Am Kasernenweg ist es kalt. Vor allem am Kasernenweg des Morgens. Meistens kälter als irgendwo sonst während des Tages. Zumindest für mich. Trotzdem stehe ich dort fast jeden Morgen von Montag bis Freitag. Und er ebenfalls. Er, rechts unmittelbar neben dem Schild der Bushaltestelle, während ich mit meinem Arsch etwa drei Meter hinter ihm und aus der Sicht seines Hinterteils leicht nach links versetzt an der grauen, mit versteinertem Kaugummi verzierten Mauer lehne. So besteige ich jeweils gleich nach ihm den Bus, der meist relativ pünktlich um 7Uhr 11 den Kasernenweg anbremst. Er setzt sich, sofern der Platz frei ist, was er in 95 Prozent der Fälle ist, stets in die vorderste Reihe beim mittleren Ausstieg, auf die linke Seite ganz ans Fenster, ich mich in die zweithinterste Reihe, also zwei Reihen hinter ihm ebenfalls links ans Fenster, derweil die Reihe zwischen uns meist leer bleibt. Vollkommen unbewusst ist es mir während der gesamten Zeit, in der wir gemeinsam durch den urbanen Morgen kutschiert werden, zur Gewohnheit geworden, fast schon wie hypnotisch, seinen fleischigen Stierennacken und die sich bewegende Wulst desselben zu betrachten, wenn er die Seiten im 20 Minuten umblättert, welches er jeweils nach dem Einsteigen in einer Art Ritual stets mit dem gleichen müden, ungeschickt neurotisch anmutenden Griff aus der Zeitungsbox fischt. Er besitzt eine kräftige Statur, die nach peniblem Bodymassindexwertemassstab sogar ganz leicht ins Dickliche abzudriften droht, einen aus fahlblauen Augen herausblinzelnden schlaftrunkenen Blick, eine fleischige Nase, einige Aknenarben auf den Backen und dunkelblondes krauses Wuschelhaar, welches er während der kälteren Jahreszeit halbpatzig unter einer schwarzen Pudelmütze zu verstecken pflegt. Aber sein hervorstechendstes Körpermerkmal ist ganz eindeutig sein bulliger Nacken, der eher an eine weiche, abfedernde Plattform für den Kopf erinnert als an übliche menschliche Anatomie. Ich weiss nicht, wie er heisst, wo er genau wohnt oder wohin er jeden Morgen geht, ich weiss nur, dass mich sein Anblick jeden Morgen mit kaltem Schauer überzieht, der teilweise gar in blanken Hass umschlägt, besonders wenn ich mir die müden, leeren Gesichter der anderen Passagiere anschaue, mich wieder mal wie auf einem KZ-Transport fühle und mir vor Augen führe wie ich seit einer gefühlten Ewigkeit festgeschnallt auf dem unspektakulären Riesenrades der täglichen Wiederkehr an meinen Arbeitsplatz gekarrt werde, zu einem Job, der mich nicht mag und ich ihn noch weniger. Ich starre also auf diese unregelmässigen Fettkontraktionen vor mir und meine aggressionsgepeinigte Seele schnürt mir sämtliche Organe zu einem schmerzhaften Paket zusammen. Meine Hände beginnen unmerklich leicht zu zittern und alles um mich herum verschwindet. Alles bis auf diesen unförmigen Fleischberg zwei Sitze vor mir, der mir wie das hässliche Symbol der abenteuerfreien Eindimensionlität meines Lebens und der monatsrechnungsimmanenten Erpressung zur Führung desselben mit jedem Ruck des Buses seine blasebalgartige Zunge entgegenzustrecken scheint. Irgendwann bewegt er sich dann ruckartig aus meinem unmittelbaren Blickfeld nach oben. Sein Träger ist aufgestanden und schlurft langsam zur Tür. Der Bus hält an und er steigt aus. Ich blicke ihm verachtungsvoll nach, bis der Bus wieder anfährt und ihn meiner Sicht entreisst. Mein Schädel zieht sich unter alpdruckartigen Qualen zusammen. Ich versuche mich zusammenzureissen und schaffe es, mich wieder einigermassen zu sammeln. Dann beginne ich mich zu schämen. Ich schäme mich meines grotesken Hasses. Meine Gedanken sind komplett konfus. Sie schiessen wie ausser Kontrolle geratene Flipperkugeln durch die Hirnbahnen in meinem Schädel, durchzogen von scheinbar sinnloser Ambivalenz. Sie scheinen gewissermassen zu hyperventilieren. Plötzlich fühle ich eine tiefe empathische Verbindung zu ihm, empfinde ihn als meinen Bruder im Leiden, meinen Zellengenossen im Käfig des trostlosen Déja-Vu's. Es ist als ob sich die folternde Bürde meiner sich unaufhörlich drehenden Erwerbsexistenz auf ihn übertragen hätte. Verzweifelt suche ich nach irgendeinem Sinn dieser Seelenachterbahnfahrt. Wie durch das Rauschen eines Wasserfalls höre ich die gleichförmige Stimme des Lautsprechers, die meine Ausstiegsstation ankündigt. Ich erhebe mich verwirrt, aber gleichsam mechanisch von meinem Sitz und steige aus. Ich fühle mich schizophren wie Gollum und schlappe zur Arbeit, hinein in die psychogeographische Katastrophe eines grosszügig lichttransparenten Bürokomplexes. Ein schizoidgemetzgetes Kalb in einem antiexistenzialistisch gemanagten Seelenschlachthaus.
So oder zumindest in sehr ähnlicher Weise präsentiert sich meine Psyche desöfteren auf meiner widerwilligen Reise zum Arbeitsort. Regelmässig gerate ich in meiner schläfrigen morgendlichen Verzweiflung in die Fänge dieser tiefenpsychologischen Verschiebung der Ursache meines eudaimoniaruinösen, mir entfremdeten Alltags auf diesen jungen, dicknackigen Mann, der mit mir den 7Uhr 11-Bus der Linie 81 besteigt. Er scheint das Ventil meines Frustes zu sein, mein geistiger Sandsack, meine angeschrienenen Bäume. Gleichzeitig aber auch der Balsam für meine Systemverzweiflung, der Mittler des wenigstens kurzfristig ein wenig beruhigenden Gefühls, mit meiner Ohnmacht nicht allein dazustehen. Sein fülliger Körper mit dem Hinterkopfbalkon ist mir zur Projektionsfläche für meine verworrene realitätsverabscheuende Gefühlswelt geworden. Richtig kranke Psychohorrorshow.
Irgendwann ist er dann aber plötzlich weg. Der Sitzplatz links am Fenster in der ersten Reihe vor dem mittleren Ausstieg auf einmal verwaist. Etwa zwei Wochen nach seinem Verschwinden ist er dann zwei Stationen nach meinem Einstieg von einem Inder oder Pakistani oder irgendetwas dieser ungefähren Globusgeworfenheit besetzt worden. Jedenfalls von jemandem, der auf mich nicht die geringste psychotische Verschiebung zu erzeugen vermocht hat. Und darüber bin ich verdammt froh.
Manchmal frage ich mich, was wohl aus ihm geworden sei. Hat er einen neuen Job und fährt nun seinen Ochsenhals allmorgendlich zu einer anderen Zeit und auf irgendeiner anderen Busstrecke spazieren? Ist er gar weggezogen? Ist er vielleicht gar tot?
Als ich ihn dann schon beinahe vergessen habe, sehe ich ihn dann aber völlig unerwartet im bierseligen Innern eines Pubs. Er hat seinen massigen Körper in etwa fünf Metern Entfernung zu mir an ein Stehtischchen neben der Bartheke angelehnt und lacht. Ein warmes, überaus sympathisches Lachen. Er unterhält sich mit einem hübschen jungen Mädel, welches ihm hie und da zärtlich über den Arm streichelt und ich freue mich für ihn. Als ich mir an der Bar Bier bestelle, schnappe ich einige Wortfetzen aus ihrem Gespräch auf. Ich erinnere mich nicht mehr wortwörtlich daran, doch hat er seiner Gespielin in etwa erzählt, dass es ihm jetzt, da er umgezogen sei und einen neuen Job habe, bedeutend besser ginge, zumal er dabei ja auch sie kennengelernt habe. Jedenfalls habe ich es durch das Kneipenstimmengewirr so verstanden. Ich beobachte ihn unauffällig aus dem Augenwinkel, während ich auf meine Bestellung warte. Und er scheint mir tatsächlich wesentlich lebensfroher auszusehen als noch anno dazumal auf unseren kaputten Busreisen. Ich finde, dass selbst seine komische Nackenwulst nicht mehr ganz so scheisse aussieht. "Na dann viel Glück, Partner!", denke ich mir und setze mich mit den erworbenen Getränken und einem sich gut anfühlenden hoffnungsvoll aufkeimenden Willen zur persönlichen Lebensumgestaltung wieder an den Tisch zu meinen Kumpels.
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2009
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