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Reglos saß Baldur, seine Hände zusammen gefaltet im Schoß liegend, auf einem alten, kniehohem Baumstumpf. Seinem Gesichtsausdruck konnte man nichts entnehmen. Ganz entspannt hatte er die Augen geschlossen. Sein dunkelgrauer, wollener Umhang hing bis in den tiefen Schnee hinter ihm hinab. Er war von den dicken, fallenden Schneeflocken schon leicht feucht. In jeder Faser des rauen Stoffes hing eine einzige Flocke, die man nur noch als glänzenden Wassertropfen zu verkennen mochte. Das wuschlige, kastanienbraune Haar hing Baldur in Strähnen hinab, ebenfalls schon nass vom Schnee. Es umrahmte sein gerade erwachsen werdendes Gesicht perfekt. Manche sagten, sein Gesicht sei leicht kantig, recht rau wirkend. Doch wenn man genau hinsah, konnte man die Wärme, die davon ausging, sehen. Die grau-grünen Augen lugten stets wachsam, fast misstrauisch unter den geschmeidig geschwungenen Augenbrauen hervor. Die rundliche, recht kleine Nase, welche der Kälte wegen inzwischen einen leichten Rotton angenommen hatte, gab ihm einen kindlichen Ausdruck. Seine Bäckchen waren ebenfalls stark durchblutet. Am Hals setzten kräftige Schultern an, die in bemuskelte Arme überliefen. Trotz der vielen Arbeit wirkte er neben anderen Männern recht schwächlich. Er war mittelgroß und hatte kein Gramm zuviel auf den Rippen. Seine Waden waren vom vielen wandern durchtrainiert. Vor seinem Mund war der heiße Atem bei genauem Hinsehen zu begutachten, der in Stößen hervorkam. Der gerade mal 15 Jährige Junge befand sich auf einer Lichtung inmitten Meltúrs- des magischen Waldes. Dieser Wald war bei allen Wesen, ob Mensch, Elb oder Zwerg sehr gefürchtet. Kaum einer wagte sich in sein Inneres und wer es doch tat kehrte meist nie zurück. Baldur jedoch hatte nie an solche Dinge geglaubt. Er glaubte nicht an Magie, glaubte nicht an Wunder, glaubte überhaupt nur an das, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Schon als kleiner Junge war er in den Wald gerannt. Einmal aus Angst vor einer Strafe. Damals hatte er Äpfel bei seinem Nachbarn stebitzt. Zu des Jungens Pech hatte der Nachbar es bemerkt und hatte sogleich bei ihnen angeklopft. Noch bevor man nach Baldur gerufen hatte, war er aus dem Fenster geklettert und hatte in aller Panik den Weg in diesen Wald eingeschlagen. Seither war er wegen unterschiedlichsten Situationen hierher gekommen. Jetzt, so viele Jahre später, liebte er diesen Ort. Der Wald war fast wie ein zweites Zuhause für ihn geworden. Nach den ersten Monate kannte er jeden einzelnen Baum, jeden Stein, jedes Tier so gut, wie sein wahres Zuhause- die kleine Holzhütte nahe am Fluss Nilôr. Er hatte gelernt die Zeichen der Natur zu deuten, auf das Verhalten der Tiere zu achten und sich diesen anzupassen. An den Vögeln erkannte er schnell, wenn Unruhe aufkam. War etwas im Wald lauter als ein Hase, so flogen die vorsichtigen Zweibeiner in den Himmel auf und setzten sich, wenn sie gesehen hatte, was sie aufgeschreckt hatte, in der Nähe ihres alten Astes nieder. War jedoch ein Jäger in der Nähe oder etwas was den Vögeln unbekannt war, so flogen sie ganz davon. Rehe hingegen liesen sich nur selten blicken. Es waren äußerst scheue, intelligente Tiere. Sie schreckte man schon durch ein leises Knacken eines zerbrochenen Zweiges auf. So wusste Baldur, dass er sicher war, wenn er sie in seiner Nähe erblickt hatte oder gar nur eine recht frische Spuren gefunden hatte. Auch Spuren verfolgen hatte er sich selbst beigebracht. Er erkannte die unterschiedlichsten Abdrücke in den unterschiedlichsten Böden. Er konnte aus ihnen nicht nur die Art des Tieres, sonder auch noch seine ungefähre Größe und seine Gesundheit ausmachen. Lahmte ein Reh, so konnte er dies an der Tiefe der Spuren ablesen. Zudem hatte er gelernt geduldig zu sein. Ein Jäger ohne Geduld war kein guter Jäger. Ein Wolf schlich sich langsam an seine Beute heran und suchte sich auch nur die älteren oder schwächeren Tiere aus. So tat es auch Baldur, wenn er jagte. Er war immer im Einklang mit der Natur- so wie er es auch jetzt tat. Der Wald war ruhig, so war er es auch. Jemand der ihm gesagt hätte, der Wald würde zu dieser Jahreszeit nicht leben, dem hätte der Junge das Gegenteil beweisen können. Man musste nur einmal mit ihm mitgehen, da sah, hörte und spürte man die eigenartigsten Sachen. Der Wald war lebendiger wie das heiterste Mädchen in Olêgria, wie Baldur gerne sagte. Der Wald hatte so viele Seiten und jeden Tag lernte er etwas Winziges, neu kennen. So spürte Baldur zum ersten Mal in sich tiefe Zufriedenheit. Er spürte keinen Schmerz, keine Trauer, keine Freude, sondern nur Zufriedenheit. Zufrieden konnte er sein. Er hatte ein Reh erlegt und viel Fleisch von diesem bekommen. Zudem würde das Fell Geld einbringen, wovon seine Familie endlich ein neues Scheunendach bauen könnte. Kaum hörbar tropfte der getaute Schnee auf den Boden. Die Äste der Nadelbäume hingen von der schweren Last tief hinab. Hingegen standen die kahlen Laubbäume wie unberührte, fast tote Stämme da. Alles wirkte so eigenartig unantastbar, so verlassen. Der Himmel war gräulich blau. Ein sanfter Wind fegte durch die Alleen der Bäume hindurch und über die Lichtung hinweg. Baldurs Haar wurde aufgewirbelt. Einzelne Haare kitzelten ihn an der Wange und im Nacken, sodass er für einen Wimpernschlag lang belustigt erschien. Eine Strähne kräuselte sich in der Luft und legte sich dann sanft wieder nieder. Langsam öffnete er die Augen. Ein unscheinbares Lächeln umspielte seine sinnlichen Lippen. Mit einem Seufzer fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Seine Augen wanderten über die Lichtung, vorbei an den knorrigen Baumstämmen und empor zum Himmel. Seine Arme hoben sich und mit einem Satz stand er nun auf, die Hände auf seine Oberschenkel gestützt. Schwungvoll warf er sich den olivgrünen Rucksack über die Schultern, indem sich das erlegte Fleisch des Rehs, sowie das Fell befanden. Das Gewicht lies sich seinen Rücken wölben und zog ihn nach hinten, unten- dem Boden entgegen. Entschlossen spannte er seine Muskeln an, hob die Schultern an und maschierte los. Unter seinen schwarzen, ledernen Stiefeln gab die weiße Decke mit einem Knirschen nach. Mit jedem Schritt hinterlies Baldur eine Fußspur mehr im Schnee. Glitzernd reflektierte die weiße Pracht die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Die Sonne stand kurz vor Westen und würde schon bald ganz verschwunden sein. Baldur marschierte ganz in seinem Element durch den Wald. Stapfte durch die Schneewehen, stieg über Baumstämme hinweg und übersprang seinen Weg kreuzende Bäche. Schließlich erreichte er den Waldrand. Ein klarer, mit eisigen Quellwasser gefüllter Fluss rauschte, nahe bei ihm, unaufhörlich vorrüber. Wie ein blaues Band zog er sich durch das Gebirge hinab in die Ebene, ein Stück durch den Wald um dann im See Nithrín zu enden. Für einen Augenblick hielt der Junge inne. Er war zwei Fuß aus dem Baumdorf getreten. Unter ihm lag das im Schatten liegende Dorf Argoth- seine Heimat. Über ihm hatte sich der Himmel in ein orange-rosa gefärbt. Die Farben vermischten sich ineinander und zogen sich als dünne Streifen im Westen entlang. Der Himmel darüber färbte sich schon in ein dunkles Blau. Baldur genoss die letzte Wärme der Sonnenstrahlen, die sich sanft auf sein Gesicht legten. Schließlich setzte sich der Junge wieder in Bewegung. Zielstrebig steuerte er auf das Dorf zu, das still vor ihm lag. Als er dort ankam war es bereits stockduster. Nur durch den hellscheinenden Mond und die funkelden Sterne konnte Baldur noch den Trampelpfad, der von einem Haus zum anderen führte erkennen. Er lief vorbei an dem Schankhaus, aus dem lautes Gelächter zu ihm Drang, vorbei an einzelnen kleinen Häusern, aus deren Fenstern gelber Lichtschein drang, durch das Dorf hindurch, einen Feldweg entlang und einen Hügel hinauf. Vor ihm stand eine kleine Holzhütte, hinter der sich noch drei Gebäude befanden, der Stall mit angebauter Scheune und das Haus seines Nachbarn. Alles lag friedlich da. Geräuschlos öffnete er die niedrige Haustüre. Frische Luft brachte er sogleich mit ins Haus. Im Inneren der Hütte war es wohlig warm. Es roch nach verbranntem Holz, Lebkuchen, Stollen und frischer Tanne. Hastig streifte sich der Junge seinen feuchten Umhang ab. Sofort vielen tausend einzelne Tropfen auf den Holzboden, doch Baldur blieb dessen unbeachtet und hängte sein Kleidungsstück an einen kleinen, an der Wand angebrachten Haken. Seine Stiefel streifte er sich ebenfalls von den kalt gewordenen Füßen. Glücklich hob er wieder seinen abgestellten Rucksack auf und schlich den Gang entlang vor eine weitere Holztüre, welche nur angelehnt stand. Aus dem Raum dahinter drangen durcheinander redende Stimme, alle scheinbar sehr fröhlich. Auch die so verführereischen Düfte stammten aus diesem Zimmer. Ein breites Lächeln machte sich in Baldurs Gesicht breit. Er schob die Türe auf und augenblicklich hielten die Insassen inne. Zwölf Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Forschend blickten sie ihn an, glitten dann über seinen Körper. Dann war Neugierde in aller Blicke zu erkennen. Ein jeder versuchte hinter Baldurs Rücken zu schielen. Der Junge lachte leise auf und zog seine schwere Beute hervor. Die Aufmerksamkeit aller war nun fixiert auf den olivgrünen Stoff. In jedermans Augen war zu verkennen, wie gespannt sie auf die Enthüllung waren. Kaum einer wagte es zu atmen. Jeder wollte nur noch wissen, was der fast Erwachsene da mitgebracht hatte. Alle hatten große Hoffnungen, hatten jedoch Angst an das Schönste was es sein könnte zu glauben. So stand der Raum förmlich still, bis Baldur breit grinste und voller Stolz den Sack aufschnürte, um das frische, dunkelrötliche Fleisch zu präsentieren. Die Körper der Sitzenden beugten sich weiter vor, um mehr sehen zu können. Manche Augen wurden erstaunt aufgerissen. Andere schraken zurück, wieder andere saßen mit heruntergeklappter Kinnlade auf ihrem Stuhl. Baldur hingegeben blieb unverändert ruhig, breit grinsend stehen. Seine Augen funkelten voller Stolz, voller Glück. „Frohe Weihnachten!“,flüsterte er nun in die Runde. Mit diesen Worten löste sich die Anspannung aller. Jeder lachte auf, seine Mutter schrie vor Glück, die Großmutter fing leise an zu weinen und alle waren glücklich. Als sich die Meute beruhigt hatte, hockte sich der Junge auf die Sitzbank vor dem Kamin nieder. Ein Feuer knisterte in dessen. Knackend gaben die Äste unter der Hitze nach. Glühende Funken sprühten immer wieder auf und landeten sachte auf dem Boden. Die von den Flammen ausgehenden Wärme durchflutete Baldurs Körper. Legte sich auf seine zuvor kaum noch spürbaren Finger und Zehen nieder und schien sie wie Eis aufzutauen. Des Jungen Augen wanderten durch den Raum und blieben auf dem Tisch haften. In dessen Mitte stand ein Korb gefüllt mit den feinsten Äpfel die er jemals gegessen hatte. Rundliche, große, rote und grüne Äpfel bis zum Rand des Korbes aufgeschichtet. Der Junge drückte sich vom Stuhl ab und hatte den Tisch mit zwei großen Schritten erreicht. Nach kurzem Zögern griff er nach einem der Äpfel. Auf dessen Oberfläche schimmerte das Licht der Kerzen und des Feuers. Das rot stach ihm in die Augen. Glücklich biss Baldur in die Frucht. Knackend brach ein Stück auf. Genießerisch kaute der Junge auf dem Stück herum. Nur so schmeckte ein perfekt gereifter Apfel- Süß, knackig und mit einem Hauch von Sauerkeit. Einfach perfekt. Seine Augen wanderten wieder durch dem Raum und blieben auf Nicolas hängen. Seinem Nachbarn, der nun schon einige Jahre lang Weihnachten mit ihnen feierte und nur wegen Baldur immer Äpfel mitbrachte. Er kannte des Junges Vorlieben und lachte immer wieder auf, wenn dieser ihn- was er nun immer tat- nach einem Apfel fragte. Der Junge hatte viel dazugelernt. Er wusste besser als alle anderen, dass der Wald nicht gefährlich war, solange man sich auch an dessen Regeln hielt. Nur nehmen was man brauchte. Das Gleichgewicht in der Natur beibehalten und auch geben. Baldur verteilte immer Körner im Wald- für die Vögel und für die Rehe Heu. So befand er, war es gerecht was er tat. Er gab etwas her und nahm sich im Gegenzug auch etwas. Zudem bauten sich keine Vorurteile mehr auf. Von Nicolas hatte er vollstes Verständnis erfahren und soviel Fürsorge, wie er es sich nicht einmal in seinen Träumen gewagt hätte zu denken. Seine Angst vor dem Mann war unbegründet gewesen. Sein unhöfliches Verhalten ebenso. Er hätte fragen können und nicht denken, dass der Mann ein Geizkragen war, wie es alle im Dorf dachten.

Die Fehler erkennt ein Fremder sofort, die Vorzüge erst viel später. von Romain Rolland

Wer nicht gerne denkt, sollte wenigstes von Zeit zu Zeit seine Vorurteile neu gruppieren. von Luther Burbank

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Texte: Das Copyright liegt ausschließlich bei Nienor!
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2010

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