten Vögelchen und palaverte mit mir eine halbe Stunde lang über die netten Schwestern, den sympathischen Doktor Rüdisühli, aber auch über allerhand geistesverwirrten Schwachsinn. Irgendwann begann sie dann vermehrt zu gähnen, bis sie schliesslich von Müdigkeit übermannt wieder einschlief. Ich war gerade im Begriff das Zimmer zu verlassen und wollte nur noch einen kurzen sentimentalen Blick auf meine greise Ahnin werfen, als diese zu meiner Überraschung plötzlich wieder hellwach war. Sie sass aufgerichtet in ihrem Bett und starrte mit weit aufgerissenen panischen Augen vor sich ins Nichts. Ausserdem gab sie schwache gutturale Laute von sich und liess die Zunge zappelnd aus ihrem Mund heraushängen. Ich wollte sofort zu ihr hin und nach dem Arzt klingeln, doch da erblickte ich ihn: Die grosse Fiktion. Das Opiat des dummgehaltenen Volkes. Die ewige Vertröstung. Die Patentursache alles Unerklärlichen. In einem gleissenden Licht, wie durch einen Schleier, durch eine halbtransparente Folie, sah ich ihn. Er war halb Gestalt, halb nebulöses Fliessen. Ich erkannte etwas wie zwei grosse schwadenartige Hände, die sich um den Hals meiner Grossmutter schlangen und erbarmungslos zudrückten. Hier wurde nicht nur meine bisherige Ungläubigkeit zu Grabe getragen, sondern auch der Mythos des sanften Entschlafens. Dies war die atavistische alttestamentarische gnadenverachtende Urgewalt Jehovas. Hier wurde der allmächtige Vater zum zerstörerischen Leibhaftigen, zum grossen bösen Tier. Hier tobte sich der dualitäre Antagonist des göttlichen Schöpferwesens aus. Unbarmherzig und gründlich.
Meine Grossmutter reckte wie in liturgischem Flehen die Hände zur Zimmerdecke empor, doch die würgende göttliche Kraft wurde immer stärker, ihr agonisches Gestrampel immer verzweifelter und ihr Gesicht verfärbte sich immer bläulicher, bis sie schliesslich vollständig erstarrte und leblos in ihr Bett zurücksackte. Sensenfachmännisch niedergestreckt von der himmlischen Omnipotenz.
Der Nebel und das Licht verschwanden mit einem Schlag und ich starrte in die sterile Leere des Krankenzimmers. Der theistische Spuk war zu Ende. Ich stand immer noch wie versteinert im Türrahmen, ganz perplex, nicht nur von der Tatsache, sondern auch von der Art der eben erfahrenen Offenbarung göttlicher Existenz. Völlig verwirrt verliess ich das Spital, zündete mir eine Zigarette an und hatte keine Grossmutter mehr. Meine Grossmutter, die ermordet wurde. Ermordet von Gott. "Aber so etwas ergibt doch überhaupt keinen biologisch-wissenschaftlichen Sinn", dachte ich mir und trat verärgert einen Kieselstein hinter die Büsche.

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Tag der Veröffentlichung: 10.05.2009

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