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1. Kapitel

Der Fischerjunge

Val holte die Angel aus – einen Moment segelte der Köder durch die Luft, dann landete er mit einem lauten Platschen im türkisblauen Wasser. Val schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte sich rücklings ins Gras. Die Angelrute lehnte er sich locker an den Oberschenkel; so konnte er jederzeit reagieren, wenn ein Fisch daran zupfte. Der Junge kaute lässig an einem Grashalm, wartete und genoss die hellen Sonnenstrahlen auf dem Gesicht.

Die Nusnuth-Insel nannte er seit mittlerweile knapp dreizehn Jahren seine Heimat; hier war er geboren und aufgewachsen. Sie lag inmitten der Weiten des Westmeeres und weil sie so klein war, hatte man sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, sie in die neuen Weltkarten der Gelehrten zu integrieren. Nur selten, zwei bis dreimal im Jahr vielleicht, verschlug es daher Besucher von außerhalb an diesen Ort. Das war den Inselbewohnern nur recht. Seit Jahrhunderten hatte sich am traditionsbewussten Leben auf Nusnuth nichts geändert, und das sollte auch so bleiben.

Irgendwann – Val hatte jedes Zeitgefühl verloren – fiel ein Schatten über ihn und er schlug die Augen auf. Sein bester Freund Robin stand über ihm und grinste ihn an.

"Na, schon was gefangen?", fragte er.

"Ne …" Val setzte sich auf, nur um sehen zu müssen, dass die Angel von seinem Bein herunter gerutscht war und unnütz im Gras lag. Er war eingeschlafen, ohne es zu merken. "Mist", schimpfte er.

"Ach, heute beißen sie sowieso schlecht", feixte Robin. "Warum ich dein Mittagsschläfchen eigentlich unterbreche … Schau mal, was da gelandet ist! Fremde."

Vals Interesse war geweckt. Er strich sich das blonde Haar aus der Stirn und folgte seinem Blick.

Ein kleines Ruderboot mit drei Insassen näherte sich der Insel. Wären die Passagiere nicht auffällig anders gekleidet gewesen, hätte man sie spätestens an der stümperhaften Art, wie sie ihr Boot vertäuten, als Auswärtige erkannt.

"Amateure", sagte Val.

"Was die wohl hier wollen?", überlegte Robin.

"Finden wir's raus."

Robin nickte und grinste wieder. Er mochte Vals Neugier und seine Abenteuerlust, Eigenschaften, die für die Bewohner der Nusnuth-Insel eher untypisch waren. Normalerweise schlugen sie den Blick nieder und gingen einen anderen Weg, wenn sie auf etwas Unbekanntes stießen; die Nusnunnen waren ein eigenbrötlerisches Volk.

In der Zeit, die sie benötigten, um von der Landzunge zum Strand zu laufen, gelang es den Fremden schließlich, an Land zu kommen. Mehr schlecht als recht befestigten sie das Boot an einem der dafür vorgesehen Holzpflöcke, wodurch sich die Flut nur umso mehr dazu veranlasst fühlte, sich ihre Beute schnellstmöglich zurückzuholen.

Val fiel auf, dass einer der Fremden noch recht jung war, kaum älter als er selbst, kaum älter also als dreizehn. Bevor dieser vom Boot sprang, inspizierte er den Sand mit gerümpfter Nase, als fürchtete er in etwas ungeheuer Dreckiges zu treten. Er wandte sich zu den beiden deutlich älteren Männern in seiner Begleitung um und sagte etwas zu ihnen, woraufhin sie nickten und nach schweren roten Holzkisten am Bug des Schiffes griffen. Anscheinend hatte der Junge das Kommando über sie. Das fand Val doch recht ungewöhnlich.

Als er ihre Schritte hörte, wandte der fremde Junge den Kopf nach ihnen. Er hatte kurze schwarze Haare, dunkler als die Robins, und kalte blaue Augen. Aber was Val als erstes gegen ihn einnahm, war der überhebliche Ausdruck in seinem Gesicht. Ja, er sah sie an, als wäre er etwas Besseres. Dann fing er an zu sprechen und bestätigte prompt diesen ersten Eindruck. Ohne sich die Mühe zu machen, die Stimme zu dämpfen, sagte er zu seinen Gefährten in einer lauten, schnarrenden Stimme:

"Seht doch, Einheimische", als wären sie eine andere Art von Mensch.

Unwillkürlich wurde Val wütend.

"Was wollt ihr hier?", fragte er und stellte sich mit verschränkten Armen vor ihm auf.

"Das geht dich nichts an, Fischerjunge", gab der andere zurück. Spöttisch wanderte sein Blick von Vals unordentlichem Haar über die ausgefransten Hosen bis hin zu den schmutzigen Füßen; wie immer war Val barfuß unterwegs. Es war sozusagen Tradition auf Nusnuth. Darüber oder über seine ärmliche Kleidung hatte er sich bisher nie irgendwelche Gedanken gemacht, jetzt aber konnte er nichts dagegen tun, dass er sich schämte.

Er wurde nur umso wütender. "Lass mich raten, was du bist. Gelehrter, wenn man deiner Tracht nach urteilt."

"Das ist feinster Brokat", erwiderte der Fremde, während ihm ein Hauch Rosa ins Gesicht stieg. "Teurer als alles, was du jemals besessen hast und besessen wirst, nehme ich an."

"Ich brauche nichts, was mich wie einen Trottel aussehen lässt."

"Stimmt, das tust du ja ohnehin schon."

Val machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus einem Zischen und einem Knurren klang. Seine Hand zuckte beinahe automatisch zum Messer in seinem Gürtel. Wenn ihn jemand beleidigte und dabei war es egal, ob derjenige Fischerjunge oder Gelehrtensohn war, dann würde er ihn für diese Beleidigung herausfordern. Er machte einen Schritt nach vorn und Robin tat es ihm gleich.

"He, alles klar?", kam in diesem Moment eine Stimme aus der Ferne herüber geschallt.

Die Anspannung, die in der Luft lag, löste sich in Nichts auf. Val hielt widerwillig inne und sah über die Schulter. Es war Kapitän Nepomuk, der da über den weißen Sand auf sie zugelaufen kam, wie immer in perfekter Seemannsgarnitur. Seine gefütterte rote Weste, die er auch bei dreißig Grad im Schatten nicht auszog, (angeblich hatte sie ihm sein allererster Lehrmeister vermacht, kurz bevor er den Weg in die ewigen Gewässer angetreten hatte), glänzte wie frisch gebürstet und sein schwarzer Hut saß wie gewöhnlich etwas schief auf seinem Scheitel. Val warf dem fremden Jungen einen wehmütigen Blick zu. Nepomuk würde keine Prügelei dulden und wenn Val auf jemanden hörte, dann auf den Kapitän. Er nannte nämlich die Mondlicht sein Eigen, das schönste Schiff, das jemals im Hafen von Nusnuth angedockt hatte, und Val träumte seit frühester Kindheit davon, einmal Mitglied ihrer Besatzung zu sein. Aber das würde Nepomuk niemals zulassen, wenn er namhafte Fremde verprügelte, denn er war ein sehr rechtschaffener Mann.

"Gibt es ein Problem?", fragte der Kapitän, als er nahe genug war. Schweiß perlte ihm von der Stirn und sein Atem ging schnaufend wie bei einem Walross. Seine körperliche Verfassung war nicht gerade die, welche sich eine besorgte Ehefrau für ihren Mann wünschte; alles in allem hatte er mehr Ähnlichkeit mit einem Fass als mit einem Menschen, fast so, als hätte er sich die Ware zum Vorbild genommen, die er tagtäglich vom Festland auf die Insel transportierte.

Der Fremde musterte ihn mit unverhohlener Verachtung. Erst nach einer Weile ließ er sich zu einer Antwort herab. "Mein Name ist Leonhard Stark und ich bin Gelehrter der dritten Garde. Im Namen meines Bundes habe ich mich aufgemacht zu dieser … ähm schönen Insel, um mit dem Dorfältesten über eine wichtige Angelegenheit zu sprechen, die höchster Geheimhaltung bedarf."

Nepomuk sah ihn an, ein wenig verwirrt ob der geschwollenen Redeweise, und nickte dann. "In Ordnung. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt …"

Robin, der die verlorene Gelegenheit zu einer Rauferei nicht so einfach hinnehmen wollte, unterbrach ihn. "Du bist kein Gelehrter, denn dann wären die Köpfe deiner Weste golden und an der rechten Seite geknüpft. Deine sind aber nur bronzen und klein wie Manschettenknöpfe."

Val sah seinen Freund erstaunt an. Woher wusste er das? Auch der Fremde wirkte überrascht. Es stimmte offenbar, was Robin sagte, denn er lief tiefrosa an und blaffte: "Ich bin noch in der Ausbildung, Torfkopf! Was verstehst du schon davon?"

"Gerade genug." Robin machte einen Schritt nach vorn.

"Genug jetzt!", ging Nepomuk dazwischen. Seine grauen Augen blitzten wütend. Mehr brauchte es nicht, um die beiden Kontrahenten auseinanderzubringen; niemand wollte sich mit einem Mann anlegen, der fünfmal so groß war wie man selbst. "Ich bin enttäuscht von euch beiden, dass ihr Fremden vom Festland mit so wenig Respekt begegnet." Dann wandte er sich dem Jungen erneut zu. "Erlaubt mir, dass ich Euch zu unserem Dorfältesten zu Eurer Unterredung bringe, Herr Stark. Folgt mir, bitte."

Leonhard ruckte nur kurz mit dem Kopf; besser konnte er seine Zustimmung offenbar nicht zum Ausdruck bringen. Val und Robin warf er einen letzten verächtlichen Blick zu, ehe er an ihnen vorbei stolzierte, seine beiden stummen Gefährten im Schlepptau.

Als sie weg waren, sahen die beiden Jungen sich ungläubig an.

"Was war das denn?", fragte Robin, den Blick starr auf die davonziehende Gruppe gerichtet.

"Ich hab keine Ahnung", sagte Val.

"Wie der mit uns umgesprungen ist und das, obwohl er noch nicht einmal ein richtiger Gelehrter ist!"

"Woher wusstest du eigentlich den Quatsch mit den Knöpfen?"

"Ach, hab ich so aufgeschnappt", sagte Robin ausweichend und Val hatte das Gefühl, dass er ihm nicht ganz die Wahrheit sagte.

 

An der Weggabelung verabschiedete Val sich von seinem Freund und beobachtete noch, wie sein brauner Haarschopf hinter dem Hügel verschwand. Dann setzte er sich langsam in Bewegung und ein lustloser Seufzer entfuhr ihm. Er wollte nicht nach Hause. Ob sein Vater es heute wohl bis ins Bett geschafft hatte oder ob er wieder auf dem Fußboden lag, die Weinflasche in der Hand und eine Lache Erbrochenes neben sich? Das Herz wurde ihm schwer beim Gedanken daran.

Wie sich herausstellte, hatte er es nicht mal bis nach Hause geschafft. Val lief gerade an der Schänke Zum Buckligen Piraten vorbei, als sich die Tür öffnete und Desiderius, der Wirt, seinen Vater am Schlafittchen gepackt, aus der Taverne beförderte. Desiderius war ein bulliger Mann, der, sei es aufgrund der schweren Arbeit in der Taverne, sei es aus genetischer Veranlagung, stets einen hochroten Kopf aufhatte, der jeden anständigen Sonnenuntergang in Verlegenheit gebracht hätte. Robin und Val hatten ihm deshalb den wenig schmeichelhaften Spitznamen "Kapitän Shrimp" verliehen, wovon der aber glücklicherweise keine Ahnung hatte.

"Es ist zehn Uhr am Vormittag und ich schließe jetzt!", schrie er gerade. "Komm wieder, wenn du deine Zeche bezahlen kannst, Trunkenbold!"

Adolar landete mit dem Gesicht im Dreck. Seine Hose war bereits voller Flecken und sein Hemd an mehreren Stellen zerrissen. Er keuchte, drehte sich auf den Rücken, strampelte wie ein liegengebliebenes Insekt mit Händen und Füßen und brüllte Desiderius wüste Beleidigungen zu.

Desiderius sah Val, wie er den Weg herauf schlurfte und sein Gesicht verdüsterte sich. "Kannst deinen Vater gleich mit nach Hause nehmen!", rief er ihm zu. "Eine Schande ist das ...", murmelte er, als er zurück ins Wirtshaus stapfte und die Tür hinter sich zuschmiss.

Val stand da und wünschte sich, ein Loch im Boden würde sich auftun. Einen Moment lang überlegte er, seinen Vater einfach liegen zu lassen, wo er war, und alleine nach Hause zu gehen. Aber das ging natürlich nicht. Stattdessen holte er tief Luft und wappnete sich innerlich für die bevorstehende Auseinandersetzung. Schon aus ein paar Metern Entfernung konnte er die Alkoholfahne riechen, die Adolar aus dem Mund drang. Es war kein leichter Weg. Vor langer Zeit, so hatte Val von verschiedenen Seiten gehört, hätte sein Vater einmal eine angesehene Stellung auf der Insel inne gehabt. Blaues Blut flösse in ihren Adern, so hieß es weiterhin, deren Ursprünge auf das Festland zurückgingen. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Val straffte die Schultern und stellte sich über den am Boden liegenden Mann. Ein Schatten fiel auf sein Gesicht.

Zuerst erkannte Adolar seinen Sohn nicht.

"Nimm deine Finger von mir, du dreckiger Bastard!", schrie er, als Val ihn auf die Beine ziehen wollte. "Was willst du? Mich ins Meer werfen? Dir zeig ich's, du-!"

Er holte mit der Linken aus, Val duckte sich gewohnheitsmäßig unter dem Schlag weg und Adolar verlor beinahe das Gleichgewicht, so sehr schwankte er.

"Dad, ich bin's", murmelte Val.

"Val?", schrie Adolar und schielte an ihm vorbei. "Mein Junge, wo hast du denn gesteckt? Hast du Geld dabei? Ich muss mir etwas zu trinken kaufen!"

"Nein, Dad, ich hab nichts dabei", sagte Val, griff ihm unter die Arme und stützte ihn.

"Ah ja", sagte Adolar und Ärger flackerte in seinen Zügen auf. "Willst ja nicht, dass ich trinke, hab ich ganz vergessen. Ist dir dein alter Vater dann peinlich?", fügte er mit lauter Stimme hinzu. Ein paar Leute in ihren Gärten drehten sich um und glotzten.

"Nein, Dad", sagte Val leise und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.

"LÜG NICHT!", brüllte Adolar.

Val nahm das meiste seines Gewichts auf sich, was bei dem schweren Mann ganz schön viel war. Vom Schweißgeruch, der ihm unter den Achseln hervorkroch, wurde ihm übel. "Sei still jetzt", sagte er wütend. "Wir gehen nach Hause."

Es war eine ungeheure Anstrengung, den alten Mann auf dem Weg zu halten. Die Leute in ihren Gärten starrten ihnen nach, machten aber keine Anstalten, ihm zu Hilfe zu kommen. Danke!, dachte Val. Danke für eure Unterstützung und dass ihr immer für mich da seid! Er hätte es laut gesagt, befürchtete aber, seinen Vater damit zu neuen Schimpftiraden anzustacheln. Der hatte die wütende Phase seines Rausches überwunden und wurde nun schwermütig.

"Deine Mutter hat immer genauso das Kinn vorgereckt, wenn sie wütend auf mich war", nuschelte er und schielte Val von der Seite an. "Du siehst ihr so ähnlich ... Eure Haarfarbe ist dieselbe ..."

Val hatte das schon oft gehört. Besser gesagt jedes Mal, wenn Adolar betrunken war, erzählte er ihm von seiner Mutter, weinte und fluchte. Also eigentlich jeden Tag.

"Komm, Dad, versuch gerade zu gehen."

"Es tut mir leid, dass ich trinke. Es tut mir leid, dass ich nicht stärker bin."

"Schon gut." Val kannte auch die Entschuldigungen zur Genüge, konnte sie nicht mehr hören. Er wusste, dass Adolar sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern würde. Er konzentrierte sich aufs Gehen. Immer einen Fuß vor den anderen setzen, links, rechts, links, rechts und unter dem Gewicht nicht zusammenbrechen, das war die Devise.

"Aber eigentlich ist es ja deine Schuld, dass sie fort ist!", schrie sein Vater plötzlich und Val fuhr zusammen. "Ich muss mich also gar nicht entschuldigen!"

Val presste die Lippen aufeinander. Auch diesen Satz hatte er erwartet, obwohl diese Anschuldigung in letzter Zeit seltener geworden war. Früher hatten seine Augen gebrannt und seine Kehle hatte sich zugeschnürt, wenn Adolar es ihm an den Kopf geworfen hatte. Nun trug er es mit Fassung. Es ist der Alkohol, der da spricht, sagte er sich. Es ist nicht dein Vater. Aber eigentlich hatte er keine Ahnung, wie sein Vater wirklich sprach. Seit Vals Mutter bei seiner Geburt gestorben war, hatte Adolar getrunken. Um seinen Sohn hatte er sich kaum gekümmert, sondern ihn stattdessen bei den Nachbarn gegenüber, einem netten alten Ehepaar, abgeschoben, die die meisten seiner Erziehungsaufgaben übernommen hatten. Val mochte sie. Aber die Last, die sein Vater ihm tagtäglich aufhalste, konnten sie doch nicht schmälern. Vielleicht war das der Grund, warum er so schnell erwachsen geworden war, dachte er manchmal.

Sie betraten die Brücke. Sie hatten es bald geschafft, Val konnte ihr weißes Inselhäuschen auf dem Hügel ausmachen und er seufzte erleichtert.

"Ich liebe dich, Val", nuschelte sein Vater. Er hatte die Augen geschlossen, eine einzelne Träne rann über seine Wange. "Auch wenn ich das schlecht zeige, ich liebe dich."

Val nickte nur. Das wusste er. Tief im Herzen wusste er es. Und trotzdem war es schwer zu verzeihen.

 

Sie betraten das kleine Steinhäuschen. Ächzend hievte Val seinen Vater in die Höhe und trug (oder vielmehr schleifte ihn) zu dem Sofa an der Wand. Dort streckte er ihn aus und fand sogar noch eine Decke, die er ihm überwerfen konnte. Er betrachtete ihn eine Weile. Im Schlaf wirkte er friedlich, beinahe glücklich und um viele Jahre jünger. Aber Val wusste, dass er sich nicht mehr erholen würde. Es ging bergab mit ihm und zwar immer schneller.

Der Junge rieb sich mit der Hand über die Stirn, da er wie so oft in letzter Zeit von heftigen Kopfschmerzen geplagt wurde. Er seufzte. Die ständigen Streitereien mit seinem Vater hatten ihn erschöpft. Da gewahrte er das Rascheln von Kleidung hinter sich.

Er fuhr herum und sah einen kleinen hellhaarigen Jungen in der Türschwelle stehen. Die großen braunen Augen waren dieselben, die ihm jeden Tag aus dem Spiegel entgegenblickten.

"Arved!", fuhr er seinen kleinen Bruder an. "Wie lange stehst du schon da?"

Arved antwortete nicht, zappelte unruhig auf der Stelle, erschrocken, dass Val wütend auf ihn war.

"Vater schläft", sagte Val. "Er-" Aber es hatte keinen Zweck zu lügen. Arved war schlau für sein Alter, erschreckend schlau. Sein Blick schweifte über die Weinflasche am Boden, ein Überbleibsel des gestrigen Trinkgelages, und Val bückte sich schnell danach, versteckte sie hinter seinem Rücken. Er wollte Arved, so gut es ihm eben möglich war, von der Sucht ihres Vaters abschirmen. Natürlich war er nicht immer zu Hause, wenn Adolar anfing, herumzuschreien und Sachen durch die Gegend zu werfen. Zu Arved war er dabei mitunter sehr grob. Der Grund dafür war, dass Arved eine andere Mutter hatte als Val. Sie hatte ein paar Jahre nach seiner Geburt die Insel verlassen, weil sie Adolars Alkoholkonsum nicht ertragen hatte. Adolar hatte sie nie geliebt. Deshalb liebte er auch Arved weniger als Val. Und das Schlimmste daran war, dass Arved das wusste. Vielleicht ist er deshalb so seltsam, dachte Val.

"Komm, wir gehen nach draußen", sagte er in freundlicherem Tonfall zu ihm. "Wir können der Katze ein paar Innereien hinwerfen."

Sie verließen das Haus, nur weg von dem stinkenden Körper, der alles war, was sie von ihrem Vater noch hatten. Sie gingen in den Hinterhof und Val setzte sich auf die Bank, während Arved die schwarze herrenlose Katze, die in der Nachbarschaft herumstreunte, mit Fischinnereien fütterte. Val sah sie an, wie sie gierig das Fleisch verschlang, dachte aber an etwas anderes. Wenn er Arved doch nur irgendwie vor ihrem Vater beschützen könnte, irgendwie, immer …

Nach einiger Zeit kam Rahel, Nachbarstochter und Freundin der beiden Jungen, aus dem gegenüberliegenden Haus geschritten, in den Händen trug sie einen Wäschekorb. Es war ihr Großvater, der sich seiner angenommen hatte, nachdem Vals Vater dem Alkohol verfallen war. Rahel und er waren zusammen aufgewachsen, sie war daher fast so etwas wie eine Schwester für ihn.

Arved fuhr sie einmal kurz über den hellen Haarschopf. Er blickte nicht auf. Dann setzte sie sich neben Val auf die Bank und musterte ihn abschätzig. Offenbar fand sie, dass er mitgenommen aussah, obwohl er sich angestrengt um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte. Eine Brise fuhr ihr durchs lange braune Haar und ließ es fliegen.

"Alles klar?", fragte sie. "Wie geht es deinem Vater?"

Val schüttelte nur den Kopf. Er wollte nicht darüber reden, vor allem nicht vor Arved.

Sie schwiegen eine Weile. Dann erst bemerkte Val die roten Flecken auf Rahels Wangen und wie sie ungeduldig mit ihren Fingern auf den Wäschekorb trommelten. Auch ihr schien eine mächtige Laus über die Leber gelaufen zu sein.

"Und bei dir?", fragte er langsam. "Alles klar?“

Sie kniff die Augen zusammen und steckte sich die langen braunen Haare hinters Ohr. Über ihrer Nasenwurzel erschien eine steile Falte. "Nicht wirklich", meinte sie verdrossen.

"Was ist passiert?"

"Dieser Kerl hat sich bei uns eingenistet und er ist der größte Widerling, den die ganze Welt je gesehen hat! Er-"

Es gab nicht viele Leute, über die Rahel so reden würde. Val durchfuhr es wie ein Stich. "Sag nicht, du redest von Leonhard Stark!", sagte er erschrocken und vergaß für einen Moment sogar seinen Vater.

"Genau der. Dieser Idiot vom Festland. Du kennst ihn?", fragte sie und richtete ihren verärgerten Blick auf ihn.

"Also kennen wäre übertrieben … Robin und ich hatten vor, uns mit ihm zu prügeln."

Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über ihre Lippen und sie war ein wenig nachgiebiger zu ihrem Wäschekorb. "Silvanus hat das auch schon probiert. Da hat dieser Fremde herum geschrien, was für gewalttätige Barbaren wir doch seien, alle miteinander. Vielleicht hat er dich damit gemeint."

Val zuckte die Schultern. "Also, was hat er gemacht?"

Sie zog die Brauen zusammen, dann sprudelte alles aus ihr heraus. "Den ganzen Morgen ist er im Dorf hin und hergelaufen, hat sich wichtig gemacht, sich überall dreimal vorgestellt … Dann hat er jemanden gesucht, bei dem er übernachten kann, nachdem er Lelios Herberge ausgeschlagen hat mit der Begründung, er wolle sich keine Krankheiten holen von all dem Dreck und Ungeziefer dort." Sie schaute ihn vielsagend an.

Val wollte empört den Mund aufmachen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

"Dabei ist er auf Großvater gekommen, da er ja bekanntlich der reichste Mann im Dorf ist. Wegen dieser Geschäftsbeziehungen, die er damals auf dem Festland hatte." Sie rollte die Augen. Val wusste, dass sie das Geld ihrer Familie manchmal verfluchte. Deshalb nämlich verbot ihr ihr Großvater, den Jungen ihrer Wahl zu heiraten, und sagte, es müsse jemand von Stand sein.

"Na und jedenfalls", erzählte sie weiter, "hat er sofort angefangen, sich zu beschweren. Das Bett sei zu klein, das Licht zu hell, die Aussicht zu gewöhnlich -"

Sie hielt inne, fixierte plötzlich etwas hinter ihm und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Val bekam einen eisigen Schrecken, er wusste sofort, warum. Er wirbelte herum und sah Arved am Boden liegen. Der Junge zuckte am ganzen Körper, die Augen standen offen und waren glasig zum Himmel gerichtet.

"Arved!" Sofort war er bei ihm, hielt seinen schmächtigen zuckenden Körper auf den Boden gedrückt. Er konnte ihn nur mit Mühe unten halten.

"Was ist mit ihm?", rief Rahel entsetzt und stürzte neben ihn. Sie hatte zwar gehört, dass so etwas passieren konnte, war aber noch nie Zeuge seiner merkwürdigen Anfälle geworden.

"Pack seine Füße und drück sie nieder", befahl Val. "Damit er sich nicht weh tut."

Wie in Schock machte sie, was er sagte.

Es war unheimlich, wie Arveds Glieder unter ihren Händen gewaltsam in die Höhe zuckten, über seine Lippen aber kein einziger Ton kam. Es war stattdessen unheimlich still im Hinterhof, kein Vogel zwitscherte und kein Blatt wirbelte über den Boden. Die Katze war verschwunden.

"Was können wir tun?", rief Rahel.

"Nichts. Wir müssen warten, bis es vorbei ist."

Rahel wurde von stummen Schluchzern geschüttelt und Val sah, wie Tränen aus ihren Augen liefen. Er war überrascht und fragte sich, wie es wohl sein musste, das zum ersten Mal zu sehen. Er konnte es sich nicht vorstellen.

"Was ist das?", fragte sie noch einmal und ihre Stimme zitterte.

"Es ist … eine Art Anfall", sagte Val langsam. Er hatte nicht so sehr direkt Angst vor dem Anfall selbst, aber vor dem, was danach kam. Ob Rahel das auch akzeptieren könnte?

"Kannst du bitte ins Haus gehen und etwas Riechsalz holen?", bat er sie, als das Zucken schwächer wurde. "Es ist unter der Spüle."

Sie sprang sofort auf und lief nach drinnen. Es war kein Riechsalz unter der Spüle, also würde sie hoffentlich einen Moment lang beschäftigt sein.

Arveds Blick klärte sich, das Zucken seiner Glieder wurde schwächer und er richtete sich zitternd auf. Val hielt seine Schultern fest umschlungen, als könnte er ihm damit etwas von seinem Leid nehmen.

"Arved?", fragte er.

Arveds Stimme klang anders, als er sprach, älter und mechanischer. "Ich sehe Blut … eine Menge Blut … viele Schmerzen … Amalthien-"

"Arved, bitte." Davor hatte Val Angst gehabt. Vor den merkwürdigen Aussprüchen, die er nach diesen Anfällen von sich gab. Seine Worte liefen ihm über den Rücken wie Seetang und die Haare auf seinen Unterarmen stellten sich auf. "Wir sind hier sicher, du und ich, auf der Insel Nusnuth", sagte er und es hörte sich an wie verzweifeltes Bitten."Die Sonne scheint, nirgends ist Blut … " Hör auf so seltsames Zeug zu reden! Sei normal.

"Val." Arved war plötzlich wieder ganz bei sich und er schaute seinem älteren Bruder ins Gesicht. Aber sein Blick war nicht entschuldigend, wie er es für gewöhnlich wurde, wenn er nach der Attacke wieder zu sich gefunden hatte, sondern er war von Horror erfüllt.

"Val!", stieß er noch einmal hervor.

"Ja, ich bin da!" Val packte ihn an den Schultern, hielt ihn ganz fest, wie um ihm seine Nähe zu beweisen. "Ich bin da."

Aber Arved wollte sich nicht beruhigen lassen, wandte den Kopf hektisch nach allen Seiten, die Augen weit aufgerissen und verängstigt. "Val, wer ist gekommen?", fragte er. "Sind Fremde auf der Insel?"

Val wurde es ganz kalt und er lockerte seinen Griff unwillkürlich. "Hat Rahel dir davon erzählt?", fragte er. Arved antwortete nicht, schaute ihn nur erschrocken an und Val wusste warum. Niemand hatte es ihm erzählt, er wusste es plötzlich einfach. Val musste schlucken.

"Ich konnte es nicht finden, Val!"

Rahels Stimme dicht hinter ihm ließ ihn zusammenfahren.

"Macht nichts!", sagte er und bemühte sich um einen fröhlichen Tonfall. Er kämpfte sich auf die Füße, obwohl sie ihm weich wie Pudding waren. "Er ist gerade wieder zu sich gekommen. Es geht ihm schon viel besser."

"Oh, Arved …" Rahel ging in die Knie und umarmte den kleinen Jungen fest. Arved reagierte nicht, auf seinem Gesicht saß immer noch der blanke Horror. Val fragte sich mit wachsender Besorgnis, was er gesehen hatte.

"Was ist das nur? Geht es dir wirklich gut?", fragte Rahel besorgt.

Val war gewissermaßen froh darüber, dass sie mit ihm sprach und ihn nicht mied wie es andere taten, die die Anfälle hautnah miterlebten. Sie meinten dann, er wäre vom Teufel besessen oder von irgendeinem anderen Dämon. Vater glaubt das auch, fuhr es Val durch den Kopf. Aber sofort verdrängte er den Gedanken wieder, es machte ihn traurig.

"Danke", sagte er ziemlich steif zu Rahel und zog seinen Bruder aus ihrem Armen. "Er braucht jetzt Ruhe. Das verstehst du doch, oder?" Ausgerechnet jetzt konnte er ihre Fürsorge nicht brauchen.

"Klar … Oh Gott, Val, ich hatte keine Ahnung … wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann …"

"Ich lass es dich wissen. Danke."

Schnell lotste er seinen Bruder ins Haus. Wenn er doch nur vorher gewusst hätte, dass einer seiner Anfälle bevorstand … Aber das war ja das Problem, man konnte sie nicht vorhersagen. Es gab keine Vorzeichen, keine Symptome. Es überkam ihn einfach irgendwann.

Er brachte Arved ins Bett und setzte sich neben ihn auf die Matratze. Eine Weile sagte niemand etwas. Arved sah erschöpft aus und Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Dann:

"Was hast du gesehen, Arved?" Es fiel Val schwer, die Worte zu formulieren, denn eigentlich wollte er es gar nicht hören. Normalerweise fragte er auch nicht nach, aber die Angst in Arveds Gesicht ließ ihm keine Ruhe. Das andere und weit bedeutendere Problem mit den Visionen war nämlich: nach einiger Zeit traten sie ein. Und Arved hatte von Blut gesprochen.

Arved schüttelte nur den Kopf und mied seinen Blick. "Ich bin müde", sagte er leise. "Ich will jetzt schlafen."

Er schloss die Augen und zog die Decke fester an sich. Val sah, dass er zitterte. Mitleid durchflutete sein Herz. Niemand auf der ganzen Welt bedeutete ihm so viel wie sein kleiner Bruder. Wenn er ihm sein Leiden nehmen hätte können, er hätte es ohne zu zögern getan. So aber blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzustehen und aus dem Zimmer zu gehen. Der Vorfall beunruhigte ihn sehr. Warum wollte er ihm partout nicht sagen, was er gesehen hatte?

 

Der nächste Morgen brach an. Die ganze Nacht lang hatte Val krampfhaft versucht, nicht an den gestrigen Zwischenfall zu denken. Vergeblich.

Er ging zum Herd und setzte einen Topf Milch auf. Er hatte sich vorgenommen, herauszufinden, worum es in der Vision gegangen war. Vielleicht musste er dazu all seine Überzeugungskunst aufwenden, aber es würde ihm gelingen.

"Arved, Frühstück!", rief er in den Gang. Sein Vater würde ihn sicherlich nicht hören, der würde sich noch bis zum frühen Nachmittag im Land der Träume befinden.

Er bekam keine Antwort.

"Arved?" Sofort war er unruhig, vor allem nach dem, was gestern Abend passiert war. Er ging ins Arveds Zimmer - es war leer, die Bettdecke zerwühlt.

"Arved!" Val wirbelte herum, stürzte in die Küche und seine Gedanken überschlugen sich. Wo mochte er stecken? Hatte er die Angst nicht mehr ertragen? Wo sollte er nach ihm suchen? Sein Blick fiel nach draußen in den Hinterhof. Er sah Arved, wie er jemandem gegenüber im kalten Morgensand saß. Seine erste Reaktion war Erleichterung, dass er ihn gefunden hatte, die zweite Erschrecken. Denn die Person war nicht Rahel oder sonst jemand, den er kannte. Wahrscheinlich hatte er ihn nicht erkannt, weil ihm sein Anblick unvertraut war oder weil sein Gehirn am Morgen langsamer arbeitete als sonst, aber der, der seinem Bruder gegenübersaß, war kein anderer als Leonhard Stark, der Gelehrtenjunge vom Festland. Er hatte sich zu Arved hinunter gebeugt, lächelte, redete auf ihn ein, die rechte Hand auf seiner Schulter abgestützt, obwohl Arveds Blick ganz deutlich aussagte, dass er lieber nicht angefasst werden wollte. Val dachte an gestern Abend, an Arveds Angst, an seinen Ausspruch über irgendwelche Fremde und Blut und es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Ich sehe Blut … eine Menge Blut … viele Schmerzen … Einen Moment war er wie erstarrt, dann stürzte er los, in den Hinterhof hinaus.

"Hey! Was denkst du, was du da machst?"

Er riss Arved an der Schulter zurück, sodass Leonhard ihn loslassen musste und drückte ihn fest an sich. Arved sah ihn überrascht an, wehrte sich aber nicht.

Leonhards Augen wurden für einen Moment schmal und seine Hand zuckte zum Messer in seinem Gürtel.

"Was soll das?", knurrte er, die Augen zu Schlitzen verengt.

"Das würde ich gerne wissen! Halt dich gefälligst fern von ihm!"

"Ich weiß nicht, was dich das angeht", sagte Leonhard argwöhnisch und stand langsam auf.

"Was mich das angeht? Verdammt viel, würde ich sagen! Er ist schließlich mein Bruder!"

"Was?" Die Überheblichkeit schwand aus seinem Blick, wich einem Ausdruck von Unsicherheit. Val fragte sich, was ihn so aufregte.

"Das ist nicht wahr", sagte Leonhard und schüttelte den Kopf. "Das wäre vermerkt. Du bist nicht sein Bruder."

"Halbbruder", korrigierte Val automatisch. Dann fiel ihm die sonderbare Wortwahl des Jungen auf. Noch einmal wurde ihm ganz kalt und ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. "Vermerkt?", fragte er leise.

Leonhard straffte die Schultern, sein Blick war hochmütig. "Wir haben nur miteinander gespielt, nicht wahr, Arved? Er hat ein paar außerordentliche Fähigkeiten, dein Bruder."

Val hielt die Luft an. Das klang für ihn ganz nach einer Drohung. Irgendetwas lief hier schrecklich falsch. Hatte er gemerkt, dass Arved seltsame Eingebungen hatte? Wollte er ihn darauf untersuchen? Ihn mitnehmen?

"Halt dich fern von ihm", sagte er noch einmal, atemlos und es klang nicht halb so bedrohlich, wie er es wollte.

"Kann sein dass ich ihn noch brauche, Fischerjunge", grinste der Junge und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Ihn brauchen -?", würgte Val.

"Den Namen Rabenfeder wird man in Zukunft noch sehr häufig hören." Er starrte ihn an.

"Woher weißt du-?", begann Val.

"Oh, ich weiß alles über euch, Valentin." Leonhard grinste ein letztes Mal, dann stolzierte er davon. Val starrte ihm hinterher. Sein Herz flatterte plötzlich wie ein junger Vogel. Wieso kannte er seinen Namen und seinen Nachnamen? Und was sollte das bedeuten, von wegen, er wüsste alles über ihn? Was wollte er von Arved?

"Was wollte er von dir, Arved?", fragte er seinen Bruder und rüttelte ihn an der Schulter.

Der zuckte nur mit den Achseln, machte sich los. "Hat Sachen über mich gefragt. Wegen der Visionen und so weiter."

Vals Schrecken wuchs. Der Fremde wusste Bescheid. "Sprich nicht mehr mit ihm! Geh ins Haus! Geh ins Haus, Arved und bleib drin! Keine Widerrede!"

"Gestern hast du doch noch gesagt-"

"Komm schon!" Er packte seinen Bruder und zerrte ihn ins Haus in sein Zimmer. Er schloss die Tür und ließ sich dagegen sinken. Seine Gedanken rasten. Was sollte er tun?

Ohne lang zu überlegen, rannte er zu Robin. Der wusste sicher Rat.

Er stürmte in dessen Haus, wo er seinen Freund über einen Stapel Bücher gebeugt vorfand.

"Was?", fragte Robin langsam, als alles aus ihm herausgesprudelt war. "Nochmal langsam, bitte."

Val atmete durch und musst erst mal seine Gedanken ordnen. Dann erzählte er ihm erneut, was er gehört hatte.

"Er hat euch gedroht?"

"Naja, er sagte, er könne ihn noch brauchen. Und er weiß unseren Nachnamen und er sagte, das alles wäre vermerkt."

"Du verarscht mich doch." Robin schaute ihn zweifelnd an.

"Nein, tu ich nicht! Ehrlich, der hat irgendwelche Informationen über uns gesammelt!" Val konnte es selbst kaum glauben. Das alles kam ihm vor wie ein böser Traum.

"Gut, den Nachnamen kann ihm jemand gesagt haben … und vielleicht wollte er dir nur Angst einjagen, weil er dich nicht leiden kann oder so."

"Ich weiß nicht. Warum sollte er überhaupt irgendjemanden nach unserem Nachnamen fragen? Und was sollte dieses vermerkt?" Val biss sich auf die Lippen. Aber er verstand Robins Bedenken. Gut möglich, dass Leon ihn nur einschüchtern wollte, weil er am Vortag grob mit ihm umgesprungen war. Rachsüchtigkeit war definitiv ein Charakterzug, den er ihm zutrauen würde. Plötzlich schämte er sich. Er hatte eine Bedrohung für Arved gespürt und darüber einfach den Kopf verloren. "Soll ich es jemandem sagen?", fragte er dann. "Einem von den Älteren, meine ich."

"Ich weiß nicht", sagte Robin und wich seinem Blick aus. "Wer weiß, welche Verstärkung er sich dann vom Festland holt und auf uns hetzt?" Er lachte kurz. Etwas an diesem Lachen störte Val.

"Du glaubst mir doch, oder?", fragte er scharf.

Robin blickte kurz auf. "Ich weiß nur nicht, wie schlimm es wirklich ist."

"Ich will aber auch nicht warten, bis etwas Schlimmes passiert ist", sagte Val wütend.

"Ja, ja, ich weiß."

Val wusste, dass er ihn nicht richtig verstehen konnte. Er hatte keinen kleinen Bruder, für den er sich verantwortlich fühlte. Ein wenig enttäuscht machte er sich auf den Heimweg. Als er die Hauptstraße entlang ging, schaute Seraph, der Dorfälteste, aus seinem Häuschen, das zugleich auch das Rathaus war. Und neben ihm - Val blieb ruckartig stehen - war Leon. Val starrte ihn an, die Szene vom Morgen zog erneut an seinem inneren Augen vorbei und sein Atem beschleunigte sich.

"Val", sprach Seraph ihn in seiner zittrigen Stimme an. Er kam auf ihn zugehumpelt.

Jeder auf der Insel benutzte diese Abkürzung seines Namens, niemand nannte ihn Valentin. Valentin. Das klang einfach nicht nach ihm.

"Ah ja, hast du vielleicht einen Moment Zeit?"

Val wurde plötzlich ganz kalt, als er auf ihn zuging. Was hatte der Fremde über ihn gesagt? Hatte er ihn wegen irgendwas angeschwärzt? Aber Seraphs Blick war nicht wütend oder anklagend, als er zu ihm aufsah, sondern eher entschuldigend.

"Val, der Gelehrte Stark hier - er ist gestern angekommen, wie du vielleicht weißt, er plant hier einen Forschungsaufenthalt - er kennt sich auf unserer Insel nicht recht aus und mit Fräulein Rahel schien er eine kleine Meinungsverschiedenheit gehabt zu haben … Ähem … Er braucht nun aber jemanden, der ihn herumführt und ihn mit unseren Bräuchen bekannt macht. Daher bestimme ich dich zu seinem Begleiter."

Val war so bestürzt, dass er nur Seraphs Worte wiederholen konnte. "Zu seinem Begleiter?"

Leon blickte ihn gehässig an und Val war sich sofort bewusst, dass er ausdrücklich nach ihm verlangt haben musste. Er wollte keinen Begleiter, sondern einen Diener, den er von morgens bis abends schikanieren konnte. Val machte den Mund auf, um zu verkünden, dass er lieber einen Monat lang jeden Tag Fischinnereien von Bootrümpfen kratzen wollte, als ihm etwas einfiel. Vielleicht kann ich so erfahren, was er vorhat, dachte er. Und wie ich Arved beschützen kann.

 

Ankunft bei Nacht

"Ein wenig weiter nach rechts."

"Hier?", keuchte Val und stemmte die Schulter erneut gegen die Kiste. Sie war schwer und er konnte sie nur mit Mühe vom Fleck bewegen.

"Hm."

"Was?"

"Ich denke, ich will sie doch lieber neben der Tür."

Val sprang zurück. Dort hatte die Kiste zuallererst gestanden. "Dann mach es selber! Ich bin nicht dein Sklave!" Ungeduldig wischte er sich den Schweiß, der ihm in die Augen zu laufen drohte, von der Stirn. Leonhard hatte ihn schon den ganzen Morgen unsinnige Arbeiten ausführen lassen, hatte ihn in Botengängen quer über die ganze Insel gejagt, hatte ihn als Page für seine unzähligen Koffer missbraucht und ihn rote Kieselsteine am Strand suchen lassen. Welche es auf Nusnuth überhaupt nicht gab. Schließlich hatte er den Vogel abgeschossen, indem er verkündet hatte, die restliche Zeit seiner Forschungsreise auf der Mondlicht wohnen zu wollen. Kapitän Nepomuk war bei dem Gedanken beinahe in die Luft gegangen, aber gegen Seraphs Willen hatte er sich nicht durchsetzen können. Und der Älteste wollte sich anscheinend bei dem Gelehrten einschleimen, koste es, was es wolle.

Jetzt hatte Val endgültig genug.

Leonhard starrte ihn einen Moment aus kalten blauen Augen an, dann zuckte er die Schultern. "Ach, eigentlich ist es mir egal, wo sie steht."

Val kochte vor unterdrückter Wut. "Kann ich gehen?"

"Ich brauche noch etwas zu essen, Fischerjunge."

Val verstand den versteckten Hinweis. Mit einem letzten hasserfüllten Blick verließ er die Kapitänskajüte der Mondlicht, schlug die Tür unnötig heftig zu und kletterte an Deck. Er rauchte vor Zorn. Wie zu erwarten nutzte Leon Seraphs Befehlsgewalt über ihn nach Strich und Faden aus. Nichts schien ihm so viel Spaß zu machen, wie Val zu traktieren. Der Junge fügte sich nur, weil er weiterhin in der Nähe des Gelehrten sein wollte. Er musste herausfinden, was er vorhatte.

Am Bug des Schiffes setzte er sich in eine Einsenkung und warf seufzend die Leine aus. Dann wartete er.

In regelmäßigen Abständen schlugen die Wellen gegen die Schiffswand, Sonnenlicht glitzerte auf dem blauen Wasser und ein sanfter Wind, der nach Salz und Algen roch, wehte ihm ins Gesicht. Langsam verrauchte sein Zorn und Ruhe überkam ihn. Seine Familie und Freunde hatten Recht. Nach dem Fest der Einigkeit nächste Woche würden die Fremden verschwunden sein, Leonhard und seine stummen rot gekleideten Handlanger, und das Leben auf Nusnuth konnte wieder seinen gewohnten Gang gehen. Bis dahin musste er eben gute Miene zum bösen Spiel machen und Arved so gut wie möglich von Leon fernhalten.

Der Fang konnte sich sehen lassen - zwei dicke saftige Dorsche - und Val wollte schon zusammenpacken, als sich eine Gewitterbank vor die Sonne schob und alles in Dunkel tauchte. Val hielt prüfend einen Finger in die Luft. Der Wind zog von Osten her, was bedeutete, dass er volle Fahrt übers Meer hin aufnehmen hatte können. Das, zusammen mit der hohen Luftfeuchtigkeit, deutete auf ein gewaltiges Unwetter hin. Er sprang auf, um dem Fremden Bericht zu erstatten.

"Ein Gewitter?", fragte Leonhard, nachdem er geendet hatte. Nachdenklich zupfte er an seinem besticktem Hemdsärmel. "Und was kümmert mich das?"

Val runzelte die Stirn. "Du würdest vielleicht von dem Schiff heruntergehen wollen."

"HA!" Leonhard riss die Augen auf und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn. Er hüpfte ein wenig auf der Stelle. "Netter Versuch, Valentin! Du willst mich nur von diesem Boot herunterkriegen, dir hat es ja gleich nicht gepasst, als ich heraufgekommen bin!"

"Was?"

"Keinen Zentimeter beweg ich mich hier herunter. In Häuser, wo dreckige Weiber mich vergiften wollen!"

"Das dreckige Weib, das du da beschimpfst, ist meine Schwester!" Naja, zumindest fast.

"Na, das passt ja!"

Einen Moment lang wollte Val sich auf ihn stürzen und windelweich prügeln, dann überlegte er es sich anders. Der würde schon sehen, was er von seiner Sturheit hatte. Val kannte die Unwetter auf hoher See zur Genüge.

 

Das Gewitter war eins der heftigsten, die Val je auf der Nusnuth-Insel erlebt hatte. In der Nacht seiner Geburt hatte es angeblich ein ähnlich heftiges gegeben, so war es ihm erzählt worden, aber daran erinnerte er sich natürlich nicht.

Die Mondlicht bäumte sich abwechselnd auf und sackte mehrere Meter in die Tiefe, wann immer eine Welle sie erfasste; die Segel knarzten und der Sturm pfiff durch die Löcher im Holz, so laut, dass es in den Ohren schmerzte.

Leonhard hatte sich unter einer Sitzbank verkrochen und betete leise das Sternenunser. Immer wieder fragte er seine Berater, ob sich die Mondlicht losreißen und hinaus auf die offene See getrieben würde. Als er es erneut tat, riss Val der Geduldsfaden.

"Herrgott, wie oft denn noch?", rief er aus. Im Gegensatz zu dem Gelehrten genoss er den Anblick des Gewitters. Es war aufregend und unheimlich zugleich, die zuckenden Blitze über den Himmel jagen zu sehen oder die Palmen, wie sie vom Sturm niedergepeitscht in der Bucht zitterten. Die Natur war nicht etwas, wovor man Angst haben musste. Respekt ja, Angst nein. "Die Mondlicht hält Gewitter wie dieses locker aus, dafür ist sie gebaut worden!"

"Aber halten auch die Stricke so viel aus, das ist doch die Frage?", erklang es bissig unter der Bank.

"Dafür hat sie ja auch noch einen Anker-"

Sie verstummten, als plötzlich ein Klopfen an der Kajüten-Tür zu vernehmen war.

"Wer zum Teufel ist denn das?", schrie Leonhard.

Val sprang auf, in der Hoffnung, dass es vielleicht Nepomuk war, der kam, um sie abzuholen. (Den wenigsten Inselbewohnern traute er so viel Mut zu, bei diesem Wetter das Haus zu verlassen. Sein Vater war es bestimmt nicht.) Noch bevor er jedoch die Klinke drücken konnte, flog die Tür auf, traf ihn im Gesicht und brach ihm beinahe die Nase. Er krümmte sich vor Schmerz, Tränen schossen ihm in die Augen. Er blinzelte hektisch und war für einen Moment vollkommen blind. Als er wieder einigermaßen klar sehen konnte, wurde er bereits aus dem Weg gestoßen. Zwei Männer, völlig durchtränkt von Kopf bis Fuß, in lange dunkle Reisemäntel gehüllt, stolperten herein, Nässe und Kälte im Schlepptau.

"Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier?" Val hob einen Stab, der neben der Tür lehnte, und piekste damit dem größeren der Männer vor die Brust. Beide sahen recht einschüchternd aus mit ihrer maßgefertigten Stadtkleidung, den fein gestutzten Bärten und den schwarzen, etwas schief sitzenden Zylindern. Der vordere trug sogar ein Monokel.

"Wer zum Teufel ist denn das? Ein Einheimischer?" Das Monokelauge starrte ihn ärgerlich an.

"Vater!"

Val brauchte einen Moment, um zu verstehen. Leonhard kämpfte sich unter der Bank hervor. Dieser unglaublich unsympathisch wirkende Mann war also Leonhards Vater. Welch Überraschung. Val hätte beinahe laut aufgelacht. Aber er irrte sich. Der Mann, auf den Leonhard zurannte, war der hintere und der sah zugegebenermaßen ziemlich nett aus. Er hatte schlohweiße Haare, war weniger formell gekleidet und trug dicke Brillengläser wie ein Professor. Er lächelte, als er seinen Sohn sah und schloss ihn in die Arme.

"Tut mir Leid, wir sind spät dran", sagte er mit heiserer Stimme.

Leon löste sich schnell wieder - vielleicht war es ihm peinlich, dass Val zusah - und ein Hauch Rosa stieg ihm ins Gesicht.

"Wir wären ja früher dran, wenn uns der Sturm nicht in die Quere gekommen wäre", knurrte das Monokelauge, als wäre es ein schweres Vergehen der Natur, ein Unwetter zu schicken, das seine Pläne durchkreuzte. "Und sag deinem Pagen, er soll diese primitive Waffe aus meiner Reichweite nehmen!"

"Ich bin nicht sein Page!", sagte Val aufgebracht.

"Er ist nur ein Fischerjunge, Onkel."

Also doch verwandt. Naja, war auch schwer vorstellbar, dass es solche Unausstehlichkeit in gleich zwei Genpoolen gab.

"Lachhaft", knurrte der Mann und schob sich an Val vorbei. Grimmig schaute er sich in der Kajüte um, sein Zylinder streifte die hölzerne Decke. "Was ist das überhaupt für ein Kutter?"

Val war sprachlos. Die Mondlicht ein Kutter!?

Leon lachte. "Oh, du solltest die Häuser ihres – wie sie es nennen – Dorfes sehen, du würdest in Ohnmacht fallen, so dreckig und schäbig sind sie … Oh und, Rufus, hier wird übrigens auch das … Ritual stattfinden müssen."

"Tatsächlich?" Rufus strich mit den Fingern über eine Anrichte. Offenbar fand er Staub, denn er verzog angewidert das Gesicht. Val spitzte die Ohren. Von welchem Ritual sprachen sie?

"Oh, ich finde das Schiff hat eine angenehme Atmosphäre", sagte Leonhards Vater und lächelte leicht entrückt. Er hatte eine angenehme Stimme und Val entschied für sich, dass er ihn mögen konnte. Weder Bruder noch Sohn beachteten ihn.

"Weshalb wir eigentlich gekommen sind …" Aber er sprach nicht zu Ende, sah Val an und stockte.

"Er ist nur ein Fischerjunge, Vater", sagte Leon ungeduldig.

"Es gibt schlimme Neuigkeiten." Das Gesicht seines Vaters verdüsterte sich. "Balthasar Schieferstein ist tot."

"Schieferstein?", wiederholte Leon. "Dein Gelehrtenkollege?"

"Es scheint, dass er etwas entdeckt hat. Es hat mit- mit dem ähm … Shogha zu tun, es ist sehr wichtig und nun sind unglücklicherweise auch die Hirudines auf seiner Fährte."

Rufus und Isidor sahen beide so ernst drein, dass selbst Val mulmig zumute wurde, obwohl er keinen blassen Schimmer hatte, wovon sie da redeten.

"Was?" Leons Stimme verrutschte vor Schreck eine Oktave höher. "Aber, aber … er ist ein Mensch! Was könnten sie von ihm wollen? Ich dachte-"

"Lass uns nach draußen gehen", unterbrach Rufus ihn. "Der Regen ist nicht mehr so stark. Wir erklären dir alles, wenn wir ungestört sind. Dann kannst du ihn uns auch gleich zeigen."

"Gut." Leon nickte. Als er an Val vorbeiging, konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen: "Im Beisein eines Pagen wollen wir das nicht besprechen." Er kicherte.

Sein Vater seufzte. "Ich frage mich, ob du aus dem Urteil der Richter überhaupt etwas gelernt hast", sagte er. "Man sollte meinen, du würdest dich zumindest bemühen, anderen Menschen mit mehr Respekt zu begegnen."

"Ach, Vater. Einem Fischerjungen?"

"Ich weiß wirklich nicht, was das soll, Isidor."

"Weißt du, Rufus, manchmal glaube ich, du bist ein schlechter Einfluss …"

Dann fiel die Tür zu und Val war allein. Er setzte sich vor Erstaunen. Nicht mal in seinen kühnsten Träumen hätte er es für möglich gehalten, dass es einen solchen Schlag Menschen wirklich gab. Wichtigtuerisch, arrogant, überheblich. Eine Weile genoss er die Stille und das Wissen, völlig normal zu sein.

Seine Gedanken waren ausschließlich mit dem gerade Gehörten beschäftigt. Vor allem das Gerede über das Ritual störte ihn. Das bewies doch eindeutig, dass Leonhard irgendetwas plante. Und nun hatte er sich tatsächlich Verstärkung vom Festland geholt, wie Robin scherzhaft vorausgesagt hatte. Und was zum Teufel waren diese Hirudidi und der Toga, von denen sie gesprochen hatten?

Val rieb sich die Stirn. Er übersah irgendetwas, das wusste er, irgendetwas von außerordentlicher Wichtigkeit … Er rief sich die Aussprüche aller Beteiligten noch einmal in den Sinn. Plötzlich fiel ihm etwas auf. Die Formulierung, die ihn gestört hatte. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Dann kannst du ihn uns auch gleich zeigen. Er sprang auf wie von der Tarantel gestochen.

"Arved!", stieß er hervor.

Er fiel beinahe hin, so schnell stürzte er zur Tür. Eine gewaltige Windböe schlug ihm ins Gesicht, ein Blick zuckte über den Himmel und erhellte die nachtschwarze Welt für den Bruchteil einer Sekunde. Er hätte gleich nach Hause zurückgehen sollen, Arved hatte doch Angst vor Gewittern! Und nun waren diese Verrückten hinter ihm her!

Er war hundertprozentig davon überzeugt, dass sie von Arved gesprochen hatten. Leon hatte doch die ganze Zeit versucht, in seiner Nähe zu sein. Sie planten irgendetwas mit dem Jungen.

Val schirmte sich die Augen gegen den peitschenden Regen ab und kletterte vom Schiff. Gewissensbisse plagten ihn. Er konnte die Schemen der Gelehrten auf dem Weg nicht mehr ausmachen, sie mussten schon im Dorf sein. Mit ihren langen Beinen hatten sie den Weg wahrscheinlich in Sekundenschnelle zurückgelegt. Aber die Panik ließ ihm ungeahnte Kräfte wachsen. Schon wenige Minuten später, halb erfroren und nass bis auf die Haut, umrundete er Rahels Haus. Er hörte Stimmen aus dem Garten, Rufus' volltönende war dabei. Mit Schrecken erkannte er, dass auch die Arveds darunter war. Warum war er aus dem Haus gekommen? Das machte er bei Gewittern doch niemals! Warum musste nur immer alles so ungünstig zusammenkommen? Er wollte auf der Stelle die hohe Palisade überwinden und Arved von den Verrücken wegreißen, überlegte es sich im letzten Moment aber anders, als Arved zu sprechen anfing. Er ging hinter dem Holzzaun in die Knie, lehnte sich gegen das feuchte Holz und lauschte.

"Ja, Vorahnungen. Ich spüre, wenn etwas Schlimmes passiert."

Val schloss die Augen. Warum erzählte er ihnen das? Seit seiner frühesten Kindheit hatte er ihm doch Stillschweigen über dieses Thema eingeschärft. Sie werden dich mitnehmen!, hatte er zu ihm gesagt. Sie werden dich mitnehmen und schlimme Dinge mit dir anstellen.

"Und jetzt fühlst du, dass dir etwas Schlimmes bevorsteht?", mutmaßte Rufus. Aufregung schwang in seiner Stimme mit.

Es überraschte Val, dass er es so offenherzig zugab, dass er dem Jungen etwas antun würde. Aber vermutlich waren diese Leute kalt wie Eis.

"Nein, nicht ich bin es. Val steht eine dunkle Zukunft bevor."

Schweigen folgte dieser Aussage. Vals Herz setzte einen Schlag aus. Was?

"Val?", sagte Rufus verwirrt.

"Sein Bruder, sagte ich doch, der Typ auf dem Schiff gerade, Halbbruder oder was weiß ich-"

Leonhard sprach nicht weiter, ein lautes Krachen ertönte. Das morsche Holz, an das Val sich in der Aufregung zu nahe gelehnt hatte, brach plötzlich mitten durch. Er verlor den Halt, fiel durch das Loch im Zaun und kugelte den Hügel hinab vor die Füße der Gelehrten. Die Welt tanzte vor seinen Augen, er sah auf und sah vier erschrockene Augenpaare auf sich gerichtet.

"Du!", keuchte Leonhard. Er war vor Schreck einen halben Meter zurückgesprungen. "Du bist uns gefolgt!"

"Sein Bruder?", echote Isidor und schaute überrascht zwischen den beiden hin und her. "Aber … ich verstehe nicht …"

"Manchmal sehen die Leute mit dem zweiten Gesicht die, die ihnen am nächsten stehen und vergessen darüber sich selbst", sagte Rufus.

Val schaute Arved an. Das helle Haar klebte ihm feucht auf der Stirn und seine braunen Augen baten um Verzeihung. Trotz seiner Verzweiflung fühlte Val eine ungeheure Wärme in sich aufsteigen, als wäre eben die Sonne hinter dem Horizont aufgegangen. Arved hatte sich nur aus einem Grund mit Leonhard getroffen, hatte sich nur aus einem Grund bei Gewitter aus dem Haus gewagt: er hatte eine Möglichkeit gesucht ihn, Val, zu schützen. Vor Dankbarkeit brachte er kein Wort heraus.

Er schluckte. Immense Zuneigung wallte in seiner Brust für den kleinen Jungen auf und damit einhergehend das unbändige Bedürfnis, ihn zu beschützen. Nur dadurch erhielt er genug Mut und Kraft, sich aufzurappeln.

"Ich sage es nicht noch einmal", sagte er, als er schließlich aufrecht vor den Männern stand. "Lasst ihn in Ruhe. Ich kann für nichts garantieren."

Merkwürdigerweise antwortete ihm niemand mit Gelächter. Die Gelehrten wussten genug von Liebe, als dass sie ihm nicht geglaubt hätten.

"Wir müssen ihn gleich hier erledigen", sagte Rufus plötzlich und machte einen Schritt auf ihn zu. Seine schwarzen Augen unter dem Zylinder blickten kalt wie Steine. "Wenn die Hirudines hier auftauchen, wird er ihnen alles erzählen. Wird noch glauben, er tut damit etwas Gutes."

"Deinem Bruder geschieht nichts, Val", sagte Isidor und kam langsam näher. Val hob die Fäuste. Er würde sich nicht kampflos geschlagen geben.

"Tut ihm nichts!", schrie Arved. Er sprang zwischen sie, Val wollte seinen schmächtigen Körper beiseite drängen. "Geh weg, Arved! Sollen sie doch kommen, ich-"

"Wir müssen ihr Gedächtnis ein wenig verändern", sagte Isidor kaum hörbar zu Leonhard. Dann erschien ein heller Blitz zwischen seinen Handflächen und Val wurde schwarz vor Augen.

 

Der Löwenvogel

"Ich sage es dir, mit dem Typ stimmt irgendwas nicht", sagte Val. Wieder einmal lief er händeringend in Robins Zimmer auf und ab, wie er es so oft in letzter Zeit tat. "Er plant irgendwas mit Arved. Seine Verwandten hättest du sehen müssen – gruslig!"

"Aber du hast keine Beweise?", gab Robin ruhig zur Antwort. Er sah noch nicht einmal von seinen Büchern auf.

"Nein …" Val zermarterte sich das Gehirn. Er hatte da so ein Gefühl, ein Gefühl, dass er irgendetwas vergessen hatte, irgendetwas von außerordentlicher Wichtigkeit, aber je mehr er versuchte, sich zu erinnern, desto mehr entwand sich ihm der Gedanke. Als er heute Morgen aufgewacht war, hatte er sich nicht einmal erinnert, wie er ins Bett gekommen war. Das Letzte, was er wusste, war, dass Leons Verwandten auf dem Schiff aufgetaucht waren. Aber es musste doch etwas danach geschehen sein! Wie erklärten sich die blauen Flecken auf seinen Armen und Ellbogen? Wurde er denn langsam verrückt? Er schüttelte vorsichtig den Kopf, wie um dadurch klarer denken zu können.

"Aber warum ist das denn so wichtig?", fragte Robin. Nur weil Val ihn so gut kannte, hörte er den ärgerlichen Unterton in seiner Stimme.

"Willst du denn nicht wissen, was er vorhat?", fragte er und unterbrach sein fieberhaftes Hin- und Hergehen für einen Moment.

"Morgen ist das Fest der Einigkeit. Und dann ist er weg."

"Aber vielleicht plant er etwas für morgen! Vielleicht will er ja- vielleicht will er Arved ja … etwas antun!" Es war allein schrecklich es auszusprechen. Einem kleinen Jungen von acht Jahren, so unschuldig wie sein Bruder, etwas Böses zu wollen … das war krank. Er musste sich darauf konzentrieren, ruhig zu atmen.

"Was?" Robin machte keinen Hehl aus seinem Befremden. Er starrte ihn an. "Warum sollte er so etwas denn tun?"

"Ich- ich weiß auch nicht", gab Val zu. "Es ist nur so ein Gefühl …"

Robin schaute ihn mit einem Blick an, der ganz deutlich sagte: Das beweist es doch voll und ganz. Du übertreibst maßlos. "Er, ein Gelehrter, der noch nicht in eine Garde aufgenommen wurde, muss auf jede seiner Handlungen besonders Acht geben. Sonst ziehen sie ihn gar nicht in Betracht", sagte er langsam und deutlich, als redete er mit einem Kind.

"Ja, ja, schon gut." Val ärgerte sich, wünschte sich, er hätte gar keine solche Andeutung gemacht. Warum verstand Robin ihn nicht? War das früher nicht anders gewesen?

"Du solltest deine Energie lieber auf wichtigere Dinge verwenden", sagte Robin mit einem Ton, der wohl den Abschluss dieses Gesprächs angeben sollte.

"Wie was? Bücher?", fragte Val spitz.

"Kann ja nicht schaden."

"Was liest du da überhaupt?" Val schnappte sich das oberste Buch vom Stapel. "Geschichte der sechs Kontinente? Ernsthaft? Das haben wir doch schon vor Jahren durchgenommen."

Das stimmte. Jedes Kind auf Zonea - so hieß der erste Kontinent in ihrer Landessprache - lernte in der ersten Klasse alles, was er über die anderen fünf wissen musste. Zum Beispiel, dass der zweite und der dritte Kontinent über eine Landbrücke miteinander verbunden waren und sich daher näher standen als die übrigen. Oder dass die Leute des östlichen Kontinents ein scheues Volk waren, ihre Magiekenntnisse mit niemandem teilen wollten und anders aussahen.

Robin sprang auf und entriss ihm das Buch. "Das ist wichtig!"

"Ich verstehe nicht, warum du deine Zeit darauf verschwendest. Mathe, Erdkunde, Latein. Nächstes Jahr werden wir einer der Fischermannschaften beitreten und dann hat sich's eh mit der Schule."

"Ja … was das betrifft, darüber wollte ich eh noch mit dir reden, Val." Plötzlich wirkte Robin schuldbewusst, kratzte sich hinterm Ohr und wich seinem Blick aus.

"Wieso? Was denn?" Val war mit den Gedanken immer noch bei Leonhard und seinem merkwürdigen Plan. Er war vollstens entschlossen, ihn aufzudecken, und wenn es sein musste, auch allein. Er schmiss sich aufs Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er wusste nicht warum, aber er hatte das untrügliche Gefühl, dass Arved in Gefahr schwebte. Dabei hatte Leonhard ihm doch überhaupt keinen Grund zu dieser Vermutung gegeben … Irgendetwas stimmte nicht. Dieses Misstrauen kam doch nicht von irgendwoher.

"Ich, also, ich weiß nicht, ob ich Fischer werden will."

Es dauerte einen Moment, bis Val begriff.

"Was?", fragte er und richtete sich auf. Dieses Vorhaben war doch längst beschlossene Sache. Schon vor vielen Jahren hatten sie entschieden, einmal denselben Beruf auszuüben. Was redete Robin denn da?

Sein Freund holte tief Luft. Erst da bemerkte Val, dass er dieses Gespräch mit ihm wohl schon lange gesucht und bisher nur noch nicht den Mut dazu gehabt hatte. "Ich denke darüber nach, ans Festland zu gehen. Vielleicht mich darum zu bemühen, in eine der Garden aufgenommen zu werden."

Vals Hirn war wie leergefegt. Er hatte plötzlich vergessen, wie man mit der Zunge Worte formulierte.

Er musste wohl einen ziemlich merkwürdigen Blick aufgesetzt haben, denn Robin wurde sichtlich nervöser; er bekam rote Flecken im Gesicht und knetete die Finger. Schließlich rang Val sich zu einer Antwort durch.

"In eine der Garden?", stieß er hervor. "Der Gelehrtengarden?"

Robin presste die Lippen aufeinander. "Ich wusste, du würdest das nicht verstehen."

Val schüttelte wie mechanisch den Kopf. Das verstand er wirklich nicht. Einen Moment zuvor noch war Arved seine größte Sorge gewesen - und jetzt das.

"Aber du hast ihn doch gesehen!", rief er, von plötzlicher Leidenschaft gepackt. "Du hast doch gesehen, wie er ist! Alle auf dem Festland sind so. Da willst du doch nicht dazu gehören!"

Robin zuckte nur die Schultern. Er starrte auf die Bücher in seinem Schoß, ohne sie richtig zu sehen, sein Blick war glasig. "Die Insel gibt mir nichts, Val. Ich will mein Dasein nicht als armer Fischer fristen. Ich will mich weiter entwickeln."

"Sie gibt dir Frieden", antwortete Val. Nur mühsam unterdrückte er das Zittern seiner geballten Fäuste.

"Vielleicht ist es das, was du willst", sagte Robin langsam. "Aber ich nicht."

Der mitleidige Blick, mit dem sein Freund ihn bedachte, gab Val den Rest. Mitleid war das letzte, was er in diesem Moment ertragen konnte.

"Du willst so sein wie er? Wie Leonhard Stark? Ein eingebildeter, arroganter Snob?" Nun sprang er auf und sein Atem ging schnell. "Dann viel Spaß!", sagte er. "Ich denke, mit einem einfachen Fischerjungen wie mir wirst du dich dann nicht mehr abgeben können."

Robin sah aus, als wollte er die Augen verdrehen, als hätte er genau diese Reaktion erwartet.

"Val, ich weiß doch noch nicht mal, ob sie mich überhaupt nehmen."

"Na und was ändert das?" Vals Stimme war kalt. Er ließ ihn stehen, lief aus dem Haus, ohne eine Antwort abzuwarten. Robin hatte das Prinzip nicht verstanden. Seine Entscheidung aufs Festland zu gehen, kam einem Verrat gleich. Er entschied sich gegen Val. Ihre Freundschaft war ihm nicht wichtig genug. Es ging nicht darum, ob er vielleicht nicht genommen und nicht gehen würde. Es ging darum, dass er gehen wollte. Selbst wenn er blieb, wäre es danach nicht mehr so wie zuvor.

 

Er wusste nicht, wohin er lief, vielleicht zur Landzunge hinterm Strand, vielleicht zu einem hohen Baum, auf den er klettern konnte und wo er nicht gestört würde. Aber er kam nicht weit, da ertönte eine schnarrende Stimme hinter ihm.

"Da bist du ja, Fischerjunge."

Val blieb wie angewurzelt stehen. Es gab nur einen, der ihn so nennen würde. Er drehte sich langsam um und eine unerklärliche Anspannung ergriff von ihm Besitz.

Leon, flankiert von Vater und Onkel, stand inmitten des weißen Sandes und starrte ihn an. Er trug kurze schwarze Hosen und ein weißes Hemd. Unscheinbar auf den ersten Blick, aber vermutlich immer noch wertvoller als Vals gesamter Besitz. Bei seinem Anblick tauchten für den Bruchteil einer Sekunde Bilder in seinem Kopf auf, die er nicht zuordnen konnte. Ein Gewitter? Der Geruch von nassem Holz und Algen stieg ihm in die Nase. Aber so schnell wie sie gekommen waren, so schnell waren die Eindrücke verschwunden. Vals Neugier war geweckt. Was hatte Leonhard vor, dass er dafür sein Gardengewand ablegen würde, auf das er so stolz war? Wozu brauchte er Vater und Onkel, der doch lieber alles alleine machte? Dann kam es ihm in den Sinn, dass Robin irgendwann vielleicht auch so eine Robe tragen würde und dass er dann vielleicht mit Leon befreundet wäre. Eifersucht packte ihn, verzehrte ihn wie ein wildes Tier. Plötzlich machte er ihn, den Fremden, für den drohenden Verlust seines besten Freundes verantwortlich. Wäre er nicht auf die Insel gekommen, wäre Robin vielleicht gar nicht auf die Idee gekommen zu gehen.

In diesem Maße verärgert ging er auf ihn zu. "Was?", spuckte er ihm entgegen.

Leon zog die Brauen hoch, verwundert ob des harschen Tonfalls. "Du wirst uns begleiten. Wir suchen nach einen Löwenvogel."

"Warum?"

"Das geht dich nichts an." Seine Lippen kräuselten sich.

Val runzelte die Stirn und bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. "Die stehen unter Naturschutz."

"Das weiß ich. Wir brauchen nur eine ihrer Federn, du Ökofreak."

"Warum sucht ihr dann nicht unter den Bäumen nach einer?"

Leon antwortete nicht, sondern starrte ihn nur verächtlich an. Rufus lachte leise in sich hinein. Isidor schließlich erbarmte sich seiner. "Die Löwenvögel sind eine besondere Vogelart. Sie verlieren keine Federn", sagte er recht freundlich.

"Oh. Okay."

"Also red' nicht lange, komm mit."

Val dachte ernsthaft darüber nach, sich zu weigern. Er hatte keine Zeit, er hatte keine Lust und Leon war ein arroganter Widerling, dessen Nähe er grundsätzlich meiden wollte. Er blickte sich um und überlegte, ob er einfach weggehen sollte. Immerhin reisten die Fremden morgen ab, also konnte Seraph, der Dorfälteste, ihn nicht mehr allzu hart für seinen Ungehorsam bestrafen. Und Leon hatte ihn die ganze Woche so sehr gequält, dass es für ein ganzes Leben reichte. Aber noch während er überlegte, sah er eine schmale Figur den Weg zum Strand herunterlaufen. Da er einmal sein bester Freund gewesen war, erkannte er ihn schnell. Robin. Der wahrscheinlich mit ihm reden wollte.

Schnell drehte er sich zu den anderen um. "Gut", sagte er. "Ich helfe euch."

Vielleicht würde Leonhard ja weitere Punkte seines geheimen Planes offenbaren.

Der Gelehrtensohn maß ihn misstrauisch. Offenbar hatte auch er Robin erkannt. Ausnahmsweise sparte er sich jedoch jeden Kommentar. Zügigen Schrittes verschwanden sie gemeinsam im wilden Wald.

Gleich nach den ersten paar Metern wurde es unerträglich heiß und feucht unter den Dschungelbäumen. Val, der daran gewöhnt war, stellte zu seiner großen Freude fest, dass es ihm weniger ausmachte als seinen Begleitern. Rufus zog ständig ein seidenes Taschentuch aus seiner Westentasche, mit dem er sich den Schweiß von der Stirn tupfte. Schon bald war es völlig durchtränkt. Leon fing an, sehr laut zu atmen, und die Hitze stieg ihm ins Gesicht, dass er bald erstaunliche Ähnlichkeit mit Kapitän Shrimp hatte. Nur Isidor verkraftete das ungewohnte Klima einigermaßen gut, der vollstens damit beschäftigt war, die ihm unbekannte Flora und Fauna zu bewundern. Er rannte begeistert von einem Strauch zum nächsten und stieß Rufe aus wie: "Eine Acmella oleracea! Dass ich die noch einmal zu sehen bekommen würde!"

"Eine halswürgende Riesenbaumnatter, nein, ist sie nicht schön?"

"Und seht doch: Der gemeine Stinkkäfer, ach wie herrlich! Aber kommt ihm lieber nicht zu nahe sonst, naja, ihr wisst schon …"

Oft fragte er Val nach Rat und der musste dann Fragen beantworten, wie: "Was macht ihr Einheimischen mit dieser Pflanze? Wirklich? Es fängt den Geruch auf? Faszinierend."

Val war halb belustigt, halb verärgert über die Fragen. Zwar hätte er lieber seine Ruhe gehabt, aber er brachte es einfach nicht über sich, den einzigen der Gelehrten anzuschnauzen, der freundlich zu ihm war.

Es war Rufus, dem schließlich der Geduldsfaden riss. "Bruder, bitte, könntest du dich ein wenig zügeln? Deine ausschweifenden Lobpreisungen dieses Unkrauts gehen mir auf die Nerven."

Danach hielt Isidor sich ein wenig zurück und nur das Leuchten seiner Augen verriet seine Begeisterung. Der Beutel an seiner Seite füllte sich rasch mit seltenen Pflanzen mit besonderen Wirkungen.

"Das schreibe ich alles in mein Pflanzentagebuch", sagte er verschwörerisch zu Val. Der nickte nur.

Es vergingen Stunden und nirgendwo gab es eine Spur des Löwenvogels. Da sie keine Federn verloren, mussten sie nach anderen Hinterlassenschaften Ausschau halten. Aber selbst Isidor, der ein geschultes Auge für solche Dinge hatte, entdeckte nichts.

Val fand es merkwürdig, dass sich kein Löwenvogel blicken ließ. Wenn er durch den Wald spazierte, sangen sie ihm meist von überall her entgegen.

"Oooooh", hörte man schließlich Isidors langgezogenen Ruf. "Eine Rosea Cuniculafera! Wie überaus faszinierend! Ich nehme an, dass es hier auch wilde Eber gibt, Val?"

Der nickte und schaute sich unbehaglich um. Den Wildschweinen dieses Waldes wollte er lieber nicht begegnen, da sie allgemein als sehr angriffslustig galten.

"Ich hörte, dass diese Pflanzen in Symbiose mit den Wildschweinen leben, ich frage mich … Oh und hier sehe ich einen Haufen ihrer Hinterlassenschaften!"

Er näherte sich einem fliegenumschwirrten Dunghaufen, als wollte er auch davon eine Probe nehmen.

"Es dunkelt schon", hielt Rufus ihn davon ab, den Blick zum Himmel gerichtet. Er war genauso finster wie seine Miene. "Am besten wir teilen uns auf, dann haben wir bessere Chancen heute noch irgendetwas zu entdecken."

"Es ist kein gutes Zeichen, dass wir ihn noch nicht gefunden haben, oder?", fragte Leonhard verdrossen. "Vielleicht ist er doch nicht hier."

"Er muss hier sein", antwortete Rufus nur.

Val hörte aufmerksam zu, aber sie sagten nichts weiter.

Isidor ging alleine, Rufus und Leonhard bildeten ein Zweierteam und auch Val ging alleine. Das passte ihm gut, er wusste nicht was schlimmer war: Isidors kindliche Begeisterung oder Rufus' und Leonhards kalte Verachtung.

Er zog durch das Dickicht und schon bald wanderten seine Gedanken zurück zu Robin. Er wusste nicht, wie er ihm verzeihen sollte. Am liebsten wollte er nie wieder mit ihm sprechen. Gleichzeitig vermisste er ihn jetzt schon. Wem sollte er sonst von dem Ausflug in den Wald erzählen, mit wem sollte er über Leons Unbeholfenheit, Rufus' Verachtung und Isidors naive Art lachen? Während er so überlegte (und hin und wieder wütend nach einer Baumwurzel kickte), hörte er plötzlich einen hellen Vogelgesang. Er blickte auf, nur um einen blutroten Vogel auf einem nahen Baum sitzen zu sehen, der ihn mit glänzenden Knopfaugen aufmerksam anblickte. Er raschelte mit den Flügeln und blinzelte ihn freundlich an. Der Kranz aufgerichteter Federn um den Hals kennzeichnete ihn als das, was er war. Ein Löwenvogel.

Val stieß ein atemloses Lachen aus, stemmte die Hände in die Hüften und blickte zu ihm auf. "Nach dir haben wir die ganze Zeit gesucht! Hättest du dich nicht ein wenig früher blicken lassen können?"

Der Vogel zwitscherte vergnügt.

"So … irgendwie muss ich dich jetzt da herunter holen." Val bückte sich und klaubte einen mittelgroßen Stein vom Boden auf. Gerade holte er aus, als er es sich anders überlegte. Wenn er den Vogel traf, würde er höchstwahrscheinlich davon sterben. Der Gedanke erschreckte ihn.

"Ich werde dich nicht töten", sagte er heftig. Der Vogel, der ihn seit seinem Auftauchen aufmerksam angestarrt hatte, legte den Kopf schief, als verstünde er ihn nicht ganz.

"Du müsstest irgendwie herunter kommen", erklärte Val und kam sich gleich darauf sehr blöd vor. "Ich brauche nämlich eine deiner Federn …"

Aber als könnte das Tier ihn verstehen, breitete es zu seiner großen Überraschung plötzlich seine Flügel aus, hob ab und segelte herunter. Geistesgegenwärtig streckte Val einen Arm aus und der Vogel landete. Er bohrte ihm die azurblauen Krallen in den Arm, aber Val spürte den Schmerz kaum. Er war völlig perplex. Es war wirklich ein sehr schöner Vogel mit dem stromlinienförmigen Körper, dem wohlgeformten Kopf und den glänzenden schwarzen Augen. Am schönsten aber war sein Gefieder von leuchtend blutroter Farbe, von dem keine Feder gegen den Wuchs abstand, sondern das glatt und seidig auf seinem Körper lag. Einzig am Hals richteten sie sich auf und bildeten die für einen Löwen typische Mähne. Verwundert und ehrfürchtig fuhr er mit seiner Hand darüber. Der Vogel ließ es geschehen. Sein Federkleid fühlte sich weich und glatt an zugleich, wie die Blätter des Gummibaums.

"Ich bräuchte eine Feder", murmelte Val. "Aber ich will sie dir nicht ausreißen."

Wieder überraschte ihn der Vogel, als er seinen schlanken Kopf nach hinten drehte, mit dem Schnabel zwischen die gespreizten Flügel fuhr und mit einem Ruck eine hübsche lange Feder ausriss. Er ließ sie fallen und sie schwebte langsam in Vals Hand.

"Aber … wie …?", murmelte er. Der Vogel blickte ihn ruhig an, als wäre es das normalste der Welt, dass er seine Befehle befolgte. Val dachte angestrengt nach, ob er vielleicht irgendwo mal gehört hatte, dass Löwenvögel die Menschensprache verstünden oder irgendwie anderweitig außergewöhnlich intelligent waren. Bevor er sich jedoch einen Reim darauf machen oder weitere Fragen stellen konnte, ertönten Schreie hinter ihm.

Val zuckte zusammen. Schnelle Schritte bahnten sich durch das Unterholz, Äste knackten, wenn sie aus dem Weg gedrückt wurden und ein weiteres Brechen von Pflanzen kündigte das Nahen eines schweren Geschöpfes an. Dann hörte Val ein vertrautes tiefes Grunzen, mehrmals hintereinander in kurzen Abständen ausgestoßen, und er musste lachen. Klang ganz danach, als würden zwei arrogante Gelehrte von einem Wilden Eber durch den Wald gejagt werden. Der Vogel auf seinem Arm öffnete den Schnabel und stieß einen hellen Ton aus, als stimmte er in sein Lachen ein.

Das Grunzen verstummte, die Schritte wurden lauter. Angestrengtes Keuchen begleitete sie.

"Hier bist du!" Leonhard war ganz rot im Gesicht von der hastigen Flucht vor dem Ungeheuer, er würgte nach Luft, seine nackten Beine waren zerstochen von Ranken und Dornen und auf seinem weißen Hemd klebten Erde und Pflanzensaft. Er stolperte über eine am Boden liegende Baumwurzel. Val musste über seinen Anblick so sehr lachen, dass ihm Tränen in die Augen schossen.

Als Leon aber sah, was da auf seinem Arm hockte, ließ er ein entsetztes Keuchen vernehmen. Er stolperte heran und mit einem gierigen Funkeln in den Augen griff er nach dem Vogel, schloss ein paar Federn in seiner Hand ein und riss sie grob heraus. Der Vogel schrie schmerzerfüllt auf, grub seine Krallen in Vals Arme und erhob sich flügelschlagend, wobei er Val mit den Schwingen im Gesicht traf.

Er bemerkte seinen eigenen Schmerz kaum. "Warum hast du das gemacht?", schrie er den Jungen an. "Ich hatte schon eine Feder! Du hast ihm wehgetan!"

"Weißt du, wie selten diese Viecher sind?", verteidigte Leonhard sich. "Die Federn sind Gold wert. Schon klar, dass ich da zugreife, wenn eins dumm genug ist, sich fangen zu lassen."

"Er ist von alleine gekommen!"

"Hä?" Leon schien seine Aufregung nicht im mindesten zu verstehen. Seelenruhig klopfte er sich Dreck und Erde von der Hose.

Val heulte auf vor Wut und Enttäuschung. Er wollte sich auf den Jungen stürzen, ihn boxen, wollte ihm Schmerzen zufügen, wie er es getan hatte, als Rufus und Isidor dazu stießen. Rufus lädierten Anblick, der ihm sonst den Tag versüßt hätte, wusste er kaum zu würdigen.

"Was ist hier los?", wollte der Gelehrte mit finsterer Miene wissen. Sein linkes Hosenbein war völlig zerfetzt und blutig, als hätte ein Eber seine Zähne darin versenkt. Sein Gesicht war verziert mit Striemen und breiten Kratzern. "Was schreit ihr hier herum?"

"Euer Neffe ist der widerlichste und stumpfsinnigste Junge, den ich je gesehen habe! Ihn interessiert nichts auf der Welt außer er selbst!"

"Wie kommst du darauf, so etwas- Was maßt du dir an-?", stotterte Rufus, während er vor Ärger rot anlief.

"Ach, haltet den Mund." Val war schon an ihm vorbei gestürmt. Isidor, so hatte er das Gefühl, ließ plötzlich die Schultern hängen und sah sehr geknickt aus.

 

Verbindung

Der Tag der Einigkeit. Eine Woche lang, seit Leon zum ersten Mal einen Fuß auf die Insel gesetzt hatte, hatte Val auf diesen Tag hin gefiebert. Er konnte nicht in Worte fassen, wie sehr er sich freute, dass die Gelehrten in wenigen Stunden endgültig von der Insel verschwunden sein würden. Und mit ihr die Geheimniskrämerei und das unerklärliche Gefühl der Bedrohung. Val trommelte mit den Fingern auf die Tischkante, blickte aus dem Fenster, wo sich langsam Dämmerung über den Hof senkte und er stimmte ein fröhliches Pfeifen an. Er spielte sogar mit dem Gedanken, sich wieder mit Robin zu versöhnen, einfach nur weil er so glücklich war. Immerhin hatte er nicht absichtlich bösartig gehandelt und in einer Freundschaft gehörte es nun einmal dazu, dass man einander verzieh.

Val war heute den ganzen Tag zuhause geblieben, um ein Auge auf Arved haben zu können. Er hatte ihm nicht erlaubt, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Normalerweise griff er nicht zu so harten Erziehungsmethoden, aber die Angst hatte ihm allen Handlungsspielraum genommen. Irgendwann hatte sein Bruder nichts mehr dagegen eingewandt, dass er nicht zum Fest gehen konnte, denn darum hatte er Val aus unerklärlichen Gründen immer wieder gebeten. Um acht war er ins Bett gegangen, seitdem hatte Val nichts mehr von ihm gehört.

Nachdem der Kuckuck neunmal aus seinem Uhrgehäuse gesprungen war, erhob sich Val und ein erleichtertes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er streckte seine müden Glieder und gähnte. In diesem Moment fing das Fest auf der Mondlicht offiziell an, und seine ganze Familie befand sich zuhause in Sicherheit. Alles war gut gelaufen.

Ein letztes Mal wollte er nach Arved sehen. Leise öffnete er die Tür.

Das Bett war leer.

 

Val kletterte die Strickleiter des Schiffes so schnell hoch wie ein Eichhörnchen. Nur fünf Minuten nach offiziellem Beginn der Feier stand er mit heftig wogender Brust auf der Mondlicht und kämpfte sich durch die Menge. Unglaublich viele waren gekommen, alles, was auf der Insel Rang und Namen hatte und dann noch der ganze Rest. Val kämpfte gegen die aufsteigende Panik in seiner Brust an. Arved konnte noch nicht lange hier sein, vielleicht - hoffentlich - hatte Leon ihn noch nicht gefunden. Er musste ihn unbedingt vor dem Gelehrten erwischen. Hin und wieder wurde er von laufenden Kindern und gewichtig daher schreitenden Älteren angerempelt. Er fragte ein paar Bekannte, aber niemand hatte Arved gesehen. Mehr als einmal wurde er zu einem Gespräch oder einem Getränk eingeladen, er antwortete nicht, sondern schob sich einfach weiter. Dann schließlich sah er Leon, wie er in einiger Entfernung lässig gegen einen Masten gelehnt mit seinem Onkel plauderte und beiläufig den Blick über die Menge schweifen ließ. Er hatte sich herausgeputzt, trug ein schlichtes weißes Hemd und darüber einen schwarzen Gehrock bis zu den Knien, wie es gerade auf dem Festland Mode war. Val behielt ihn im Auge, achtete auf jedwede verdächtige Bewegung. Arved war nicht bei ihm. Val stieß einen erleichterten Seufzer aus und erlaubte es sich, einen Moment durchzuatmen. Konnte es sein, dass Arved gar nicht zum Fest gekommen war? Aber wenn nicht, wo sollte er sonst sein? Hatte Leon ihn bereits abgefangen und irgendwo eingesperrt? Darüber wollte er lieber nicht nachdenken. Val drehte sich um und suchte systematisch weiter jeden Zentimeter des Decks nach seinem Bruder ab.

Sein Herz zog sich zusammen, als auf einmal Robin in der Menge erschien, ihn erblickte und einen zögerlichen Schritt auf ihn zumachte. Val wandte den Blick ab - ein deutlicheres Zeichen hätte er ihm nicht geben können - und Robin machte ein enttäuschtes Gesicht, ging aber nicht weiter auf ihn zu.

"Was macht er da? Der Fremde?", fragte eine ältere Dame hinter Val ihre Freundin. Vals Blick schnellte zurück zu Leonhard. Er hatte ihn aus den Augen gelassen. Das durfte ihm nicht noch einmal passieren. Leon stellte sich gerade auf ein Podium, das vor der Kapitänskajüte aufgebaut worden war, hob ein Sektglas in die Höhe und schlug mit einem silbernen Löffel ein paar Mal dagegen, so dass ein heller klingender Ton entstand. Dazu hatte er einen hochmütigen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Robin fing Vals Blick auf, einen kurzen Moment sahen sie sich an und prusteten los. Dann ärgerte Val sich über sich selbst, dass er ins Muster ihrer alten Vertrautheit zurückgefallen war, und starrte noch angestrengter als zuvor zu dem Fremden hinauf. Er durfte in Robin nicht den Anschein erwecken, als wäre alles wieder wie zuvor.

Leons Geklopfe wurde ungeduldiger. Anscheinend wollte er, dass die Leute aufhörten zu reden und ihm zuhörten, aber irgendwie schien seine Methode bei den Inselbewohnern nicht sonderlich gut zu funktionieren.

Schließlich gab es der junge Gelehrte auf. "Alle mal herhören, bitte!", sagte er unwirsch. Schlagartig kehrte Ruhe ein. "Ich erkläre die Party für eröffnet!" Nachdem er diesen Satz gesagt hatte, sprang er wieder von der Bühne. Vereinzelt klatschten Leute in die Hände, die meisten waren von der Ansprache eher verwirrt und fielen zu spät ein.

Luken im Holzboden öffneten sich wie von selbst, eine Reihe trompetenspielender Musiker erschien auf dem Deck und eine schnelle Tanzmelodie wurde angestimmt. Leute begannen sich im Takt der Musik zu bewegen, Sekt wurde ausgeschenkt, gutes Essen gereicht und über Val wurde ein Eimer Konfetti ausgekippt. Es war ein berauschendes Fest. Der Trubel erschwerte es Val zusätzlich, einen kleinen unscheinbaren Jungen in der Menge zu finden. Er schüttelte sich das Konfetti aus den Haaren und drängte sich weiter, nun in entgegengesetzte Richtung. Schließlich nahm er sich sogar ein Glas Orangensaft mit Sekt, weil die Kellner immer aufdringlicher wurden, als sie sahen, dass er nichts in der Hand hielt, trank die Hälfte und schüttete den Rest über Bord. Er verstand nicht, wie sein Vater dieses Zeug in so ungeheuren Mengen trinken konnte, es schmeckte abscheulich.

Pontian, Seraphs ältester Sohn und damit Anwärter auf den Posten des Häuptlings, machte ihm die Aufwartung. "Ein fröhliches Fest wünsche ich dir, Val!", sagte er blasiert.

"Danke." Er grinste gequält und schaute an dem Jungen vorbei. Immer noch keine Spur von Arved. Pontian redete immer ein wenig geschwollen daher und im Moment hatte er überhaupt keinen Nerv für sein Geplapper.

"Wie findest du das Fest?", wurde er gefragt.

"Gut, ja. Die Fremden haben sich selbst übertroffen", meinte Val und merkte gar nicht, was er da redete.

"Die Fremden? Du meinst Leonhard und die Gelehrten Isidor und Rufus? Aber sie sind doch keine Fremden, zumindest nicht mehr. Ehrwürdige Leute, alte Familie. Es ist gut für die Insel, solche Kontakte zum Festland zu haben, glaub mir." Pontian nickte und nippte an seinem Sektglas.

Val murmelte etwas Unverbindliches. Dein kleiner Bruder ist ja auch nicht in Lebensgefahr, fügte er in Gedanken hinzu. Anscheinend war Pontian überhaupt nichts Merkwürdiges an Leon aufgefallen, obwohl er doch ständig in dieser schmierigen Art um ihn herum schwänzelte. Val konnte sich über so viel Unverständnis nur wundern.

"Sie sind so überaus interessiert. Und loben unsere Insel in den höchsten Tönen. Sagen, von ihr aus könnte man besonders gut die Sterne betrachten. Besonders hat es ihnen der Rote Löwe angetan. Nur natürlich für Rote Magier selbstverständlich."

"Mhm." Der Rote Löwe war der mächtigste Stern und das mächtigste Sternzeichen ihrer Welt. Aber es gab im Moment dringendere Angelegenheiten als das.

"Fürst, wisst Ihr, ich habe Bedenken, was die Fremden betrifft. Gestern auf dem Schiff habe ich einem Gespräch beigewohnt und-"

Pontian tat es mit einer Handbewegung beiseite. "Davon hat Nepomuk mir erzählt. Ich bin froh, dass du es auch mir gegenüber erwähnst und nicht stattdessen krumme Geschäfte hinter meinem Rücken machst. Aber es ist kein Grund zur Sorge, Freund. Der Gelehrte hat nämlich eine besondere Überraschung für uns geplant, wie ich weiß. Ein Auftritt, bei dem er ein klein wenig seiner Magie zum Besten geben wird. Sicher dauert es nicht mehr lang. Trotzdem freut es mich, zu wissen, dass ich so besorgte Untertanen habe. Du entschuldigst mich …" Er trippelte davon, um einem Senator die Hand zu schütteln.

Val blickte ihm besorgt hinterher. Der Häuptlingssohn schenkte seiner Warnung nicht die leistete Beachtung, nein vielmehr freute er sich auf diese "Überraschung". Val dagegen hatte ein sehr ungutes Gefühl. Erneut ließ er seinen Blick übers Deck schweifen. Ob diese Überraschung mit der Familie Rabenfeder zu tun hatte?

Schließlich machte er Arved doch noch aus, wie er halb versteckt hinter einem hohen Wasserfass kauerte und ihn erschrocken anstarrte. Er wollte offenbar nicht von ihm entdeckt werden. Val fühlte, wie ihn bei seinem Anblick eine ungeheure Erleichterung durchströmte. Ihm war nichts passiert. Zur Erleichterung mischte sich Wut, weil er nicht auf ihn gehört hatte und eigenmächtig zum Fest gegangen war. Fordernd deutete er mit dem Zeigefinger auf den leeren Holzboden neben sich. Arved schüttelte den Kopf. Per Zeichensprache teilte er ihm mit, das Schiff nicht verlassen zu wollen. Val wurde wütend und setzte sich in Bewegung. Er würde Arved jetzt einfach packen und vom Schiff ziehen. So schnell könnten Seraph und die anderen gar nicht reagieren, wahrscheinlich würden sie es nicht mal bemerken. Zur Not könnte er ihn ja einfach hochheben und mit ihm davonlaufen. Dann würden sie sich irgendwo verstecken, bis die Gelehrten verschwanden. Ja, so würden sie es machen. Gleichzeitig wusste er natürlich, dass es nicht so einfach war. Das war es nie.

Eine kräftige Hand legte sich ihm auf die Schulter und umklammerte sie wie ein Schraubstock.

"Val, da bist du ja! Dich hab ich schon gesucht." Als der Junge sich umdrehte, sah er in das breite Grinsen Nepomuks. Nie war es ihm ungelegener gekommen. Er musste Arved in Sicherheit bringen.

"Ich habe eine wichtige Neuigkeit zu verkünden!"

Val lugte über seine Schulter. Leons schwarzer Haarschopf verschwand in der Menge, aber Val war sich sicher, dass er auf seinen Bruder zuhielt. Offenbar hatte er gewartet, bis Val erneut beschäftigt war. Er spürte, wie Kälte in ihm hochkroch.

"Kann das nicht warten?", fragte er ziemlich unhöflich und versuchte, sich an Nepomuk vorbeizuschieben.

Dessen Gesichtsausdruck verdüsterte sich schlagartig. "Was ist denn los mit dir, Junge?", knurrte er. "Du zeigst doch sonst mehr Respekt gegenüber Älteren!"

Das dämpfte Vals Fluchtversuche gewaltig. Er schaute Nepomuk an, den er respektierte wie einen Vater und die Mischung aus Ärger und Enttäuschung in seinem Blick ließ ihn schlucken.

"Verzeihung", sagte er schnell.

"Schon gut, schon gut", winkte Nepomuk ab. "Ich weiß ja, du hast dich in diese Sache mit den Fremden verbissen. Sturheit könnte man das wohl nennen - nicht gerade Eigenschaften, die ich mir von Mitgliedern meiner Crew wünsche - aber man könnte ja auch Durchhaltevermögen dazu sagen. Außerdem ist mir ein Dickkopf lieber, als jemand, der ständig nur nach meinem Mund redet ..."

Val hatte kein Wort gehört außer "Mitglied meiner Crew."

Entgeistert starrte er den Kapitän an. "Welche Neuigkeit wolltet Ihr mir mitteilen?"

"Ich freue mich sehr, dir verkünden zu dürfen, dass ich dich gerne auf meinem Schiff anheuern möchte! Mit deinem Vater ist alles abgeklärt. Sobald du die Schule abgeschlossen hast, darfst du dich uns anschließen - insofern du das denn möchtest." Er schaute ihn fragend an.

Val starrte ihn an und in seinem Gehirn ratterte es. "Ob ich das- Natürlich!", brachte er schließlich hervor. "Keine Frage. Ich - das hatte ich gar nicht erwartet-"

Nepomuk nickte gewichtig. "Bescheidenheit ist eine wichtige Tugend. Oh, und noch eine gute Neuigkeit!" Wie aus dem Nichts zog er plötzlich Robin aus der Menge hervor und legte ihm einen Arm über die Schultern.

"Robin kann ebenfalls anheuern! Das habt ihr euch doch gewünscht, oder? Ich sage es euch, wie es ist, Freundschaft ist eins der wichtigsten Dinge auf dieser Welt. Gott sei mein Zeuge, ich will der Letzte sein, der solch ein Band auseinander reißt!"

Vals Gesichtszüge erstarrten. Er starrte Robin an und brachte kein Wort heraus.

"Na, hat's euch vor Freude die Sprache verschlagen?", fragte Nepomuk unsicher, der sich wohl eine andere Reaktion erhofft hatte.

"Ich-" Val wusste nicht, wie er den Satz zu Ende bringen sollte. Nepomuk wurde abgelenkt, weil ihm einer der Inselbewohner ein Kompliment für sein schönes Schiff machte. Sofort drehte er sich zu ihm und erging sich in Beschreibungen über die Herkunft und Qualität des Bauholzes und den ganz besonderen Bestandteil - Drachenspucke.

"Du hast es ihm nicht gesagt?", fragte Val Robin mit gesenkter Stimme. "Dass du gar nicht mehr anheuern willst? Weil du was Besseres gefunden hast?" Er konnte die Bitterkeit aus seiner Stimme nicht verbannen.

Robin platzte sofort los, erleichtert, endlich eine Gelegenheit zum Gespräch gefunden zu haben. "Nein, sieh mal, Val, das hab ich dir doch gesagt und das ist es auch, was ich dir auch die ganze Zeit erzählen wollte, wenn du mir nicht dauernd aus dem Weg gehen würdest ..."

"Weil ich keine Lust habe, mit dir zu sprechen", sagte Val frostig.

"Ich weiß nicht, ob mich die Garde überhaupt aufnehmen will", quatschte Robin einfach weiter. "Meine Chancen sind zugegebenermaßen eher schlecht, weil ich von einer Insel stamme und nicht dieselbe Bildung genossen habe wie die Jungen vom Festland."

"Und Nepomuk hältst du dir als weitere Option offen?"

"Nun ja ..." Robin runzelte die Stirn, verwirrt über seinen verächtlichen Tonfall.

"Du bist ein Feigling, Robin", sagte Val. Der Ärger löste seine Zunge. "Dein Herz hängt gar nicht an diesem Schiff, so wie meins und das von Nepomuk! Du willst nur nicht ohne Job dastehen, denn wie gesagt, du willst ja nicht als armer Fischerjunge enden oder als was noch Schlimmeres. Das ist falsch. Nur Leute mit Leidenschaft gehören auf dieses Schiff." Val wusste, dass er übertrieb, aber es war ihm im Moment herzlich egal, er wollte Robin provozieren, er wollte ihn verletzen, sowie er ihn verletzt hatte.

"Wie hast du mich genannt?", fragte Robin.

"Einen dreckigen Feigling hab ich dich genannt!" Val Stimme wurde lauter, ein paar Umstehende drehten sich zu ihnen um und tuschelten. Beinahe wären die beiden Jungen wohl aufeinander losgegangen und hätten sich geprügelt, wenn in diesem Moment nicht Leon auf das Podium gestiegen wäre und sich an die Gesellschaft gerichtet hätte.

"Und nun", sagte er, während sein Blick über die Menge schweifte. Sein Blick blieb an den sich gegenüberstehenden Jungen hängen, denen der Zorn ins Gesicht geschrieben stand. Ein kleines Lächeln konnte er sich nicht verkneifen, dann wurde er wieder ernst. "Der Grund, warum ich auf die Insel gekommen bin."

Val wandte sich abrupt von Robin ab, erst jetzt war ihm seine Mission wieder eingefallen. Arved stand nicht mehr hinter dem Wasserfass. Val kämpfte sich verbissen durch die Menschenmenge, kam aber nicht schnell genug voran. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um nicht zu verpassen, was als Nächstes geschah. Rufus stand mit verschränkten Armen und gewichtiger Miene neben seinem Neffen und nickte hin und wieder. Isidor sah ruhig aus, nur ein klein wenig besorgt. Val war sich sicher, wenn sein Sohn einen Anschlag planen würde, wäre Isidor nervöser. Das beruhigte ihn ein klein wenig. Leon drehte sich zu Arved, der etwas unschlüssig auf die Rednerbühne neben ihn trat. Val fluchte lautstark. Wie sollte er ihn jetzt in Sicherheit bringen, wenn alle Leute zusahen? Seraph und Rufus würden es nicht erlauben. Leute blockierten ihm den Weg, er kam nicht bis an die Bühne. Ich hatte Recht gehabt, schoss es ihm durch den Kopf. Von Anfang an habe ich gewusst, dass er etwas mit Arved vorhat. Niemand hat mir geglaubt. Trotzdem wäre es ihm in diesem Moment lieber gewesen, er hätte sich geirrt. Angstschweiß brach ihm auf der Stirn aus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Nepomuk genau im richtigen Moment aufgetaucht war, um ihm die frohe Botschaft zu verkünden. Ob das wohl ein abgekartetes Spiel zwischen dem Kapitän und den Gelehrten war?

Aber er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Endlich würde Leon offenbaren, was er mit Arved vorhatte. Eine Sache beruhigte ihn: Wenn es etwas Verbotenes wäre, eine Entführung oder ein verbotener Zauber, dann würde er es nicht vor allen Menschen machen. Im schlimmsten Fall würde Val sie einfach angreifen.

Leon blickte Arved an, strich sich die Falten seines Hemd glatt - dann ging er vor dem Jungen in die Knie. Val zog die Stirn kraus. Was war denn jetzt los? Ein Raunen ging durch die Menge und ein paar Leute machten Aaah, als ob sie irgendetwas verstünden.

Mit klarem Blick sah Leon zu dem Jungen auf und legte sich eine Hand aufs Herz. Val sah, dass er die Löwenfeder von ihrem gestrigen Ausflug in der geschlossenen Faust hielt. Was war da los? War er im falschen Film?

Leons Stimme war laut und klar verständlich, als er anfing zu sprechen.

"Ich, Leonhard Stark, Anwärter auf den Gelehrtentitel, wurde mit dem Schicksal der Verbindung bestraft. In der Hoffnung mich dadurch Bescheidenheit und Demut zu lehren, banden mich die ehrenwerten Richter an das Leben eines Menschen."

Robin, der Val gefolgt war, lachte überrascht auf. "Die Verbindung! Der Arme. Kein Wunder, dass er ständig so schlecht drauf ist."

Val blendete ihn aus, richtete seine ganze Konzentration auf das Geschehen auf der Bühne.

"Du wurdest mir zugeteilt, Roter Löwe", sprach Leon weiter und schaute Arved an.

Plötzlich horchte Val auf. Obwohl ihm der Begriff nichts sagte, außer dass er einen Stern bezeichnete, wusste er, dass Leonhard einen Fehler gemacht hatte. Arved war nicht der Rote Löwe. Er hatte sich irgendwie verrechnet.

"Nimm mich als deinen Begleiter. Ich schwöre feierlich, dir Beistand zu leisten, dich zu unterstützen, dir zu helfen bei all deinen Unternehmungen. Ich bin dein Beschützer, dein Freund, dein Bruder."

Arveds Blick schweifte von Leons Gesicht über die Menge und blieb an Val hängen.

"Lauf weg, Val!", rief er ihm zu und Angst schwang in seiner Stimme mit. "Lauf weg!"

Val schaute ihn verständnislos an. Aber er stand doch auf der Bühne, er war doch in Gefahr! Was war hier los? Leonhard nahm die Feder zwischen Daumen und Zeigefinger und zeichnete etwas in die Luft. Zwei Ringe, die miteinander verbunden waren. Einen Moment hingen sie einfach nur so da - dann passierte es.

Feuer breitete sich in Vals Adern aus, vom Haaransatz bis in die Zehenspitzen und Hitze stieg ihm ins Gesicht. Zuerst dachte er, es läge an der Aufregung, oder es wäre eine Reaktion auf Leons Zauberkunst, aber dann wurde die Hitze schlimmer und nahm nicht ab. Er berührte seinen Arm, seine Wange, die Haut war kochend heiß.

"Feuer!", rief er. "Mach doch jemand das Feuer aus!"

In Panik stolperte er vorwärts, Leute machten ihm mit erschrockenen Mienen Platz. Leon unterbrach sein Ritual und schaute verwirrt auf, was denn da diese Unruhe verursachte. Val achtete nicht darauf, wohin er trat, sah nicht, dass die Schiffswand plötzlich aufhörte, dort wo das Geländer fehlte, verlor das Gleichgewicht – er hörte Leute schreien und seinen Namen rufen – dann stürzte er kopfvoran ins Wasser und die Welt um ihn herum wurde stummgeschaltet.

 

Das Wasser drückte ihn mit kalten unnachgiebigen Fingern nach unten. Da war immer noch Feuer, grausames, verzehrendes Feuer in seinen Adern. Val war außer sich, Panik übermannte ihn. Was passierte mit ihm? Wo sollte er hin? Er war unter Wasser, er bekam keine Luft, Feuer zerfraß ihn, Wasser geriet in seine Lungen. Er würde sterben! Nur die Panik konnte den unerträglichen Schmerz übertönen. Leon war schuld! Leon mit seinen seltsamen Worten über den Roten Löwen! Val schrie unter Wasser. Er hatte keine Hoffnung, an die Oberfläche zu gelangen. Er machte ruckartige Bewegungen mit Händen und Füßen, aber er wusste nicht, wo oben und unten war. Seine Bewegungen wurden langsamer, die Panik gewann Oberhand und er hörte auf zu kämpfen. Schwärze umfing ihn, die den Schmerz verschluckte. O wohltuende Schwärze.

Als Nächstes war da eine Hand, eine feste menschliche Hand, stärker als das Wasser, das ihn flüsternd zu sich rief. Mit einem gewaltigen Ruck riss sie ihn nach oben, zog ihn durchs Wasser, bis sein Kopf die Oberfläche durchbrach. Die kalte Luft schmerzte im Gesicht. Val hustete, spuckte und erbrach einen Schwall Wasser. Das Feuer in seinen Venen war versiegt. Robin hielt seinen Kopf über Wasser gegen seine Schulter gedrückt.

"Ich bin kein Feigling", knurrte er, während er ihn an Land zog.

Val spürte noch den Sand unter den Füßen, die Schwere seiner nassen Kleider, die vertraute Stimme seines Freundes, der ihn Sachen fragte und ihn stützte. Auch wenn Val es vor ein paar Minuten niemals zugegeben hätte, er brauchte Robin und es gab niemanden auf der Welt, dem er mehr vertraute. Er hatte ihm das Leben gerettet und er, Val, hatte vorgehabt, ihn bis an sein Lebensende zu hassen. Er war so dumm. Er wollte den Mund öffnen, um ihm das zu sagen, sich zu entschuldigen und ihn um Verzeihung zu beten, aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht. Nur ein schwaches Gurgeln drang zwischen seinen Lippen hervor. Er fühlte sich schrecklich schwach und ausgelaugt. Andere Menschen kamen vom Schiff herunter gelaufen, stürzten zu ihm, fragten ihn, was passiert sei, wie es ihm gehe, ob sie seinen Vater holen sollten. Val hörte sie wie durch einen Schleier. Sein Blick wurde trüb. Das Letzte, was er sah, war, wie Leon sich durch die Reihen nach vorne kämpfte. Auf seinem Gesicht lag blanker Schock. Rufus war neben ihm, fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und murmelte ununterbrochen: "Wir haben einen Fehler gemacht! Es war der falsche Junge!" Isidor aber lächelte. Und mit diesem merkwürdigen Lächeln vor Augen wurde Val bewusstlos.

 

Festland

Val hatte verwirrende Träume. Leute, die in Panik um ihn herumtrampelten. Heiler, die sich über ihn beugten. Leonhard und seine Familie, die sich über das Chaos verwirrt Dinge zuriefen. Ein junger Mann mit kurzen schwarzen Haaren, der ihn an der Schulter fasste und ihm eindringlich in die Augen sah; mit einem Nicken begrüßte er ihn. Val kannte seinen Namen nicht, aber er wusste, dass er für den weiteren Verlauf der Geschichte wichtig war. Die Bilder beunruhigten ihn.

"Lass mich aufwachen", dachte er fest. "Ich will jetzt aufwachen!"

Und es funktionierte, er durchbrach die Nebel aus Traum und Verwirrung und kehrte an die Oberfläche seines Bewusstseins zurück. Er hörte das Rauschen des Meeres und den Schrei einer vorbeiziehenden Möwe. Die Augen hielt er geschlossen. Vorsichtshalber.

Leise, gereizte Stimmen erklangen aus unmittelbarer Entfernung.

"Warum er? Wir haben einen Fehler gemacht!"

Val runzelte die Stirn. Er kannte diese Stimme.

"Er hat am einunddreißigsten August Geburtstag. Es war nicht vermerkt!"

"Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, deshalb haben sie den Tag nie gefeiert, im Gegenteil, sie haben ihn aus den Büchern gelöscht, als wäre es nie passiert."

Woher kannte er diese Stimmen? Val war sich nicht sicher.

"Man hätte alle Möglichkeiten in Betracht ziehen sollen!", knurrte jemand.

"Ja, hätte man wohl", sagte jemand anderes.

"Ich verstehe das nicht!" Die Stimme klang verzweifelt. "Ein Fischerjunge? Und dann ausgerechnet er! Ihr habt gesehen, wie er ist!"

"Ironie des Schicksals, würde ich sagen."

"Der Löwe macht keinen Unterschied zwischen einem Bauer und einem König, Sohn."

Vals Denken lief langsamer als sonst. Wen kannte er, die so miteinander sprechen würden? Aber dann fiel es ihm plötzlich ein und er konnte die Stimmen einem Namen zuordnen: die Gelehrten Stark. Erschrocken schlug er die Augen auf. Schwarzer Nachthimmel spannte sich übers Firmament. Er richtete sich auf und blickte sich um. Es dauerte eine Weile, bis er die Orientierung fand. Er lag ausgestreckt auf einem kleinen Fischerboot, seine Glieder schmerzten, als läge er schon eine ganze Weile in derselben Position da. Wellen brachen sich in regelmäßigen Abständen am Holz und ein lauer Wind ging. Val war verwirrt. Alles drehte sich. Erinnerungen an Feuer, Sonnenschein und nasse Kleider stiegen bruchstückhaft in ihm auf. Und an unsägliche Schmerzen.

Isidor, Rufus und Leon stritten sich lautstark am Bug des Schiffes und bemerkten nicht, dass er aufgewacht war. Val setzte sich auf und heftiger Schwindel überkam ihn. Er schaute über die Schulter an den Horizont, wo die Insel sein sollte. Aber selbst nachdem sich seine Augen an das trübe Licht gewohnt hatten, konnte er nichts erkennen. Da war nichts, nur schwarzes Meer und leere Weite. Eisiger Schrecken packte ihn. Nusnuth war nicht mehr da. Wie konnte das sein?

"Du bist wach." Isidor schaute ihn an, in der Nacht leuchteten seine hellen Augen unheimlich wie Silbermünzen. Er sah besorgt aus.

"Was soll das?", fragte Val verwirrt und räusperte sich, weil seine Stimme so heiser klang. "Wo fahren wir hin? Lasst mich raus."

Rufus schaute ihn unfreundlich an und seine dunklen Brauen zogen sich zusammen. "Dein ganzes Leben wird sich ändern, Löwe. Du kommst nicht mehr auf die Insel zurück."

"Nicht mehr …?" Val blinzelte. Sein Hirn weigerte sich, das Gehörte zu verarbeiten. Es gab für ihn kein Leben ohne die Insel!

Er erinnerte sich, dass Leon und die beiden Alten irgendetwas im Schilde geführt hatten. Arved war darin involviert gewesen und die Gelehrten vom Festland. Beim Ritual war es passiert - Leon hatte mit einer Feder etwas in die Luft gezeichnet und plötzlich hatte er, Val, unsägliche Schmerzen ausgestanden. Er hatte irgendeine finstere Magie mit ihm getrieben.

Dieser Gedanke behagte ihm überhaupt nicht. Angst packte ihn wie eine pechschwarze Welle. "Lasst mich raus. Das ist Entführung!"

Er sprang auf und schwankte, sein Kopf dröhnte und er konnte nur mit Mühe das Gleichgewicht halten, ohne über Bord zu gehen. Ihm wurde übel und er wollte sich erbrechen. Was war los mit ihm? Was hatten sie mit ihm gemacht?

Plötzlich befiel eine lähmende Starre seinen Körper und er konnte keinen Finger mehr rühren. Entsetzt schaute er die Gelehrten an. Er drohte zu fallen, im letzten Moment sprang Isidor zu ihm und packte ihn am Arm.

"Leon!", rief Isidor. "Lass das!"

Leon schaute kalt zurück. An seinem Daumen glitzerte Blut.

Hätte Val gekonnt, hätte er ihn angeschrien.

Das übernahm Isidor für ihn. "Was soll das?", fragte er seinen Sohn ärgerlich. "Der arme Junge weiß doch nicht, wie ihm geschieht! Gib ihm eine Chance, uns Fragen zu stellen!"

"Er fällt über Bord, wenn er weiter so zappelt", sagte Leonhard. Seine Gesichtszüge waren wie aus Stein gemeißelt. "Wir können es uns nicht leisten, den Löwen zu verlieren."

Was sollte das ständige Gefasel über einen Löwen? Was war damit gemeint? Val wollte um sich schlagen, wollte Leon anschreien, aber kein Laut drang über seine geschlossenen Lippen. Seine Nasenflügel bebten und seine Hände zitterten, so gut es eben ging.

"Du tust es schon wieder!", brauste sein Vater auf, blass vor Wut. "Du verhältst dich selbstsüchtig und egoistisch! Wir haben diesem Jungen gerade Heimat und Zukunft genommen, wie kannst du da so kalt sein? Löse die Fessel!"

"Du verstehst das nicht!", rief Leonhard und die Maske der Gleichgültigkeit fiel von ihm ab. "Du bist ja nicht dein ganzes Leben lang an ihn gekettet! An einen Fischerjungen, hinter dem schon jetzt die halbe Welt her ist! Was werde ich anderes tun, als ihn beschützen, von einem Ort zum anderen jagen und am Ende doch versagen? Wie könnte es anders sein? Und dann auch noch er, Vater!"

Das Gesicht seines Vaters wurde zu Stein. Die Stimme kalt wie Eis. "Du hast überhaupt nicht begriffen, worum es geht. Du solltest den Richtern dankbar sein, dass sie dich an ihn gekettet haben. Sonst würdest du nur damit enden, dich selbst zu hassen."

Er drehte sich abrupt um, legte Val eine Hand auf die Schulter und sprach ein paar Worte in einer fremden Sprache. Die Fessel wurde gelöst, Val konnte sich wieder rühren. Er wich so weit vor den Gelehrten zurück, wie es in dem kleinen Fischerboot möglich war. "Ihr seid wahnsinnig!", rief er. "Ich hätte es wissen müssen! Diese verdammten Städter und Gelehrten sind alle wahnsinnig!"

Isidor machte einen Schritt auf ihn zu. Sein Blick war reumütig. "Bitte, hör zu, Val-"

"Weg von mir!", rief Val. "Fasst mich nicht an! Wo fahren wir hin?"

Rufus seufzte und rollte die Augen. "Oh, bring ihn doch einer zum Schweigen. Das wollen wir nicht die ganze Fahrt über hören."

"Warum habt ihr mich entführt?", fragte Val. "Ich werde-"

"Nein", sagte Isidor scharf. Er schaute Rufus an, der eine Bewegung mit den Fingern gemacht hatte. Val nahm es alarmiert zur Kenntnis. Sie wollten ihn schon wieder verzaubern! "Stell du dir vor, wie du dich fühlen würdest, wenn du dich plötzlich mitten in der Nacht auf einem Boot wiederfinden würdest, umgeben von Leuten, die du kaum kennst. Vergiss nicht, er weiß von nichts."

Rufus zuckte die Schultern und murmelte etwas Unverständliches.

"Wovon?", wollte Val wissen. "Welche logische Erklärung wollt Ihr hierfür abliefern?"

Es war Leonhard, der antwortete. Er richtete den Blick seiner kalten blauen Augen auf ihn und sagte nur ein Wort. "Magie."

Das Wort schien von der Nacht aufgesogen und von allen Seiten auf sie zurückgeworfen zu werden. Magie. Val konnte nicht verhindern, dass es Wirkung auf ihn hatte.

"Ich weiß, was Magie ist", sagte er schließlich. Seine Stimme war der einzige Laut, der übers Wasser drang. "Aber was soll ich damit zu tun haben?"

"Mehr als du denkst", antwortete Leon.

"Magie?", wiederholte Val zweifelnd.

"Ja", antwortete Isidor. Er schaute übers dunkle Wasser. "Und im Moment wollen wir nicht mehr davon sprechen. Zumindest nicht, bis wir bei Rufus angekommen sind. Seht, Festland."

Val drehte sich um. Noch nie hatte er das Festland gesehen. Dunkel und bedrohlich erhob es sich gegen die Strahlen der aufgehenden Morgensonne. Häuser, so hoch wie Kirchtürme, erhoben sich hinter den Masten der mächtigen Hafenschiffe. Val konnte nichts dagegen tun, dass sein Herz vor Aufregung schneller klopfte. Mit beiden Händen umklammerte er den Rand des Bootes. In was war er da nur hineingeraten?

 

Das erste, was ihm auffiel, nachdem das Boot angelegt hatte und sie herausgeklettert waren, war der Boden. An Asphalt war er nicht gewohnt und er bewegte sich die ersten Schritte sehr viel unsicherer als auf weichem Sand. Das zweite waren die vielen Lichter, die von den Häusern herüber strahlten. Künstliches Licht wie dieses gab es auf Nusnuth nicht; man nutzte stattdessen althergebrachte Quellen wie Sonne und Feuer.

In dieser Nacht war Amalthiens Hafen wie ausgestorben, nur weit hinten an der Ecke sah man ein paar finstere Gesellen, die sich in den Schatten der Hafenschänken herumtrieben. Val blieb keine Zeit, sie genauer zu betrachten. Rufus erklomm bereits den bergauf gewundenen Weg, der ins Stadtzentrum führte. Er mahnte sie wiederholt zur Eile und blickte immer wieder nervös über die Schulter. Val stolperte ein paar Mal, weil er sich lieber umsah, als auf den Weg zu achten. Eine unheimliche Stimmung lag in der Luft. Gaslampen erhellten die Straßen, Katzen streunten über Mauern und abgeflachte Dächer, duckten sich, wenn die Menschen sich näherten. Val fühlte sich beobachtet und eingeengt von den dicht beieinander stehenden Häusern. Wo waren die Bäume, wo weite unbebaute Flächen Natur? Das Gefühl der Bedrängnis legte sich wie ein eiserner Käfig um sein Herz und schnürte ihm die Kehle zu. Während sie durch die Straßen eilten, erhielten sie Einblick ins Innere der Häuser; Val sah Menschen beim Essen, beim gemütlichen Zusammensitzen im Wohnzimmer, beim Streit zwischen Türschwellen.

Eine mächtige Kutsche, gezogen von zwei feurigen schwarzen Pferden, polterte an ihnen vorbei. Steine spritzten Val ins Gesicht. Der Kutscher verschwendete keinen Blick an sie und Val musste sich erst daran erinnern, dass Amalthien so groß war, dass sich nicht alle Bürger kannten wie es auf Nusnuth der Fall war. Später konnte er nicht sagen, warum er in diesem Moment nicht einfach umgedreht und weggelaufen war. Vielleicht weil er das Ganze immer noch für einen bösen Traum hielt.

"Wir haben deinem Vater einen Brief hinterlassen, der ihm alles so gut es geht erklärt", sagte Isidor. Er zog eine Taschenuhr aus seiner Weste, warf einen Blick auf die goldenen Zeiger, und überquerte dann eilig die Straße. Val bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.

"Ihr könnt ihm doch alles erklären, wenn wir nach Nusnuth zurückkehren", sagte er. "Wenn ihr mich nach Hause bringt."

Isidor warf ihm nur einen schnellen Blick zu und antwortete nicht. Rufus, der ein paar Schritte versetzt hinter ihnen ging, murmelte etwas, das sich anhörte wie: "Hat es immer noch nicht kapiert."

Val drehte sich um. Empörung löste ihm die Zunge. "Wenn Ihr glaubt, dass ich hier nur eine Minute länger als nötig bleibe, habt Ihr euch geschnitten! Ich will so schnell wie möglich nach Hause. Ich werde-"

"Ich mach dir einen Vorschlag", unterbrach Isidor ihn freundlich. "Du hörst dir an, was wir zu sagen haben und dann entscheidest du, was du als nächstes tun willst."

"Isidor, bitte", meinte Rufus entnervt. "Er hat hier gar nichts zu entscheiden."

"Das habe ich wohl!", sagte Val. "Und ich muss mir gar nichts anhören!"

"Ich sagte doch, wir hätten ihn einfach in einen leeren Sack stecken und ihn uns über die Schulter werfen sollen, viel praktischer, weniger Genörgel …"

"Wirst du aber", meinte Leonhard. Er hatte nichts mehr gesagt, seit sie das Boot verlassen hatten.

"Warum?"

"Weil du neugierig bist. Es liegt in deiner Natur."

Val kniff die Augen zusammen. Jetzt stellte er schon Charakteranalysen über ihn an? Klar, er hatte aufgehorcht, als sie Magie erwähnt hatten. Klar, irgendwo hatte er auch Robin verstanden, als er von einem aufregenden Leben auf dem Festland geschwärmt hatte. Nun aber, wo er mitten drin steckte, konnte er dem Ganzen nicht mehr so viel abgewinnen.

"Ich hör es mir an", sagte er schließlich. "Und dann gehe ich zurück." Er war wirklich überzeugt von dem, was er sagte.

Wie sehr er sich doch täuschen sollte.

Rufus winkte und eine Kutsche, die haargenau aussah wie die, die vor ein paar Minuten an ihnen vorbeigefahren war, kam mit quietschenden Rädern neben ihnen zum Stehen. Das schwarze Pferd hielt direkt hinter Val, es schnaubte und der Junge spürte seinen heißen Atem im Nacken. Beunruhigt wich er einen Schritt zurück. Das Pferd scharrte unruhig mit den Hufen und warf den Kopf hin und her.

Unauffällig lugte Val hinter seine Scheuklappen. Schwarz. Er hatte auf rote Augen wie bei einem Dämonenpferd getippt.

"Wo fahren wir hin?", fragte Val. Die Aussicht, gleich in einer Kutsche zu fahren, machte ihn nervös.

"Zu Violetta", antwortete Isidor und kletterte in die Kabine, während Rufus dem Kutscher die Adresse nannte.

"Unserer beider Schwester", erklärte er auf Vals fragenden Blick hin. "Sie ist eine sehr herzliche Person."

Wäre ja mal was ganz was Neues, dachte sich Val. Bei der Familie. Die Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Val krallte alle zehn Finger in die Armlehne. Der Boden unter seinen Füßen hüpfte auf und ab wie bei hohem Seegang, die Fenster vibrierten in ihren Rahmen. Val konnte nicht behaupten, dass er das Reisen in einer Kutsche mochte. Sie ruckelte und zuckelte, bewegte sich so viel härter fort als ein gleitendes Schiff. Eine Zeit lang saß er da wie versteinert, lauschte dem Klackern der Hufe auf hartem Asphalt und den hin und wieder gemurmelten Befehlen des Kutschers. Die Gelehrten dagegen saßen bequem in ihren Sitzen. Sie schauten nach draußen auf die sich ändernde Landschaft und versanken in tiefe Stille. Auch Val versuchte, sich zu entspannen und lockerte seinen Griff. Müdigkeit überkam ihn. Er konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Ein Blick auf Rufus' in Gold gefasste Armbanduhr sagte ihm, dass es mittlerweile drei Uhr nachts war. Normalerweise wäre er jetzt schon seit Stunden im Bett. Er wusste zwar nicht, wie er es schaffte, nachdem so viel Ungeheuerliches passiert war, aber sein Kopf sank gegen die kühle Fensterscheibe und seine Lider schlossen sich wie von selbst. Nach kurzer Zeit war er eingeschlafen. Es war kein ruhiger Schlaf. Im Traum meinte er, Stimmen zu hören.

"Ein Glück, dass wir vor ihnen da waren." Das war Rufus und seine Stimme klang grimmig wie eh und je. "Stell dir vor, wenn Dario- Von nun an dürfen wir ihn keine Sekunde mehr aus den Augen lassen."

"Der arme Junge. Weiß von nichts und trägt doch die größte Verantwortung von allen. Was, wenn er dem nicht gewachsen ist?"

Er erhielt lange keine Antwort – dann. "Die Sterne wählen mit Bedacht aus. Er ist aus härterem Holz geschnitzt, als du denkst."

"Hoffen wir es."

 

Die Kutsche blieb so abrupt stehen, dass Val beinahe aus seinem Sitz geschleudert wäre. Leonhard schaute ihn verächtlich von der gegenüberliegenden Seite an. Val achtete nicht auf ihn. Schlaftrunken blinzelte er nach draußen. Sie standen vor einem großen, düsteren Herrenhaus, dessen Umrisse mit der Nacht zu verschmelzen schienen. Die ganze vordere Fassade war von dichtem dunkelgrünen Efeu bewachsen und der Putz blätterte an einigen Stellen ab. Es musste ein paar hundert Jahre alt sein.

Sie stiegen aus. Sie mussten einige Kilometer gefahren sein, Amalthiens Häuser waren verschwunden, stattdessen bestimmten Felder und Wiesen die Landschaft, jetzt in der Nacht natürlich vollkommen schwarz. Rufus zahlte dem Kutscher ein paar Kupfermünzen, welche er mit einem dankenden Nicken entgegennahm. Dann ließ er seine Peitsche über den Rücken des Pferdes schnalzen und sie fuhren los. Nachdem das Gespann um die Ecke verschwunden war, kehrte Stille ein. Val blickte ihm wehmütig hinterher. Er wäre lieber mit ihm nach Amalthien zurückgefahren.

"Auf geht's, ins Haus!", sagte Rufus herrisch.

Val wandte sich um. Hinter ein paar Fenstern im oberen Stockwerk brannte noch Licht. Sie sahen aus wie unzählige gelbe Augen. Zusammen mit der schweren breiten Haustür mit weißen Türklopfern wie Reißzähne, verlieh es dem Haus den Anblick eines wilden Tieres, das in der Dunkelheit auf eine Gelegenheit zum Angriff wartete. Kein sehr einladendes Bild.

"Komm schon", drängte ihn Rufus ärgerlich, als er sah, dass er zögerte.

Ohne dass er sie berühren musste, sprang die Haustür nach innen auf. Ein kleiner verhutzelter Diener bat sie mit einer tiefen Verbeugung herein. Sein Gesicht war über und über mit Falten durchzogen und seine Augen, halb verdeckt von den enormen Schlupflidern, zuckten unruhig in ihren Höhlen hin und her. In seinen Händen hielt er einen hohen Kerzenständer, der flackerndes Licht in den Gang warf. Val hatte kaum einen Schritt ins Haus gemacht, als die Tür hinter ihm mit einem Krachen ins Schloss fiel. Prompt fühlte er sich eingesperrt.

Der Diener beäugte Val argwöhnisch, als er sich an ihm vorbeidrängte. Schließlich traten sie ins Licht. Val war erleichtert, dass das Innere des Hauses weit einladender war als es von außen den Anschein hatte. Es war für seinen Geschmack ein wenig vollgestellt, aber zumindest fehlten die Särge und die zentimeterdicke Staubschicht, mit denen er gerechnet hatte. Der Boden war ausgelegt mit einem karmesinroten Teppich, so weich, dass er mit den Füßen darin versank. Von der Decke in der Mitte der Eingangshalle baumelte ein gewaltiger bronzefarbener Kronleuchter, der bereits an einigen Stellen angelaufen war. Die Wände zierten eine Reihe Ahnenbilder und Steinbüsten, die allesamt erschreckende Ähnlichkeit mit Leon hatten. Die Türen waren mit schwerem dunklen Mahagoni verkleidet, die Treppe zu den oberen Stockwerken bestand aus reinem Marmor. Das alles fiel Val in ein paar Sekundenbruchteilen auf und er dachte sich noch, dass hier eine Frau bei der Inneneinrichtung am Werk gewesen sein musste - dann wurde seine Sicht verdeckt, als er mit dem Gesicht in das Dekolleté einer sehr fülligen Dame gedrückt wurde.

"Oh, du armer Junge! Oh, du armer, armer Junge!", krächzte ihm eine Stimme ins Ohr. Dann schob die Frau ihn auf Armeslänge von sich weg, um sich sein Gesicht anzusehen. Val musterte sie seinerseits entsetzt. Wie gesagt sie war füllig, auch ihr Gesicht war rund wie das eines Kugelfisches und ihre Finger waren kurz und dick. Wie es Leute mit kurzen und dicken Fingern zu tun pflegen, trug auch diese Dame einen Haufen goldener und silberner Ringe, die das Fett unvorteilhaft zur Geltung brachten. Ihr braunes Haar war kräftig, noch von keinem grauen Schatten durchzogen und auch ihre rosigen Bäckchen deuteten auf ein noch relativ junges Alter hin. Erneut drückte sie ihn an sich, so fest, dass ihm die Luft wegblieb.

"Sieh, wie mager du bist! Und wie schmutzig! Nein, trifft es nicht immer die Guten und die Schönen?" Val konnte einen Blick auf Leonhards Gesicht erhaschen und er verfluchte ihn für die offensichtliche Schadenfreude darin. Rufus hatte Erbarmen und löste ihn aus dem Klammergriff der Frau.

"Bitte, Violetta, wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen ihm einiges erklären."

"Aber er tut mir doch so unendlich Leid! Schau ihn dir an! Was für ein tapferer Junge!" Sie fuhr mit der Hand in ihre Rocktasche und förderte ein seidenes weißes Taschentuch zutage, mit dem sie sich die geschwollene Nase schnäuzte. Ein großes, blaues Z war darin eingestickt. Dann erblickte sie Leonhard, der hinter Val in Deckung gegangen war, und wollte sich auch auf ihn stürzen.

"Leon!", stieß sie hervor, "Oh, du weißt ja gar nicht, welche unglaublichen Sorgen ich mir gemacht-"

"Halt!" Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr stehenzubleiben. "Das hatten wir doch besprochen, Vio. Keine unnötigen Begrüßungszeremonien, außer du hast mich seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Meinen Rechnungen zufolge liegt unser letztes Treffen erst drei Wochen zurück."

Die dicke Dame sank zurück auf ihre Fußballen und bewunderte und bekomplimentierte ihn aus gebührendem Abstand.

Val wusste nicht, was er davon halten sollte. Diese Gelehrten waren ja noch viel verrückter, als er gedacht hatte. Rufus führte die Gruppe die riesige steinerne Treppe hinauf und Val achtete darauf, neben Leonhard und hinter der fetten Dame zu gehen. Nicht, dass sie noch mal auf die Idee kommen würde, sich auf ihn zu stürzen. Er hatte das Gefühl, dass er nun selber nach ihrem schweren Parfum – es erinnerte ihn an den Geruch von Katzenfutter, vermischt mit ranzigem Lampenöl und Hagebutte – roch.

Rufus führte sie in eine Dachkammer und bot der weinerlichen, fetten Dame einen Stuhl an. Erst dann stellte er sie Val als seine Schwester Violetta Zodiak vor. Val traute seinen Ohren nicht. Diese beiden sollten Geschwister sein? Er hatte selten zwei Menschen gesehen, die sich weniger ähnelten. Dann – nachdem er seine Hand erneut aus ihren fetten Pranken befreit hatte – sah er sich in dem Zimmer um. Haufenweise Sterndeutungsapparate, Teleskope, Mikroskope und andere Geräte, deren Verwendungszweck er nicht mal vermuten konnte, teilten sich den spärlichen Platz auf verstaubten Tischen und Kommoden. Alles war so vollgestellt, dass er sich ganz dünn machen musste, um sich zwischen den Regalen hindurchquetschen zu können. In einem Käfig eingesperrt hingen zwei Fledermäuse von der Decke, die Körper mit ihren ledrigen schwarzen Flügeln umschlungen. Val, der diese Tiere noch nie aus der Nähe gesehen hatte, musterte sie staunend. Gleich daneben hockte ein Falke auf einer goldenen - wie könnte es auch anders sein? - Stange und starrte ihn wütend an. Ladislaus war mit verschnörkelten Buchstaben in das eine Ende der Stange geprägt worden. Das war also der Falke, der Leonhard auf der Insel ständig Botschaften gebracht und Robin verletzt hatte. Val starrte böse zurück, wollte ihm aber lieber nicht zu nahe kommen. Er sah sich nach den anderen um. Vor dem Dachzimmer war eine Terrasse, die mit einer Glaskuppel überdacht war. Er trat hinaus. Rufus holte Isidor gerade zu einem der insgesamt fünf unterschiedlich großen Teleskope, die herumstanden und bat ihn, hindurchzusehen. Es waren keine normalen Teleskope, an ihren Seiten hingen Vergrößerungsgläser und Kompassnadeln.

Isidors Augen weiteten sich. "Du meine Güte!", murmelte er. "Das habe ich ja noch nie gesehen."

Rufus schnaubte. "Ich auch nicht und ich studiere den Nachthimmel seit nunmehr drei Jahrzehnten."

"Was hat das zu bedeuten?"

"Das kann ich dir sagen. Folge mir!"

Während die beiden wieder in das Zimmer mit den Geräten zurück gingen, deutete Leonhard mit unleserlichem Gesichtsausdruck auf das Teleskop.

Mit klopfendem Herzen drückte Val sein Auge gegen das Glas. Und keuchte überrascht auf. Er sprang von dem Teleskop weg, um selbst noch einmal in den Himmel zu blicken. Tatsächlich, dort konnte er es auch sehen! Noch einmal, er bemühte sich um Ruhe, ging er an das Glas heran. Ein roter Löwe, gehüllt in einen Flammenmantel, flackerte am nachtschwarzen Himmel. Er hatte das Maul aufgerissen und brüllte.

Mit einem letzten Blick aus eigenen Augen überzeugte er sich von der Richtigkeit des Gesehenen. "Wie- Wieso sehe ich das?", fragte er dann Leonhard.

Der zögerte, bevor er antwortete: "Du bist an mich gebunden und ich an dich. Du siehst Magie, weil ich sie sehe."

"Wieso sind wir … aneinander gebunden?" Val hatte Probleme, das Wort auszusprechen.

Leon antwortete nicht.

"Wie lange sind wir das?"

"Bis einer von uns beiden stirbt."

Val blinzelte. Einen Moment lang war er sprachlos. "Warum?", fragte er dann. Ärger kochte in ihm hoch. Leon konnte sich also einfach an ihn binden, wie es ihm passte, ohne ihn, Val, überhaupt gefragt zu haben.

"Geht dich nichts an", schnappte Leon.

"Geht mich nichts an?" Val wurde lauter. "Du hast dich einfach in mein Leben eingemischt und jetzt möchte ich verdammt noch mal wissen, warum das so ist!"

Der Gelehrte schüttelte nur verächtlich den Kopf, als plötzlich wie aus dem Nichts seine dicke Tante hinter ihm auftauchte.

"Er hat ein Recht darauf, es zu erfahren", meinte sie mit gesenkter Stimme.

"Du sagst ihm gar nichts!", knurrte Leon sie an. Seine Augen blitzten. Val wunderte sich über seine Wut. Auf Nusnuth brachte man Älteren Respekt entgegen und erhob nicht die Stimme gegen sie.

Violetta wandte sich an Val. Das Licht der Dachkammer tauchte ihr Gesicht in Halbschatten. "Es gibt in unserer Gesellschaft die sogenannten Obersten Richter. Diese Richter haben die Macht zu entscheiden, ob ein Schüler, der sich darum bewirbt, in den Stand der Gelehrten aufgenommen werden kann oder nicht. Jeder muss sich im Alter von dreizehn Jahren einer Prüfung unterziehen. So auch Leon. Und bei ihm … nun." Sie schürzte die Lippen, während ihr Neffe den Blick niederschlug. "Sagen wir, Rufus' Erziehung hatte wohl ein wenig zu viel Einfluss auf ihn."

Val schaute sie fragend an.

"Sie befanden ihn für zu arrogant. Zu selbstsüchtig." Violettas Stimme wurde leise, beinahe zärtlich. Sie sah Leon an, als wolle sie ihm über den Kopf streichen. Dieser richtete sich auf, straffte die Brust. Sein Blick war kalt.

"Na und? Was ist schon so schlecht daran? Die Richter tun falsch daran, diese Eigenschaft zu verurteilen. Menschen sind nun mal nicht so viel wert wie Magier. Sie sind dumm, wenn sie das nicht verstehen."

Val hätte beinahe laut aufgelacht. Allein die Aussage fand er bedenklich, aber sie dann noch zu treffen, wenn einer dieser verachtenswerten Menschen anwesend war, war schon ein starkes Stück.

Auch Violetta wirkte mehr amüsiert als zornig. Ein feines Lächeln umspielte ihren herzförmigen Mund. "Die Richter entschieden, dass er sich eine Zeit lang an einen Menschen binden sollte, der keinen Tropfen magischen Blutes in sich trägt. Er sollte lernen, auf seine Gefühle Rücksicht zu nehmen, so zu denken wie er. Sie sollten gemeinsam Abenteuer bestreiten und einander vertrauen lernen. Nur leider … der Junge, der ausgewählt wurde … nun er ist … besonders, weißt du?" Ihr Blick heftete sich auf Val.

"Ich", sagte er. "Warum?"

Sie sah ihn nachdenklich an. "Komm, gehen wir zu den anderen."

Zusammen traten sie durch die Balkontür. Val schwirrte bereits jetzt der Kopf. Welche weiteren hanebüchenen Erklärungen würden nun folgen? Die beiden Männer standen um etwas herum, das aussah wie ein Billardtisch. In seine Mitte eingelassen war die eine Hälfte eines Globus. Mehrere Nadeln ragten aus seiner Mitte empor und schlugen entweder in die eine oder in die andere Richtung aus. Obwohl Val Naturwissenschaften mochte und sich in seiner Freizeit oft mit Nepomuk über Himmelskoordinaten und Planetenbewegungen unterhalten hatte, sagte ihm diese Apparatur nicht das Geringste.

"Vorgestern befanden wir uns hier noch bei dreiundzwanzig Grad. Es hat sich mittlerweile um weitere fünf Grad nach Osten verschoben", sagte Rufus.

"So schnell", murmelte Isidor.

"Und es hört nicht auf, ich sage dir, morgen werden wir noch zwei oder drei Grad mehr haben."

"Was hat Alangium mit der ganzen Sache zu tun?"

"Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen."

"Du hattest Recht." Isidor richtete sich auf. "Das ist das größte Ungleichgewicht, das wir jemals hatten. Jemals."

Die beiden Männer richteten ihren Blick auf Val. Dem wurde plötzlich ganz heiß und er wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Irgendetwas hatten die Gelehrten an sich, dass er sich sogar selbst die Schuld an all diesen merkwürdigen Vorkommnissen gab und das obwohl er vor drei Stunden noch nicht einmal gewusst hatte, dass es Magie wirklich gab.

"Bevor wir anfangen ..." Rufus griff in all dem Chaos nach einer goldenen Glocke und klingelte. Eine Sekunde später öffnete ein Diener die Tür und verbeugte sich.

"Ihr wünscht, Herr?"

"Einmal Tee für alle, Bastian. Chai, denke ich."

"Sehr wohl, Herr."

"Und Gebäck!", fügte Violetta hinzu. Beim Gedanken an Essen schien sich ihre Stimmung merklich aufzuhellen, ein seliges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Der Diener nickte und schloss die Tür.

Rufus schaute sich um. "Wollen wir es uns etwas gemütlicher machen?" Er beantwortete die Frage selbst, indem er anfing, kleine Kreise in die Luft zu malen. Bücher und Papiere erhoben sich von den Tischen, flogen durch den Raum und stapelten sich, der Größe nach geordnet, sauber aneinander an der gegenüberliegenden Wand. Ladislaus stieß wütende Schreie aus, wenn sie ihm zu nahe kamen und schlug mit den Flügeln. Val stand der Mund offen. Wenn Rufus mit dem Krümmen eines kleinen Fingers Berge bewegen konnte, warum herrschte dann eine solche Unordnung in seiner Dachkammer? Isidor bemerkte wohl die Frage in seinen Augen, denn er lächelte und sagte: "Alles zu seiner Zeit, Val."

Rufus hatte den kleinen Austausch mitbekommen und sah seinen Bruder misstrauisch an. "Du gedenkst doch nicht, ihm irgendetwas zu erklären, oder?"

"Gewisse Dinge wird er wissen müssen. Sonst ist der Ablauf der Mission gefährdet."

Val war derselben Meinung, aber Rufus rümpfte nur die Nase. Er hielt ihn offenbar nicht für würdig, Mitwissender ihrer Geheimnisse zu werden.

Die Gesellschaft setzte sich auf orange-beige gestreifte Sofas, die unter all dem Müll unsichtbar gewesen waren. Selbst wenn Val nicht hinsah, tränten ihm die Augen.

Erst als alle ihren dampfenden Tee vor sich stehen hatten – dazu gab es fünf verschiedene Zucker- und Honigarten und noch mehr Sorten des allerfeinsten Gebäcks – und Val sich an der heißen Flüssigkeit heftig die Zunge verbrannt hatte, begann man zu erklären.

"Also, Valor", ergriff Rufus das Wort. "Ich nehme mal an, du glaubst uns inzwischen, dass das hier Magie ist." Er machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum einschloss.

Val nickte einfach. Er wollte Rufus darauf hinweisen, dass er seinen Namen falsch ausgesprochen hatte, aber dann dachte er sich, wäre das vermutlich verlorene Liebesmüh.

"Es wird nun Zeit, dass wir offenlegen, worum es hier eigentlich geht … Irgendwo …" Rufus schaute sich in dem Raum um. Val war wenig zuversichtlich, dass er hier drin irgendetwas finden würde, wenn er nicht genau wusste, wo es sich befand. Zu diesem Schluss schien auch Rufus zu gelangen, denn er sagte:

"Isidor, könntest du danach suchen? Ich habe es lange nicht mehr angesehen."

"Wirklich? Du hast eins hier?"

"Ja, Balthasar hat es mir geschenkt, schon ewig her."

Isidor seufzte. "Gut." Er machte eine fließende Bewegung mit dem rechten Daumen, schnippte, malte etwas in die Luft. Mit einem Schlag wurde es dunkel um sie herum und Val erschrak. Dann entsprang von irgendwoher ein Licht, wie fluoreszierende Farbe leuchtete es aus dem Inneren einer Vase hervor. Rufus sprang auf und fischte den Gegenstand heraus.

"Was macht es denn da drin?", murmelte er undeutlich. "Na, wahrscheinlich konnte ich seinen Anblick einfach nicht mehr ertragen."

Er setzte sich zurück auf seinen Sessel. Das Licht ging wieder an, kaum dass sein Hintern die Sitzfläche berührte. "Vielen Dank, Isidor, mit diesen Aufspürungszaubern hatte ich seit jeher meine Probleme … Nun, Vallo, was glaubst du, was das ist?" Er deutete auf den Gegenstand.

Val schaute es sich an. Es war ein Buch, so wie er viele davon zuhause in seinem Regal stehen hatte. "Ein Buch", meinte er verwirrt.

Beinahe triumphierend sagte Rufus: "Es ist aber kein gewöhnliches Buch. Darin steht es beschrieben, das Ritual, das uns so große Kopfzerbrechen bereitet. Und erst vor kurzem ist es einem von unseren Gelehrten gelungen, die Schrift zu entziffern." Er wandte sich an Violetta. "Würdest du bitte? Du kannst es auswendig."

Sie nickte und nahm ihm mit zitternden Fingern das Buch ab. Aus den Falten ihres Dekolletés kramte sie eine Lesebrille. Ihre fünf Doppelkinne schwabbelten heftig auf und ab, als sie Val über den Rand der Brillengläser hinweg eindringlich ansah. "Ich werde nun etwas zitieren, was schon vor Tausenden von Jahren aufgeschrieben wurde. Es hat sehr viel Macht." Betonung auf sehr.

Val rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. Er wollte nun endlich wissen, was es mit dem Geheimnis auf sich hatte. Was er mit der ganzen Geschichte zu tun hatte. Violetta blätterte die brüchigen Seiten so vorsichtig um, als fürchtete sie, sie könnten bei der kleinsten Berührung zu Staub zerfallen. Am liebsten hätte Val ihr das Buch aus der Hand gerissen. Aufmerksam betrachtete er die Seiten, was nicht so leicht war, weil für ihn alles auf dem Kopf stand. Neben dem Text, der aus Hieroglyphen einer alten Sprache bestand, sah er auch Zeichnungen. Menschen aus früher Vorzeit, die in Tierfelle gekleidet um ein Lagerfeuer herumtanzten. Abertausende Sterne leuchten vom Firmament, und der eine in der Mitte ein wenig heller. Ein wenig rötlich. Auf einer anderen Seite meinte Val einen Menschen zu erkennen, der irgendwie in der Luft schwebte, von einem eigenartigen Lichtkranz erhellt. Zu seinen Füßen saß ein kleiner Löwe aus Stein. Er glaubte zumindest, dass er aus Stein war, weil er sehr viel kleiner war als ein richtiger Löwe und sein Fell feine Maserungen aufwies. Eine Statue vielleicht. Die Augen leuchteten rot, als bestünden sie aus Rubinsteinen. Val beugte sich vor, um mehr zu erkennen. Er fühlte instinktiv, dass diese Statue wichtig war.

Violetta hielt das Buch mit einem Male ein wenig höher. Val runzelte die Stirn. Hatte sie das absichtlich getan? Dann fing sie an zu sprechen und schon mit dem ersten Wort war klar, dass sie etwas wie eine Beschwörungsformel zitierte.

"Hin und wieder sollte es geschehen, dass ein Mensch sich zum Guten wendete. Dann konnte der Löwe die Fessel lösen, die er ihm auferlegt hatte. Dazu allerdings bedurfte es zweierlei."

"Der Bestandteile seiner Magie nämlich." Rufus erhob sich. "Blut und Sternenlicht." Plötzlich hatte er ein irres Lächeln auf den Lippen, als er seinen Bruder ansah. "Sollen wir es ausprobieren?"

Isidor war misstrauisch. "Was ausprobieren?"

"Die Stärke seines Blutes. Dann wissen wir zumindest, ob es funktioniert, wenn er ein Mensch ist."

Isidor kratzte sich am weißen Bart. "Hältst du das für eine gute Idee? Wer weiß, was dann passiert."

"Wenn es nicht funktioniert, ist diese ganze Versammlung hinfällig", beharrte Rufus. "Dann können wir den Jungen zurückbringen und alles wäre so wie vorher."

"Unwahrscheinlich", sagte Leon.

"Ich will zurück!", sagte Val.

"Zurück wohin?", quakte Violetta. "Auf diese Winzinsel? Gott, wer möchte denn freiwillig dort leben?"

Val warf ihr einen zornigen Blick zu.

"Nun … wenn du meinst … Ich meine, interessieren würde es mich schon …" Isidor knetete nervös die Finger. Besorgt richtete er sich an Val. "Val, wärst du damit einverstanden, wenn wir dir ein klein wenig Blut abnehmen würden?"

Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. "Wofür?"

"Dann können wir dir vieles sehr viel besser erklären. Ich verspreche dir, es wird nicht zu deinem Schaden sein. Oder das denke ich zumindest …"

Val schaute Leonhard an. Der erlangte etwas zu spät die Kontrolle über seine Gesichtszüge. Auch er hatte Angst.

Val nickte. "Ich möchte jetzt endlich eine Erklärung."

Rufus sprang begeistert auf und verschwand mit wehendem Mantel hinter ein paar Regalen. "Irgendwo …", hörte man ihn murmeln. Ein Rumpeln, ein Poltern und ein Fluch, als er stolperte. Val kniff sich unauffällig in den Arm. Passierte das alles gerade wirklich? Diesmal fand Rufus das Gesuchte alleine. Mit einer rostigen alten Nadel in der einen Hand kam er zurück. In der anderen Hand hielt er eine Schüssel. An ihrer Seite war ein Auffangglas mit einer Skalierung darunter.

"Ich hoffe, du bist gegen Tetanus geimpft", sagte er noch, ehe er die Nadel in Vals Zeigefinger rammte. Der keuchte auf vor Schmerz. Rufus packte seine Hand und ging damit ganz nah an das Auffangglas. Darauf fielen nun ein Tropfen seines leuchtend roten Blutes.

"Was willst du jetzt machen?", fragte Isidor mit düsterer Stimme.

"Wir könnten es einfach angreifen", antwortete Rufus und zuckte mit den Schultern. "Ich hörte, der Löwe mag es gar nicht, angegriffen zu werden. Fühlt sich dann herausgefordert und so weiter."

Isidor zögerte - dann nickte er. Er war blass.

Rufus holte tief Luft, dann machte er drei einfache Bewegungen mit dem Zeigefinger: Eine nach oben, zwei zur Seite. "Angriff", murmelte er leise.

Alle Anwesenden hielten den Atem an. Auch Val, obwohl er nichts Bestimmtes erwartete.

Nichts geschah.

Isidor runzelte die Stirn so sehr, dass seine buschigen Augenbrauen sich beinahe berührten.

"Und wenn Balthasar nun doch einen Fehler gemacht hat?", fragte er. "Oder vielleicht hast du etwas falsch ausgerechnet, vielleicht ist er es gar nicht - Mein Gott, stell dir vor - was wenn er immer noch auf der Insel ist- was wenn-?"

"Shh", unterbrach Rufus ihn. Irrsinn leuchtete hinter seinem Monokel hervor.

Dann fing das Blut an zu brodeln, warf winzige Blasen, dehnte sich aus, immer weiter und weiter, bis es beinahe aus dem Glas zu steigen drohte – und das ganze Ding explodierte. Val wurde von der Wucht der Explosion nach hinten geschleudert, das Sofa hielt Leonhards und seinem vereinten Gewicht nicht stand und kippte mit einem lauten Krachen hinten über. Rufus' Sessel wurde geschossartig nach hinten in die Ecke katapultiert und Isidor, der als einziger gestanden hatte, krachte mit einem unschönen Geräusch rücklings gegen einen der schweren Holzschränke. Er gab ein ächzendes Keuchen von sich, als die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Violetta war schlicht und ergreifend zu fett, um recht weit zu fliegen. Sie fiel einfach auf ihren fetten Hintern und schaute sich so verdutzt um wie ein Reh, das plötzlich in den Lauf einer Flinte sieht. Val stöhnte und kroch langsam unter dem Sofa hervor. Vor seinen Augen drehte sich alles. Neben ihm drehte sich Leonhard ächzend auf die Seite.

Rufus in seiner Ecke regte sich, packte mit beiden Händen seinen Zylinder. "Nun, das war … gewaltig." Er hustete.

Vals Blick fiel auf die Tee-Ecke. Die Möbel waren schwarz verkokelt und glommen rot von der eben entfachten Hitze. Der Tee war bis auf Weiteres verdampft, Zucker tropfte geschmolzen auf den Boden. Sie konnten von Glück reden, dass ihnen nichts Schlimmeres passiert war. Die Schüssel mit dem Auffangglas aber war nicht mehr zu retten. Sie war in der Mitte auseinander gebrochen und Rauch stieg in die Höhe. Hatte diese Explosion gerade wirklich sein Blut hervorgerufen? Vals Beine zitterten, als er sich aufrichtete.

Es klopfte an der Tür und alle schraken zusammen. "Alles in Ordnung, Herr Zodiak?", erklang Bastians unsichere Stimme.

"Oh ja, alles bestens, Bastian, kein Grund zur Sorge." Rufus rappelte sich auf. Er schwankte bedrohlich. Von allen hatte er am meisten von der Explosion abbekommen. Sein Monokel hing irgendwo in der Nähe seines Schlüsselbeins und sein Zylinder brannte an mehreren Stellen. Trotzdem sah er besser gelaunt aus denn je. Bastian verschwand von der Tür und Val fragte sich, was der Diener sonst alles in diesem Haus zu hören und sehen bekam.

"Was zum Teufel war das?", fragte er dann. "Warum hat mein Blut- warum ist alles explodiert? Würde mir endlich mal einer erklären, was eigentlich los ist?"

"Wir haben dein Blut angegriffen, um herauszufinden, wie es reagieren würde." Violetta zog sich ihren Rock über die dicken Oberschenkel und mühte sich ab, auf die Beine zu kommen. Als sie es geschafft hatte, schnaufte sie heftig wie ein Walross. "Ob es so stark ist, wie wir befürchtet hatten … Nun die Antwort lautet ja. Und das sozusagen ist der springende Punkt bei der ganzen Sache."

"Du hast das mächtigste Blut in dir. Von einem geringen Magier wie Rufus - ("Hey!") - angegriffen zu werden, hält es fast schon für eine Beleidigung", sagte Leonhard. Er hatte schwarze Rußstreifen im Gesicht wie ein Schornsteinfeger. Nur wo er die Hände abwehrend vor sich ausgestreckt hatte, war die Haut noch weiß; ein bisschen wie ein Fliegenpilz sah er aus.

Val verstand nur Bahnhof. "Was?"

"Deshalb ist die Schüssel explodiert. Es hat sich gewehrt."

"Aber warum?" Val schüttelte den Kopf. "Warum meins? Ich dachte, ich sei ein Mensch und hätte daher keinen Tropfen magischen Blutes in mir?"

"Das hat einen ganz einfachen Grund." Rufus drehte sich schwungvoll um seine eigene Achse und zog an einer Schnur, die von der Decke baumelte. Eine riesige Karte rollte sich herab, auf der ein Kreis aufgemalt war, umgeben von einer Anzahl von Rechnungen, Zeichnungen und Worten in einer anderen Sprache. Val meinte die Tierkreiszeichen zu erkennen, aber anstatt der normalen Bezeichnungen Steinbock, Widder und Fische, sah er andere Tiere, magischer und nicht magischer Natur. Er ging etwas näher heran.

"Wie du mit Sicherheit bereits erkannt hast, sind das Tierkreiszeichen. Im Gegensatz zu den Menschen, haben wir aber eine ganz andere Vorstellung davon." Der Gelehrte hielt kurz inne. "Eine richtigere."

Val schnaubte. Dieser Typ war schon wahnsinnig eingebildet.

"Sagen wir, jemand hat am einunddreißigsten August Geburtstag. Sagen wir, er erblickt um fünf Uhr fünfundfünfzig das Licht der Welt."

"Da bin ich geboren", murmelte Val. "Am einunddreißigsten August um fünf Uhr fünfundfünfzig."

Rufus nickte, das hatte er bereits gewusst. "Wie du hier siehst, fällst du somit ins Haus des Löwen. Noch viel wichtiger allerdings ist die Stellung der Planeten. Jupiter und Saturn stehen in Kongruenz, Uranus weit abgeschieden. Wir sehen die Formation des Sterbenden Sterns … kurz gesagt, der mächtigsten Position der Sterne, die die magische Welt kennt. Die Bezeichnung, derer man sich behelfsmäßig bedient: der Rote Löwe."

Val runzelte die Stirn. Das hatte er jetzt nicht wirklich verstanden.

Rufus schnalzte ungeduldig mit der Zunge. "Ich kann dir nicht die ganze Komplexität der Astronomie in fünf Worten erklären. Du würdest sie ohnehin nicht verstehen. So viel musst du wissen: Du bist unter dem Roten Löwen unter sehr besonderen Umständen geboren worden. Dein Blut hat daher mehr Kraft als das anderer Menschen und Zauberer. Das macht dich aber auch umso gefährlicher."

Val schaute zu den anderen, Isidor nickte und Leonhard presste die Lippen aufeinander. Es stimmte, was er sagte.

"Und … weiter?", fragte er.

"Das ist … kompliziert. In unserer Zunft gibt es - oder besser gab es, Gott habe ihn selig - einen Gelehrten, Balthasar Schieferstein-"

Val nickte. Von dem hatte er schon gehört. "Er hat das Rätsel gelöst, oder? Etwas, das in diesem Buch stand."

Rufus und Isidor tauschten einen Blick aus.

"Ich hab dir gesagt, er ist nicht dumm", murmelte Isidor.

Rufus überging die Bemerkung. "Das ist richtig. Er hat die Überlieferungen zum Befreiungsritual übersetzt. Es war in Sternenschrift verfasst. Komplizierter als Hieroglyphen, Hebräisch, Sanskrit und Altgriechisch zusammen."

Vals sagte keine dieser Sprachen etwas.

"Oh, hätte er es doch nie herausgefunden", murmelte Leonhard.

"Hat er nun mal aber. Und nun müssen wir Überlebenden das Beste daraus machen."

"Also … Was steht in dem Befreiungsritual?"

"Du kennst unsere Gegenspieler noch nicht." Isidor fing an, im Zimmer auf und abzugehen. Nervös verschränkte er die Hände hinter dem Rücken. "Sie nennen sich Schlangen, weil sie allesamt dem bösesten der Sternzeichen angehören, der Schwarzen Schlange. Wir Gelehrten nennen sie vor allem Hirudines, das ist der lateinische Ausdruck für Blutsauger."

Val nickte. Die Hirudidi hatte er schon einmal erwähnt. Auf der Mondlicht vor ein paar Tagen. Er konnte kaum glauben, dass es noch gar nicht lange her war.

Rufus sprach weiter. "Ihr Anführer, Fauces, ist der schlimmste von allen. Der böseste Magier, den die Welt je gesehen hat."

"Ha, ich weiß noch, wie ich damals im Gerichtssaal am meisten Angst davor hatte, dass Leon das Zeichen der Schlange zieht! An den Löwen hatte ich damals überhaupt nicht gedacht", sagte Isidor und lachte.

Rufus starrte ihn an.

"Entschuldigung", sagte Isidor hastig.

"Wie dem auch sei. Die Hirudines sind eine Sekte schwarzer Magier, die sich gegen die rote und die grüne Magie verschworen haben. Bisher konnten wir sie immer gut unter Kontrolle halten und sie sind für uns keine ernst zu nehmende Gefahr gewesen. Nun haben sie Balthasars Lösung, dich, und damit zum ersten Mal eine Chance, ihre Ziele zu verwirklichen."

"Aber …" Val ging das alles zu schnell. Rote Magie? Grüne? "Was bringt ihnen mein Blut? Was hat Schieferstein herausgefunden?"

"Ihr Anführer, Fauces, ist nicht mehr im Vollbesitz seiner magischen Kräfte. Asher, dein früheres Leben, hat ihm die Kräfte geraubt, indem er ihm eine magische Fessel angelegt hat-"

"Mein was?" Val fiel aus allen Wolken.

Rufus stieß einen entnervten Seufzer aus. "Wie soll man dir irgendetwas beibringen, wenn du einen ständig unterbrichst?" Erschöpft ließ er sich in einen orange-beigen Sessel fallen. Leonhard gab die Antwort. Val kam sich langsam vor wie der Gastgeber in einem Quizduell, bei dem in jeder Runde ein anderer Kandidat sein Wissen zum Besten geben wollte.

"Der Rote Löwe wird in einem steten Zyklus wiedergeboren. Stirbt er, wird nach einiger Zeit ein neuer geboren. Asher hat vor hundertfünfzig Jahren gelebt. Jetzt bist du hier."

Isidor löste ihn ab. Val entwickelte Galgenhumor. War nicht eigentlich mal Violetta an der Reihe? "Es gibt etwas, das du wissen solltest: Asher hat kurz vor seinem Tod etwas sehr Dummes getan. Etwas, das uns die grünen Magier bis heute noch nicht verziehen haben."

"Mein Gott, erzähl ihm doch gleich die ganze Gesichte, angefangen bei Jacopo und Riruku und ihrem ersten Treffen auf den Ursprünglichen Hügeln!", sagte Rufus ironisch.

"Das ist wichtig, wenn er einem von ihnen begegnet", meinte Violetta zu seiner Verteidigung.

"Was hab ich- was hat er getan?", fragte Val laut.

Isidor holte tief Luft. "Er hat jemanden umgebracht. Einen grünen Magier."

Val starrte ihn an. Er hatte in seinem früheren Leben getötet?

"Er ist verrückt geworden, vollkommen wahnsinnig", sagte Rufus und schüttelte den Kopf. "Der Ruhm ist ihm zu viel geworden. Hat sich selbst nicht mehr gekannt. Das zumindest berichten die Überlieferungen."

Val war sprachlos. In welchen Unsinn war er da nur hineingeraten? Konnte das wirklich alles wahr sein? Aber wer zum Teufel würde sich eine solche Lügengeschichte in so kurzer Zeit ausdenken? Und zu welchem Zweck?

Schließlich gab er sich einen Ruck. "Und die Fessel? Wann hat er die gemacht?"

"Genau", sagte Isidor nickend und nahm den Faden der Geschichte wieder auf. "Kurz nachdem er diese … schreckliche Tat vollbracht hat - alle Leute haben ihn gehasst, musst du wissen, ist ja auch nur verständlich, es war immerhin Mord - wollte Asher etwas Gutes tun, seinen Namen wieder reinwaschen, nehme ich an … Er hat sich Fauces gestellt, der schon damals furchtbare Dinge geschehen hat lassen. Hat ihn herausgefordert. Über den Ablauf des Kampfes steht nicht viel fest. Nur eins ist sicher: Asher hat Fauces besiegt und seine Macht gebrochen. Er hat ihm die magische Fessel angelegt, die ihn seitdem am Magieausüben hindert. Dem Himmel sei Dank." Er schickte einen kurzen Gruß nach oben.

Rufus sprach weiter. Seine Lippen waren nur ein dünner Strich. "Wir dachten, damit sei die Sache erledigt. Aber mit deinem Blut, so scheint es, mit dem Blut des jetzigen Roten Löwen kann er die Fessel lösen."

Die anderen nickten in einer synchronen Bewegung.

"Wie will er das machen?" Val war schwindelig. Für einen Traum war das leider alles viel zu real.

"Es gibt die sogenannte Löwenburg, sie steht auf einer Insel unbekannter Koordinaten, inmitten des Weiten Eismeeres. In dieser Burg gibt es eine Statue, die Löwenstatue, du hast sie bereits in dem Buch hier gesehen. Mit deinem Blut kann sie aktiviert werden, Sternenlicht trifft auf Fauces' Fessel, beide Bestandteile der Löwenmagie also vereint - und damit ist die Fessel zerstört."

Die vier Gelehrten sahen so finster drein, als wäre das nicht nur eine Befürchtung, sondern als wäre es bereits eingetreten.

Val sagte das erstbeste, was ihm einfiel. "Dann müssen wir die Statue eben zerstören."

Leonhard lachte leise und Rufus seufzte ungeduldig.

"Sicher, das ist ja auch der Plan …", sagte Isidor und lächelte gequält. "Allerdings-"

"Wie wir das tun werden, ist für dich nicht von Bedeutung", fuhr Rufus ihm über den Mund. Wachsamkeit lag in seinem Blick. Er wollte verhindern, dass Val herausfand, wie man die Staute zerstören konnte. Der kniff die Augen zusammen und wollte protestieren, aber Isidor schüttelte den Kopf: "Für heute ist es genug, Val. Ich würde sagen, wir machen Feierabend. Es ist mittlerweile halb sechs in der Früh."

Wie aufs Stichwort fing Violetta an zu gähnen und Val fragte sich, wie gespielt es war.

Rufus bugsierte die Jungen ohne viel Federlesen aus der Dachkammer und zeigte ihnen ihr Schlafgemach ein Stockwerk tiefer. Leonhard und Val mussten sich ein Doppelbett im Gästezimmer teilen. Leons Laune sank, wenn es denn überhaupt möglich war, noch ein wenig tiefer, aber er hielt den Mund. Er war offenbar zu müde, um so spät (oder so früh) noch Streit anzufangen. Völlig erledigt fielen sie in die Kissen und schliefen sofort ein.

 

Rot gegen Grün

Als Val ein paar Stunden später wieder aufwachte, wusste er im ersten Moment nicht, wo er war. Warum war das Bett, auf dem er lag, so weich, dass er fast darin versank? Warum dufteten die Laken nach Lavendel? Schlaftrunken richtete er sich auf und sah sich um. Durch seidene gazeartige Vorhänge fiel Licht auf den dunklen Boden aus Eichenholz. Staub tobte in dem Strahl wie in einem Wirbelsturm. Etwas regte sich neben ihm, wälzte sich im Bett herum und wandte ihm das Gesicht zu. Leonhard Stark, die Augen geschlossen, die Lippen halb geöffnet. Er murmelte etwas im Schlaf. Sein dunkles Haar war zerzaust und stand in alle Richtungen ab.

Spätestens jetzt kehrte die Erinnerung zurück. Isidor und Leonhard Stark, Rufus, die dicke Violetta, die ihn entführt hatten. Die Geschichte mit den Sternen. Fauces. Val schüttelte den Kopf. Langsam kam die Bilderflut zum Stehen. Er atmete tief durch. Noch einmal wandte er sich Leonhard zu. Mit geschlossenen Augen sah er harmlos aus, verletzlich beinahe. Val musste an Arved denken, den er auch oft schlafend gesehen hatte. In diesem Alter war Leonhard vermutlich noch nicht so unausstehlich gewesen. Val seufzte. Er war nun an ihn gebunden, ihre Leben unwiderruflich miteinander verknüpft. Er wusste nicht, ob er sich mit diesem Gedanken anfreunden konnte. Schließlich schwang er die Beine über die Bettkante und stand schon halb, als er vorbeihuschende Schritte auf dem Flur hörte. Violetta summte eine fröhliche Melodie vor sich hin. Sie war auf dem Weg nach unten, um sich noch vor allen anderen ein erstes Frühstück zu gönnen. Von insgesamt fünf höchstwahrscheinlich. Val wunderte es, dass sie auf so leisen Sohlen unterwegs war. Er hätte ihr mehr Stampfen zugetraut. So leise es auch war, Leonhard hörte es und schlug die Augen auf. Offenbar hatte der gestrige Abend nichts an seiner Feindseligkeit geändert. Sin Blick war kalt wie Eis und ebenso seine Stimme, als er sagte:

"Was glotzt du mich so an? Freak."

"Ich konnte nicht anders. Du warst so niedlich, als du im Schlaf geredet hast. Hast Violetta gesagt, dass du sie liebst." Das stimmte natürlich nicht. Val sagte es nur, um ihn aus der Bahn zu werfen.

Zu seinem Erstaunen funktionierte es.

"Unsinn!", schnappte Leon, aber er wurde rot. Vielleicht sagte er tatsächlich manchmal peinliche Dinge im Schlaf.

Val lachte sich heimlich ins Fäustchen und nahm sich vor, in Zukunft seinem Gemurmel genauer zuzuhören. Um ihn am nächsten Tag damit aufzuziehen. Dann erst sah er die Kleidung, die in der Nacht über den Stuhl neben seinem Bett gelegt worden war. Seltsam, er hatte die Diener gar nicht hereinkommen hören. Er nahm sich Hose und Hemd und schlüpfte hinein. Noch nie hatte er so etwas Teures getragen. Er musste zugeben, dass der Stoff sich gut anfühlte, weich und nicht so kratzig wie seine Arbeitskleidung. Leon, der sich schneller damit tat, die Knöpfe vor der Brust zuzuknöpfen, musterte ihn abschätzig.

"Drinnen bist du immer noch derselbe, Fischerjunge", schnarrte er dann.

"Glück gehabt", gab Val zurück. Er ging aus der Tür. Leonhard schloss sich ihm an.

Ein Stockwerk tiefer wartete der Rest der Familie.

"Habt ihr gut geschlafen, meine Spätzchen?" Violetta kam bedrohlich nahe heran gewatschelt. Ihre großen, wässrig blauen Augen waren auf Val geheftet. "Gut steht dir das!", war ihr Kommentar zu seiner Kleidung. "Aber dein Haar ist viel zu lang. Wie ein Rowdy. Siehst du überhaupt irgendetwas?"

"Ich sehe bestens, danke." Verstimmt strich er sich das Haar aus der Stirn. Eigentlich hätte es wirklich mal wieder eine Kürzung verdient, aber den Gefallen würde er Violetta nicht tun. Nicht auszumalen, wie er aussehen würde, wenn sie mit ihm fertig war.

"Und du, Leonhard Schatz? Gut geschlafen?"

"Nicht sehr lange", antwortete er und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Val betrachtete ungläubig den Küchentisch. Auf silbernen Tellern, neben silbernen Gläsern und silbernem Besteck, häuften sich Unmengen von Speisen. So viel hatte er auf Nusnuth nicht mal in einem Monat verputzt. Wen erwarteten sie? Die Botschafter des Königs? Dann drückte Violetta ihn in einen Stuhl und achtete darauf, dass er dem ihren genau gegenüberstand. Er widerstand dem Drang, eine Grimasse zu schneiden.

Kurz darauf gesellten sich auch die beiden Männer zu ihnen. Isidor fuhr Leonhard einmal durch die Haare und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Leonhard duckte sich weg, warf ihm einen bösen Blick zu und kontrollierte seine Frisur in der Rückseite des Löffels.

"Alles klar, Val? Vom ersten Schock erholt?", fragte Isidor, während er sich ein Glas Orangensaft einschenkte.

Val zuckte nur mit den Schultern.

Rufus klatschte in die Hände und dann wurde ihnen ein herrliches Frühstück kredenzt. Es gab gebratenen Speck und Rührei, Pfannkuchen gefüllt mit karamellisierten Apfelringen und einem Schuss Ahornsirup obendrauf, Käsestangen mit zerlassener Butter, knusprig-weiche Brezen, außen kross, ihnen saftig, Haferbrei mit Zimt, Orangensaft, geschmorte Pflaumen im Walnussmantel und gebrannte Esskastanien. Tee, Milch, Pflaumensaft und frisch gebrühten Kaffee aus dem Vierten Kontinent.

Rufus aß eine halbe Orange und war dann satt. Auch Isidor wollte nur Kaffee zu sich nehmen, aber davon gleich vier Tassen. Violetta aß alles, was sie zu wenig aßen. Auch vier Stück Schwarzwälderkirschtorte konnten ihren Hunger nicht stillen und so langte sie bald nach einem fünften. Sie musterte Leonhard und Val, die sich gerade einen stummen Kampf um die Erdnussbutter lieferten. Val war solche Leckereien nicht gewohnt und Leonhard war nicht bereit zu teilen, was seit jeher nur ihm als einzigem Kind im Haus zugestanden hatte.

"Ach, Kinder", sagte Violetta plötzlich und seufzte. "Sie bringen so viel Freude. Eine Wonne ihnen zuzusehen! Ich bin zu alt, Rufus, warum schaffst du dir keine an?"

Rufus warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

"Reicht dir Leonhard nicht?", fragte Isidor milde entrüstet.

"Doch, natürlich! Aber Maria und du habt es ja leider nicht fertig gebracht, noch ein Kind in die Welt zu setzen, bevor ..." Sie ließ ihre Stimme verklingen.

Val horchte auf. Zum ersten Mal war von Leonhards Mutter die Rede. Er bekam so ein Gefühl, dass ihr dasselbe Schicksal geblüht hatte wie seiner eigenen.

"Was steht heute an?", fragte Leonhard in die Stille hinein. Er hatte gerade bemerkt, dass noch immer Ruß an seiner Wange klebte und nun rieb er daran herum, bis sie ganz rot und fleckig war.

Isidor sah von seiner Kaffetasse auf. "Der zweite Teil der Aufklärung möchte ich meinen. Wir müssen Val erklären, wie unsere Magie funktioniert, zumindest in ihren Grundzügen …"

Er hielt inne, um Rufus Gelegenheit zu einer Antwort zu geben; der hatte schon den Mund aufgemacht. ("Was!? Bist du wahnsinnig? Den Teufel werden wir tun, ihm irgendetwas zu erklären!") Da klingelte es an der Tür. Die ganze Tischgesellschaft zuckte zusammen. Rufus sprang so schnell auf, dass er gegen den eifrig herbei stürmenden Bastian prallte.

"Ich öffne!", zischte er.

 

"Wer ist das?", fragte Leonhard seinen Vater. Der antwortete nicht, legte Messer und Gabel beiseite und folgte Rufus aus der Tür. Er wirkte nervös. Violetta fing plötzlich an, wild von ihrem Traum von letzter Nacht zu erzählen, in dem es um rosa Wischmobs gegangen war, die sie durch einen Hasenbau verfolgt hatten. Dabei warf sie immer wieder hektische Blicke zur Tür. Leonhard hob die Brauen. Auch Val kam zu dem Schluss, dass da irgendetwas nicht stimmte. Eigentlich hätte er sich in dem fremden Haus zurückgehalten, aber er fürchtete, dass erneut über sein Schicksal entschieden wurde, ohne ihn in die Überlegungen mit einzubeziehen.

Val und Leonhard erhoben sich gleichzeitig, missachteten Violettas Protestgeschrei und traten nach draußen in die Halle. Die Besucher waren zwei alte Männer in roten Roben, die schon recht gebückt unterwegs waren. Sie luden Bastian immer mehr Gepäckstücke auf die Arme, der unter dem Gewicht bedrohlich schwankte.

"Ich hoffe, es ist wichtig, Zodiak", krächzte der eine und starrte Isidor aus zusammengekniffenen Augen an. Er sah wohl nicht sehr gut, denn er verfehlte den Mann um gut ein paar Zentimeter. Er fasste sich an den Rücken und verzog schmerzhaft das Gesicht. "Hexenschuss", sagte er grimmig.

"O, da kann ich dir Akupunktur empfehlen, Theophilus. Gerda Subramaniam macht die allerbeste", meinte sein Gefährte.

"Rosenfeld", sagte Leonhard überrascht. Er deutete auf den von Hexenschuss geplagten Alten. "Ein sehr berühmter Gelehrter unserer Zunft. Und das ist Lahrius. Steinalt, alle beide. Ich frag mich, was die hier wollen …"

Val, der das ungute Gefühl hatte, dass es mit ihm zu tun hatte, sank das Herz noch ein wenig tiefer.

"Ich bin nicht Rufus-", sagte Isidor, aber Rosenfeld ließ ihn nicht zu Wort kommen.

"Wir wollten uns eben bei dem Blutheiler einfinden, als uns deine Bitte erreichte. Schwere Zeiten. Seltsame Dinge gehen vor, Zodiak", fügte der Alte hinzu und starrte Isidor an, als wäre es ganz allein seine Schuld. Isidor gab es auf, ihn davon überzeugen zu wollen, dass er nicht Rufus war. Dieser bat die beiden Gelehrten ins obere Dachzimmer. Die beiden Jungen folgten zögerlich zur Treppe. Rufus bemerkte sie und bedeutete ihnen, mit einem Rucken des Kopfes zu folgen.

Wie auch letzte Nacht war die Dachkammer Ort der Unterredung.

"Und ich würde mich doch sehr täuschen", sagte Rufus zu Rosenfeld, nachdem er die Tür geschlossen hatte, "wenn nicht er für die Unruhe verantwortlich ist." Er deutete auf Val, dem auf der Stelle das Blut in die Wangen stieg.

Der Mann starrte Val und Leonhard an. Er schielte. "Was sagst du?", krächzte er.

"Er ist für die Misere verantwortlich", wiederholte Rufus langsam und deutlich. Lahrius zog ein Hörgerät aus seiner Manteltasche.

"Wer sagst du?", krächzte Rosenfeld. "Einer von den beiden Grünschnäbeln hier?"

"Shogha", antwortete Rufus einfach und deutete auf Val.

Rosenfeld hob eine buschige weiße Augenbraue und musterte Val genauer. Sein Blick war von Schleiern durchzogen. "Was du nicht sagst. Ihr habt ihn also gefunden. Ja, das erklärt einiges. Zumal wir uns doch darauf geeinigt hatten, dass er nicht eingeweiht wird - von wegen den Zusammenhalt der magischen Gemeinschaft nicht gefährden?", sagte er und plötzlich klang seine Stimme scharf. "Er hat sich also tatsächlich an ihn gebunden?"

"Wir hätten uns ja an die Vereinbarung gehalten, Rosenfeld. Aber unvorhergesehene Ereignisse haben die Lage geändert", antwortete Rufus durch zusammengebissene Zähne.

"Natürlich." Rosenfeld machte eine wegwerfende Handbewegung. "Irgendetwas ändert immer die Lage auf ganz unvorhergesehene Weise. Also werden wir ihn zu unserem Vorteil einsetzen? Wie viel weiß die grüne Fraktion? Und würde mir jetzt endlich einmal jemand einen Stuhl anbieten?"

Isidor schob rasch einen der roten Sessel heran und Rosenfeld ließ sich hinein plumpsen.

"Sie sind auf dem Weg", antwortete Rufus auf seine Frage.

"Hierher?" Nun sprach der zweite Mann zum ersten Mal, Lahrius. Sein Blick wirkte klarer als der Rosenfelds. "Haltet Ihr das für eine gute Idee?"

Rufus zuckte die Achseln. "Kann sein, dass wir ihre Hilfe benötigen. Und es wäre wohl alles andere als klug, ihnen sein Einschreiten zu verheimlichen."

"Ah, ich traue diesen Echsen nicht", sagte Rosenfeld. "Vor allem nicht, seit sich ihre bekloppten Anführer in Alangium mit den Schlangen verbündet haben. Ich hätte ihnen wahrscheinlich kein Sterbenswörtchen von ihm gesagt und gewartet, bis sie es selbst herausfinden. Aber die sind ja blind wie Maulwürfe und wären nie drauf gekommen", kicherte er.

"Was, wenn sie Val als Bedrohung sehen?", fragte Isidor Rufus mit gerunzelter Stirn. Er wollte noch mehr sagen, ließ es aber mit einem Blick auf Val sein.

"Oh, das werden sie zweifellos", meinte Rufus. Er schritt zum Fenster, um einen Blick auf die Einfahrt zu werfen. Dann drehte er sich erneut zu seinem Bruder um. "Vermutlich werden sie sich ziemlich aufregen Aber ich möchte mir auch nicht ausmalen, was sie tun würden, wenn wir es ihnen nicht sagen. Das ist schon einmal passiert, und du weißt, wie es damals ausgegangen ist."

"Natürlich", sagte Isidor rasch. "Aber vielleicht wäre es klüger gewesen, erst einmal so etwas wie einen Plan auszuarbeiten, bevor …"

Es klingelte an der Tür.

"Zu spät", sagte Rufus, während er mit unergründlicher Miene an den beiden Jungen vorbei aus dem Zimmer schritt.

"Klugheit war noch nie Zodiaks Stärke", bemerkte Rosenfeld.

Noch immer wollte niemand die beiden Jungen aus dem Zimmer haben und sie setzten sich auf ein Sofa, um ihren Anspruch geltend zu machen.

"Aber sag, warum habt ihr euch entschlossen, ihn einzuweihen? Dafür muss es einen triftigen Grund geben", sagte der alte Gelehrte.

"Oh, einen sehr triftigen." Isidor lächelte schief. Er verschwand im hinteren Teil des Zimmers und kam gleich darauf mit einem alten, zerfledderten Buch in der Hand zurück. Dasselbe, aus dem sie gestern gelesen hatten. Das mit den merkwürdigen Zeichnungen. Es war die ganze Zeit da rumgelegen? Val ärgerte sich, dass er nicht daran gedacht hatte, hinzugehen und darin zu lesen. Oder sich nur die Bilder anzuschauen, wenn er schon nichts verstanden hätte. Leonhard neben ihm musste wohl dasselbe denken, denn unterdrückte einen leisen Fluch.

"Hier", sagte Isidor und hielt Rosenfeld das Buch unter die Nase. Lahrius blickte über seine schulter. "Balthasar hat es entziffert." Er sagte ein paar Worte in einer anderen Sprache. Sie war hell und klingend, wie das Plätschern von Wasser auf Stein.

Zum ersten Mal reagierte Rosenfeld weder ironisch noch verärgert. "Das ist tatsächlich bedenklich", sagte er leise. "Nie hätte ich diesem Ritual eine solche Bedeutung beigemessen. Ist das warum-"

"Ich weiß. Wir haben es immer falsch verstanden." Isidor nickte schwer. "Der Grund, warum er sterben musste, ja."

"Das ist tatsächlich bedenklich", sagte Rosenfeld noch einmal und sein Blick verschwamm. "Warum habt Ihr uns das alles nicht gleich gesagt? Nach dem Mord an Schieferstein? Dann hätten wir auch seine Kinder behalten können. Warum habt ihr es verheimlicht?"

Isidor nickte zu Val. "Wir hatten gerade mächtigere Probleme."

"Ja, ich versteh schon." Rosenfeld runzelte verärgert die Stirn. "Wenn es um die eigenen Kinder geht, macht man immer Ausnahmen. Bin ja froh, dass ich da nicht aus Erfahrung spreche. Dieser Segen blieb mir glücklicherweise verwehrt."

Dann kehrte Rufus zurück, zwei weitere Besucher im Schlepptau. Bei ihrem Anblick schnappte Leonhard kurz nach Luft. Es nervte Val, dass nur immer er keine Ahnung hatte, was das Auftauchen von bestimmten Personen bedeutete.

"Fahnenbruck und Zierkies!", zischte der Junge neben ihm. Er war wohl entweder vollkommen verblüfft und aufgeregt oder er sprach mit sich selbst, dachte Val, denn mit ihm würde er freiwillig sicher nie so viele Worte wechseln. "Die beiden mächtigsten Gelehrten der anderen Seite! Der grünen Magier!", fügte er auf Vals fragenden Blick hinzu. "Sie sind Herrscher in Alangium!"

Der Mann, der als erster durch die Tür trat, hatte ein - Val fiel kein anderes Wort dafür ein -viereckiges Gesicht, in dem zwei schwarze Augen wie Käfer saßen. Seine Robe war von einem dunklen Grün. Sein Blick verharrte kurz auf den beiden alten Gelehrten und wanderte dann weiter zu den beiden Jungen. Der Mann hinter ihm hatte unscheinbar farblose Haut und farbloses Haar. Er sah mehr aus wie der Schatten des ersteren.

"Was hat das zu bedeuten, Zodiak?", schnarrte der erste und durchbohrte Rufus mit seinem Blick. "Warum sind die alle hier? Wenn das eine Falle sein soll-"

"So ist's recht, noch nicht ein Wort davon gehört, was Zodiak zu sagen hat und schon Verschwörungen wittern. Hast dich nicht verändert, Zierkies." Das war Rosenfeld, der den jüngeren verächtlich Mann anfunkelte.

Der schaute nicht minder ärgerlich zurück. "Du hast nicht gesagt, dass du Verstärkung einladen würdest!", fauchte er Rufus an.

Der zeigte sich unbeeindruckt. "Wenn du mich einmal anfangen lassen würdest zu erklären …"

"Aber mach schnell, ich hab nicht viel Zeit! Seltsame Dinge, die in letzter Zeit passiert sind …" Plötzlich klang er misstrauisch, er musterte die beiden Jungen auf dem Sofa erneut und sein Blick blieb an Val hängen. Seine Hände zuckten, als wüsste er nicht, was er damit anfangen sollte. Die Stimmung im Raum schwankte merklich. Rufus atmete tief aus, als müsste er sich für eine Explosion wappnen. "Richtig, Zierkies. Er ist der, für den du ihn hältst."

Gewaltige Stille folgte diesen Worten. Val duckte sich unwillkürlich, als sich sieben Paar Blicke auf ihn richteten. Fahnenbruck, der Schatten, machte eine Bewegung, als wolle er Zierkies am Arm packen, ließ es aber bleiben. Der starrte Rufus an wie vom Donner gerührt. Dann -

"VERRAT!", brüllte er so laut, dass Val zusammenzuckte. "All die Gespräche, all die Treffen für nichts und wieder nichts! Ich habe es gewusst, ich habe es geahnt all die Zeit, aber meine Kollegen wollten ja nicht auf mich hören! Lass uns versuchen mit den Roten auszukommen, haben sie gesagt! Lass uns einen Schritt auf sie zu machen!" Er redete sich immer weiter in Rage und Spucke sprühte von seinen Lippen. "Ich habe gewusst, dass euch nicht zu trauen ist! Dass ihr jeden Vorteil nutzt, der sich euch bietet! Dieses eine Prinzip, das ihr immer wieder ausnutzt, um uns zu schlagen! Den Roten Löwen!" Seine Stimme überschlug sich und Rosenfeld nutzte die kurze Pause.

"HALT DEN MUND, DU EINFALTSPINSEL!", donnerte er mit einer Lautstärke, die seinem Alter Hohn sprach. Vals Blick schnellte zu ihm. Der Gelehrte war aufgestanden und stützte sich auf seinen Gehstock. Kraft und Stärke schienen wie Wellen von ihm auszugehen. Niemand wagte es, ihn zu unterbrechen. "Zodiak und Konsorten haben Gründe für ihr Tun! Wenn wir vorhätten, den Roten Löwen für unsere finsteren Pläne zu nutzen, würden wir es ja wohl nicht ausgerechnet dir auf die Nase binden, oder?"

Zierkies wusste offenbar nicht, was er antworten sollte, sein Atem ging heftig und er starrte den Alten mit verschränkten Armen an.

Rosenfeld lächelte und fuhr ein wenig ruhiger fort. "Anstatt ihm unbegründete Vorwürfe und Beleidigungen an den Kopf zu schmeißen, sollten wir uns erst mal anhören, was er zu sagen hat. Das ist meine Meinung." Erhaben nahm er wieder seinen Platz ein.

"Un-Unbegründet?", keuchte Zierkies. Seine Augen quollen beinahe aus ihren Höhlen. "Das kann nicht Euer Ernst sein! All die Jahre des Kampfes, der Tod des Drachen, all die Verluste, auch auf eurer Seite-"

"Eben. Auch wir hatten Verluste." Isidors Stimme, als er sich einmischte, war ganz ruhig und deshalb umso eindringlicher. "Verluste, die niemand wiederholen möchte. Warum also sollten wir unsere Vereinbarung brechen, wenn nicht aus triftigen Gründen?"

Vals Kopf schnellte hin und her, als er versuchte dem Gespräch zu folgen. Die Argumentation leuchtete ein.

"Was sind das für Gründe?", fragte Zierkies ungeduldig.

"Die hätten wir dir schon vor ein paar Minuten erklärt, wenn du uns nicht ständig unterbrechen würdest", knurrte Lahrius.

Zierkies verstummte, ob aus Ärger oder aus Einsicht konnte Val nicht beurteilen.

"Ich mach's kurz", versprach Rufus. Er fing an, im Zimmer auf und abzugehen. "Die Hirudines haben von ihm erfahren-"

Sofort unterbrach ihn Zierkies wieder. "Wie konnte das passieren? Ich dachte - wenn ihr ihn schon mal entdeckt habt - würdet ihr seine Identität geheim halten. Nachdem was Asher getan hat."

"Die Hirudines haben Schieferstein aufgelauert. Ihm ist es gelungen, die letzten Zeichen der Sternenschrift zu deuten."

Zierkies wirkte überrascht, sogar beeindruckt und antwortete nicht gleich. Rufus sprach rasch weiter, darauf bedacht, den wirklich üblen Teil schnell hinter sich zu bringen. Seine nächsten Worte kamen in einem Schwall heraus. "Darin steht, dass sie den Jungen für ein zerstörerisches Unterfangen benutzen können, Magie, die die unsere bei Weitem übersteigt und die ganze Welt bedroht." Er hielt kurz inne. "Fauces wird seine Macht zurückerlangen."

Stille senkte sich über den Raum.

Zierkies atmete schwer. "Wie soll das gehen? Er trägt die Fessel des Löwen. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen."

"Mit Vals Blut kann er diese Fessel lösen."

Val hatte darauf gewartet, dass sein Name fallen würde. Er schluckte, als sich erneut alle ihm zuwandten. Zierkies und Fahnenbruck tauschten einen Blick aus. Als der erstere antwortete, klang er gefasst, aber Val meinte zu erkennen, dass er sich um Haltung bemühte. "Was hat das mit uns zu tun? Wir haben kein Problem mit den Hirudines, im Gegenteil. Der Löwe fällt unter eure Aufsicht."

Val spürte sofort, dass er etwas Ungeheuerliches gesagt haben musste, denn die roten Gelehrten stießen ungläubige Rufe aus. Rufus fluchte und Rosenfeld schrie: "Du törichter Dummkopf! Haltungen wie diese sind es, die uns immer weiter ins Verderben treiben!"

"Wie könnt ihr euch von den Hirudines nur so täuschen lassen?", fügte Lahrius kopfschüttelnd hinzu und auch Leon sprang von seinem Sitz auf und bedachte Zierkies mit einigen erlesenen Schimpfwörtern.

Rufus hob die Hand und ließ alle verstummen. "Generell habe ich nichts gegen diese Haltung einzuwenden und wäre es andersherum, würde ich wohl genauso sprechen. Aber diese Sache ist sehr wohl von Bedeutung für euch. Denn wenn es den Roten Löwen betrifft, dann betrifft es im selben Atemzug den Grünen Drachen. Da ihr nun über Vals Identität Bescheid wisst, ist es nur fair, wenn wir auch die des Drachen erfahren, die ihr euch nun schon seit langem weigert, freizugeben …"

Er konnte nicht zu Ende sprechen, denn Zierkies hatte bei seinen Worten einen gewaltigen Sprung in die Luft gemacht. Val zuckte zusammen. Jetzt war er wohl vollkommen übergeschnappt.

"AHA!", schrie er und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Rufus. Er zitterte. Sein Haar fiel ihm in die Augen, von seinen Lippen sprühte Speichel, was ihm insgesamt ein sehr beunruhigendes Aussehen verlieh. "Daher weht der Wind! Das ist also der Grund für diese an den Haaren herbeigezogene Märchengeschichte! Fauces, der eine Möglichkeit hat, an die Macht zurückzukehren, dass ich nicht lache! Und alles nur, damit ihr die Identität unseres größten Beschützers herausfinden könnt! O ja, ihr werdet gerissener, das muss man zugeben! Hab ich es doch gewusst! Keinen Meter kann man eurer Bagage über den Weg trauen! Nichts kriegt ihr aus uns heraus, nicht das Geringste! Habt ihr ihn schon auf seinen Kopf angesetzt?", fragte er und richtete seinen irren Blick auf Val. "Soll er ihn umbringen, ja?" Er suchte in den Gesichtern der Gelehrten nach Zeichen von Zustimmung. "Bildet ihr ihn dafür aus?"

Diese Anschuldigungen waren so lächerlich, dass niemand antwortete. Isidor war als einziger noch in der Lage, sich zu verteidigen. Er versuchte ihn zu beruhigen.

"Niemand will hier irgendwen umbringen, Fabius! Nun hört doch zu! Das ist eine Bedrohung, die nicht nur uns etwas angeht, sondern die ganze Welt! Habt ihr vergessen wie es das letzte Mal war, als Fauces an der Macht war? Ihr seid genauso in Gefahr wie wir! Natürlich verstehe ich, wenn ihr seine Identität nicht sofort preisgeben wollt, aber ihr müsst uns glauben, wir beabsichtigen nichts Böses, wir brauchen eure Hilfe! Wenn ihr uns nur einmal zuhören würdet, hier in diesem Buch steht es geschrieben-"

Zierkies lachte plötzlich und es war ein verrücktes Lachen, das Val eine Gänsehaut bereitete. "O nein, nicht in diesem Leben, Stark! Ich habe euch gerade zugehört und es war mehr Unfug, als ich in einem Leben ertragen kann. Mich trickst du nicht aus, wie eure Anführer es schon immer zu tun pflegten!" Er raffte seinen Umhang und drehte sich auf der Stelle um. Offenbar hielt er diese Unterredung für beendet. Eine letzte Drohung allerdings konnte er sich nicht verkneifen. Er drehte sich um. "Solltet ihr dem Drachen auch nur ein wenig zu nahe kommen oder sollten mir irgendwelche krummen Vorgänge zu Ohren kommen, bedeutet das Krieg, nur damit ihr's wisst!" Er rauschte an Val vorbei, wobei er ihm zu zischte: "Und du passt besser auf, dass du in Zukunft nicht mehr alleine unterwegs bist, Löwe. Komm, Fahnenbruck!" Sein Schatten folgte ihm auf der Stelle.

Nachdem sie durch die Tür gerauscht waren, vergrub Isidor das Gesicht in den Händen. Er schüttelte traurig den Kopf. Die anderen behielten die Fassung, als wäre ein solcher Verlauf des Gespräches abzusehen gewesen.

"Naja, dann können wir unseren anderen Termin wohl doch noch wahrnehmen, was meinst du, Lahrius?", fragte Rosenfeld gelassen und erhob sich. Lahrius nickte.

Rufus schüttelte ihnen resigniert die Hände. "Teilt es den anderen Ratsmitgliedern mit, ja?"

Rosenfeld zuckte die Schultern. "Wenn ich es nicht vergesse."

Bevor die beiden Alten den Raum verließen, drehte Rosenfeld sich nach Val um und winkte ihn heran. Eher unwillig kam der Junge der Aufforderung nach. Die Geschehnisse der letzten Stunden drohten ihn allmählich zu übermannen. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Der Gelehrte packte ihn mit seinen klauenartigen Händen an der Schulter und sah ihm eindringlich in die Augen. Die Schlieren in seinen Augen sahen aus wie dichter Nebel.

"Halt dich fern von ihm, hast du verstanden?", krächzte er. "Geh nicht an Orte, an denen du dich nicht auch normalerweise aufhältst. Halt dich fern von Flammen auf grünem Grund!"

"Ähm … was?", fragte Val.

Rosenfeld nickte, offenbar überzeugt, dass er ihn verstanden hatte. Dann wurde er nach unten geleitet.

"Tut mir Leid", sagte Isidor zu den Jungen, als sie allein waren. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und sah schrecklich müde aus. "Das haben wir uns natürlich alle anders vorgestellt. Wobei es wiederum auch zu erwarten gewesen war …" Er zuckte die Schultern und hetzte ebenfalls nach unten.

Val und Leonhard tauschten einen Blick aus. "Worum ging es da eigentlich?", fragte Val. "Wer ist der Drache?"

Leon schüttelte nur den Kopf. "Ich weiß nicht."

 

Sie setzten sich in die Küche und berichteten Violetta, was vorgefallen war. Sie schüttelte den Kopf über so viel Ignoranz und sprach so abwertend und unschmeichelhaft von den grünen Gelehrten, dass sich Val gleich besser fühlte und hin und wieder lachte.

Irgendwann kam Rufus in die Küche, seine grauen Augen fanden Val. Er packte ihn wortlos an der Schulter und zerrte ihn in die Speisekammer. Dem verdutzten Leon schlug er die Tür vor der Nase zu. Sein Zylinder streifte die Glühbirne an der Decke, eine Spinne hangelte sich panisch an ihrem Faden nach oben in sichere Gefilde. Val war links und rechts von Essiggurken, Dosenwurst und Sauerkraut eingekesselt und musste die Ellbogen nah am Körper halten, um sich nicht zu stoßen.

"Nun, das ist zugegebenermaßen anders gelaufen als geplant", begann Rufus und wedelte ungeduldig mit der Hand. "Und trotzdem müssen wir unsere Konsequenzen daraus ziehen."

Val riss seinen Blick von der Spinne los und sagte nichts.

"Dir ist natürlich klar, dass du nicht bleiben kannst."

War ihm das klar? Immer noch schwieg er. Wohin sollte er denn gehen?

"Daher haben wir beschlossen, dass du in den Himalaya geschickt wirst."

Val blinzelte. Wie bitte?

"Es ist alles arrangiert. Du wirst mit Mönchen im Kloster der Sieben Farben leben. Sehr idyllisch da, dreitausend Meter über dem Meeresspiegel, nächstgrößere Stadt hunderte Kilometer entfernt, ich hab gehört, du bekommst bei deiner Einführung sogar eine junge Kuh geschenkt. Klingt gut, oder?"

"Kloster?" Bilder von kahlköpfigen Männern in Kutten stiegen in ihm auf, die sich in einem kalten Raum um den Altar versammelten, die Hände zum Himmel hoben und das Sternenunser beteten.

"Ja, Kloster."

"Warum?"

"Warum?" Rufus starrte ihn an. "Was meinst du mit warum? Du bist eine Bedrohung! Ein jeder Atemzug, den du schöpfst, bedeutet, dass die Tage der magischen Welt gezählt sind! Noch weiß der Feind nicht, wo er dich finden kann und das soll sich auch so schnell nicht ändern. Wir haben gar keine andere Wahl, Vallenstein, wir bringen dich dorthin, wo er dich als allerletztes vermuten wird."

"Und ich werde gar nicht gefragt?", platzte Val heraus.

Rufus zog verächtlich die Mundwinkel hoch. "Nein."

Val brodelte, vor lauter Ungerechtigkeit konnte er gar nicht sprechen, und Rufus ließ ihn ohnehin nicht zu Wort kommen.

"Das Leben ist nun mal ungerecht, gewöhn dich dran. Glaub mir, hätten wir es uns aussuchen können, hätten wir als allerletztes dich zum Löwen erwählt."

Val setzte zu einer wütenden Antwort an - er hatte sich dieses Schicksal doch auch nicht ausgesucht! - dann wurde die Tür zur Speisekammer aufgerissen, Isidor stolperte herein, vor ihm Leon, der an der Tür gelauscht hatte. Isidor sah Rufus eindringlich an.

"Wir müssen reden, so einfach, wie du glaubst, ist das nämlich nicht!", sagte er, an einen vorherigen Streitpunkt anknüpfend. "Leon, Val, ihr könnt euch ja das Haus ansehen …"

Die beiden Gelehrten verschwanden nach oben, höchstwahrscheinlich in die Dachkammer. Violetta passte auf, dass die Jungen ihnen nicht folgten. Sie schob ihren mächtigen Leib vor die Türschwelle und machte so jede Flucht unmöglich.

"Hab ich dir schon Lord Pumpernickel vorgestellt?", fragte sie mit Glanz in den Augen.

"Wen?", fragte Val.

"Mann, Vio, niemanden interessiert dein räudiger Flohbeutel …"

Lord Pumpernickel stellte sich als ungeheuer fetter, fauler, halb erblindeter Kater heraus, der schrill zu maunzen anfing, als Vio ihn aus seinem Körbchen im Salon zerrte.

Sie erging sich gerade in Beschreibungen seines bis ins Mittelalter zurückreichenden, reinrassigen Stammbaus (was Val bezweifelte, sogar die streunende Katze im Hinterhof seines Hauses auf Nusnuth war ihm im Vergleich zu diesem Monstrum reinrassiger erschienen), als sie einen spitzen Schrei ausstieß.

"Eine Zecke! Oh, Graus! Lord Pumpernickel, du ungezogenes Früchtchen, wo hast du dich wieder herumgetrieben? … "

Leonhard packte Val und sie flohen aus der Küche.

Weit kamen sie nicht, da wurden sie von einem schlecht gelaunten Bastian abgefangen.

"Katzenhaare, überall Katzenhaare, ein Wunder, dass das Vieh noch nicht vollkommen nackt ist, so viel Pelz, wie es verliert! Ihr Jungen, was treibt ihr?" Er kniff die Augen zusammen. "Die Gelehrten Stark und Zodiak sagten mir, ihr solltet in der Küche bleiben!"

"Ja, ähm, ich wollte dem Jungen gerade die Kunstwerke in der Galerie zeigen, so was hat er noch nie gesehen, er ist ja völlig kultur- und geschmacklos aufgewachsen …"

Val zielte nach seinem Arm, aber ein Verteidigungsshmi hielt ihn von dem Schlag ab, Leonhard grinste hämisch. Sie entkamen Bastian, der ihnen die Geschichte eines Kronleuchters aus dem achtzehnten Jahrhundert erklären wollte, indem Leonhard Magenschmerzen vorschützte. Er ging in die Knie, murmelte etwas vom oberen Badezimmer und Val rannte ihm hinterher. Keine Sekunde länger würde er sich Geschwafel über Glasbläserwerkstätten auf den unterschiedlichen Kontinenten anhören.

"Zur Dachkammer!", sagte Leon und deutete auf die Treppe. "Vielleicht hören wir etwas durch die Tür."

Val nickte, an verschlossenen Türen lauschen war immer reizvoll. Es wunderte ihn, dass die ungerechte Behandlung, die er erfuhr, auch einen Vorteil hatte: Sie machte aus Leon einen Verbündeten. Dies bedenkend, hasteten sie die Treppe hinauf.

Leonhard nahm im Vorbeigehen zwei Gläser vom Fensterbrett. Eins davon drückte er Val in die Hand, das andere behielt er selbst, dann deutete er auf die schwere Eichentür. Val nickte und hielt das Glas dagegen. Er war überrascht, wie gut der kleine Trick funktionierte. Er hörte die Stimmen der Gelehrten, als würden sie direkt neben ihm stehen.

"Der Rat wünscht ihn zu sehen." Das war Rufus.

"Unmöglich", sagte Isidor. "Sie würden ihn in der Mitte auseinander reißen. Jeder würde versuchen, ihn auf seine Seite zu ziehen oder, noch schlimmer, sich irgendeine haarsträubende Idee einfallen lassen, wie man ihn am besten schützen könnte."

Violetta war seiner Meinung. Val und Leonhard runzelten die Stirn. Wie war sie so schnell nach oben gekommen? "Wir dürfen ihn keiner solchen Gefahr aussetzen! Er ist doch noch ein Kind! Würde mich nicht wundern, wenn er jetzt schon ein Trauma fürs Leben hat!

Aber erst seit ich in diesem Haus gelandet bin, dachte Val missmutig. Warum glaubten alle, er wäre der Aufgabe nicht im mindesten gewachsen? Mit dreizehn war man durchaus schon bereit, Verantwortung zu übernehmen! Insgeheim brannte er darauf, mehr von der Magie zu sehen, mehr über den Roten Löwen, ja, über sich selbst zu erfahren.

Wieder Rufus. Seine Stimme klang so nah, als würde er gerade an der Tür vorübergehen. Schritte ertönten. "Oder sie würden versuchen, ihn umzubringen."

Bei diesen Worten lief Val ein kalter Schauer den Rücken hinab. Ihn umbringen?

"Sie sehen ihn als Bedrohung. Immerhin könnte sein Blut die ganze Welt zerstören! Dagegen, wenn es ihn gar nicht gäbe-"

"Du klingst ganz so, als wärst du auch dafür", sagte Isidor leise.

Rufus antwortete nicht sofort. Val hatte ohnehin genug gehört. Er löste sich von der Holztür und stolperte die Treppe hinunter ins Gästezimmer. Violetta oder ein Diener hatten ihm ein paar Sachen bereitgestellt, er fand frisch gebügelte Hemden und Hosen in seiner Größe vor. Sie hatten wohl seinen längeren Aufenthalt geplant.

"Nichts da", murmelte Val, während er packte. Er stopfte die Kleidung achtlos in den Kissenbezug, dazu kamen Seifen- und Haarwaschgratisproben aus dem Badezimmer und die Schüssel Fressalien, die eher zur Dekoration als zu irgendeinem anderen Zweck die Kommode schmückte. Er wog gerade ob, ob er das Obstmesser als Waffe mitnehmen sollte, als sich Leonhard lässig gegen den Türrahmen lehnte. Er war ihm natürlich gefolgt.

"Wohin des Weges?" Er hatte die Arme verschränkt und lächelte halb. Zum ersten Mal, seit Val ihn kannte, wirkte er weder überheblich noch kalt. Aber noch nie hatte es ihm weniger in den Kram gepasst.

"Weg", antwortete er. Er schätzte Leonhards schmale Figur ab. Würde nicht allzu schwer sein, ihn zu Boden zu stoßen.

"Das sehe ich."

"Was würdest du denn machen?", fragte Val aufgebracht. "Die haben doch einen Schlag, alle miteinander! Erst sagen sie, sie wollen mich ins Schneegebirge schicken, wo ich mich irgendeinem vertrottelten Kloster anschließen soll, und jetzt höre ich, Rufus würde mich am liebsten überfahren, von der Brücke werfen oder wahlweise auch auf einem Scheiterhaufen verbrennen. Nein, nicht mit mir!"

"Du bist grade schon ein wenig melodramatisch, oder?"

"Du kannst mich nicht aufhalten."

Leon lächelte gelassen. "Ich an deiner Stelle wäre schon längst abgehauen."

Val starrte ihn an.

"Also, gehen wir", sagte der Gelehrtensohn und gab die Tür frei.

Val runzelte die Stirn. "Ich gehe allein."

"Geht nicht." Leon warf sich seinen Rucksack über die Schultern. "Bis zum Rest unseres Lebens aneinander gebunden, schon vergessen? Außerdem würdest du nicht weit kommen, die Schlangen hätten dich nach spätestens einem Tag erledigt. Du weißt noch nicht mal, wohin du gehen sollst."

Val presste die Lippen aufeinander. "Woher weiß ich, dass du nicht mit deinem Vater in Verbindung stehst? Oder mit Rufus?"

"Sehe ich aus als hätte ich einen verdammten Falken in der Hosentasche?"

Val überlegte. Es war zugegeben höchst riskant, ihm zu vertrauen, aber dann wiederum hatte er eigentlich gar keine andere Wahl. Es stimmte, er wusste nicht, wohin.

"Okay," gab er schließlich nach. "Du kannst mitkommen."

"Klar", erwiderte Leon ungerührt. "Dann auf zu Schieferstein."

 

Die Soldaten

Val hatte beobachtet, wie Bastian den Haustürschlüssel unter einen Blumentopf auf dem Fensterbrett geschoben hatte. Er fand es seltsam, dass auch in solch reichen Häusern so einfache Verstecke üblich waren. Leise, auf jedwedes Geräusch vom oberen Treppenabsatz achtend, nahm Leonhard den Schlüssel, drehte ihn einmal im Schloss, es machte Klick - und sie entwischten ins Freie. Es war später Abend, die Sonne war gerade untergegangen. Lang gezogene Schatten tauchten die Umgebung in Dunkelheit. Die Villa Zodiak lag einsam in der weiten Graslandschaft, nichts regte sich außer einem kleinen Vogel, der über ihre Köpfe hinweg zog. Augenblicklich konnte Val freier atmen. Mit dem Verlassen des Hauses war eine große Last von seinen Schultern gefallen.

"Wo geht’s jetzt hin?", fragte er enthusiastisch, während sie den Forstweg entlang liefen.

"Zur Villa des alten Schieferstein", antwortete Leonhard. Er blickte des Öfteren nervös über die Schulter, aber kein Laut drang vom Haus zu ihnen her. Niemand hatte ihre Flucht bemerkt. Val malte sich aus, wie Violetta wohl reagieren würde, wenn sie von ihrem Verschwinden erfuhr. Kurz spürte er den Anflug eines schlechten Gewissens, als er sich ihr enttäuschtes rundes Gesicht vorstellte. Unsinn!, dachte er dann. Immerhin hat Rufus dafür gestimmt mich umzubringen. Da ist Wegrennen doch das mindeste, was ich tun kann. Ihm entging nicht, dass Leonhard unnatürlich blass im Gesicht war. Er stolperte hin und wieder über auf dem Boden liegende Steine, als wäre er es nicht gewohnt über Feldmark zu laufen.

"Was glaubst du, finden wir in seiner Villa?", fragte Val.

"Na er war es doch, der erkannt hat, wie gefährlich dein Blut ist. Vielleicht steht in seinen Aufzeichnungen etwas davon, wie man es unschädlich macht oder so etwas."

Val zuckte die Schultern. War es wert es auszuprobieren. Dann fiel ihm etwas ein.

"Die Villa … wo er umgebracht wurde?" Bei dem Gedanken wurde ihm unbehaglich zumute.

"Ja. Hast du einen besseren Vorschlag?"

Hatte er nicht. Also bogen sie an der nächsten Kreuzung in die Hauptstraße ab und Leon sagte, es würde in etwa eine Stunde zu Fuß zu Schiefersteins Haus dauern. Amalthien war wahrlich eine Gelehrtenhochburg, die Mitglieder der Garde lebten nie mehr als ein paar Kilometer voneinander entfernt.

Val fiel etwas ein, worüber er schon längere Zeit nachgegrübelt hatte. "Warum habt ihr eigentlich geglaubt, dass Arved der Rote Löwe ist? Warum wolltest du dich an ihn binden?" Die Vorstellung war unheimlich. Er wollte sich nicht vorstellen, wie Arved in dieser gefährlichen Geschichte die Hauptrolle spielte. Beinahe war er froh, dass es stattdessen ihn selbst getroffen hatte.

Zu seiner Überraschung lachte Leonhard leise. Es war ein trauriges Lachen. "Ein klassischer Fall von Verwechslung. Weißt du, nur die Nachkommen von drei Familien auf Zonea kommen dafür in Frage, der Rote Löwe zu sein. Jemand aus der Familie Taubenschlag, von den Eichelhähern oder einer aus der Familie Rabenfeder."

"Warum?", fragte Val erstaunt.

Leon zuckte die Schultern. "Das war immer so. Irgendwas an ihrem Charakter scheint dem Löwen zu gefallen, was weiß ich. Nun, nach einiger Zeit hatten wir herausgefunden, dass dein Vater, der letzte Nachkomme der Rabenfedern, im Erwachsenenalter vom Festland auf eine einsame Insel gezogen ist. Sie war nicht einmal in den Gelehrtenkarten verzeichnet. Aber ihre Koordinaten gaben den Ausschlag. An deinem Geburtstag erstrahlt der Rote Löwe am hellsten genau über Nusnuth. Das ist natürlich kein Zufall."

"Aber ihr habt geglaubt, Arved sei es. Ihr habt nicht zuerst an mich gedacht."

Leonhard schüttelte den Kopf. "Deine Geburtsdaten wurden getilgt, wie du ja weißt. Weil deine Mutter bei der Geburt gestorben ist."

Val nickte. Das war nicht etwas, an das er erinnert werden musste.

"Für uns schien es praktisch so, als würdest du gar nicht existieren. Arved war der einzige eingetragene Sohn von Adolar Rabenfeder. Also haben wir ihn ausgesucht."

Val fand einen Fehler in der Logik. "Arved hat nicht am einunddreißigsten August Geburtstag wie ich. Er hat am zweiten September Geburtstag."

"Du glaubst, das machte für uns einen Unterschied? Wir haben nur gesehen, dass der Rote Löwe Ende August oder Anfang September am stärksten leuchtet. Da hat uns der zweite September gut in den Kram gepasst."

"Ah."

Leonhard zog die Mundwinkel herab. "Zugegeben, im Nachhinein machen ein paar Sachen keinen Sinn. Dass er erst acht Jahre alt ist und … noch etwas anderes. Unsere Informationen waren nicht vollständig, weißt du. Wir mussten sie aus geheimen, streng vertraulichen Archiven stehlen. Beim Transport sind einige Dinge unleserlich geworden. Wir sahen nur eins: die wichtigsten Dinge, der Name und die Herkunft haben gestimmt. Wir haben natürlich nicht an einen nicht eingetragenen zweiten Sohn gedacht."

Val nickte langsam. Er verstand.

"Ich würde gerne noch etwas wissen", sagte er dann, nachdem sie einige Zeit schweigend weitergelaufen waren. Sie hatten mittlerweile eine kleine Siedlung erreicht. Der Vorort, den die Zodiaks wissentlich ausschlugen und stattdessen ein Haus auf dem Land bevorzugten, war ein friedlicher Stadtteil, wo vor allem die reiche Bürgerschicht des Festlands ansässig war. Das Gras in den Gärten war fein zurecht getrimmt, die Blumen und Hecken in ihre Schranken gestutzt, die Gehwege blitzblank vom täglichen Kehren. Hier und da waren Kinderschaukeln aufgestellt und Spielzeugautos parkten in den Garagen. Val fragte sich unwillkürlich, ob es eine glückliche Kindheit war, die man hier verbrachte.

Leonhard wandte den Blick vom dunkler werdenden Himmel und sah ihn an. "Was noch?", fragte er misstrauisch.

Er war wirklich kein einfacher Gesprächspartner.

"Wie funktioniert eure Magie?" Val bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten. Würde der Gelehrte ihm diese Frage beantworten?

"Ach das." Leon kratzte sich am Kinn, ehe er die Hände in den Taschen seines Mantels vergrub. Mit der aufkommenden Nacht war es um sie herum merklich kühler geworden, auch Val fröstelte. "Wir sollen eigentlich nicht darüber sprechen."

Val wartete.

"Aber ich denke nicht, dass es Schaden anrichten kann, wenn du davon weißt. Du bist ein Mensch und kannst sie sowieso nicht nutzen." Leon zuckte die Schultern. "Weißt du, es wäre auch viel sinnvoller, wenn ich dir nicht erklären würde, wie sie funktioniert, sondern wenn ich es dir zeigen würde." Plötzlich fing er an zu grinsen und sein verschlagener Gesichtsausdruck behagte Val überhaupt nicht.

"Was zeigen?", wiederholte er misstrauisch.

Leonhard grinste breiter, er nahm die Hände aus den Manteltaschen, dann fuhr er sich einmal mit Zeige- und Mittelfinger in gerader Linie über die Brust und malte zwei Punkte mit je wenig Abstand dazwischen in die Luft.

"Angriff", murmelte er leise. Den Blick hatte er dabei durchgehend auf Val gerichtet. Der runzelte die Stirn und fragte sich nur, was das eigentlich sollte, als ihn plötzlich wie aus dem Nichts ein heftiger Schlag gegen den Kopf traf. Und zwar so stark, dass er zu Boden ging und sich dabei beide Ellbogen am harten Asphalt aufschlug. Die Welt drehte sich und Sterne tanzten vor seinen Augen. Leonhard ging an zu lachen. Val wälzte sich herum und rappelte sich auf, sein Atem ging heftig.

"Du warst das!", presste er hervor und hielt sich die schmerzende Seite. Er hatte zwar keine Ahnung, wie er es angestellt hatte, aber Leons heimtückisches Grinsen war Beweis genug. Der Gelehrtensohn verschränkte nur die Arme vor der Brust.

"Du wolltest es ja wissen, oder nicht?", gab er zurück. "Sei lieber froh, dass ich es dir überhaupt erkläre, das ist nämlich nicht selbstverständlich. Was ich gemacht habe, nennt man ein Angriffsshmi. Merk dir das. Der lange Strich nach rechts und die zwei Punkte sind die Basis dieser Angriffsmagie. Abgesehen von der Basis kann man es beliebig modifizieren, das heißt, das hängt natürlich vom Können des jeweiligen Magiers ab. Die meisten sind allerdings nicht so weit fortgeschritten wie ich."

Offenbar wollte er diese Tatsache gleich zum Besten geben, denn seine Hände flogen erneut durch die Luft, so schnell, dass sie vor Vals Augen verschwammen. Im nächsten Moment ertönte ein Krachen und ein Baum im Garten neben ihnen fuhr wie vom Blitz getroffen zusammen. Er brach in der Mitte auseinander, die beiden Hälften bogen sich jeweils nach hinten wie zwei Halbmonde. Der Schnitt war glatt und faserfrei, wie es keine Axt hinbekommen hätte. Val bemühte sich, nicht allzu beeindruckt auszusehen und tarnte sein erschrecktes nach Luft Schnappen in einem trockenen Hüsteln.

"Ich hätte dich sehr leicht töten können", betonte Leonhard. Gelassen klopfte er sich Staub von der Schulter. "Den Angriff auf dich habe ich extra vorsichtig ausgeführt."

Val sagte nichts und ärgerte sich stumm.

"Du siehst, welch Maß an Selbstbeherrschung man für die Magie benötigt", sprach Leonhard weiter. "Ich werde bereits seit meinem vierten Lebensjahr darin unterrichtet. Wenn ich nicht täglich geübt hätte, wäre ich nie so weit, wie ich es jetzt bin. Es gibt nicht viele Magier in meinem Alter, die so gut sind wie ich."

"Schön", unterbrach Val ihn wütend. Er kochte innerlich und seine Ellbogen taten immer noch weh. Dieses ständige Selbstlob ging ihm auf die Nerven. "Also, das ist alles? Magie zum Angriff? Mehr nicht?"

Leon schnaubte verächtlich. "Natürlich nicht. Los, greif mich an."

Val reagierte nicht gleich. Nachdem er gerade demütig vor ihm im Staub liegen und sich seine unerträgliche Selbstverliebtheit anhören hatte müssen, hätte er ihm nur zu gerne eins auf die Nase geben. Das hatte er ohnehin seit dem Zeitpunkt ihres Kennenlernens verdient. Aber er fürchtete eine Finte des Jungen. Trotzdem wollte er die auf die Gelegenheit nicht verzichten. Er gab vor, auf der anderen Straßenseite eine Katze zu beobachten und nicht auf Leons Worte zu achten. Währenddessen plante er seine nächsten Schritte. Den anschließenden Angriff nahm er völlig unerwartet vor, er wirbelte ohne Vorwarnung herum und zielte mit seiner Umhängetasche auf Leons Kopf. Schade, dass keine schweren Bücher drin waren, dachte er noch.

Er kam jedoch noch nicht mal in die Nähe von dessen Schulter, da hatte ihn erneut die Wucht einer Windböe zu Boden geworfen, diesmal sogar noch heftiger als die erste. Val ächzte und rollte sich herum. Einen Moment blieb er bewegungslos liegen, wartete, dass seine Seite aufhörte zu schmerzen, lauschte seinem eigenen Herzschlag gegen die Straße hämmern. Stöhnend rappelte er sich auf, wobei er gegen Schwindel und Verwirrung gleichermaßen ankämpfte. Diesmal hatte er nicht mal gesehen, wie Leonhard die Finger bewegt hatte. Wie war ihm der Gegenangriff so schnell gelungen?

Leon lachte lauthals über ihn. Er konnte kaum sprechen. "Nicht schlecht, nicht schlecht. Du wolltest mich erst in Sicherheit wiegen, bevor du mich angegriffen hast. Das war klug. Heimtückisch sogar. Ha ha."

Val hatte noch nie erlebt, dass ein Charakterzug wie heimtückisch als Anlass zum Lob gereichen würde. Er schob das Kinn vor und starrte er zu Boden, während er wartete, dass der Gelehrtensohn sich beruhigte.

"Ich gebe zu, das war nicht fair von mir", keuchte er schließlich. "Meine Magie ist, musst du wissen, zeitlich nicht gebunden. Noch während du vorgabst, dich auf das Tier dort drüben zu konzentrieren, habe ich das Verteidigungsshmi ausgeführt. Einmal die Fingerkuppen gegeneinander gelegt, dann ein simultanes Fortbewegen der Hände nach links und rechts. Siehst du? So geht das. Ich wusste ja, dass der Angriff von dir kommen würde und daher körperlicher, also nichtmagischer Natur sein würde. Das ist nämlich wichtig bei diesem Shmi. Wenn ich nicht weiß, wie ich angegriffen werde, kann ich mich ja auch nicht dagegen verteidigen, nicht wahr? Das ist wie im echten Leben."

Val presste nur wütend die Lippen aufeinander. Sein zweimaliges Unterliegen so kurz nacheinander hatten ihm die Stimmung verdorben. Leonhard hatte von Anfang an gewusst, wie es ausgehen würde und ihn mit Freuden in die Verlegenheit laufen lassen.

"Dann gibt es noch zwei Arten der Magie", redete Leonhard weiter, der von Vals Ärger offenbar gar keine Notiz nahm. Im Gegensatz zu Val schien ihm die Unterrichtsstunde ziemlich gut zu gefallen. "Einmal das Bewegungs- und dann noch das Stillstandsshmi. Ersteres beschleunigt meine Bewegungen, das wird dir schon aufgefallen sein, denn dann sind sie für das menschliche Auge nicht mehr wahrnehmbar. Das zweite hast du auch schon am eigenen Leib erfahren. Damals im Boot, als ich dich gefesselt habe. Es lässt sich leider nur an Menschen anwenden, die keine Ahnung haben, wie sie sich verteidigen können. Gewöhnliche Menschen also. Solche wie du halt."

Val antwortete nicht. Er zählte innerlich bis zehn, um nicht dem Drang nachzugeben, sich auf ihn zu stürzen.

"Das waren die vier körperlichen Shmi. Natürlich gibt es auch noch welche, die auf den Geist einwirken, davon allerdings nur zwei, und trotzdem unglaublich bedeutend …"

"Jaja, schon gut. Die kannst du mir ein ander Mal erklären." Val starrte finster auf die Straße. Für heute hatte er genug von Magie, wie interessant sie auch sein mochte.

 

Bald gelangten sie nach Thoringen, dem Stadtteil, in dem Schieferstein gelebt hatte. Das Haus des Gelehrten lag nur einen Katzensprung vom gelben Ortsschild entfernt. Val sah das hohe vergoldete Tor mit Bedenken.

"Wie willst du denn da hinüber kommen?", fragte er.

Leonhard aber gab sich zuversichtlich. "Reinkommen ist nicht das Problem. Ich will nur nicht gesehen werden." Er deutete auf die Nachbarhäuser. "Es ist weniger gefährlich, wenn es dunkel ist. Probieren wir’s bei Einbruch der Nacht."

"Was, wenn sie uns erwischen?", fragte Val nervös. "Wie viel steht auf Einbruch?"

Leonhard zog die Brauen hoch. "Ernsthaft? Du machst dir Sorgen um deine rechtliche Unbescholtenheit, wenn du weißt, dass eine Sekte Irrer hinter dir her ist?"

Val lenkte ein. Das war ein Argument.

"Außerdem kann ich zaubern, schon vergessen? Niemand wird uns entdecken."

"Was jetzt?", fragte Val dumpf. Sollten sie jetzt Stunden hier warten, bis es Nacht wurde?

"Wir warten auf dem Hügel da, bis es Abend wird", sagte Leonhard im selben Moment und führte den Weg über das taufeuchte Gras an. Val stapfte griesgrämig hinterdrein. Er wusste wirklich nicht, wie er die vermutlich Wochen und Monate währende Flucht mit diesem Jungen überstehen sollte ohne ihn umzubringen. Sie waren stumm, während sie sich die Anhöhe hoch kämpften, deshalb hörten sie den Lärm umso früher.

"Was ist das?", fragte Leonhard und blieb stehen.

Val lauschte ebenfalls. Von hinter dem Hügel erklang ein Gemisch von schweren Schritten, Schreien und Schwerterklirren. Eine Fanfare ertönte, wie man sie bei Schlachten benutzte.

"Ist das eine … Armee?", fragte er und runzelte die Stirn.

"Besser wir gehen von der Straße", sagte Leon und warf einen beunruhigten Blick über die Schulter. Er winkte Val und sie liefen die Anhöhe nach oben, von der sie einen besseren Ausblick auf die Umgebung hatten. Der Lärm war während ihres Aufstiegs stetig lauter geworden. Aufgeregt sah Val nach unten ins Tal.

"Sieh doch!", zischte Leon, warf sich flach auf den Bauch und zog Val mit sich hinunter auf den Boden. Dem Jungen klappte der Mund auf. Ungläubig beobachtete er, wie ein Trupp grün uniformierter Soldaten um die Ecke bog und die Talstraße im Gleichschritt betrat, wobei sie allein mit ihren schweren Stiefeln einen Heidenlärm verursachten. Dazu kam das Geschrei des Hauptmanns an der Spitze und das Klirren ihrer Schwerter. So etwas hatte Val noch nie gesehen und er war einen Moment sprachlos.

"Soldaten. Und so viele", sagte er dann. "Wozu?"

"Sie patrouillieren irgendetwas. Oder irgendwen." Leonhard runzelte die Stirn. "Schau!", sagte er und deutete mit einem ausgestreckten Zeigefinger nach unten.

Val folgte seinem Blick. In der Mitte des Trupps bewegte sich ein lilafarbene Baldachin, von vier Speeren getragen, schaukelnd wie ein Passagierdampfer die Straße entlang. Die Soldaten am anderen Ende der Speere schwitzten und schnauften heftig.

"Was ist da drin?", fragte er erstaunt.

"Woher soll ich das wissen?", murmelte Leon aber sein Blick war nicht minder interessiert als Vals.

"Soldaten aus Amalthien sind das aber nicht."

Leonhard kniff die Augen zusammen. "Nein", sagte er dann. "Kannst du ihre Siegel erkennen?"

Val beugte sich weiter vor, kam dem Abgrund dabei gefährlich nahe. "Nicht wirklich." Plötzlich hörte er etwas. Er erstarrte und horchte auf. Es klang wie ein Flüstern, ein Wispern, das vom Wind zu ihm getragen wurde. Es kam mitten aus der Sänfte. Das Geräusch ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren und seine Atmung beschleunigte sich. Es war keine richtige Stimme, und wenn es eine war, dann sicher keine menschliche. Irgendwie hatte Val das Gefühl, dass nur er sie hören konnte, dass sie nur in seinem Kopf war. Noch nie zuvor hatte er so etwas gefühlt. Angestrengt versuchte er, zu verstehen, was da flüsterte. Die Haare auf seinen Unterarmen stellten sich auf.

Komm, Val. Komm zu mir.

Es klang wie das Zischen einer Schlange.

"Was?", rief er laut. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinab. Woher kannte die Stimme seinen Namen?

"Was?", fragte Leon.

"Nicht du!"

Val beugte sich noch weiter über den Vorsprung, am ganzen Körper angespannt, erschrocken über diese Erscheinung, die er nicht erklären konnte. Plötzlich brach unter ihm ein Stück Erde weg und kullerte den Hang hinunter. Einen Moment befand er sich mit wild rudernden Armen in der Schwebe, während ihn die Schwerkraft unaufhaltsam nach unten zog, dann verlor er das Gleichgewicht. Er kippte kopfüber den Hang hinab - Leons entsetzter Schrei hallte ihm in den Ohren - dann stürzte er den Berg hinunter. Er schlug hart mit Kopf und Armen auf spitze Steine und Vorsprünge und er schrie auf vor Schmerz. Die Welt rauschte immer schneller an ihm vorbei, der Himmel war einmal über ihm, einmal unter ihm, ein Fetzen makellosen Blaus. Leon rief seinen Namen wieder und wieder. Val bekam keine Luft, Steine und Staub spritzten ihm ins Gesicht und vor seinen Augen tanzten Sterne. Hilflos schlenkerten seine Arme neben dem Körper, verdrehten sich schmerzhaft unter seinem Rücken, wenn er mit seinem ganzen Gewicht darauf landete. Er wusste, dass er sich dem Trupp von Soldaten näherte, die erschrocken die Köpfe nach ihm wandten. Er versuchte verzweifelt anzuhalten, irgendwie zu bremsen, aber er konnte nichts tun, es tat nur noch mehr weh, wenn er es versuchte. Erst am Ende des Hangs verlangsamte sich sein Fall. Noch ein paar Meter rollte er weiter über feuchtes Gras – sein Kopf dröhnte fürchterlich, sein ganzer Körper schmerzte und sein Herz raste – dann landete er direkt vor den Sänftenträgern auf dem Boden. Er stöhnte und blickte auf. Übelkeit stieg in ihm hoch und Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen. Ungefähr zehn Schwertspitzen wurden gleichzeitig auf ihn gerichtet, ein Mann beugte sich über ihn und schrie:

"Was tust du da, Junge?"

"Ich bin gefallen", presste Val hervor, der das für eine sehr dumme Frage hielt. Er versuchte, auf die Füße zu kommen, aber ein dreckiger schwerer Stiefel auf der Brust hielt ihn unten. Val sah die Blutspritzer auf seiner Haut, Wunden, die sich mit Dreck vermengten und sein Magen machte einen Salto rückwärts. Über die Schulter besah er sich den Hügel, den er hinab gefallen war. Er war wirklich ziemlich lang. Das Gras war an den Stellen dunkelgrün und platt gedrückt, wo er drüber gerollt war. Leon am Gipfel konnte er nirgends erkennen.

"Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!", brüllte der Soldat. Vals Kopf schnellte zurück.

Da bewegten sich die lavendelfarbenen Vorhänge der Sänfte und wurden mit einem Ratschen zur Seite gezogen. Val blickte auf und sah sich einem Jungen gegenüber, der etwa in seinem Alter sein musste. Dieser musterte ihn seinerseits interessiert. Sein Gesicht war gefällig, die blasse Haut stand in starkem Kontrast mit den schwarzen Haare und dunkle Ringe unter den Augen verstärkten diesen kränklichen Eindruck. Es sah aus, als hätte er tagelang nicht geschlafen. Der Junge runzelte bei seinem Anblick leicht die Stirn. Val klappte die Kinnlade herunter. Auch wenn er sich sicher war, den Jungen in seinem ganzen Leben noch nie gesehen zu haben, hatte er doch das Gefühl, dass er ihn kannte. Da war ein untrügliches Gefühl der Vertrautheit zwischen ihnen, einer Verbindung. Val schüttelte den Stiefel von seiner Brust ab, als ihn ungeahnte Kräfte überkamen, und sprang auf die Füße. Er öffnete den Mund, wusste aber nicht, was er sagen sollte.

Der Junge kam ihm zuvor. "Er ist es", sagte er mit heller, musikalischer Stimme. Zweifel schwang in seiner Stimme mit. "Der Rote Löwe."

Val fühlte sich einen Moment bestätigt, denn diese Erkenntnis bedeutete, dass auch der Junge ihre Verbindung wahrnahm. Dann erst verstand er, in welcher Gefahr er schwebte. Er wirbelte herum. Die Soldaten erstarrten erst, dann bewegten sie sich umso schneller. Der ihm am nächsten stehende Mann stürmte vorwärts und etwas in seiner Hand blitzte auf. Ein Messer? Mit einem Schrei warf sich Val zur Seite, nur um beinahe vom Schwert eines anderen durchbohrt zu werden. Stattdessen sauste es in die harte Erde neben ihm und blieb zitternd stecken.

"Was soll das?", schrie Val entsetzt.

Der blitzende Gegenstand in der Hand des Soldaten fuhr erneut auf ihn zu und hätte ihn vermutlich durchdrungen, hätte ihn nicht in letzter Sekunde etwas von hinten angesprungen und zu Boden geworfen. Die Waffe streifte stattdessen sein Handgelenk, riss die empfindliche Haut auf, Blut spritzte. Schmerz explodierte in Vals Arm und er schrie auf. Sterne tanzten vor seinen Augen und er verlor jeden Sinn für Orientierung. Er hatte keine Ahnung, was ihn von hinten erwischt hatte. Während er sich herumrollte und panisch nach Luft rang, sah er es. Ein junger schlanker Mann, nur ein paar Jahre älter als er, stellte sich mit gezücktem Schwert den Soldaten. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht.

"Bleib bloß liegen", sagte er mit leiser Stimme zu ihm. Ehe Val antworten konnte, gab der Hauptmann ein Zeichen und die Soldaten stürzten los. Val kroch ein wenig zur Seite, aber der Schmerz in seinem Arm zwang ihn, innezuhalten. Wieder fühlte es sich an, als würde ihn ein Feuer von innen verzehren. Atemlos sah er zu, wie der junge Mann der schieren Überlegenheit ruhig gegenübertrat. Er hörte, dass der Junge in der Sänfte erschrocken etwas murmelte, aber er verstand die Worte nicht. Der Kampf begann Schlag auf Schlag. Mit bloßen Händen warf der Fremde drei Männer zu Boden und entwaffnete den vierten mit dessen eigenem Schwert. Die übrigen Soldaten formierten sich, um ihn gemeinsam anzugreifen. Der Mann aber drehte sich um sich selbst so schnell wie der Blitz, teilte Schläge aus, während er eintreffende parierte. Er bewegte sich so schnell, dass er vor Vals Augen zu verschwimmen schien. Obwohl er zahlenmäßig eins zu dreißig unterlegen war, schien er zu gewinnen. Val stieß ein ungläubiges Lachen aus und vergaß den Schmerz in seinem Handgelenk. Wie konnte man so kämpfen? Bevor er sich beruhigt hatte, drehte sich der junge Mann zu ihm herum und Val sah sein Gesicht zum ersten Mal. Eisblaue Augen blitzten ihn an. Er hatte kinnlanges braunes Haar und ein fein geschnittenes Gesicht, so wie es berühmte Maler für ihre Portraits verwenden. Seine schlanke Figur war in einen schwarzen Umhang gehüllt, der ihm ein paar Nummern zu groß war. Ein plötzlicher Windstoß brachte ihn zum Flattern.

"Los, mach schon, weg hier!" Seine klingende Stimme verriet sein junges Alter. Val starrte ihn an, unfähig, sich zu rühren. Er kam ihm vor wie eine Erscheinung. Wo war er so plötzlich hergekommen? Wer war er überhaupt? Der Mann gab ein wütendes Knurren von sich, war mit zwei langen Sätzen bei ihm und zerrte ihn auf die Füße. Dann hob er ihn einfach in die Höhe wie einen Sack Kartoffeln und warf ihn sich über die Schultern. Er war weitaus stärker, als es seine drahtige Gestalt vermuten ließ.

"He!", rief Val erschrocken. "Lass mich runter!"

Der junge Mann aber war schon losgelaufen. Die Soldaten, die langsam ihre Fassung zurückgewannen, nahmen schreiend die Verfolgung auf, die Gesichter wutverzerrt.

"Ich kann selber laufen!", rief Val. "Lass mich runter!"

Der Mann dachte nicht einmal daran. Sein Griff lockerte sich keinen Zentimeter. Er floh über die Felder in Richtung Wald, so flink wie ein Wiesel. Er war schneller als die Soldaten und das obwohl er zusätzliches Gewicht zu tragen hatte. Val konnte nur staunen über die Vielseitigkeit seiner Fertigkeiten. Der herbe Geruch nach Tabak und Pferd schlug ihm in die Nase. Wer war dieser Kerl bloß?

Dann übersprang der Fremde einen Graben, maß die Entfernung aber offenbar nicht richtig ein oder wusste vielleicht nicht, wie viel Kraft er für sie beide in den Sprung stecken musste, denn er kam ungünstig auf, taumelte – und brach mitten durch das Erdreich, das plötzlich unter ihnen nachgab. Es ging einige Meter senkrecht nach unten, Val schrie und riss die Arme vors Gesicht, dann landeten sie hart auf dem Boden einer dunklen, feuchten Höhle. Val rollte einige Meter über die lehmige Erde und zog sich noch ein paar Schrammen und Kratzer zu. Als er schließlich lag, konnte er nicht aufstehen. Jede Stelle an seinem Körper schmerzte. Über ihm prangte das Loch, das sie in die Wiese getreten hatten und ein Stück des blauen Himmels schien herein. Offenbar war die ganze Zeit über ein Spalt vorhanden gewesen und mit ihrem Gewicht, von der Wucht ihres Sprunges vergrößert, hatten sie ihn durchbrochen. Sich nähernde Schritte ertönten. Val hielt unwillkürlich den Atem an. Würden die Soldaten das Loch bemerken? Wenn ja, wie sollten sie aus der Höhle fliehen? Er hörte, wie sich der Mann neben ihm am ganzen Körper anspannte, sein Umhang raschelte, als er in die Hocke ging. Er war bereit zu kämpfen, sollte es soweit kommen. Dann sahen sie Schatten, es wurde abwechselnd hell und dunkel, als die Soldaten über das Loch sprangen. Dann trampelten sie weiter. Sie hatten sie nicht gesehen.

Val stieß einen heftigen Seufzer der Erleichterung aus.

"Lief besser als gedacht", sagte der Mann. In seiner Stimme schwang ein Akzent aus dem Osten mit. Er stand auf und klopfte sich Staub vom Umhang.

Val achtete nicht auf ihn, sondern sank in die Knie. Jetzt, wo die akute Gefahr vorüber war, spürte er die Schmerzen in seiner Hand um ein Vielfaches verstärkt. Sein ganzer Arm brannte höllisch, vom Handgelenk bis zur Schulter. Er drehte sich auf die Seite und stöhnte.

"Was ist los?" Der Fremde kniete sich neben ihn, berührte ihn an der Schulter. Val wollte seinen Arm nicht herzeigen.

Der andere drehte ihn kurzerhand mit starkem Griff nach oben. Er sah die Wunde, erstarrte, dann stieß er einen leisen Fluch aus.

"Unter allen Umständen, Löwe, warte hier!", befahl er. Sein Augen blitzten. Dann rannte er eine Erhöhung in der Höhle nach oben, schlug mit den Händen ein Loch in die Erddecke, ein Rauschen seines Umhangs und er war verschwunden.

Val blieb allein zurück. Er konnte nicht glauben, was gerade passiert war.

Je mehr Zeit verging, desto erträglicher wurde der Schmerz in seinem Arm und er konnte wieder ruhiger atmen. Langsam führte er sich die verletzte Hand vors Gesicht. Die Wunde war direkt unter seinem Handgelenk, dort wo die Haut am dünnsten war und die Pulsadern blau hindurch schimmerten. Es blutete nicht stark.

"Alles halb so schlimm", sagte er, um sich Mut zuzusprechen. Seine Stimme war heiser und er räusperte sich. In der dunklen Höhle bekam er keine Antwort. "Sicher nur irgendeine dumme Magie, die den Schmerz vergrößert." Dann wiederum, dachte er sich, wurde mir auch noch nie die Hand aufgeschlitzt, also weiß ich nicht, wie groß der Schmerz gewöhnlich ist. Mit zitternden Knien stand er auf und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Schließlich folgte er dem Beispiel des Mannes nach oben ans Tageslicht. Er hatte nicht die geringste Absicht, im Loch auf seine Rückkehr zu warten. An der Oberfläche traf er auf einen völlig aufgelösten Leonhard, der die letzten Minuten damit verbracht hatte, verzweifelt über das Feld zu laufen und seinen Namen zu schreien. Als er ihn schließlich sah, fiel er ihm beinahe um den Hals vor Erleichterung.

"Was machst du denn?", schrie er, obwohl er direkt vor ihm stand. "Val, warum bist du da runter?"

"Verdammt, warum versteht keiner, dass ich gefallen bin? Das war keine Absicht", verteidigte Val sich. Er blickte Leon verwirrt an. Er sah ernsthaft besorgt aus. Irgendetwas war anders.

"Ich bin so schnell gerannt, wie es ging, aber anscheinend fällt man schneller als man läuft, der Typ hatte dich grad mitgenommen, als ich unten ankam. Die übrigen Soldaten sind schnell weiter gezogen, wahrscheinlich um diesen Typen in der Sänfte in Sicherheit zu bringen. Ich frage mich, wer das überhaupt war", sprudelte es ohne Punkt und Komma aus ihm heraus. Sein sonst so geschniegeltes schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab, ein paar Knöpfe seines Mantels waren gelöst, manche auch ausgerissen. "Wo ist der Typ? Und wer ist es?"

Val versuchte, aus seinem Gebrabbel schlau zu werden. "Der mich gerettet hat? Keine Ahnung, er hat meinen Arm gesehen und sich dann ganz schnell aus dem Staub gemacht. Er sagte, ich solle in dem Loch da unten auf ihn warten." Val war nun aufgefallen, was anders war. Leonhard hatte ihn zum ersten Mal beim Namen genannt. Er war ganz erstaunt über diese Erkenntnis und starrte den jungen Gelehrten überrascht an.

"Na, ganz sicher nicht!", sagte der heftig. "Wir schauen, dass wir das verbinden, sonst kriegst du noch eine Blutvergiftung oder so was, und dann nichts wie weg. Mit was haben sie dich verletzt?"

"War ein Messer, glaub ich. Soll ich nicht auf ihn warten?"

Leonhard schüttelte entschieden den Kopf. "Ne, wer weiß, wer das ist. Vielleicht ist er ja eine Schlange. Rosenfeld hat auch gesagt, du sollst niemandem vertrauen, oder? Und wenn er wichtig ist, wird er schon wieder aufkreuzen."

"Okay."

Sie setzten sich in Bewegung Richtung Stadt. "Er hat mich Löwe genannt. Warum wissen eigentlich alle, wer ich bin? Ich dachte, das sollte ein verdammtes Geheimnis sein."

Leon stieß ein ersticktes Lachen aus. Auch das war neu. Noch nie hatte er über eine Bemerkung Vals gelacht.

Bald teilte er ihm den Grund für seine ungewöhnliche Freundlichkeit mit.

"Ich bin immerhin für deine Sicherheit verantwortlich", sagte er. "Wenn dir etwas zustößt, hat man allein mir die Schuld dafür zu geben. Du bist doch nur ein Mensch und kannst selbst nicht auf dich aufpassen."

Val presste die Lippen aufeinander. Und so schnell war er wieder ein Arschloch.

In der Stadt kauften sie sich Verband bei einem Hausarzt.

"Soll ich mir die Wunde einmal ansehen?", sagte der freundliche Mann.

"Nicht nötig", antwortete Leonhard kühl und zog Val hinter sich die Treppe hinab. "Verdammte Halsabschneider!", fügte er mit finsterem Blick hinzu, als sie weit genug weg waren.

"Auf mich machte er einen ganz netten Eindruck", sagte Val.

"Nur, weil du dich in der zivilisierten Welt überhaupt nicht auskennst", sagte Leon mitleidig. Da war er wieder, der alte Leon.

"Glaubst du, sie suchen schon nach uns?", fragte Val nach einer Weile. Es war mittlerweile dunkel geworden, einzelne Sterne blinkten am Firmament. Sie fanden ihre Spiegelung in den Lichtern hinter den Fenstern. Val hätte viel dafür gegeben, jetzt gemütlich am Küchentisch zu sitzen, mit der Aussicht auf ein bequemes Bett.

"Vater und Rufus? Keine Ahnung. Wahrscheinlich. Hier vermuten sie uns hoffentlich erst mal nicht."

"Was jetzt?"

"Na wir müssen doch zu Schieferstein! Da, den Hügel hinauf, Val."

 

Blauregen

Schieferstein hatte, solange er noch am Leben war, eine Menge Geld besessen, das ging aus dem Begutachten seines Anwesens hervor. Es war ein sehr schönes Anwesen mit einem breit angelegten Garten, in dem wilde Blumen miteinander um die Wette wucherten, einem heckengesäumten Weg aus grauem Stein und einem meterhohen Messingtor, auf dem ein Schild in goldenen Lettern verlauten ließ: Villa Schieferstein. Der Mond schien nicht sehr hell diese Nacht, was die Gefahr aufmerksamer Nachbarn, die aus dem Fenster blickten, beträchtlich schmälerte.

"Sicher, dass da keiner drin ist?", fragte Val nervös. Er war erst einmal in seinem ganzen Leben irgendwo eingebrochen, nämlich als Robin und er in Desiderius' Keller eingestiegen waren, um sich einen Schluck Himbeerlikör zu genehmigen. Ah, Robin. Der Gedanke an ihn tat weh.

Leon rollte die Augen. "Da drin wurde einer ermordet, okay? Da geht keiner rein."

Val antwortete nicht. Den Städtern würde er inzwischen alles zutrauen.

"Alles klar? Los geht’s."

Leonhard biss sich so fest auf den Daumen, dass er blutete. Dann presste er den Finger gegen das Schlüsselloch und probierte eine Weile herum, während er unablässig murmelte: "Komm schon. Ein klein wenig weiter nach rechts …"

Dann sprang die Tür zu Vals großem Erstaunen nach innen auf.

"Wie hast du das gemacht?", wollte er wissen.

Leonhard umwickelte sich den Daumen mit einem Stück des Verbands, den er von dem Arzt gekauft hatte. "Hab den Schlüssel mit meinem Blut nachgeahmt und dann ein Bewegungsshmi angewandt", erklärte er. "Schlechter Zauber. Kostet zu viel." Er schürzte missbilligend die Lippen. "Aber was soll man machen?"

"Klar." Val starrte ihn an.

Leonhard ging nach drinnen und Val folgte ihm widerwillig. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Durch das Fenster auf der gegenüberliegenden Wand fiel Licht auf eine breite Marmortreppe und erhellte die darunter liegende Halle, die sie nun betraten. Spiegelnde weiße Kacheln bedeckten den Boden, die wie Glas klangen, wenn man darüber lief. Riesige tierähnliche Steinbüsten säumten den Treppenaufgang. Ihre Gesichter waren zu unheimlichen Fratzen erstarrt wie in einem Gruselkabinett.

"Kann es sein, dass man als Magier ziemlich viel Geld verdient?", fragte Val leise, während er sich umsah. Er fühlte sich an Rufus' Villa erinnert.

"Hm, sagen wir, es fällt einem vieles leichter." Dann legte Leonhard die Finger an die Lippen und schloss die Tür. Als sie mit dem dumpfen Klang einer Glocke ins Schloss fiel, fühlte Val sich prompt eingesperrt. Er drehte sich einmal um sich selbst. "Und jetzt?" Unwillkürlich senkte er die Stimme zu einem Flüstern.

Leonhard deutete auf die Treppe. "Arbeitszimmer sind meistens oben, oder was meinst du?"

Val nickte. Er wollte unter keinen Umständen zeigen, dass er sich fürchtete, jetzt wo Leonhard ein wenig freundlicher zu ihm war, und ging voran. Die Jungen bemühten sich, so leise wie möglich aufzutreten. Leon zündete die Kerze an, die er von irgendwoher aus den Tiefen seiner Manteltasche hervorgezogen hatte und in ihrem unheimlich flackernden Licht erklommen sie die Treppe. Oben betraten sie einen langen Flur. Portraits von Schiefersteins Vorfahren verfolgten sie mit den Augen, als sie unter ihnen vorbeiliefen. Am Ende des Gangs stand eine Tür offen und Val meinte, eine Reihe von Buchrücken zu sehen. Die Bibliothek. Leonhard hatte wohl denselben Gedanken, denn er deutete fragend darauf. Val nickte.

Gewaltige Regale türmten sich vor ihnen auf. Durchs mannshohe Fenster fiel bleich das Mondlicht, tauchte den Raum in einen Schleier aus Silber. Leonhard entfachte ein paar herumstehende Kerzen, an denen geschmolzenes Wachs dick wie Baumrinde klebte. Ihre flackernden Schatten verstärkten Vals Unbehagen. Er schaute sich um. Die Regale reichten bis an die Decke, füllten jeden freien Zentimeter an der Wand und waren vollgestopft mit Büchern und Ratgebern aller Größen und Themengebiete. Da gab es Enzyklopädien über Hautausschlag, Memoiren über den ersten Nordpolentdecker, natürlich schlaue Bücher über die Sternenkunde, aber auch Bilderbände und Märchenbücher mit illustrierten Umschlägen, die Val überraschten. Manche Regalbretter dagegen waren vollkommen leer; wahrscheinlich hatte der Zivilschutz nach dem Mord alles beschlagnahmt, was irgendwie verdächtig erschienen war. Überhaupt war man nicht sehr zimperlich mit Schiefersteins Besitztümern umgegangen. Auf dem Boden herrschte eine riesige Unordnung. Haufenweise Papier lag kreuz und quer durcheinander, Schubladen waren ausgeschüttet und dann achtlos zur Seite geworfen worden und vor der Stehlampe hatte man ein Tintenfass umgekippt. Die schwarze Flüssigkeit in der großen Pfütze war noch nicht ganz vertrocknet und glitzerte im schwachen Schein der Kerzen.

"Da sitzen wir ja morgen früh noch da", stöhnte Leonhard leise, als er das volle Ausmaß der Unordnung registrierte. "Ist das, wo-?" Er deutete auf einen großen roten Lehnsessel vor dem Schreibtisch.

Val lief es kalt den Rücken hinunter. Wo der alte Mann umgebracht worden war. "Ich glaub schon."

Man sah allerdings keine dunklen Flecken oder sonstige Anzeichen von Gewalt, wie es der Falle hätte sein können und Val war froh darüber.

Leonhard streifte in einer schnellen Bewegung seinen Mantel ab und warf ihn über die Lehne des Sessels. Dann schob er sich die Hemdsärmel nach oben und sagte: "Fangen wir an."

Sie begannen jeder für sich, Bücher aus den Regalen zu ziehen und wahlweise durchzublättern, Schubläden zu durchwühlen und Papier aufzulesen. Erst einmal wagte sich wegen seiner übel beleumundeten Vergangenheit niemand an den roten Sessel vor dem Schreibtisch, dann gaben sie sich einen Ruck und untersuchten auch die Unterlagen in diesen Fächern. Lange Zeit sagte niemand ein Wort. Die Standuhr auf dem Schreibtisch schlug Mitternacht.

"Ich wette der Zivilschutz hat alles mitgenommen", sagte Leon schließlich, als der Zeiger auf zwei Uhr morgens vorgerückt war. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden und besah sich Bücher zur Sternendeutung. Er schwitzte, seine Stirn glänzte und seine Augen waren rot gerändert. "Oder wir übersehen etwas."

"Wir brauchen Informationen zum Roten Löwen. Oder zum Ritual", erinnerte ihn Val und rieb sich die Stirn. Kopfschmerzen plagten ihn. "Davon wird der Schutz nichts mitgenommen haben."

"Aber dafür die Schlangen. Vielleicht gibt es sie ja auch gar nicht."

"Was nicht?"

"Die Lösung, nach der wir suchen. Eine Möglichkeit, Fauces zu besiegen, ohne dass du sterben musst."

Val schnaubte. Er fand, dass Leon ziemlich ungerührt über dieses mögliche Ereignis sprach.

"Vater und Rufus haben uns doch schon Tipps gegeben." Leonhard trommelte mit den Fingern gegen den Buchumschlag. "Sie haben doch mit Zierkies und Fahnenbruck gesprochen. Um was ging es da immer?"

"Um den Grünen Drachen", sagte Val, der sich erinnerte.

"Genau."

"Und wer ist das?"

"Er ist sozusagen dein Gegenstück", erklärte Leon. "Was der Rote Löwe für uns ist, ist der Grüne Drache für sie. Das mächtigste Sternentier."

"Und wie nützt uns das?"

"Naja, das würden wir gerne herausfinden, Val."

Val schwieg. Wie sollte er darauf kommen? Er war nicht als Gelehrtensohn aufgewachsen. Vor ein paar Tagen noch hatte er als einfacher Fischerjunge seine Brötchen verdient.

Beide horchten auf, als ein Knacken auf dem Flur ertönte. Als hätte eine Diele im Boden geknarrt. Leonhard tat es mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. "In alten Häusern knackt doch immer irgendwas."

"So alt ist das aber noch gar nicht", gab Val zu bedenken. Er sah mit wachem Interesse zur Tür, aber draußen im Gang war alles ruhig.

Dann stach ihm eine herausgefallene Buchseite ins Auge. Sie zeigte den Tierzeichenkreis, der ihm bereits in Rufus' Dachkammer erklärt worden war. Val nahm die Seite, warf einen Blick darauf und konnte sich nicht mehr davon losreißen. Immer tiefer versank er in die Betrachtung der feinen Linien und Notizen. Die Tiere verschwammen vor seinem inneren Auge und wurden lebendig. Der Löwe am oberen Scheitelpunkt schien sein Maul aufzureißen und ihm etwas zuzubrüllen.

"Erklär mir doch nochmal das Ritual", sagte er und war überrascht, wie ruhig seine Stimme klang. In seinem Inneren tobte ein Orkan.

"Ich weiß auch nur so viel, wie mir die Alten gesagt haben", antwortete Leonhard, während er durch die Papiere stöberte. "Und sie haben immer schön darauf geachtet, dass das nicht zu viel war … Vor mehreren tausend Jahren gab es den hoch entwickelten Stamm der Ashkenazi in diesen Breiten. Sie erkannten bereits die Bedeutung des Roten Löwen und bestimmten ihn zu ihrem Anführer." Er spulte die Geschichte herunter wie auswendig gelernt. "Der Löwe besaß die Macht, einem Menschen, der seine Magie missbraucht hatte oder zu bösen Zwecken nutzte, eine Fessel aufzuerlegen. Diese hinderte ihn dann am Ausüben der Magie. Hin und wieder - frag mich nicht, wie oft der diese Fessel überhaupt hergenommen hat, ich meine, wie viele böse Leute in einem Stamm gibt es denn? - naja jedenfalls - und das ist jetzt ein Zitat aus dem Ritualbuch - konnte es passieren, dass ein Mensch sich besserte. Dann konnte der Löwe die Fessel lösen." Leon schaute Val mit vielsagendem Blick an und verriet damit, wie viel er von dieser Legende hielt. Rein gar nichts.

"Wie ging das?", fragte Val.

"Ach, ich weiß auch nicht … Vater und Onkel wollten nicht, dass ich das erfahre. Ich habe einmal in dem Buch gelesen, als es niemand bemerkt hat … Obwohl ich glaube, Vio hat es gesehen … Ich frage mich, warum sie mich nicht davon abgehalten hat …" Leons Blick wanderte in die Ferne, als er in eine Erinnerung versank, die Val nicht kannte.

"Was stand darin?", drängte Val.

"Ach ja, ähm. Also, es ging um die Löwenstatue. Der Rote Löwe konnte irgendwie das Licht - eines Sterns? Des Löwensterns wahrscheinlich - also das Licht musste durch die Augen der Statue leuchten und genau auf die Person treffen, die er von der Fessel befreien wollte. Denn dann wurde sie gelöst, die Fessel einfach gesprengt. Oder so." Leon zuckte die Schultern.

"Und das war's? Kein Blut?" Val sank in sich zusammen. Die Vermutung, die ihm eben aufgegangen war, war falsch gewesen.

"Doch, klar." Leon nickte. "Der Rote Löwe musste der Statue sein Blut opfern. Erst dadurch wurde sie aktiviert. Ziemlich billig, wenn du mich fragst. Diese Wiedererkennung durch Blut. Als ob er nicht einfach ein Angriffsshmi oder so ausführen könnte und das war's."

Val zupfte an seiner Unterlippe. Er fragte nur interessehalber: "Wer hat diese Statue überhaupt gemacht?"

"Der Schamane der Ashkenazi, soweit ich weiß. Wusste alles über Löwenmagie und so weiter."

Val versank erneut in seine Überlegungen. Blut war der Schlüssel. Das war ihm von Anfang an klar gewesen. Darin lag auch die Lösung für sein Problem, das stand fest. Es fehlte nur noch ein winziges Puzzlestück, dann hatte er es. Er zermarterte sich das Gehirn, rief sich alles ins Gedächtnis, was er bisher gehört hatte.

Leons genervte Stimme nahm er nur am Rande wahr.

"Könntest du mir vielleicht mal helfen? Seit zehn Minuten starrst du nur auf das Blatt. Ich hab keine Lust, die ganze Drecksarbeit zu erledigen. Das bringt doch sowieso nichts, meiner Meinung nach sollten wir-"

"Sei still", murmelte Val.

"Was? Hör mal, Val, nur weil du-" Gerade als Leonhard sich aufregen wollte, hatte Val den Geistesblitz.

"Der Grüne Drache", murmelte er.

"Was ist damit?" Leonhard erhob sich aus seinem Blätterhaufen und riss ihm das Papier aus der Hand. "Was hast du entdeckt?" Diese Zeichnung hatte er doch schon seit Jahren vor Augen, er konnte sie sogar auswendig. Was konnte ihm daran entgangen sein?

"Na hier." Val deutete aufgeregt auf den Roten Löwen am Gipfel des Kreises. "Das bin ich. Und hier …" Er fuhr mit dem Zeigefinger eine vertikale Linie nach unten, bis er auf der gegenüberliegenden Seite des Kreises angekommen war. "Hier ist der Grüne Drache. Du sagtest, er sei mein Gegenstück."

"Ja. Na und?", sagte Leonhard, der immer noch nicht verstand.

"Wenn mein Blut die Statue aktiviert … Die Statue, die Fauces von der Fessel befreien kann - was bewirkt dann das Blut meines Gegenstücks, wenn es die Statue berührt? Das des Drachen?"

Leonhard schnappte überrascht nach Luft. "Du meinst …?"

"Es zerstört die Statue."

"Ich weiß nicht." Leon sah nicht überzeugt aus.

"Aber es muss es sein! Warum sonst hätten Rufus und dein Vater nach ihm verlangt?"

"Das ist so einfach …", begann Leonhard zweifelnd.

" … und doch völlig genial." Eine hoch gewachsene, dunkle Gestalt huschte von draußen ins Zimmer. Sie bewegte sich so leise, als berührte sie den Boden nicht. Der schwarze Umhang bauschte sich und kühle Luft vom Flur wurde den beiden Jungen entgegen gefächert. Der Mann drehte sich zu ihnen um, so dass sein Gesicht vom Kerzenschein erleuchtet wurde. Val erkannte ihn sofort. Die Augen und das ausdrucksstarke Gesicht waren unverwechselbar. Es war der Fremde, der ihn vor ein paar Stunden aus den Fängen der Soldaten gerettet hatte. Jetzt konnte Val ihn genauer betrachten. Er trug einen schwarzen Umhang, der ihm um einige Nummern zu groß war; wahrscheinlich wären seine Arme und Hände vollständig darin verschwunden, hätte er sich die Ärmel nicht hochgekrempelt. Sie gaben den Blick auf schwarze Schatten eines Tattoos frei, verschlungen und großflächig, und Val wollte darauf wetten, dass es sich den ganzen Arm bis zur Schulter hinaufzog. Unwillkürlich - trotz seines unheimlichen Auftretens und der Tatsache, dass er gerade wie aus dem Nichts aufgetaucht war - war Val froh, dass der Mann sie gefunden hatte. Er hatte irgendetwas an sich, das vermuten ließ, dass er einen erheblichen Beitrag zu dieser Geschichte leisten würde.

"Ich hatte ja geglaubt, dass du es erraten würdest, Stark", sagte der Mann und starrte die beiden aufmerksam an. "Der Löwe scheint aber auch nicht auf den Kopf gefallen zu sein."

Die beiden Jungen waren so überrumpelt, dass sie eine Weile nicht antworten konnten. Leonhard fand als erster seine Stimme wieder. "Wer seid Ihr?" Nur Val, der ihn mittlerweile ein wenig besser kannte, hörte die Atemlosigkeit in seiner Stimme. Er war genauso erschrocken wie er selbst.

Der Mann ruckte unwillig mit dem Kopf, als müsste er eine lästige Fliege verscheuchen. Offenbar war das nicht gerade sein Lieblingsthema. "Man nennt mich Blauregen", sagte er schließlich.

"Blauregen", wiederholte Leonhard verächtlich. "Wie die Giftpflanze."

Der Mann verzog die Lippen zu einem freudlosen Lächeln. "Glaub mir, das habe ich in letzter Zeit ziemlich oft gehört."

"Was macht Ihr hier? Was wollt Ihr von uns?", fragte Leonhard. Allmählich fand er zu seinem alten Selbstbewusstsein zurück. Seine Hand wanderte zum Messer in seinem Gürtel.

Blauregen sah es, blieb aber unbeeindruckt. "Spar dir die Mühe. Ich wette, du kannst mit Magie besser umgehen als mit diesem Stück Metall", sagte er.

"Wollt Ihr es ausprobieren?"

"Es würde mir leid tun, dich gleich bei unserer ersten Begegnung die Schmach der Niederlage kosten lassen zu müssen."

Leons Lächeln wurde eine Spur angestrengt.

"Um auf deine Frage zurück zu kommen, ich habe mich gerade ins Haus geschlichen, um die Unterlagen des Professors zu durchwühlen, ähnlich wie ihr eben, als ich euch von der Treppe aus hörte. Ich dachte mir, es wäre interessant, zu sehen, worauf ihr stoßen würdet und habe vor der Tür gewartet. Hin und wieder habe ich mich bewegt und ihr habt mich gehört."

Val starrte ihn an. Der Mann drückte sich wortgewandt aus, sicher hatte er gute Erziehung genossen. Sein Gesicht war glatt und faltenlos. Er war noch nicht alt, höchstens Mitte zwanzig. Wo kam er so plötzlich her?

"Das ist Privateigentum", knurrte Leonhard.

"Aber nicht deins, oder?", gab Blauregen zurück.

"Woher wisst Ihr von der ganzen Sache? Ihr seid kein Gelehrter. Was habt Ihr mit Schieferstein zu schaffen?"

Der Mann ging auf ihn zu. Val fiel auf, dass er sehr leise ging, beinahe lautlos. Eigentlich schien er mehr zu schleichen.

"Und was, wenn ich genau das bin?", fragte er leise. "Ein Gelehrter? Müssen alle Gelehrten alt und weise sein?"

Ja, antwortete Val in Gedanken, das müssen sie.

Blauregen schien die Worte von seinem Gesicht ablesen zu können, denn er lächelte ihm flüchtig zu.

"Interessant, dass Ihr schon mal ausschließt, weise zu sein", bemerkte Leon forsch.

Blauregen antwortete nicht.

Val ergriff das Wort. "Ihr habt mir das Leben gerettet", sagte er.

"Ja." Blauregen wandte ihm das Gesicht zu, sein Blick offen und klar. "Und ich bat dich auch, in der Höhle auf mich zu warten."

Val war sich nicht sicher, ob er sauer war. Er bemühte sich um einen möglichst reumütigen Blick. Blauregens Lächeln wurde breiter.

"Der war das?", fragte Leon ungläubig und starrte den fremden Mann an. "Warum habt Ihr ihm geholfen?"

"Ich weiß, wer er ist", antwortete Blauregen ruhig. "Er ist der Rote Löwe. Er hat sehr viel Macht. Mehr, als er denkt. Ich bin hier, um ihm zu helfen."

Ein wohliger Schauer durchlief Val bei diesen Worten. Auch wenn er ihn nicht kannte, so ahnte er doch, dass Blauregen ein mächtiger Verbündeter sein würde. Seltsamerweise fühlte er keinen Anflug der Scheu, die er Fremden bei der ersten Begegnung normalerweise entgegenbrachte.

"Glaub ihm kein Wort, Val", sagte Leon scharf, als wüsste er genauestens über seine Empfindungen Bescheid. "Er lügt."

Blauregen schüttelte ungeduldig den Kopf. "Im Gegenteil. Ich werde euch helfen, den Drachen zu finden."

"Warum solltet Ihr das tun?", fragte Leon. Seine Hand umklammerte bereits den Griff seines Messers. Val verstand, was ihn störte: Blauregen wusste zu viel.

"Leon, hör zu. Ich handele auf Rosenfelds Befehl und-"

"Auf Rosenfelds Befehl?", wiederholte Val erstaunt.

"Beweist es!", zischte Leon nur.

Blauregen streckte wortlos seinen rechten Arm aus und schob den Ärmel seines Mantels zurück. Val sah ein weiteres Tattoo auf der blassen Haut. Ein Stift, der an der Spitze leuchtete wie die Flamme einer Kerze.

"Freunde der Gelehrten", murmelte Leon überrascht. Das Misstrauen wich aus seinem Blick, als hätte es jemand mit einem Schwamm fortgewischt. "Das hättet Ihr doch gleich sagen können!"

"Also?", fragte Blauregen nur. "Nehmt ihr meine Hilfe an?"

Die beiden sahen sich an. Vals Entscheidung stand bereits fest. Der Mann konnte kämpfen wie einer der Helden aus berühmten Göttersagen und er wusste offensichtlich allerhand Dinge, die ihnen von Vorteil sein konnten. Außerdem war er mit Rosenfeld bekannt, ja, behauptete sogar, von ihm geschickt worden zu sein.

Leon sah die Antwort bereits, bevor er sie gab, und schnitt eine Grimasse. Dann mach doch, was du willst, schien sie zu sagen.

"Wir nehmen ihn mit", sagte Val.

Leonhard nickte nur und drehte sich betont gleichgültiger Miene zu Blauregen um. "Also", sagte er. "Wie finden wir den Drachen Eurer Meinung nach?" Seine Worte waren höflich, aber in seinen Augen saß der Spott.

Blauregen hatte das Gespräch mit sichtlicher Zufriedenheit verfolgt. Er lächelte und diesmal war alle Traurigkeit daraus verbannt. Er wirkte schlagartig um ein paar Jahre jünger. "Folgt mir. Der Zivilschutz wird gleich hier sein."

 

Sie hatten das Anwesen kaum verlassen und einen Schritt in die schützenden Schatten der Hecken getan, als die Wagen des Zivilschutzes um die Ecke bogen. Rund ein Dutzend vollständig gepanzerter Männer sprang zwischen den aufgeschobenen Türen der Gefährte hervor und näherte sich der Villa. Man fackelte nicht lange; mit einem gezielten Tritt war die Tür aus den Angeln gehoben und der Trupp stürmte das Gebäude. Während sie drinnen beschäftigt waren und jeden Winkel nach den Eindringlingen absuchten, hatten die drei Einbrecher alle Zeit der Welt, sich aus dem Staub zu machen.

"Na, beweise ich damit nicht, dass ich auf eurer Seite stehe?", fragte Blauregen.

"Ihr beweist damit nur, dass Ihr nicht auf Seiten des Zivilschutzes steht", antwortete Leonhard.

 

Die Nacht war erhellt von Sternen. Blauregen, der sich eine Zigarette angezündet hatte, lief mit wehendem Mantel voraus die Straße entlang. Die beiden Jungen hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

"Wo gehen wir überhaupt hin?", fragte Leonhard und sah sich misstrauisch um. Sie waren schon eine ganze Weile in südlicher Richtung unterwegs, die Behausungen wurden einfacher und standen gedrängter beieinander, das war alles, was Val feststellen konnte. Aber Leon kannte die verschiedenen Stadtviertel Amalthiens und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, passte es ihm überhaupt nicht, wohin Blauregen sie führte.

"Zu mir nach Hause", sagte der Mann.

Endlich sah Val ein Ortsschild. Finsterhain hieß es da. Kein sehr vielversprechender Name. Die wenigen Straßenlaternen, die funktionierten, warfen ein schummriges Licht auf ihre Umgebung. Mehr als einmal hatte Val das Gefühl, dass sich Schatten aus der Dunkelheit lösten und tiefer in den gedrungenen Gassen verschwanden, wenn sie sich näherten. Die Häuser wirkten allesamt reif für die Abrissbirne, bei vielen fehlten Fenster und Türen und manche sahen so aus, als würden sie zusammenstürzen, soblad man nur einen Fuß hineinsetzte.

Trotz allem war Val neugierig zu erfahren, wie der Mann lebte. So verdrängte er die Angst, hinter jeder Ecke auf einen bis auf die Zähne bewaffneten Banditen zu stoßen.

"Schau dir diese Gegend an", murmelte Leonhard und machte sich nicht die Mühe, die Stimme zu dämpfen. "Finsterhain. Ich hab ja gehört, dass es so etwas gibt, aber glauben tut man es ja doch nicht …"

Val achtete nicht auf ihn. Wenn Blauregen nicht gewesen wäre, wäre er von den Soldaten sicherlich umgebracht worden. Dazu fielen ihm ein paar Fragen ein.

"Blauregen, wegen vorhin-", begann er.

"Nicht jetzt, Val. Warte, bis wir zuhause sind."

Val fragte nicht, woher er seinen Namen kannte. Irgendwie schien Blauregen alles zu wissen.

Eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter. Es war nur schwierig, Leonhard zu ignorieren, der ihn mit Handzeichen und hüpfenden Augenbrauen davon zu überzeugen versuchte, schleunigst umzudrehen und wegzulaufen.

"Hier ist es. Trautes Heim, Glück allein." Blauregen kniete sich auf den Boden und hob das darin eingelassene Gitter an. Val starrte das Haus, zu dem es gehörte, entsetzt an. Ein Feuer hatte darin gewütet; Wände und Fensterrahmen waren völlig verkohlt. Ein zu verkaufen-Banner war an der Vorderseite angebracht, aber Val war sich sicher, dass niemand auf die Anzeige antworten würde, der noch ganz bei Trost war. Leon schaute ihn an und sein Blick sagte deutlich, was er davon hielt, in dieses Loch zu steigen. Nämlich gar nichts.

Val zuckte nur die Schultern und ging voran. Blauregen hatte nicht all diese Strapazen auf sich genommen, um sie hier in diesem gottverlassenen Flecken Erde hinterrücks abzumurksen. Nacheinander kletterten sie durch das Gitter ins Innere des Hauses. Der Keller war vom Feuer verschont geblieben, er sah sogar einigermaßen wohnlich aus, nur etwas kühl war es. Val fröstelte und rieb sich die Arme. Ein Haufen Möbel, von denen kein Stück wirklich zum anderen passte und die Hälfte aussah wie frisch vom Sperrmüll, machten den Raum noch kleiner, als er wirklich war. Die Wände waren mit Zeichnungen und mannshohen Sternkarten bemalt worden. In der Mitte des Raumes stand ein Eimer. Sein Zweck sollte sich Val nur ein paar Sekunden später offenbaren, als ein dicker Tropfen Regenwasser aus Löchern in der Decke auf seinen Kopf tropfte.

"Hier wohnt Ihr?", fragte Leonhard verächtlich und stolperte prompt über den Teppich, der eine kniehohe Falte geworfen hatte.

"Nicht ganz die Villa eines Schiefersteins, nicht wahr?", sagte Blauregen. Er stand vor seinem Schreibtisch, stopfte ein paar Sachen in seinen Umhang und holte andere daraus hervor. Abwechselnd blickte er aus dem Fenster und auf den Boden, als würde er auf etwas warten. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und bald schon erfüllte ihr Qualm den ganzen Raum. Val sah, wie er mit der Hand an seinen Hals griff und dort mit den Fingern etwas umschloss. Eine Halskette oder ein Medaillon vielleicht. Sein Blick schweifte in die Ferne und erneut meinte Val, diese Traurigkeit darin zu sehen.

"Habt Ihr das alles gemalt?", fragte Leonhard, der vor den Bildern an der Wand stand. Er klang wider Willen beeindruckt.

"Oh ja, gefallen sie dir?"

"Die sind gut." Das Kompliment schien ihm nur schwer über die Lippen zu kommen. Leonhard stand vor einer Sternkarte und starrte sie so eindringlich an, als wollte er sie mit seinem Blick in Brand setzen. Auch Val fiel die Liebe zum Detail und die Kunstfertigkeit auf.

"Wo habt Ihr das gelernt?"

"Weit weg."

Leonhard schnaubte. Blauregen sah ihn kurz an und fügte hinzu: "Ich bin Kalligraph."

"Immer?", gab Leon zurück und kniff die Augen zusammen. "Oder nur unter anderem?"

Blauregen lachte, er schaute zu Boden und seine braun gelockten Haar fielen ihm in die Stirn. Man sah nur mehr die fein geschnittene Nase in seinem Profil. "Unter anderem", sagte er schließlich.

Leon schürzte die Lippen. Ungeduldig tippte er mit dem Fuß auf den Boden. "Und nun? Habt Ihr alles? Sollten wir uns nicht auf die Suche machen?"

"Jetzt? Mitten in der Nacht?", meinte Blauregen milde überrascht. "Ich dachte, ihr wolltet vielleicht schlafen. Morgen haben wir noch genug Zeit, die nächsten Schritte zu planen."

"Hier schlafen?", wiederholte Leonhard. Sein Entsetzen war beinahe beleidigend.

Hinter ihnen raschelte es und Val machte vor Schreck einen Luftsprung, als etwas Großes, Haariges sein Bein streifte. "Eine Ratte!" Eigentlich hatte er nichts gegen diese Tiere, auf Nusnuth wimmelte es nur so von ihnen, aber dieses Exemplar war wirklich ungewöhnlich groß.

Blauregen dagegen lächelte erleichtert, ging in die Knie und ließ das Tier seinen Ärmel hinaufklettern. "Da bist du ja, Ratte."

"Die könnte doch sämtliche Krankheiten haben", meinte Val und schaute ungläubig zu, wie die Ratte auf seinem Arm hin und herlief.

"Krankheiten?", ertönte eine piepsige Stimme. "Pass auf, was du sagst, Junge!"

Val setzte sich vor Erstaunen. Die Ratte hatte das gesagt!

"Oh, und auch noch eins der sprechenden Exemplare." Leonhard verdrehte die Augen und schmiss sich aufs Sofa. Für ihn war die Erkenntnis, dass Ratten sprechen konnten, offenbar nichts Neues. "Heute Nacht werden wir kein Auge zu tun."

"Warum sollten die Sterne Magie auch nur uns Menschen geben?", sagte Blauregen leise.

"Die stellen eh nur Unsinn damit an", fauchte die Ratte. Dann wandte sie sich an Blauregen und senkte ihre Stimme. "Ich konnte es kaum glauben, als ich deine Stimme hörte. Und als dann der stinkende Qualm durch unsere Gänge zog, war es klar! Wir dachten alle, du seist längst tot! Oder Schlimmeres! Wo hast du dich die ganze Zeit rumgetrieben? Stimmt es, dass du dich der Nächtlichen-?"

Blauregen drehte sich leicht, dass er den Jungen den Rücken zukehrte. Ein deutlicheres Zeichen hätte er nicht geben können, dass er sie vom Gespräch ausschließen wollte.

Val ließ sich aufs Sofa sinken. Er war hundemüde.

Leon fing seinen Blick auf.

"Hältst du das für eine kluge Idee?", fragte er. Dabei sprach er in Zimmerlautstärke. Er vertraute offenbar darauf, dass Blauregen mit Reden und Zuhören beschäftigt war.

"Keine Ahnung", antwortete Val wahrheitsgemäß und schloss die Augen. Er war froh nach diesem langen Tag endlich in (so etwas wie) einem Bett angekommen zu sein. Auch wenn die Kissen nach kaltem Rauch und Regenwasser rochen. "Was bleibt uns anderes übrig?"

"Wir können es immer noch auf eigene Faust probieren", sagte Leon eindringlich.

"Hm."

"Der Typ ist doch kaum älter als wir! Zwanzig vielleicht."

"Ja. Er ist mir aber lieber als Rufus oder dein Vater. No offence."

Leon ging nicht darauf ein. "Und dann - ich hab gesehen, wie er kämpft. Das ist östliche Kampfkunst. Die kann er nur dort gelernt haben. Das ist nicht-"

"Glaubst du?", fragte Val und öffnete ein Auge. Diese Neuigkeit fand er interessant. Auch ihm war der leichte Akzent, der auf den östlichen Kontinent hindeutete, in der Stimme des Fremden aufgefallen.

"Ja", sagte Leon ungeduldig, er hatte eine andere Reaktion erzielen wollen. "Val, der Typ könnte gefährlich sein! Was wissen wir denn schon von ihm?"

"Er ist doch Freund der Gelehrten, wie du gesagt hast."

"Jeder hätte ihm das tätowieren können!"

"Willst du etwa sagen, du könntest es mit ihm nicht aufnehmen?", fragte Val und musste ein Grinsen unterdrücken. Leon verdiente es, dass er es ihm ein bisschen heimzahlte.

"Mach dich nicht lächerlich." Leonhard gab es auf, ihn umstimmen zu wollen; er schimpfte undeutlich vor sich hin und kehrte ihm den Rücken zu. Val schloss die Augen erneut. Es war beinahe vier Uhr am Morgen. In seinem Kopf drehte sich alles. Er fragte sich, ob er ab jetzt jeden Tag so spät ins Bett kommen würde. Und ob es jeden Tag ein anderes Bett sein würde. Dann schlief er ein. Die Stimmen des Mannes und der Ratte begleiteten seinen Schlaf.

 

Val träumte.

"Schnell, Val, schnell!" Blauregens Stimme war angstverzerrt. Sie waren an einem düsteren Ort und Nebelschwaden umwaberten sie. Vor ihnen lauerte ein dunkler Abgrund.

Val blickte die fliegenden Schemen um sie herum an, unzählige wirbelnde Sandkörner in einem Sturm. Plötzlich meinte er, sie zu erkennen. Sternkarten, wie Blauregen sie malte.

"Löwen!", rief er erstaunt.

Blauregen schaute hektisch über die Schulter und drängte ihn näher an den Abgrund, etwas schien ihm ungeheure Angst zu machen. "Wir müssen ihn finden! Den Roten. Konzentrier dich!"

Val wandte den Kopf hin und her, versuchte die Namen schnell genug zu entziffern. Aber sie flogen so schnell, dass er ihnen kaum mit den Augen folgen konnte. Blauregen hatte sich noch mal umgedreht, die Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. "Schnell, Val, schnell!"

Und dann sah Val ihn. Einen Roten Löwen, der für ihn aus der Menge irgendwie hervorstach. Einer, der heller und intensiver strahlte als die anderen. Und dann sah er seine braunen Augen und seinen Namen. Valentin Rabenfeder.

"Da ist er, Blauregen! Sieh doch, da ist er!"

Er stellte sich auf die Zehenspitzen und fischte mit der Hand durch die Luft, aber sie entwischte ihm. Er kam mit den Zehen immer näher an den Abgrund. Dann bekam er die Karte zu fassen, verlor aber gleichzeitig das Gleichgewicht und fiel vornüber. Merkwürdigerweise hatte er keine Angst. Im Fallen drehte er die Karte um. Ein schwarzhaariger Junge mit dunklen Augen blickte zurück. Er kannte ihn, er hatte ihn schon einmal gesehen. Sein Lächeln war leicht spöttisch. Wo sein Name hätte stehen sollen, war nur leerer Raum.

"Ich hab gehört du suchst mich, Löwe", hallte eine Stimme in seinem Kopf wider. "Lustig, wenn man bedenkt, dass du es warst, der mich fortgejagt hat."

Dann öffnete der Junge den Mund und grünes Feuer drang zwischen seinen Lippen hervor. Es versengte Vals Gesicht und seine Hände, die er schützend vor sich ausstreckte. Brandblasen entstanden auf seiner Haut.

Er schrie.

 

Ratte

Als er aufwachte, schrie er noch immer. Blauregen stand über ihn gebeugt, der Blick seiner blauen Augen schwer besorgt. Dem Schmerz seiner Wange nach zu urteilen, hatte er ihm gerade eine geklebt. Leonhard stand auf der anderen Seite des Sofas und starrte ihn an. Blauregen rüttelte Val an der Schulter, damit er wieder zu sich kam. Er hörte auf zu schreien, als er erkannte, wo er war - es war Blauregens Keller, er befand sich nicht in der Luft und niemand spie Feuer auf ihn - und versuchte sich aufzusetzen. Sein Hemd klebte in feuchten Flecken an seinem Körper und er fühlte sich völlig entkräftet als hätte er gerade einen Marathonlauf hinter sich. Er blickte auf seine Arme, schob die Ärmel hoch. Kein Feuer. Die Haut war unversehrt. Zitternd ließ er sich zurück in die Kissen sinken. Es war noch früher Morgen, das fahle Licht der Dämmerung schien durch die Fenster.

"Alptraum", brachte er mühsam hervor.

Leonhard stieß ein erleichtertes Lachen aus, offenbar hatte er Schlimmeres erwartet. Blauregen aber sah Val nur an und seine blauen Augen schienen mehr zu wissen, als er preisgab. Er richtete sich auf und ließ seine Schulter los.

"Die Träume haben also bereits angefangen", murmelte er.

"Ist das normal?"

Blauregen antwortete nicht, sein Gesicht glich einer steinernen Maske.

"Geht's?", fragte er knapp.

Val nickte. Er zitterte immer noch. Die Bilder seines Traums waren ihm so real vorgekommen. Das Feuer so echt.

"Gut." Der Mann blickte ihn unverwandt an, als fürchtete er, dass er jeden Moment in Ohnmacht fallen könnte oder so etwas in der Art; schließlich wies er mit einer einladenden Geste auf einen kleinen Holztisch, der - Val war sich ganz sicher - gestern noch nicht dort gestanden hatte.

"Hab ich heute Nacht besorgt", erklärte er. "Hab normalerweise nicht so viel Besuch."

"Oh, Wunder", kam Leonhards sarkastischer Einwurf. "Wo besorgt?", fragte er dann, eine Spur beunruhigt.

"Wollt ihr Frühstück?"

Erst da merkte Val, wie hungrig er war und nickte. Seit sie von den Gelehrten abgehauen waren, hatte er nichts mehr zwischen den Zähnen gehabt.

"Hab leider nicht viel da, was ich euch anbieten könnte … Hier hab ich Pulverkaffee, oh und hier ist sogar noch ein wenig Brot … doch, doch, ist noch haltbar."

Das Brot war alt und steinhart. Leonhard wollte es noch nicht einmal anfassen. ("Wer weiß, wie viele Ratten schon da dran genagt haben?")

Val trank normalerweise keinen Kaffee, aber jetzt brauchte er ihn, um sich zu beruhigen. Blauregen nahm überhaupt nichts weiter zu sich als eine Tasse des dampfenden Getränks. Und einer Zigarette.

Leonhard musterte ihn feindselig und fuchtelte mit der Hand durch die Luft, um den Rauch zu vertreiben. "Schon mal über die Schäden von Passivrauchen nachgedacht?"

Blauregen blies gelassen Rauch in die Luft. "Meiner Meinung nach musst du mehr Angst vor den Hirudines haben als vor Lungenkrebs."

Dazu sagte Leonhard nichts.

"Du hast mir nicht gesagt, dass der Junge in der Sänfte der Drache war", ließ Val beiläufig fallen.

Leonhard verschluckte sich an seinem Kaffee, hustete und spuckte ein paar Tropfen über seinen Teller. "Er war was?"

Blauregen hatte sich nicht verschluckt, aber er verspannte sich merklich. Die Hand mit der Tasse, die er gerade zum Mund geführt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. "Woher weißt du das?"

"Ich hab von ihm geträumt", sagte Val. "Er hat grünes Feuer auf mich gespien."

"Was?", fragte Leon noch einmal und sein Blick schnellte von einem zum anderen.

Blauregen tippte nachdenklich mit einem Finger gegen die Kaffeetasse und sein Blick wanderte in die Ferne. "Ich habe es dir nicht gesagt …", antwortete er schließlich, " … weil ich dachte, du wärest sicher enttäuscht, dass du ihm so nahe gekommen bist und ihn doch verloren hast."

"Ihr wusstet es!", sagte Leonhard und es klang wie eine Anklage.

Blauregen nickte nur. "Seinetwegen halte ich mich überhaupt erst in Amalthien auf. Auf euch bin ich eher zufällig gestoßen."

"Woher wusstest du, wer ich bin?", fragte Val. Er hatte sich eher unbewusst entschieden, den jungen Mann zu duzen. Es erschien ihm passender.

Blauregen sah ihn nur an. "Wenn du mal so viel von der Welt gesehen hast wie ich, weißt du den einen Löwen unter Hunderttausenden zu erkennen." Sein Blick, als er das sagte, war bestimmt. Val fragte sich unwillkürlich, was es war, was er alles gesehen hatte.

"Ich dachte, wir spielen hier mit offenen Karten!", sagte Leonhard ärgerlich. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. "Was gibt es noch, was Ihr wisst, aber wir nicht?"

Der Mann lächelte leicht. Er blickte hinab auf seine Handflächen und sagte dann: "Ich habe eine Ahnung, wo der Drache sich aufhält."

Leon blinzelte. "Das sagt Ihr jetzt?", schrie er.

"Aber er wird gut geschützt sein."

"Warum?", fragte Val.

Blauregen ignorierte den zeternden Leonhard und wandte sich ihm zu. "Was weißt du über die Grünen Magier, Val?"

Val hob die Schultern, dachte an Zierkies und Fahnenbruck und verzog automatisch das Gesicht.

"Sie sind ein Haufen ignoranter, eingebildeter Schwachköpfe", sagte Leon. Val musste daran denken, dass er von ihm einmal dasselbe gedacht hatte und grinste.

"Ganz genau."

"Wie jetzt?"

Blauregen lehnte sich im Stuhl zurück. Beinahe wie von selbst drehten seine Finger die nächste Zigarette. "Der Drache hat bei den Grünen eine besondere Stellung inne. Vielleicht, weil sie uns seit jeher unterlegen waren, und wahrscheinlich, weil der Löwe als das mächtigste Zeichen gilt … der Drache demnach als das zweitmächtigste. Als nun der Löwe geboren wurde", hier nickte er Val zu, "hatten die Grünen ihren lang ersehnten Drachen. Sie konnten sich ihn errechnen, versteht ihr. Nun von Anfang an hielten sie seine Identität geheim. Durch das weniger kluge Vorgehen der Gelehrten Stark und Zodiak - ("Das ist nicht ihre Schuld!") befürchten sie nun, vom Löwen gehe Gefahr für ihren ach so großen Helden aus. Und natürlich auch aufgrund dessen, was in der Vergangenheit zwischen den beiden vorgefallen ist. Gestern haben sie ihn deshalb in Sicherheit bringen lassen. In ihre Hochburg."

Leonhard ging ein Licht auf. "Alangium", sagte er leise. Er sah nicht glücklich aus, schlimmer noch, er ließ entmutigt die Schultern sinken, als er das sagte. Ein wahrhaft seltener Anblick bei dem Gelehrtensohn.

"Ganz genau."

"Alangium?", fragte Val, der nur Bahnhof verstand.

Blauregen richtete seinen nachdenklichen Blick auf ihn und antwortete: "Die Hauptstadt der Grünen Magier", sagte er langsam. "Alles läuft über Magie. Nicht alle leben dort, dafür wäre es viel zu klein – aber die heimatverbundensten könnte man sagen. Die Patrioten. Deshalb haben sie auch die Monarchie noch nicht abgeschafft, die sie ihrer Meinung nach von uns abgrenzt."

"Schwachköpfe", murmelte Leonhard.

"Die Stadt soll auf den Ursprünglichen Hügeln liegen, sagt man ... Uns ... Roten Magiern ist der Zutritt für gewöhnlich verwehrt. Aber ich keine einen Weg."

"Natürlich", schnaubte Leonhard.

"Welchen?", fragte Val.

"Wann gehen wir?", fragte Leonhard und sprang auf. "Wir haben meiner Meinung nach schon genug Zeit vertrödelt."

Val bezweifelte, dass sie ohne Plan einfach so mir nichts, dir nichts losziehen würden, aber Blauregen überraschte ihn. Er erhob sich von seinem Stuhl und vergrub die Hände in den Manteltaschen.

"Wir warten nur noch auf die Ratte, dann geht’s los."

Leonhard war noch immer misstrauisch. "Woher weißt du das überhaupt? Dass der Drache in Alangium ist."

"Ich habe Kontaktmänner dort. Gestern ist ein Falke angekommen." Er nickte zu einem Brief auf dem Schreibtisch. Der Absender hatte leuchtend rote Tinte benutzt, die Vals Augen tränen ließen.

"Kontaktmänner", grummelte Leonhard. "Grüne Magier. Ich sagte doch, dem Typen ist nicht zu trauen."

"Rote Magier", korrigierte Blauregen geduldig. "Und jetzt hör endlich auf, hinter jeder noch so winzigen Begebenheit einen Anschlag auf dein Leben zu erkennen. Wir wissen doch beide, dass ihr ohne mich überhaupt keine Hoffnung habt, nach Alangium zu kommen."

Leon hob drohend den Finger. "Ein krummes Ding, Mann - und wir sind über alle Berge."

Blauregen schmunzelte bloß.

In dem Moment erschien besagte Ratte in ihrem Loch, streckte die Nase heraus und schnupperte. Dann lief sie auf die Gruppe zu.

"Hab den andern gesagt, dass ich eine Zeit lang weg bin. Deshalb hat es so lange gedauert", erklärte sie. "Rieche ich hier Kakao?"

Blauregen warf ihr ein Stück Brot zu. Sie schlang es in einem Happs hinunter.

"Also dann. Worum geht's?" Die Ratte stellte sich auf die Hinterpfoten und blickte erwartungsvoll zu ihnen herauf.

Blauregen mied ihren Blick und schaute aus dem Fenster. Es war noch früh am Morgen, der Himmel beinahe weiß und Val konnte sich genau vorstellen, wie sich Luft und Feuchtigkeit auf der Haut anfühlen würden. "Es gibt doch da ein paar Schiffsratten in deiner Familie, oder, Ratte?", fragte Blauregen.

"Klar, da wären Vetter Balduin und Onkel Parzival und sein Sohn Lanzelot …", zählte Ratte an ihren Fingern ab. "Seit letzter Woche ist auch mein missratener Cousin dritten Grades dabei, Heribert. Mein Gott, ich hab ihn ewig nicht mehr gesehen, ich frage mich, wie es ihm-"

"Gut", würgte der junge Mann sie ab. "Ratte, wir müssen nach Alangium."

Die Ratte verstummte. Dann sagte sie umso heftiger: "Nein! Nein, nein, nein! Alles, aber nur das nicht! Nicht Alangium! Nicht mit den Überfällen, Blauregen! Nicht mit Adair!"

Blauregen schüttelte den Kopf. Er hatte sich bereits entschieden. "Es muss sein, Ratte. Sagst du nein, weil du dich um mich sorgst? Du weißt, ich kann auf mich selber aufpassen."

"Natürlich sorge ich mich", grummelte die Ratte. "Nur verständlich nach allem, was passiert ist. Wir wundern uns alle, wie du es geschafft hast, nicht den Verstand zu-"

"Es ist gut!", fuhr Blauregen ihr über den Mund und seine Augen blitzten. Val spannte sich unwillkürlich an. Mit der Wut zusammen war etwas Gefährliches in Blauregens Gesicht getreten. Was gab es in seiner Vergangenheit, das sie nicht hören durften?

Leonhard kniff argwöhnisch die Augen zusammen, bereit, jedem Anlass nachzugehen, ihm zu misstrauen.

"Du musst uns helfen", sprach Blauregen weiter. "Du stehst in meiner Schuld."

Die Ratte zeigte die Zähne und ihr nackter, rosa Schwanz zuckte wütend über den Boden. "Das ist Erpressung."

Blauregen lächelte ein schiefes Lächeln. "Seit wann sind meine Mittel fair?"

"Aber der Löwe", sagte die Ratte und nickte zu Val. "Willst du ihn einer solchen Gefahr aussetzen?"

Val machte den Mund auf - warum durfte jeder, ja sogar jede dahergelaufene Ratte in dieser Stadt, wissen, wer er war? - aber Blauregen ließ ihn nicht zu Wort kommen.

"Darum geht es ja. Wir müssen. Wir müssen nach Alangium. Wir müssen jemanden treffen, der dort wohnt." Blauregen sah Val vielsagend an und deutete auf die Ratte.

"Komm schon, Ratte", bat Val, der den Hinweis verstanden hatte.

"Ja, stell dich nicht so an", sagte Leonhard mürrisch.

"Ich versteh schon." Die Ratte atmete heftig, sie sah ihnen allen nacheinander ins Gesicht und ihr Fell sträubte sich. "Ich bin überstimmt. Also gut, also gut. Ihr habt es ja nicht anders gewollt, also folgt mir. Aber sagt hinterher nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!"

"Danke, Ratte", sagte Blauregen, lachte und folgte ihr mit wehendem Mantel aus dem Verschlag.

Val war beeindruckt, wie spielend leicht er die widerwillige Ratte hatte überzeugen können. Außerdem hatte er das Wort Schiff vernommen und er hätte jedem noch so verwegenen Plan zugestimmt, nur um endlich wieder auf einem zu stehen.

 

Licht

"Warum brauchen wir die Hilfe der Ratten?", fragte Leon, als sie durch das Loch auf die Straße kletterten. Die Luft war tatsächlich so kalt, wie Val es vorhergesehen hatte, aber nach seinem feurigen Albtraum war ihm das gerade recht. Er atmete tief durch. Er fühlte, wie er sich langsam beruhigte.

"Wir könnten uns doch einfach auf dem Schiff verstecken, das nach Alangium fährt."

"Und wieder einmal", sagte Blauregen und lächelte fast, "unterschätzt du die Nützlichkeit nichtmenschlicher, nichtmagischer Wesen. Ohne die Ratten wären wir aufgeschmissen."

"Hört, hört", piepste die Ratte und lief los.

Unter ihrer Führung ließen sie das verarmte Viertel Finsterhain, in dem der Kalligraph hauste, bald hinter sich und schlugen den Weg Richtung Hafen ein. Blauregen hielt einen vorbeirumpelnden Karren an, der Mais, Kartoffeln und Ziegen an Bord gelagert hatte und bat den Fahrer, sie ein Stück weit mitzunehmen. Der Bauer warf einen wenig begeisterten Blick auf die bunt zusammengewürfelte Truppe, aber ein paar klimpernde Goldmünzen, die Blauregen ihm unauffällig zusteckte, überzeugten ihn schließlich.

"Ratten sind viel besser als Menschen", sagte die Ratte, als sie unbequem zwischen Kartoffelsäcken und blökenden Ziegen Platz genommen hatten. Sie selbst kletterte auf einen der grauen Säcke, reckte die Nase in den Wind und hielt Ausschau. Leons Vorschlag hatte sie sichtlich verärgert. "Wir fangen nicht grundlos irgendwelche Kriege an, die dann zweihundert Jahre dauern, oder sagen >hey, die schwarzen Ratten unter uns sind die besseren, deshalb sollten sie das übrige Rattenvolk dominieren und zu Sklaven machen!< Das wirst du von uns niemals hören!"

Leonhard hob verächtlich die Brauen. "Ihr seid so klein, dass wir euren Krieg wahrscheinlich nicht mal bemerken würden", entgegnete er. ">Oh, seht mal, zwei Ratten spielen Schwertkämpfen miteinander, ist das nicht putzig?< Das würden wir darauf sagen."

"Ich zeig dir gleich, wie putzig ich bin", fauchte die Ratte, sprang auf ihn zu und zeigte die Zähne. Blauregen klaubte sie schnell von dem Kartoffelsack herunter, bevor sie einen Angriff unternehmen konnte. Er strich ihr mit dem Zeigefinger einmal über den Rücken, vom Kopf bis zur Schwanzspitze, und wieder zurück. Sie machte sich lang, klackerte genüsslich mit den Zähnen und alle Gedanken ans Kämpfen waren vergessen.

"Also, wo treffen wir Lanzelot und Parzival?", fragte Blauregen. Der Wagen war an die Seite gefahren, der Bauer nickte ihnen zu und sie sprangen ab. Val klopfte sich den Staub von der Hose und schaute sich um. Es war dasselbe Meer, das er auf Nusnuth jeden Tag vor Augen gehabt hatte, und doch erschien es ihm anders. Die Schiffe im Hafen waren insgesamt größer und wuchtiger. Sie waren für lange Transportstrecken gebaut worden und hatten nicht dieselbe Wendigkeit eines Fischerbootes. Außerdem gehörten sie ein jedes einer anderen Handelsgesellschaft an, da gab es die Oststaaten-Föderation-Handelsgesellschaft, die Verona-Fisch-Handelsgesellschaft, die Untere-Landesbrücken-Gesellschaft …

"Da sind sie schon." Die Ratte deutete nach vorn.

Auf einem Hafendock, an dem man für gewöhnlich die Schiffe vertäute, saßen zwei haselnussbraune Ratten, die sich allein durch ihre Kleidung voneinander unterschieden. Die eine trug einen schwarzen senkrecht stehenden Hut, die andere eine Weste mit einem aufgestickten roten Schiff darauf. Als sie ihre Cousine mit ihren Begleitern sahen, salutierten sie im selben Augenblick. Ein lustiger Anblick.

"Lässt sich schon wieder herumtragen wie n' Schoßhündchen", polterte die Ratte mit dem Hut. Der Stimme nach zu urteilen ein älteres, männliches Exemplar. "Würd mich nicht wundern, wenn sie sich bald in einen Käfig sperren lässt."

"Ich hab ihr Faible für Menschen auch nie verstanden", sagte der andere, dessen Stimme merklich jünger klang. "Wobei Blauregen ja zu den angeseheneren Zweibeinern gehört."

"Passt auf, dass ihr euch eure geschwätzigen Münder nicht fusselig redet!", sagte die Ratte bissig und kletterte an Blauregen hinunter. Sie wuselte zum Schiffsdock. Der ältere Rattenkapitän schlug ihr zur Begrüßung auf die Schulter. "Groß bist du geworden, Leda! Freut mich, dass du uns mal wieder besuchen kommst!"

"Ich komme wegen des Auftrags, Onkel."

Beim Wort Onkel warf Val Leonhard einen verstohlenen Blick zu. Ob er auch an Rufus denken musste? Ob er ihn, unausstehlich wie er auch war, vermisste? Immerhin, man musste ihm zugutehalten, dass er sie stets gut geführt hatte. Aber es war unmöglich zu erkennen, was er dachte, und schließlich wandte Val den Blick ab.

"Diese drei Männer müssen auf dem schnellsten Wege nach Alangium", sagte Leda.

"Alangium, hm?" Zum ersten Mal besah sich der Kapitän die beiden Jungen. "Männer, nennst du das? Nackte Würmchen sind das noch in meinen Augen."

"Sie haben schon einige Abenteuer bestritten."

Lanzelots Augen leuchteten unwillkürlich auf und sein Blick wurde merklich interessierter. "Abenteuer, sagst du? Na für die bin ich immer zu haben. Dürft ihr mir gern erzählen, Jungens. Und da ihr Freunde meiner lieben Leda seid, will ich mal ein Auge zudrücken." Er zwinkerte.

"Die Überfahrt ist gefährlich", warf Parzival, die jüngere Ratte, ein. Er strich sich besorgt über die zitternden Schnurrhaare. "Die Barbaren sind umtriebig in letzter Zeit."

"Was sind das für Barbaren?", fragte Val neugierig.

"Was das für Barbaren sind?", donnerte Lanzelot entgeistert und fiel vor Schreck beinahe von der Dockstation. Er umschloss den Griff seines Säbels fester und richtete seinen Hut gerade. "Herrgott, will nach Alangium und kennt die Barbaren nicht mal! Blauregen, wie kannst du nur?"

"Wir hatten bisher keine Zeit, irgendwas zu erklären", würgte Blauregen ihn ab. "Wir sind bereits auf der Flucht. Auf dem Schiff holen wir das nach."

"Ja, vermutlich, wenn die ersten Langbärte den Weg hinauffinden", grummelte die Ratte. Er drehte sich einmal um sich selbst und kletterte dann langsam, mit seinem dicken Hintern zuerst, die Dockstation hinab. "Aber genug geredet, hier kommt das Schiff!"

Val wirbelte herum. Tatsächlich, ein prächtiger Dreimaster, ganz aus kastanienfarbenem Holz gefertigt, lief gerade in den Hafen ein. Die Wellen teilten sich an seinem Bug und gaben den Blick auf die Galionsfigur frei, eine geschwänzte Meerjungfrau mit wallendem roten Haar. Ein wenig versetzt darunter ließ ein schräger Schriftzug den Namen des Schiffes verlauten.

"Die Admiral", sagte Val leise. Seine Hände begannen zu zittern. Er wollte nur noch hinauf.

 

Im Gehen erklärte Blauregen Val schnell den Ablauf ihrer Reise. Um sich vor unwillkommenen Gästen zu schützen, machte die Regierung von Alangium ein Geheimnis daraus, welche Schiff in ihren Hafen einliefen. Nur die Ratten, die sich unter losen Dielenbrettern und in Bullaugen versteckten und die Gespräche der Besatzungsmitglieder belauschten, wussten Bescheid. Diese Informationen verkauften sie für einen gewissen Preis an Menschen weiter, aber nur denen, denen sie vertrauten.

Mit der Admiral fuhren sie nun den ersten Teil der Strecke, ehe sie in Farnheim auf ein anderes Schiff wechseln würden, welches sie nach Alangium bringen würde.

Der Kapitän des ersten Schiffes hatte kein Problem mit fremden Passagieren.

"Besser als blinde Passagiere, möchte ich meinen! Hauptsache Ihr könnt anständig zahlen", sagte er grinsend. Zur Antwort drückte ihm Blauregen ein paar goldene Münzen in die Hand.

Die Ratten huschten an Bord und wurden freundlich begrüßt.

"Ratten bringen Glück", sagte ein Matrose in einem rot-weiß gestreiften Hemd und begutachtete sie mit einem zahnlosen Grinsen. Lanzelot machte sich ein Bild vom Zustand des Admirals und bemäkelte hier und da zu viel Dreck und Staub, eine zu lose Vertäuung und löchrige Dielen. Val sah, dass obwohl die Seemänner hinter seinem Rücken über ihn lachten, sie eifrig nickten, wenn er sich zu ihnen umdrehte und sie auf etwas hinwies. Dann versprachen sie ihm, dass sie alles sofort in Angriff nehmen und zu seinen Wünschen verbessern würden. Eine glückbringende Ratte durfte man nicht verärgern, vor allem nicht die Rattenopas.

Val freute sich, endlich wieder auf schwankendem Boden zu stehen. So wie Reisende das Festland brauchten, hatte er raue Holzplanken unter den Füßen vermisst. Er bewegte sich schnell und behände, umfasste die Masten und strich mit den Fingern über die Reling. Endlich war er wieder zuhause. Es war fast so schön, wie wieder auf Nusnuth zu sein. Beinahe konnte er vergessen, was er in nächster Zeit noch alles zu tun hatte, bevor er nur daran denken konnte, auf die Insel zurückzukehren.

"Ich mag keine Schiffe", sagte Leonhard mürrisch. "Ich werde immer seekrank."

Val drehte sich zu ihm um. "Wie kann man keine Schiffe mögen? Du hast doch die Mondlicht gesehen."

Leon schnaubte und fragte einen der Matrosen, wo es hier die nächste Toilette gäbe. Der schaute ihn an und brach in schallendes Gelächter aus.

Blauregen schien sich ebenfalls nicht ganz wohl in seiner Haut zu fühlen. Er bewegte sich unsicher übers Schiffsdeck und suchte immer wieder Halt an der Reling. Ein ungewohnter Anblick.

Leda verabschiedete sich von ihm, sie würde nicht mit ihnen kommen. Blauregen betrachtete sie fast zärtlich und drückte sie kurz an sich. Sie kuschelte sich in sein Hemd.

"Komm bald wieder", sagte sie. Als sie davonhuschte, glänzten ihre schwarzen Knopfaugen verdächtig.

Blauregen stand verloren an der Schiffswand und schaute ihr nach, bis sie im dichten Hafengedränge verschwunden war.

"Segel hissen!", brüllte der Kommandant. "Anker lichten!"

Val wusste, wie es ging, er wusste, dass er schnell war, also rannte er zum Mast und kletterte geschwind daran hoch. Der dafür zuständige Junge schrie ihn an und schlug gegen den Masten.

"Wer ist die Landratte?", wollte der Kapitän wissen und legte eine gewölbte Handfläche an die Stirn, um ihm zuzusehen.

"Komm runter, Val!", rief Blauregen.

"Er gehört zu Euch?"

"Gerade wünsche ich mir, es wäre nicht so." Der junge Mann machte ein gequältes Gesicht.

"Stellt sich nicht mal schlecht an, der Junge", sagte einer der Matrosen anerkennend.

Tatsächlich war Val bereits auf der oberen Takelage angekommen und lief nun freihändig den Balken entlang, bis er zum richtigen Teil des Segels gekommen war. Dort löste er das Seil, zog es durch die Ösen, hisste das Segel und verband das Seil wieder. Er brauchte nicht einmal eine Minute. Als er fertig war, stieß kurz mit der Faust gegen den Masten und gab dem Steuermann ein Zeichen: sie waren bereit zur Abfahrt.

"Na, da brat mir doch einer 'nen Storch!", staunte der Kapitän. "Den Burschen könnt ich auf meinem Schiff gut gebrauchen! Sehr gewitzt! Sag, Junge, wo hast du gelernt? Teufelsbraten wie du einer bist, sollte man meinen, du wärst bei mir in der Lehre gewesen!"

Val, der inzwischen wieder heruntergeklettert war, grinste ihn an. "Kapitän Nepomuk, Herr. Von der Nusnuth-Insel."

"Nusnuth?", fragte der Kapitän und verzog gespielt getroffen das Gesicht. "Hab ich noch nie gehört. Eine Insel und dann noch nicht einmal ein richtiges Meer. Warst wohl nie weiter als ein paar Meilen auf der See, oder?"

"Hauptsächlich waren wir fischen", gestand Val.

"Es scheint mir, dass da auf Nusshut ein paar wahre Talente verloren gehen! Vielleicht sollte ich dem Rattenloch mal einen Besuch abstatten! In welchem Meer sagtest du gleich, liegt die Insel?"

"Wenn sie Matrosen suchen, kann ich den Jungen Robin empfehlen." Nun mischte sich ein trauriger Unterton in Vals Stimme, so dass Blauregen aufmerksam den Kopf nach ihm wandte. Auch der Kapitän bemerkte es. Er musterte ihn abschätzig.

"Hast wohl Freunde zurückgelassen, was?"

Val, der plötzlich einen Kloß im Hals hatte, nickte nur. Ein merkwürdiges Brennen stieg in seine Augen, das er nicht wegblinzeln konnte.

"Du bist zu viel unterwegs, Kleiner. Warum schließt du dich nicht meiner Mannschaft an? Die sind deine neue Familie. Wir fahren zur See und du siehst einen Haufen wunderschöner Orte, wunderschöner Frauen und goldener Schätze. Wie wär das, hm?"

Val stellte es sich vor und es fiel ihm zugegebenermaßen nicht schwer. Er wusste, dass es das Leben war, das ihm gefallen würde. Hin und wieder könnte er seinem Vater und seinem Bruder Postkarten von fremden Orten schicken, hin und wieder auch etwas Geld oder Schmuckstücke, damit sie über die Runden kamen … Ein Rumpeln ertönte, als Blauregen über ein Seil am Boden stolperte und sich mit den Händen an einen Masten klammerte. Val erinnerte sich an seine Mission. Er schüttelte den Kopf. "Das geht leider nicht."

Der Kapitän machte ein enttäuschtes Gesicht. "Kein Glück, was? Na, macht nichts, wir werden auch ohne dich zurechtkommen." Er klopfte ihm noch einmal auf die Schulter und zog sich dann ans Steuer zurück, um weitere Befehle zu geben. Das Schiff schlug einen nördlichen Kurs ein, der Wind bauschte die Segel und trieb sie vorwärts. Val ging zur Reling, von wo aus er die rauschende See betrachtete. Der Hafen Amalthiens am Horizont wurde schnell kleiner. Sie waren Isidor und Rufus entkommen, dachte er sich. Die Soldaten hatten ihn nicht erwischt. Sie hatten einen Plan, sie wussten wie der Drache aussah und Blauregen kämpfte an ihrer Seite. Keine schlechte Bilanz eigentlich.

Bald kam Parzival, die jüngere Ratte, über die Reling gehüpft. Zuerst tat er es ihm gleich, indem er über den blauen Spiegel Wasser schaute und ab und zu einen tiefen Seufzer ausstieß. Dann hielt er es nicht mehr aus und plapperte los, wie es für das geschwätzige Volk der Ratten typisch war.

"Hör mal", sagte er und schielte ihn schräg aus den Augenwinkeln an. Die Pfoten hatte er betont gleichmütig in die samtene Weste gesteckt. "Ähm ... Val, richtig?"

Val nickte nur missmutig. Früher einmal hätte er es wohl sehr interessant gefunden, sich mit einem sprechenden Tier zu unterhalten, nun hatte er Magie gesehen und sie akzeptiert.

"Ich hab da was gehört - jetzt frage ich mich natürlich, ob das stimmt - Leda hat da nämlich was angedeutet … Sag, du bist aber nicht wirklich der Shogha, oder?"

Val hob den Blick nicht vom Meeresspiegel, während er über eine Antwort nachdachte. Die Bedeutung des Wortes Shogha hatte er sich mittlerweile erschlossen. Aber wie viel konnte er der Ratte sagen? Zwar war sie nur eine Ratte. Aber diese Tiere kamen auf der ganzen Welt herum, wie sie eindrucksvoll bewiesen hatten, und redeten mit vielen Leuten.

"Willst du diese Information etwa für einen Haufen Kohle weiterverkaufen?", fragte er, um Zeit zu gewinnen.

"Niemals würde ich einen Freund meiner Cousine verraten!", ereiferte sich Parzival. Gespielt getroffen legte er sich die Pfote aufs Herz. "Oder einen Freund von Blauregen! Aber soll das etwa heißen, du bist es wirklich?"

Val zögerte.

Blauregen, der plötzlich aus dem Nichts hinter ihnen aufgetaucht war, antwortete an seiner Stelle.

"Kann man diesem geschwätzigen Tier denn gar nichts im Geheimen anvertrauen?", fragte er. Er war im Gesicht ein wenig grün angelaufen, was vermutlich am hohen Wellengang lag. "Verschwinde, Ratte, von uns erfährst du nichts."

"Ich habe meine Antwort bekommen", grinste Lanzelot und trippelte auf schnellen Pfoten davon, ehe ihn ein Schlag Blauregens von der Reling wischen konnte.

"Er hat recht", sagte Blauregen finster. "Aber ich lüge nicht gerne."

Val stützte den Kopf in die Hände.

Der junge Mann schaute ihn aufmerksam an. Er kämpfte eine Weile mit den nächsten Worten. "Bist du auch seekrank, Val?", fragte er schließlich. Eine Brise fuhr ihm durchs braun gelockte Haar und ließ es fliegen.

Der Junge schüttelte den Kopf. "Das ist es nicht."

"Ich weiß." Blauregen stützte die Ellbogen auf der Reling ab, genau wie er. Im Sonnenlicht wirkten seine Tattoos heller, beinahe gräulich. Es waren hauptsächlich ineinander verschnörkelte Linien, fremde Zeichen, die nicht dem Alphabet des ersten Kontinents entstammten. Er holte tief Luft, ehe er sagte: "Du hast viel zurückgelassen, nicht wahr?"

Val nickte. Er wollte es jetzt jemandem erzählen. Wollte den Griff der Trauer lösen, die mit kalten Fingern sein Herz umklammerte.

"Meinen Freund, Robin. Meinen Vater. Meinen … Bruder." Val konnte plötzlich nicht mehr weitersprechen, seine Kehle war wie zugeschnürt, als er an Arved dachte. Beinahe konnte er ihn sehen, wie er vor ihm stand und ihn aus großen braunen Augen vorwurfsvoll anstarrte. Val hatte sich nicht einmal von ihm verabschieden können.

"Älter oder jünger als du?", fragte Blauregen.

Val schwieg. Wie er doch immer die richtigen Fragen stellte. "Jünger."

Blauregen presste die Lippen aufeinander und nickte. Sein Blick glitt übers Meer in weite Ferne. "Das ist schwierig, ich weiß."

"Ich weiß nicht, ob es ihnen gut geht ohne mich", platzte Val heraus. "Ich habe sie sozusagen zusammengehalten, weißt du?" Seine Wangen brannten. Diese Worte machten doch überhaupt keinen Sinn.

Aber Blauregen nickte. "Ich versteh schon. Wenn es dir hilft, Val, wir haben alle etwas zurückgelassen für diese Mission. Leon auch und ich auch."

"Ja?", fragte Val und hoffte, nun etwas über Blauregens Vergangenheit zu erfahren.

Aber der junge Mann nickte nur, schaute wieder aufs Meer und schwieg.

 

Am nächsten Tag kurz vor Sonnenuntergang legten sie in dem Hafen an, wo sie das Schiff wechseln mussten. Farnheim hieß die kleine Stadt mit nicht einmal zehntausend Einwohnern. Die Ratten führten den Weg vom Schiff herunter und erklärten bereits wieder. Wo die nächste Herberge war, bei welchem Stand die Fische am billigsten (und schmackhaftesten) waren, welche öffentlichen Latrinen man nutzen und welche man meiden sollte. Sie waren erst ein paar Schritte gegangen, als Val spürte, dass etwas falsch lief. Grün und schwarzgekleidete Soldaten erschienen wie aus dem Nichts im Marktgedränge, bahnten sich rücksichtslos den Weg durch die Massen, die Hände um die Schwertgriffe am Gürtel gelegt. Val wollte auf sie aufmerksam machen, aber Blauregen legte den Finger an die Lippen. Er hatte die Männer bereits gesehen und plante gerade die nächsten Schritte. Val ergab sich völlig seiner Führung.

"Alle Neuankömmlinge haben sich einer Identitätskontrolle zu unterziehen. Befehl des Rates. Verstärkte Sicherheitsmaßnahmen", sagte der Hauptmann zu ihnen und dem verwirrten Kapitän. Er hatte die dunklen Augenbrauen gerunzelt und maß die beiden Jungen besonders eindringlich.

Val gefror das Blut in den Adern. Identitätskontrolle? Und warum fokussierte er ausgerechnet Leon und ihn? Hatte man ihn vor einem Jungen in ihrem Alter gewarnt?

"Sicher hat Zierkies ihnen eine Beschreibung von dir gegeben", zischte ihm Leonhard ins Ohr. "Val, sie sind auf der Suche nach dem Löwen!"

Blauregen, der dem Soldaten aufmerksam zugehört hatte, nickte. "Das verstehen wir, kein Problem", sagte er gelassen.

Die Soldaten entspannten sich merklich. Sie überprüften Blauregens Gesicht, das sie mit einer Zeichnung auf braunem Pergament verglichen. Val war sich sicher, dass es Abbild von ihm zeigte. Zierkies hatte ihn den Soldaten bis ins kleinste Detail beschreiben können. Seine Anspannung wuchs mit jeder Minute, die verstrich, und er musste gegen den Drang ankämpfen, nicht einfach davonzulaufen. Was hatte Blauregen vor? Die Soldaten würden ihn doch auf jeden Fall erkennen. Und was dann? Auch Leon bewegte sich unruhig auf der Stelle und Val kamen seine Worte vom Vortag in den Sinn: Val, Blauregen könnte gefährlich sein! Du kannst ihm nicht vertrauen! Was, wenn er recht hatte? Wenn Blauregen sie verraten würde? Aber Val kam nicht dazu, sich groß Gedanken zu machen. Als sich die Soldaten ihm zuwandten, ging plötzlich alles ganz schnell. Blauregen hatte dem einen Mann mit dem Schaft seines Schwertes gegen den Kopf geschlagen und den anderen in einer schnellen Bewegung zu Boden geworfen. Val blinzelte. Wie hatte er sich so schnell bewegt?

"Lauft!", rief Blauregen den Jungen zu. Ohne zu zögern taten sie, wie ihnen geheißen. Stöhnend rappelten sich die überrumpelten Soldaten wieder auf. Der Hauptmann schrie Befehle. Blauregen hatte von Anfang an geplant, sie zu bekämpfen. Den Fügsamen hatte er nur gespielt, um keinen Verdacht zu erregen. Val lachte auf, atemlos und erleichtert zugleich. Er würde sich anstrengen müssen, um in Zukunft mit Blauregens schneller Denkweise mithalten zu können.

Lanzelot und Parzival rannten zuerst mit ihnen, aber nur ein wenig später machten sie die Biege.

"Ihr seid zu langsam!", sagte Parzival unbarmherzig.

"Wir treffen uns in drei Stunden an der Rotkehlchen! Wenn ihr es bis dahin schafft", meinte Lanzelot, ehe sie davonliefen.

Blauregen nickte nur und deutete auf eine Seitengasse. Leon und Val folgten. Ihm fiel auf, dass sie alle drei schneller liefen als gewöhnliche Menschen, und er wollte darauf wetten, dass einer der beiden ein Bewegungsshmi bei ihm anwandte. Er beschwerte sich nicht, denn so wurden sie die Soldaten auf alle Fälle los. Nachdem sie einige Zeit gerannt waren und auch mehrmals die Richtung gewechselt hatten, erlaubte Blauregen ihnen, stehenzubleiben. Die beiden Jungen rangen erschöpft nach Luft und suchten an einer Mauer halt. Blauregens Atem dagegen ging ruhig und gleichmäßig wie immer.

"Ich dachte, ihr wärt besser in Form", sagte er missbilligend. "Du bist immerhin auf einer Insel aufgewachsen, Val. Und bei dir sollte man meinen, deine Verwandten hätten auch auf deine körperliche Fitness geachtet, Leonhard."

"Ich hatte es auf der Insel nicht nötig, vor wild gewordenen Soldaten davonzulaufen!"

"Meine Verwandten waren zu sehr damit beschäftigt, mir die Gefahren der Magie zu erklären!"

"Schon gut", winkte Blauregen ab. "Mit der Zeit wird es schon kommen." Dann nickte er zu einer kleinen, unscheinbaren Taverne hinüber. Drinnen war nicht viel los. Spärliches Licht, das durch geschlossene Fensterläden hereindrang, fiel auf schmutzige Tische, an denen noch schmutzigere Gäste Platz genommen hatten. Die Eintretenden wurden mit feindseligen Blicken gemustert. Val fühlte sich unwohl. Aber Blauregen hatte nicht vor, hier lange zu verweilen. Er scheuchte Leon auf, der sich auf einer Bank niedergelassen hatte, und drängte sie Richtung Flur, der zu den Toiletten führte.

"Hier sieht uns keiner", sagte er, nachdem er sich nach allen Seiten und sogar hinter den Vorhängen umgesehen hatte. "Zeit für eine kleine Illusion." Er stellte Val und Leon nebeneinander auf und hob die Hände.

"Was?", fragte Val und wich zurück. Das war ihm neu. Er warf Leon einen misstrauischen Blick zu. "Illusionen? Ich dachte, es gäbe nur diese vier Shmi, die du mir erklärt hast."

Leonhard schüttelte den Kopf. "Ich wollte dir auch die geistigen Shmi erklären, aber du warst verbiestert und hast nicht zugehört."

"Ich war nicht verbiestert-", begann Val zornig, aber Blauregen unterbrach ihn.

"Er weiß nicht einmal, wie unsere Magie funktioniert?", fragte er ungläubig.

"Hey, ich wollte es ihm erklären, okay? Was kann ich dafür, wenn es ihm nicht gepasst hat und er nichts mehr hören wollte?"

"Ich kann mir schon vorstellen, wie du sie ihm erklärt hast", gab Blauregen grob zurück. "Aber wir haben jetzt keine Zeit zu streiten. Also, Val." Er wandte sich dem Jungen mit der geduldigen Miene eines Oberlehrers zu. "Neben den körperlichen, die du bereits kennst, gibt es noch die beiden geistigen Shmi: Verwirren und Klären."

Val verschränkte die Arme vor der Brust. Ihm behagte der Gedanke nicht, dass sich jemand an seinem Kopf zu schaffen machen konnte. Seine Gefühle mussten ihm wohl deutlich anzuerkennen sein, denn Leon rollte die Augen. "Es ist nicht schlimm. Du hast sie eh schon erlebt. Als Vater und Onkel dein Gedächtnis verändert haben."

"Als sie was?", rief Val entsetzt.

Blauregen warf Leonhard einen das-war-jetzt-nicht-gerade-die-beste-Taktik-Blick zu und seufzte.

"Stimmt, Verwirren eignet sich bestens dazu, ein Gedächtnis zu verändern. Klären dazu, den Geist von störenden Nebengedanken zu befreien. Es eignet sich nicht zum Kampf, ist aber sehr hilfreich, wenn man angestrengt über etwas nachdenken muss, weißt du?"

Val ließ sich nicht so einfach abspeisen. Mit blitzenden Augen fuhr er Leonhard an: "Welche Erinnerung habt ihr verändert?"

Leon seufzte. "Du hast gehört - in der Nacht, als Vater und Rufus auf die Insel kamen - wie sie mit deinem Bruder geredet haben. Sie haben dabei Sachen gesagt, die dir Angst eingejagt haben. Du wurdest panisch und wolltest sie angreifen. Wir haben nur diese eine Nacht ausgelöscht, dieses eine Gewitter. Keine große Sache."

Val schwieg, während eine Reiher Bilder auf ihn einströmte. Sobald Leon es erwähnte, kehrte die Erinnerung zurück, als hätte man plötzlich einen Riegel zurückgeschoben. Das Unwetter, der strömende Regen im Gesicht, die Blitze am Himmel. Arved, der von dem Unglück erzählt hatte, das auf ihn wartete. Val hatte geglaubt, die Gelehrten würden seinem Bruder etwas antun. Arved hatte sich zwischen sie geworfen. Ein Lichtblitz - dann Schwärze.

"Bei Arved habt ihr das auch gemacht", murmelte Val. Wie war es sonst zu erklären, dass auch sein Bruder sich an diese Nacht nicht mehr hatte erinnern können?

"Klar, sonst hätte er Ärger verursacht. Aber ihr wart immer noch misstrauisch, das muss man euch lassen. Das ist nicht immer so. Die meisten Leute, deren Gedächtnis verändert wird, fallen in einen deliriumsähnlichen Zustand." Leon lachte kurz, dann wurde er wieder ernst. "Du verstehst doch, warum wir das gemacht haben, oder, Val?"

Val zögerte. Aber schließlich nickte er. Wer weiß, was passiert wäre, wenn er diese Erinnerung behalten hätte. Vermutlich hätte er Arved einfach geschnappt und wäre mit ihm ans Festland geflohen. Und damit wäre niemandem geholfen gewesen. Trotzdem machte es ihm Angst, dass man Teile seines Lebens einfach auslöschen konnte.

Blauregen nickte und wollte er erneut mit seiner Magie beginnen, aber Val hob abwehrend die Hände. "Ich möchte nicht, dass du an meinem Kopf herumpfuschst!"

Leon stöhnte auf. "Komm schon, Val! Er will doch nur dein Aussehen ein wenig verändern, damit die Soldaten dich nicht mehr erkennen."

"Val", sagte Blauregen und blickte ihn fest an. "Vertraust du mir?"

Val schaute zwischen ihnen hin und her, leicht spöttisches Dunkelblau auf der einen Seite, eindringliches Eisblau auf der anderen. Schließlich seufzte er und gab sich geschlagen.

Blauregen murmelte etwas, dann führte er einige komplizierte Bewegungen mit den Händen sehr schnell aus. Val merkte die Veränderung an ihm selbst, der plötzlich anstatt des schlichten schwarzen Umhangs die Kleidung eines Aristokraten trug. Ein weißes Hemd, dunkle Hosen und ein schwarzer Gehrock, der ihm bis zu den Knien ging. Leon und er selbst hatten ähnliche Sachen an. Staunend betrachtete Val seine bestickten Ärmel, befingerte ungläubig die vergoldeten Knöpfe an seiner Weste.

"Das ist erstaunliche Magie", murmelte Leonhard und betrachtete den Stoff seiner Kleidung. Val wusste, wie viel ein Kompliment Leonhards bedeutete.

"Es wird nicht lange halten", sagte Blauregen und lief los. "Lange genug hoffentlich, um die Soldaten zu täuschen." Sie verließen die Taverne unter den finsteren Blicken des Wirts. Vielleicht hätten sie höflicherweise etwas kaufen sollen, dachte Val. Blauregen verschwendete keinen Gedanken daran.

"Was machen wir jetzt?", fragte Leon. "Gehen wir direkt zum Schiff?"

"Nein, zu auffällig. Wir können uns nicht drei Stunden in seiner Nähe herumtreiben. Die Rotkehlchen legt ja erst um sechs ab. Außerdem habe ich noch etwas in einem anderen Teil der Stadt zu erledigen. Kommt mit."

Er hielt eine Kutsche an und nannte die Adresse einer Falknerei. Diese Tiere, so hatte Val gelernt, nutzte man im System der Gelehrten, um Botschaften in möglichst kurzer Zeit über eine große Distanz hinweg zu verschicken. Er war froh, dass er einmal nicht fragen musste, was gerade geschah. Sie stiegen aus und schon von Weitem hörte Val die heiseren Schreie der Vögel. Er wandte den Kopf und sah eins der Exemplare, wie es sich gerade trudelnd in die Lüfte erhob, einen dicken Brief ans Bein gebunden. Val folgte ihm mit dem Blick, bis es am Horizont verschwunden war. Dann betraten sie das Gebäude. Die Gehege befanden sich im Freien, waren aber merkwürdigerweise weder umzäunt noch überdacht; die Betreiber der Falknerei mussten wohl immenses Vertrauen in ihre Schützlinge haben, nicht einfach Reißaus zu nehmen und nicht mehr wiederzukommen. Die Falken saßen auf hohen Eisenstangen und schauten mit kleinen Augen, hell wie Bernstein, misstrauisch zu ihnen herab.

"Es ist nicht gut, dass Soldaten bereits nach uns suchen", murmelte Blauregen, während er einen Vogel auswählte und dem Händler, der ihnen gefolgt war, bedeutete, ihn herunterzuholen. Seine Wahl erfolgte willkürlich, Val zumindest konnte kein Merkmal entdecken, das das Tier vor den anderen auszeichnete.

"Anscheinend bist du bereits offizieller Staatsfeind", sagte Blauregen zu ihm.

Der war über diese Nachricht ziemlich erschrocken. Mit glasigem Blick starrte er den Falken an. Wie sehr hatte sich sein Leben doch in letzter Zeit verändert. Vom unscheinbaren Fischerjungen zum Staatsfeind Nummer eins.

Der Händler verhielt sich Blauregen gegenüber auffallend höflich, getäuscht von dessen wertvoll anmutender Kleidung. Er verbeugte sich des Öfteren und sagte "Eure Lordschaft" zu ihm. Blauregen holte einen vorgefertigten Brief aus seiner Tasche, strich mit einem Füller eine Zeile durch und kritzelte neue Worte darüber. Val konnte nicht lesen, was er schrieb, denn seine Schrift war sehr fein. Bevor er dem Falken den Brief umband, berührte er mit den Fingern flüchtig das Medaillon um seinen Hals. Die Bewegung dauerte nur kurz und Val meinte, dass er es mehr aus Gewohnheit tat, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Wieder fragte er sich, was wohl darin war. Er starrte das silberne Schmuckstück an, als könnte er es mit seinem Blick dazu bringen, sich zu öffnen.

Immerhin den Adressaten des Briefes konnte er ausmachen. Penn stand in kleinen schwarzen Buchstaben auf dem Zettel, der vom Bein des Falken herabbaumelte. Val wusste nicht einmal, ob Penn ein Mann oder eine Frau war. Oder ob überhaupt ein Mensch, dachte er frotzelnd. Blauregen warf den Falken in die Luft, woraufhin er zuerst ein paar Meter in die Tiefe sackte, bevor er flügelschlagend an Höhe gewann. Schließlich drehte er eine Schleife und verschwand aus ihrer Sichtweite in Richtung Nordosten. Wo auch ihr Ziel lag, Alangium.

Val checkte die Zeit auf der Kirchenuhr. Sie hatten nunmehr eine Stunde, um pünktlich zur Rotkehlchen zurückzukehren. Blauregen gab sich zuversichtlich.

"Sicher glauben die Soldaten nicht, dass wir uns noch am Hafen aufhalten. Wahrscheinlich denken sie, wir versuchen gerade unterzutauchen oder die Stadt zu verlassen. Wir sollten unbemerkt aufs Schiff gelangen." Unter zahlreichen Verbeugungen des Händlers verließen sie die Falknerei.

Leon schaute skeptisch drein, Val schwieg. Seine Gedanken waren auf Nusnuth.

Als sie eine Kutsche ausgemacht hatten und darauf zugingen, kamen zwei junge Damen von der anderen Seite herangelaufen und erreichten die Kutsche als erste. Die eine umfasste den Türknauf mit handschuhbesetzten Fingern. Blauregen wollte wütend den Mund aufmachen - sie waren immerhin zuerst da gewesen - da drehte sie sich zu ihm um und bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln. Sie hatte blondes lockiges Haar, das sie unter einer bestickten weißen Haube verbarg, und leuchtend blaue Augen. Sie war sehr schön.

"Verzeiht, Herr", sagte sie in einer melodischen Stimme zu ihm.

Blauregen verbeugte sich leicht, glättete seine Züge und all sein Ärger schien verflogen.

"Valette, das ist nicht sehr höflich von uns", kicherte die andere Frau. Sie hatte langes braunes Haar, ebenso dunkle Augen und war nicht minder hübsch als die erste. "Die Herren haben dem Kutscher zuerst gewunken."

"Ich denke nicht, dass der Herr die Kutsche selbst nehmen und zwei junge Frauen auf der Straße stehen lassen möchte", antwortete Valette keck. Sie betrachtete Blauregen mit sichtlichem Wohlgefallen.

Blauregen bedeutete ihnen nur stumm, die Kutsche zu nehmen.

"Ein wahrer Gentleman", antwortete die Freundin und wollte sich schon an ihm vorbeidrängen.

"Ich denke, für einen Gentleman und seine Begleiter haben wir noch Platz in der Kutsche", meinte Valette und lächelte Blauregen an.

Val war sich sicher, dass er ablehnen würde. Was sollten sie zu den beiden sagen, wenn sie fragten, wer sie waren und wohin sie reisten? Zu seinem Erstaunen jedoch verbeugte Blauregen sich erneut. "Das ist sehr freundlich von Euch, Fräulein", sagte er leise.

Valette kicherte und ließ zu, dass er ihr in die Kutsche half.

"Was soll das?", zischte Leonhard und hielt Blauregen am Ärmel zurück.

"Weniger auffällig", gab Blauregen aus dem Mundwinkel zurück.

Leonhard schnaubte und auch Val hatte seine Zweifel, dass das wirklich der Grund für sein Einsteigen war. Er hatte eher den Verdacht, dass ihm die beiden Mädchen gefielen. Schließlich saßen sie zu fünft in der engen Kutsche und Blauregen führte das Gespräch mit den beiden Frauen. Val und Leonhard schauten aus dem Fenster. Sie waren ohnehin zu jung, um sich am Gespräch der Erwachsenen zu beteiligen. Blauregen war sehr höflich, drückte sich gewandt aus, lächelte und stellte Fragen nur so direkt, wie es ihm erlaubt war. Die Mädchen dagegen wurden im Laufe der Kutschfahrt gesprächiger, geradezu frech und bedrängten ihn, wie Val fand, ziemlich ungehörig. Anscheinend galten hier weiter drin im Festland andere Anstandsregeln als an der Küste. Er konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass Rufus beispielsweise sich ihre vorwitzige und indiskrete Art gefallen lassen hätte. Oder vielleicht verhielten sich Gebildete und Adel einfach grundverschieden.

Tatsächlich lachten die beiden Damen ohne Unterlass, warfen ihre Haare über die Schulter und versuchten sich gegenseitig mit ihrer Koketterie auszustechen. Bald ließen sie verlauten, dass sie aus Regentsheim, einer Stadt hundert Kilometer von hier im Süden gelegen, aus sehr gutem Elternhause stammten. Gerade waren sie unterwegs zu Romina, der Braunhaarigen, nach Hause, um sich für eine Party heute Abend zurechtzumachen. Sie drängten Blauregen, sie auf das Fest zu begleiten. Die beiden Jungen würdigten sie keines Blickes, eher schienen sie genervt von ihrer Gesellschaft.

"Kommt Ihr aus Farnheim? Euer Akzent klingt anders. Welches Geschäft betreibt Eure Familie?", wollte Valette wissen.

"Ich stamme nicht vom Festland", antwortete Blauregen lächelnd und Val wusste instinktiv, dass er die Wahrheit sagte. Er stammte also überhaupt nicht vom selben Kontinent wie er und Leonhard. Aber woher dann? Val runzelte die Stirn. Über die anderen Kontinente wusste er nicht viel. Nur dass seine Wurzeln zumindest im östlichen nicht liegen konnten, denn dann würde er anders aussehen. Von den übrigen dagegen kamen, zumindest nach seinem Wissensstand, alle in Frage.

Blauregen wollte nicht mehr über seine Herkunft preisgeben. Die jungen Damen wurden auf diese Geheimnistuerei hin nur noch unverschämter. Als Fragen keinen Sinn mehr hatten, stellte Valette kurzerhand selbst Vermutungen zu seiner Beschäftigung an. Weil er es von sich aus nicht sagen wollte, zog sie den Schluss, dass es etwas Unzulässiges sein musste.

"Bestimmt habt Ihr in der Regierung zu schaffen", schnurrte sie. "Ihr habt genau das Aussehen dazu, elegant und edel genug, um jeden Mann dazu bewegen, Euch zu respektieren und jede Frau dazu, für Euch zu schwärmen."

"Nein, Valette. Er ist sicherlich Geschäftsmann. Vielleicht vertreibt er Waffen, sieh dir diese Muskeln unter dem Hemd an. Er kann kämpfen, das steht fest."

Mit einigem Erstaunen verstand Val, dass sie Blauregen wohl für aristokratisch, wohlhabend und gut aussehend hielten. Und seinem Betragen nach zu urteilen, passierte ihm das nicht zum ersten Mal. Er dominierte die Situation, ohne sich wirklich anzustrengen. Val nahm ihn näher in Augenschein. Er hatte strahlend weiße Zähne, die jedes Mal blitzten, wenn er lächelte. Seine blauen Augen leuchteten hell wie Saphire, sein Lachen war heiser und ungezwungen. Val fragte sich mit wachsender Neugier, wer wirklich hinter dem Decknamen Blauregen steckte. Warum er alles, was er anpackte, so mühelos meisterte.

"Oder vielleicht ist er nichts von alldem, vielleicht hat er nur ein sehr großes Vermögen geerbt, welches er nun auf allen sechs Kontinenten verprassen möchte. Sagt, seid Ihr vermögend?" Valettes Augen leuchteten gierig.

"Ich glaube auf jeden Fall, dass er unabhängig ist und auf eigenen Beinen steht. Vielleicht ist er ja Musiker …"

"Oder vielleicht macht er auch etwas Gefährliches, schon mal da drauf gekommen?" Leons wütende Stimme durchschnitt die Luft.

Die Mädchen schauten ihn empört an, als er sie so unhöflich anfuhr. "Hast du nicht gelernt, wie man mit Damen umzugehen hat, du ungezogener Junge?"

"Wenn mein Bruder mich so anfahren würde, würde mein Vater ihn eine Woche lang in den Keller sperren, und zu essen würde er nichts anderes bekommen als Wasser und Brot!"

"Wenn ich Euer Bruder wäre, würde ich mich freiwillig zur Adoption freigeben, vorausgesetzt, ich wäre nicht schon zuvor an der Impertinenz und Eurem Unverstand zugrunde gegangen!"

"Was erlaubst du dir, du Flegel-?"

Plötzlich geriet die Kutsche ins Stocken und draußen wurden Stimmen laut. Der Kutscher antwortete in ärgerlichem Tonfall. Val fand das beunruhigend und richtete sich in seinem Sitz auf. Leon wandte sich von den Mädchen ab und schaute mit gerunzelter Stirn auf die Uhr. Plötzlich drang weißes Licht durch die getönten Fenster und erhellte die Kutsche bis in den kleinsten Winkel. Es stach Val schmerzhaft in die Augen und er schirmte sich mit den Händen das Gesicht ab. Die beiden Mädchen schrien aufgebracht auf.

"Was hat das zu bedeuten?", rief Romina missbilligend.

"Was ist hier los?"

Ein Soldat erschien vor dem Kutschenfenster. Die Mädchen waren das erste, was er sah. Genau wie Blauregen es zweifellos geplant hatte, als er sie drapiert hatte.

"Ich bitte um Entschuldigung, werte Damen", sagte der Soldat hastig und verbeugte sich. "Wir sind auf der Suche nach Flüchtigen." Er streckte die Laterne zur Seite, sodass Blauregen als nächstes ins Blickfeld geriet. Blauregen reagierte schnell, packte Valette an den Schultern, zog sie zu sich heran und küsste sie. Ob aus Überraschung oder weil sie vor lauter Schreck am ganzen Körper erstarrte, ließ sie es geschehen. Dem Soldaten war der Anblick offensichtlich sehr unangenehm und er drehte hastig den Kopf zur Seite.

"Verzeiht bitte vielmals", murmelte er und zog sich zurück. Er kam wohl zu dem Schluss, dass diese Kutsche keine Flüchtigen beherbergen konnte.

Nachdem er verschwunden war, ließ Blauregen das Mädchen los. Er lächelte entschuldigend. Valette starrte ihn mit großen Augen an, ihr Mund stand offen.

"Das war knapp", seufzte Leon. Val war sprachlos, zu beeindruckt von dem, was er eben gesehen hatte. Er nahm sich vor, genau dasselbe zu tun, wenn er einmal in eine solche Lage geraten würde. Die Kutsche kam bereits wieder ins Rollen, als draußen ein Aufschrei ertönte. Der Soldat streckte erneut den Kopf durchs Fenster.

"Hat eine der Damen vielleicht ihr seidenes Taschentuch verloren?" Und er hielt das besagte Stück Stoff in die Höhe. Dann sah er Val in der Ecke sitzen, wie er ihn mit großen Augen anstarrte, und er erbleichte. Er erkannte ihn sofort. Den zweiten Blick auf Leon und Blauregen, der nun niemanden mehr küsste, konnte er sich sparen.

"Das sind sie!", rief er jemand anderem zu.

Blauregen fackelte nicht lange. Er sprang auf, stieß mit gesteigerter Geschwindigkeit die Kutschentür auf, dass der Soldat zurücktaumelte und zu Boden stürzte. Blauregen sprintete die Stufen hinunter und Val und Leonhard beeilten sich, ihm zu folgen, während ihnen die Schreie der Mädchen in den Ohren hallten. Vor der Kutsche jedoch gab es kein Entrinnen. Die Soldaten hatten sich Verstärkung besorgt, rund zwanzig Mann stürzten sich auf die beiden Jungen. Gleich zwei auf einmal drehten Val die Arme auf den Rücken.

"Wo ist Blauregen?", schrie er verzweifelt, als er ihn nirgends entdecken konnte. Schmerz stach ihm ins Schulterblatt und ließ ihn keuchen.

Leon neben ihm kämpfte verbissen gegen die Soldaten. Seine Magie reichte aus, sich die Männer vom Leib zu halten, aber nicht, um sie zurückzudrängen. "Der hat sich aus dem Staub gemacht!", schrie er zurück.

Tatsächlich war der junge Mann nirgends mehr zu entdecken. Val zuckte zusammen, als er den kalten Biss einer Messerschneide an der Kehle spürte. Warmes Blut rann seinen Hals hinab und versickerte im Kragen seines Hemds. Er erstarrte und wagte nicht mehr, sich zu rühren.

"Und so schnell endet deine Flucht, junger Löwe", knurrte der Mann mit heiserer Stimme. "Hast doch nicht wirklich geglaubt, uns so einfach davonlaufen zu können, oder?"

Val antwortete nicht. Sein Herz klopfte panisch schnell gegen seinen Rippenbogen, sein Denken war erlahmt.

"Er ist nicht allein", ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Val hätte beinahe erleichtert aufgeseufzt. Blauregen - der sie doch nicht im Stich gelassen hatte - stand auf der Hafenmauer, die untergehende Sonne im Rücken. Sein schlanke Gestalt zeichnete sich gegen das blutrote Licht ab, das Gesicht im Schatten. Die Mädchen in der Kutsche hatten aufgehört zu schreien.

"Ihr könnt nichts tun!", rief ihm der Hauptmann erbost zu. "Ihr seid erledigt. Wir sind in der Überzahl. Ergebt Euch!"

"Das mag stimmen."

Aber Blauregen beherrschte Magie. Außergewöhnliche Magie. Die Bewegungen seiner Hände waren so schnell, dass sie vor Vals Blick verschwammen. Die Luft begann zu flimmern. Ein kalter Windhauch fuhr Val von irgendwoher unter die Kleider. War es gerade wirklich merklich kühler geworden?

"Das tut er nicht", sagte Leonhard entgeistert.

Val verstand seine Aufregung nicht. Offenbar hatte Blauregens Magie doch gar keine Wirkung, zumindest keine ersichtliche. Den Soldaten geschah kein Leid, im Gegenteil, auch sie warteten angespannt darauf, dass etwas passierte. Musste der Magier den Feinden nicht direkt gegenüberstehen, wenn er sie angreifen wollte? So hatte Leonhard es doch erklärt.

"Drache, erwache!", flüsterte Blauregen.

Und plötzlich war da Licht, eine ungeheure Menge Licht, dass Val blinzelte und sich die Augen abschirmte. Es schien irgendwie gebündelt zu einem gewaltigen Strahl, der sich mit irrsinniger Geschwindigkeit vorwärts bewegte, direkt aus Blauregens Händen heraus. Er war blutrot wie der Sonnenuntergang. Der Lichtstrahl sauste an Val vorbei, er wandte den Kopf und da sah er es: er hatte Form, besser gesagt einen Körper, Gesicht, Arme und Schwingen. Es war ein gewaltiger Drache, der aus reinem Licht bestand. Wie in Zeitlupe drehte Val sich herum und folgte dem Tier mit den Augen. Der Drache war ihm so nah, dass er ihn hätte berühren können. Er war perfekt bis ins kleinste Detail. Die schmalen mandelförmigen Augen waren von einem tiefen satten Goldton, die Barthaare standen schräg von der Schnauze ab, ihre Konturen waren verschwommen, als flackerten sie in Feuer. Selbst Zähne hatte er, fingerlang und leuchtend.

Der Drache fuhr ihm unter den Beinen hindurch. Val erschrak. Er war echt! Er konnte ihn fühlen! Die kalten Schuppen wetzten den Stoff seiner Hose entlang. Der Drache stieg höher und Val fand sich auf seinem Hals sitzend wieder. Ungläubig krallte er sich in die glänzenden Rückenschuppen. Der Drache klaubte Leonhard auf ähnliche Weise vom Boden auf.

"Der Drache", stieß Leonhard ungläubig hervor, während er sich an seinen Rücken klammerte. "Das ist der östliche Drache!"

Sie erhoben sich. Blauregen lief los, stieß sich von der Mauer ab und bekam den Hals des Drachen zu fassen. In einem perfekten Halbkreis schwang er sich auf dessen Nacken und packte die beiden Hörner, die ein wenig versetzt neben den Ohren aus seinem Schädel hervorwuchsen.

Sie flogen davon und ließen die Soldaten glotzend auf der Wiese zurück.

Das letzte, was sie hörten, war Valettes klangvolle Stimme, als sie den Kopf aus dem Kutschfenster streckte und rief: "Ein Rebell! Ein Rebell mit Stil! Das steht Euch zugegebermaßen am besten, Herr!"

 

Mit atemberaubender Geschwindigkeit überquerte der Drache die restliche Distanz, die sie vom Hafen trennte. Val stieß freudiges Gebrüll aus, als ihm der Wind um die Ohren und unter seine Kleider fuhr. Nie hatte er ähnliches erlebt, nie war er geflogen. Er drehte sich nach Leon um; der war im ganzen Gesicht grün angelaufen und klammerte sich mit steifen Fingern an den Drachenkörper; er schien nicht ganz so begeistert wie Val. Plötzlich ging das Tier in einen steilen Sturzflug. Val sah, dass Blauregen merkwürdig schwankte. Zehn Meter über dem Boden schließlich ging ihm die Kraft aus. Der Drache flackerte, wurde blasser und verschwand, nichts hielt sie mehr in der Luft und schreiend stürzten sie hinunter.

Val landete über einem Strauch Zierquitten. Das dornige Gestrüpp federte die meiste Wucht seines Aufpralls ab; zerstochen, aber ansonsten unversehrt, rollte er sich herunter und kam geschmeidig auf die Füße. Sein Atem ging keuchend, sein Herz schlug, als müsste es gleich zerspringen und seine Augen glänzten. Das war das Coolste, was er je erlebt hatte.

Blauregen und Leonhard kamen taumelnd auf die Füße; abgesehen von ein paar blauen Flecken fehlte ihnen nichts. Blauregen sah, dass Val unverletzt war und stieß einen erleichterten Seufzer aus.

"Blauregen, das war so cool! Können wir das nicht nochmal machen?"

Blauregen unterbrach ihn. "In drei Minuten müssen wir auf dem Schiff sein, worauf wartet ihr noch?"

Während sie die restlichen Meter bis zur Anlegestelle rannten, erhaschte Val einen Blick auf Leonhards Gesicht. Er sah so blass und verängstigt aus, dass Val schließlich fragen musste. "Was ist los mit dir? So schlimm war das doch auch nicht und uns ist ja nichts passiert. Wenn du mich fragst, war das sogar-"

"Val, das war Seelenmagie."

"Seelenmagie?"

"Er haucht toten Dingen Leben ein, er bringt Licht mit Bewegungsshmi dazu, sich zu verändern. Val, er ist gefährlich!"

Val schwieg eine Weile. Dann: "Das hätte ich dir von Anfang an sagen können."

 

Für Val und Leonhard war es ein leichtes, sich als Schiffsjungen getarnt zwischen den Seeleuten an Deck zu mogeln. Die trippelnden Schritte der Rattenfüße hörte in der Dunkelheit niemand. Sie hatten Parzival und Lanzelot gerade noch rechtzeitig abgepasst, bevor sie ohne sie an Bord der Rotkehlchen gegangen wären. Val war noch wie erstarrt von dem, was eben passiert war, bewegte sich wie in Trance. Leons Reaktion nach zu urteilen war Blauregens Magie - wenn man es nett ausdrücken wollte - außergewöhnlich und wenn er ehrlich war, hatte er noch nie von etwas Vergleichbarem gehört. Er ertappte sich selbst dabei, wie er den jungen Mann ehrfürchtig anstarrte. Wo hatte er so etwas gelernt? Wie konnte er die Form von Licht verändern? War er unbesiegbar?

Blauregen drehte sich zu ihm um, er wirkte gefasst und doch lag eine gewisse Kälte in seinem Blick. Bisher hatte er seine Lichtmagie kein einziges Mal benutzt. Überhaupt vermied er Magie, wann immer es nur ging. Vielleicht mochte er diesen Teil seiner Stärke nicht.

"Da klebt Blut an deinem Hals, Val."

Er strich ihm einmal mit Zeige und Mittelfinger über die Haut. Val schaute an sich herab. Sein Hemd war wieder blütenweiß, die Wunde am Hals geschlossen.

Sie gelangten ohne Zwischenfall in den Frachtraum, wie sie es geplant hatten. Val ging hinter einem schweren Wasserfass in Deckung, Leon und Blauregen mussten mit einer stinkenden Kiste eingelegter Gurken Vorlieb nehmen. Es dauerte nicht lange, dann legte das Schiff ab. Mit ihnen als blinde Passagiere. Val wurde bei dem Gedanken mulmig zumute. Er wusste aus Erfahrung, was man mit blinden Passagieren zu tun pflegte, wenn man sie entdeckte.

"Wir fahren in den Fluss ein", sagte Blauregen. "Alles läuft nach Plan."

Val ließ sich gegen die Schiffswand sinken. Die Erschöpfung des Tages brach über ihn herein.

"Also?", fragte Lanzelot. "Wie ist es euch ergangen? Warum riecht der Löwe nach Blut?"

 

Überfall

Blauregen berichtete in knappen Sätzen von der Auseinandersetzung mit den Soldaten; mit keiner Silbe allerdings erwähnte er dabei den Lichtdrachen, den er mit bloßen Händen erschaffen hatte. Die Ratten fragten nicht lange nach. Dann schwiegen sie. Val dachte über den Kampf nach und Leons unnatürlich starre Körperhaltung verriet ihm, dass es ihm nicht anders erging. Hin und wieder sank ihm der Kopf auf die Brust und er schlief ein. Dann verfolgten ihn wirre Träume ohne Substanz und er war froh, wenn er wieder aufwachte.

Blauregen schien ihren Blicken auszuweichen. Er hatte sich mit dem Rücken zu ihnen ans Bullauge gesetzt und starrte seit Stunden ununterbrochen auf die vorbeiziehende Landschaft. Hin und wieder befingerte er die Kette an seinem Hals. Val wandte den Blick ab. Ein anderes Thema, das sein Interesse schon vor einiger Zeit erregt hatte, lag ihm auf der Zunge.

"Parzival, Ihr müsst mir noch erklären, was es mit den Barbaren auf sich hat", sagte er zu der alten Ratte, die es sich in einem rot-weiß-gestreiften Rettungsring gemütlich gemacht hatte.

Sie reckte die Brust und steckte das Schwert zurück in seinen Gürtel, das er in den letzten Minuten auffällig vor aller Augen geputzt hatte, als wolle er sie auffordern, ihm für die blitzende Schneide Komplimente zu machen.

"Wo soll ich anfangen?", fragte er und strich sich nachdenklich über die Schnurrhaare.

"Alangium", sagte Blauregen, ohne sich umzudrehen.

"Alangium", nickte Parzival. "Oder wie sie öfters genannt wird: die gefangene Stadt."

"Warum gefangen?"

"Das ist eine lange Geschichte. Also erstens einmal ist Alangium die Geburtsstadt Ashers-"

"Des Roten Löwen?" Val starrte Blauregen vorwurfsvoll an. Nur dass es der nicht sehen konnte, weil er ihm ja den Rücken zugewandt hatte. "Warum hast du mir das nicht gesagt?"

"Ist das denn wichtig?", murmelte er.

"Ja!"

"Du musst wissen, er war der unangefochtene Herrscher über die Stadt", sprach Lanzelot, die jüngere Ratte, weiter, die aus ihrem Nickerchen erwacht war und ein Auge geöffnet hatte. "Aber gleichzeitig war er ihr Beschützer. Er hat sie geliebt und die Leute haben ihn geliebt."

Val nickte, damit er schnell weiter sprach. Er fand es aufregend, etwas über die Vergangenheit seines früheren Lebens zu erfahren. Asher. Allein der Name ließ ihn erzittern.

"Dann geschahen diese Dinge, die alles verändert haben. Er hat den Drachen umgebracht und niemand weiß, warum er das getan hat."

"Warte mal … den Drachen umgebracht?" Das war das erste, was Val hörte. "Ich dachte -ihr habt mir nicht gesagt, dass er den Drachen umgebracht hat! Ihr habt mir gesagt, dass er irgendwen getötet hat!" Jetzt galt sein vorwurfsvoller Blick Leonhard.

Der druckste herum. "Wir wollten es dir nicht sagen, weil … wir wollten nicht, dass du naja Angst vor dir selber hast oder so."

Val dachte eine Weile darüber nach. "Warum hat er das getan?", fragte er dann. Bewusst vermied er das erste Personalpronomen.

"Das weiß niemand." Lanzelot schüttelte den Kopf. "Wir wissen nur, dass er es getan hat. Die ganze grüne Seite hat sich gegen ihn gestellt, auch heute noch hassen sie ihn wie die Pest. Ja ja, ist auch verständlich-", sagte er, als Blauregen etwas einwerfen wollte. "Wir würden andersrum genauso empfinden … Nun dann wollte Asher seinen guten Ruf wiederherstellen, oder ich denke mal, er hätte ihn früher oder später sowieso herausfordern müssen, jedenfalls hat er Fauces den Krieg erklärt. Sie haben miteinander gekämpft. Asher hat ihn besiegt und ihm die Fessel angelegt. Aber er wurde dabei getötet."

"Getötet?", sagte Val leise.

"Nun, seine Leiche wurde nie gefunden, aber er muss tot sein, sonst wärst du nicht hier. Außerdem macht es sonst auch keinen Sinn. Niemals hätte er seine Stadt und ihre Bewohner allein gelassen , niemals hätte er Fauces die Macht ergreifen lassen."

Val fiel aus allen Wolken. "Fauces hat die Macht über Alangium ergriffen?"

Die Ratte nickte bitter.

"Wie hat er das gemacht?"

"Eigentlich war es ganz leicht." Blauregens Stimme schnitt durch die Luft. "War ja schließlich keiner mehr da, um sie zu beschützen, oder? Und er hatte schon damals viele Männer in seiner Gefolgschaft. Die Alangianer, die Widerstand leisteten, wurden entweder umgebracht oder vertrieben."

"Das sind die heutigen Barbaren", wusste Leon einzuwerfen. "Die, die damals Widerstand leisteten. Sie leben jetzt in den Wäldern um Alangium herum - und warten auf eine Chance zur Rache, sagt man."

"Apropos Wälder um Alangium - wir sind bald da", sagte Lanzelot und wies mit einer rosa Pfote aus dem Fenster. Val folgte seinem Blick. Zu ihrer Rechten ragte das Ufer einer Landzunge weit in den Fluss hinein, nur wenige Meter trennte es vom Schiff. Die dicht aneinander stehenden Bäume wurden vom bleichen Mond in unheimliches Licht getaucht. Er meinte Schatten darin zu erkennen, die sich in ihre Richtung bewegten.

"Ich wünschte, der Kapitän würde nicht so nah ans Ufer fahren", sagte Blauregen beunruhigt. "Wer weiß, was in diesem Wald alles lauert."

"Wer herrscht nun über die Stadt?", fragte Val. "Blauregen, du hast doch gesagt, Alangium sei die Hauptstadt der grünen Magier. Deshalb ist jetzt der Drache dort. Früher war sie aber anscheinend die Hauptstadt der Roten, oder? Und wo ist Fauces? Ist er der Herrscher?"

"Oh nein", sagte Blauregen. Er malte mit dem Finger Muster in den Staub auf der Gurkenkiste. "Du hast recht, sie ist die Hauptstadt der Grünen Magier. Sieh mal, Val, Fauces hat die Macht erlangt, aber er hat keine Zeit dazu, eine Stadt zu beherrschen, er muss ja nach dir suchen. Ich glaube sowieso, dass er es mehr aus Rache tut. Dass er Alangium vor allem deshalb besetzt hält, um Ashers Angehörige quälen zu können. Er hasst ihn so abgrundtief, das kannst du dir nicht vorstellen. Ohne ihn läge ihm längst schon die ganze Welt zu Füßen. Ohne dich." Er nickte ihm zu.

Val antwortete nicht. Er konnte sich nicht erinnern, er konnte es sich noch nicht einmal in seinen kühnsten Träumen vorstellen, das alles einmal getan zu haben. Einen Menschen getötet und den schwärzesten aller Magier besiegt zu haben. Und doch starrten ihn alle an, als wäre er ein Held. Oder Schlimmeres.

"Wer also herrscht über die Stadt?", beharrte er.

"Also …" Blauregen verzog gequält das Gesicht. "Um auf deine anderen Fragen zurückzukommen … es ist noch gar nicht lange her, da haben sich die Grünen Magier und die Hirudines verbündet."

Stille folgte seinen Worten. Val starrte ihn an. "Verbündet!", wiederholte er erstaunt. Bilder von Zierkies, Fahnenbruck und einem schwarz gekleideten Mann ohne Gesicht - so nämlich sah Fauces in seiner Vorstellung aus - erschienen ihm vor dem inneren Auge, miteinander verbrüdert, eine Phalanx schwarzer Magie. Eine beängstigende Vorstellung.

Blauregen nickte. "Weißt du, alle sind scharf darauf in Alangium zu leben, schwarze, rote, grüne Magier. Die Stadt ist immerhin auf den Ursprünglichen Hügeln erbaut, wo alles angefangen hat. Die Verbindung zum Himmel soll da besonders gut sein, keine störenden Nebengeräusche, weißt du." Er lächelte schief, aber Val war nicht nach Scherzen zumute.

Blauregen wurde wieder ernst. "Die Grünen Magier haben sich in Ashers altem Palast eingenistet. Nun haben sie den Drachen hinterher geholt und das war zugegebenermaßen ein ziemlich kluger Schachzug. Kannst du dir vorstellen, wie schwierig es wird, dich in die Stadt zu bekommen? Geschweige denn in den Palast? Und überall lauern sie, die grünen und schwarzen Magier, alle Soldaten haben nur dieses eine Ziel, dich zu schnappen …" Er verstummte.

Val schwieg. Erst allmählich wurde ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation bewusst. Bisher hatte er es erfolgreich verdrängt.

Blauregen sah ihn kurz an, dann sprach er weiter. "Der schlimmste von ihnen, schlimmer noch als Zierkies oder Fahnenbruck, sitzt auf dem Thron. Erledigt für Fauces die Drecksarbeit, während er nach dir Ausschau halten kann. Er heißt Adair und ist der von ihm ernannte Herrscher über die Stadt. Ein ganz übler Geselle, du wirst ihn sicher bald kennen lernen. Er ist keine Spur besser als Fauces."

"In der Tat nicht", sagte Lanzelot plötzlich. Er zitterte und umklammerte den Griff seines Schwertes fester. "Lässt unschuldige Menschen einsperren, hat viele Kinder zu Waisen gemacht. Uns sprechenden Ratten hat er den Zugang zur Stadt verboten."

Val fühlte sich plötzlich hilflos. Wie aussichtlos schien doch das Unterfangen jetzt, den Drachen zu treffen und ihm ein paar Tropfen Blut zu rauben. Er wünschte sich, er hätte das alles früher gewusst.

Er schien nicht der einzige zu sein, der so dachte.

"Wie kann der Junge denn von nichts wissen?", rief Parzival vorwurfsvoll. "Er ist doch der Shogha, oder nicht? Warum hast du ihm denn nichts erzählt über das, was ihn erwartet, Blauregen?"

Blauregen schwieg, nur sein Blick wurde noch eine Spur finsterer.

"Ich an deiner Stelle hätte ihm alles gelehrt. Ja, ich weiß", sagte er, denn Blauregen wollte ärgerlich etwas einwerfen, "du hattest noch nicht viel Zeit dazu. Ich aber, ich hätte jede einzelne Sekunde genutzt. Jetzt mal ehrlich, denkst du nicht an die Rebellion, die vor der Tür steht? Penn wird ihn sicher zu benutzen versuchen oder meinst du etwa nicht?"

"Rebellion?", fragte Val und horchte auf. "Es gibt eine Rebellion?" Diese Neuigkeit war schon mehr nach seinem Geschmack.

Plötzlich erhob sich Blauregen, richtete sich zu voller Größe auf und sein Zorn schien wie Wellen von ihm auszugehen. "Wag es nicht, dem Jungen die Rebellion geschmackvoll zu machen! Wag es nicht, Penns Namen in den Dreck zu ziehen-"

Parzival bekam keine Gelegenheit sich zu verteidigen und Val keine zu fragen, denn da rief Leonhard erschrocken: "Seht doch!" Er deutete aufgeregt aus dem Fenster und alle wandten ihre Köpfe. Das Schiff passierte gerade eine lichtere Stelle im Wald, Mondlicht erhellte die Bäume und gab preis, was in ihren Kronen saß. Ein großer, bulliger Schatten kniete auf einem mächtigen Ast, das Gesicht ihnen zugewandt. Es war der Umriss eines Menschen, wie Val mit Entsetzen erkannte. Hinter ihm warteten andere Gestalten von ähnlicher Größe oder Statur. Val wusste, was das bedeutete, bevor Lanzelot es aussprach. Was die erfahrenen Seeleute von Anfang an befürchtet hatten.

"Barbaren!"

"Sie greifen das Schiff an!"

"Barbaren?", echote es durch den Raum.

"Der verdammte Kapitän ist zu nah ans Ufer gefahren!", rief Blauregen wütend und wirbelte herum.

Der erste der Barbaren griff sich eine der knorrigen Ranken und sie mussten ohnmächtig dabei zusehen, wie er vom Baum herabsprang und lautlos wie eine zu groß geratene Fledermaus durch die Luft auf sie zu segelte. Ein leises Geräusch über ihren Köpfen sagte ihnen, dass er den Sprung geschafft hatte. Einen Moment herrschte Stille - dann: "Alle Mann an Deck!", schrie Lanzelot mit zuckenden Schnurrhaaren. "Wir werden angegriffen!" Und er und Parzival packten ihre Schwerter und zogen sie mit einem zischenden Geräusch aus ihrer Scheide.

Mehrere Männer, die wie Fledermäuse herübergeflogen kamen, landeten auf dem Schiff, Val sah ihre Schatten über das Wasser gleiten und hörte das sanfte Poltern ihrer Landung. Es ging so schnell, dass er kaum wusste, wie ihm geschah. Von der Besatzung der Rotkehlchen hatte es bisher noch niemand bemerkt. Aber schließlich hörte man Schreie, Schwertergeklirre, grässliches Zischen und erschrockene Rufe. Man hatte sie im Schlaf übermannt.

"Wir müssen ihnen helfen!", schrie Leon. Fast gleichzeitig richteten sie sich auf und stürzten zur Tür. Sie wurde im selben Moment aufgestoßen, als sie sie erreichten, und Val sah zum ersten Mal in seinem Leben einen Barbar. Er sah schlicht und ergreifend grässlich aus. Sein langer brauner Bart hing ihm beinahe bis zum Bauchnabel, Zweige, Ungeziefer und Essensreste waren darin verworren. Sein Gesicht war breit und feist, die Augen standen weit auseinander und schienen tief in ihren Höhlen zu liegen. Seine Lippen waren dick und wulstig wie Raupenbabys. In den Händen hielt er eine erschreckend große Keule, die mit spitzen Nägeln am Ende versehen war. Sein ganzer Körper war in Tierfelle eingewickelt; diese Tiere - Leopard, Bär, Wolf - hatte er sicher einst selbst umgebracht. Val bekam einen ersten Eindruck davon, wie furchtlos und stark der Mann sein musste. Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, er war wie erstarrt.

"Blinde Passagiere!", brüllte der Barbar freudig und offenbarte dabei einen starken, verrohten Akzent. Sein Mund verzog sich zu einem zahnlosen Grinsen und er brüllte einen Schlachtruf, als er wild mit der Keule fuchtelnd auf sie zustürmte. Er holte gegen Blauregen aus, der ihm am nächsten war; er duckte sich im letzten Moment und konnte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite rollen, ehe ihm er Schädel eingeschlagen worden wäre. Der Barbar wandte sich Leonhard zu, der vor Angst wie erstarrt war. Alle Gedanken an Kampf und Magie schienen vergessen. Der Wilde schwang die Keule und zielte auf den Kopf des Jungen. Sicher wäre Leon getroffen und übel verletzt worden, hätte sich nicht im letzten Moment eine mutige Ratte mit ausgestreckten Pfoten im Sprung auf den Angreifer gestürzt. Parzival krallte sich im Gesicht des Barbaren fest, kratzte ihm über Augen, Nase und Mund, dass Blut spritzte. Der Barbar heulte auf, ließ die Keule fallen und packte das Tier mit beiden Händen. Die Waffe fiel mit einem gewaltigen Krachen zu Boden und riss ein Loch in das Holz. Flusswasser sickerte herein. Mit einem Ruck befreite der Barbar sein Gesicht von der Ratte und schleuderte sie von sich. Sie prallte heftig gegen die Schiffswand, was ein dumpfes Geräusch verursachte, dass Val sich der Magen umdrehte und sackte leblos zu Boden. Der Barbar hatte sich nun Val zugewandt; er war mittlerweile angesichts seiner zahlenmäßigen Unterlegenheit mächtig wütend geworden. Vals Hilflosigkeit aber schien ihm zu gefallen; er hatte ja noch nicht einmal eine Waffe. Val ging in Kampfstellung, ohne zu wissen, was er da überhaupt tat.

Blauregen hatte sich inzwischen weiter gerollt, flink wie immer packte er die fallen gelassene Keule, hob sie mit gewaltiger Anstrengung in die Luft und zog sie dann dem Barbaren mitten über den Schädel. Der gab ein komisches kleines Gurgeln von sich, seine Augäpfel drehten sich nach innen und er fiel in sich zusammen.

Atemlos starrten die Freunde seinen leblosen Körper an.

"Ein Glück, dass ich die Keule verkehrt herum aufgehoben habe", keuchte Blauregen. "Ich will mir nicht vorstellen, wie sein Kopf von Nägeln aufgespießt aussehen muss."

Leon gab ein leises, würgendes Geräusch von sich und sackte gegen einen der Stützbalken; sein Gesicht war grün angelaufen. Val lief zu Parzival, der sich nicht mehr gerührt hatte, seit er gegen die Wand geklatscht war und nahm ihn behutsam in seine Hände; er befürchtete das Schlimmste. Konnte ein so kleines Tier diese brutale Gewalt überleben? Eine Ratte in seinem Alter?

"Er lebt noch", sagte er zu dem aufgelösten Lanzelot. Erleichterung durchströmte ihn, als er das kleine Herz unter seinen Fingerspitzen schlagen spürte. "Seine Atmung ist flach, aber sie ist da."

Die jüngere Ratte nickte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. "Nach oben! Wir sind noch lange nicht fertig!", rief er tapfer. Vom Deck war noch immer Kampfeslärm zu vernehmen.

Als sie nach oben kletterten, war der Kampf in vollem Gange. In dem Getümmel war beinahe nicht zu erkennen, wer Barbar und wer Matrose war. Die Schiffsleute hielten sich gut, aber ein paar waren schon gefallen. Die Barbaren waren in der Überzahl, mitunter landete immer noch einer, der sich von den Bäumen herübergeschwungen hatte. Man wurde auf die neuen Mitkämpfer aufmerksam.

"Blinde Passagiere!", schrie ein Seemann und war einen Moment unschlüssig, ob er nicht sie mit seinem Messer angreifen sollte.

"Es ist mir herzlich egal, woher sie kommen, Hauptsache sie helfen uns, diese Bastarde von meinem Schiff zu vertreiben!", schrie der Kapitän außer sich, der in einen Kampf mit einem besonders wild aussehenden Barbar verwickelt war. Der Seemann nickte und hob sein Messer, um einen Schlag abzuwehren, der auf seinen Kopf abgezielt war.

Blauregen stürzte sich in ein Gefecht zwischen einem Barbar und einem Jungen nicht viel älter als Val und Leonhard. Val sah, dass er schließlich doch noch Magie einsetzte. Seine Finger flogen bereits durch die Luft, während zwei Barbaren von unsichtbaren Schlägen zu Boden gestreckt wurden. Hoffnung keimte in seiner Brust auf. Mit Blauregens Hilfe würden sie diese Schlacht gewinnen.

Die beiden Jungen übernahmen zusammen mit Lanzelot den Barbar, der mit dem Rücken zu ihnen stand und den Kapitän bekämpfte. Die Ratte kletterte an seinen dreckigen Kleidern hoch und biss ihn ins Ohr, der Barbar schrie auf. Val trat ihm mit voller Wucht von hinten in die Kniekehlen und Leon, der sich ein fallen gelassenes Schwert geschnappt hatte, zog ihm den stumpfen Schaft über die Rübe, wie schon Blauregen ein paar Minuten zuvor. Der Wilde fiel in sich zusammen und rührte sich nicht mehr. Val reckte beide Daumen in die Höhe, tat es seinem Freund gleich und schnappte sich die Keule des Bewusstlosen. Mit lautem Gebrüll eilte ein weiterer Barbar quer über das Schiffsdeck auf sie zu und schwang dabei seine Keule wie von Sinnen. Er hatte gesehen, was sie mit seinem Freund angestellt hatten und war nun blind vor Wut. Leon, den er in der Dunkelheit völlig übersehen hatte, stellte ihm ein Bein, der Barbar stolperte und klatschte der Länge nach auf den Boden. Val knockte ihn aus, darauf bedacht, nicht so viel Kraft zu verwenden, ihn umzubringen. Als sie sich umdrehten, hörte Val ein Wort in einer fremden Sprache, wie es von mehreren Seiten gerufen wurde.

Plötzlich unterbrachen die Barbaren ihren Kampf. Angst spiegelte sich in ihren Gesichtern wider. Val sah, dass sie Leonhard und ihn selbst so anstarrten. Er war verwirrt. Sollten sie nicht eher vor Blauregen Angst haben, der augenscheinlich der fähigste Magier unter ihnen war und nicht vor zwei blöd mit Keulen fuchtelnden Jungen? Aber ehe er sich versah, rannten die Wilden das Deck hinauf, stürzten sich Hals über Kopf die Schiffswand hinab und verließen den Ort des Geschehens. Einige sprangen direkt ins kalte Wasser und schwammen zum Ufer des Waldes zurück, andere kappten das Rettungsboot und ließen es hinunter, zogen ihre bewusstlosen und verletzten Kameraden mit sich. Der Kapitän ließ es geschehen und gab seinen Leuten Befehle, sie ziehen zu lassen. Er blutete heftig aus einer Wunde am Arm, was ihn aber nicht weiter zu stören schien; vorher kümmerte er sich um seine Besatzung. Er eilte zu einem am Boden liegenden Mann, nannte seinen Namen und rüttelte ihn an der Schulter.

Blauregen lief zu den beiden Jungen. Er hatte einen Schnitt an der Brust, wo auch sein Hemd der Länge nach aufgeschlitzt war. Er packte Val an der Schulter und riss ihn beinahe von den Füßen.

"Alles okay?", fragte er atemlos. "Ist dir was passiert? Tut mir leid, ich hab nicht aufgepasst-"

Val nickte nur, machte sich los und hörte ihm gar nicht zu. Er sah sich nach allen Seiten um. Für seine allererste Schlacht war das doch ganz gut gelaufen, dachte er, immerhin war er unverletzt.

Sie halfen, die Verwundeten zu verarzten und auf Bahren zu legen. Niemand war tödlich verletzt; sie hatten Glück gehabt. Als das Gröbste erledigt war, erlaubten sie sich, einen Moment zu verschnaufen.

Leonhard klopfte Val flüchtig auf die Schulter. "Gut gemacht", sagte er. Er wirkte erschöpft, aber glücklich. Seine ehemals so aristokratisch anmutende Kleidung war starr vor Dreck und an mehreren Stillen zerrissen.

"Was ist los?", grinste Val. "Warum bist du plötzlich kein Arschloch mehr?"

Leon lächelte gequält.

Schließlich zog Val den alten Parzival aus seiner Tasche, den er die ganze Zeit über darin aufbewahrt hatte. Die Ratte hatte die Augen noch immer geschlossen und Vals Herz sank ihm in die Hose. Hatte das Tier den Schlag gegen die Wand nicht überlebt? Wie sollte er es Lanzelot beibringen? Er hatte Angst, einen Finger an die kleine Brust zu drücken, um nach einem Puls zu suchen. Hilflos stand er da und wusste nicht, wie er die Worte formulieren sollte.

"Warte, ich habe eine Idee!" Lanzelot schoss übers Schiffdeck davon und krabbelte über das Geländer. Als er zurückkehrte, hatte er offenbar nichts dabei. Dann aber beugte er sich über Parzival, öffnete den Mund - und spie ihm einen Ladung Salzwasser ins Gesicht. Die alte Ratte zwinkerte, hustete und richtete sich auf. Als er die Schnurhaare schüttelte, spritzte Wasser in alle Richtungen. Die Jungen und Blauregen lachten erleichtert.

Parzival war schockiert. "War das gerade in deinem Mund!? Wo sind die Barbaren? Habt ihr mich etwa den ganzen Spaß verschlafen lassen?"

Der Kapitän des Schiffes hob die Hand, woraufhin das ganze Schiff verstummte. Er näherte sich den dreien mit finstere Miene. "Blinde Passagiere", zischte er. "Ihr wisst, was man mit solchen für gewöhnlich anzustellen pflegt."

Leonhard war empört. "Sind sie nicht ganz bei Trost, Alter? Ohne uns wären sie bei lebendigem Leibe massakriert worden! Das ist das Undankbarste, das Idiotischste, das-"

Er wurde darin unterbrochen, weitere beleidigende Adjektive aufzuzählen, denn der Kapitän fiel ihm um den Hals und bedanke sich schluchzend. Seine Matrosen brachen in erleichterten Jubel aus.

Auch Val stieß einen erleichterten Seufzer aus, er hatte schon das Schlimmste befürchtet.

Der Kapitän bedankte sich bei allen nacheinander; selbst den Ratten schüttelte er die kleinen Pfoten. Er war der Meinung, dass es nur ihrem mutigen Auftreten zu verdanken war, dass die Barbaren das Schiff schließlich verlassen hatten.

"Ich hab einen von ihnen gehört", sagte er. "Sie waren wohl der Meinung, dass wir unter Deck eine ganze Ladung gut ausgebildeter Kämpfer versteckt hätten! Deshalb sind sie geflohen!" Er klopfte Blauregen auf die Schulter. "Solche blinden Passagiere lobe ich mir!", sagte er und grinste. "Zur Abwechslung keine Schmarotzer und Taugenichtse."

Blauregen trat beiläufig einen Schritt zur Seite, aber Val entging nicht, dass er vor der Berührung des Mannes zurückscheute.

"Ich glaube nicht, dass sie deshalb geflohen sind", warf Lanzelot stirnrunzelnd ein. Es sah lustig aus, wie die Ratte die Brauen zusammenzog. "Sie haben dieses Wort in ihrer Sprache gebrüllt, immer und immer wieder, leider weiß ich nicht, was es bedeutet …"

"Ich weiß es", sagte Blauregen. Alle Blicke richteten sich auf ihn. "Kruurdik sind tot geglaubte Kinder, die wieder zum Leben erwacht sind. Geister sozusagen. Ihnen werden unheimliche Fähigkeiten im Kampf zugeschrieben. Ich denke, sie haben Val und Leonhard für solche gehalten, weil sie so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht sind wie Todesengel."

"Geister?", fragte Lanzelot überrascht. "Sie sind also abergläubisch?"

Blauregen zuckte die Schultern.

Aber die Ratte wirkte so entzückt, als wäre ihr diese Information Gold wert.

"Woher kennst du die Barbarensprache?", fragte Val neugierig. "Wo hast du das gelernt?"

Der junge Mann lächelte nur rätselhaft und schüttelte den Kopf. Nichts werd' ich dir über meine Vergangenheit erzählen, sollte das wohl heißen. Val kniff die Augen zusammen und unterdrückte ein wütendes Knurren.

Der Kapitän versprach ihnen für den Rest der Fahrt eine eigene Kajüte und Verpflegung erster Klasse.

"Keine Essiggurken", sagte Leonhard schnell.

 

Jagd durch Alangium

Nachdem sie den Rest der Fahrt unbehelligt auf dem Schiff verbracht hatten und als Blauregen die Gastfreundschaft des Käptn's schon auf die Nerven ging, liefen sie schließlich in Alangiums Hafen ein. Val hatte die Hände auf die Reling gestützt und maß das näherkommende Meer rot funkelnder Häuserdächer mit wachsender Begeisterung. Nie hatte er eine so große Stadt gesehen. Am Horizont meinte er die Ursprünglichen Hügel zu erkennen, von denen Blauregen gesprochen hatte, ein Wechselspiel von Berg- und Tallandschaft, überzogen von schimmerndem Grüngras.

Mit gewaltigem Krachen und Kettenklirren ging die Rotkehlchen vor Anker. Das Schiff war so groß, dass es schnell die Aufmerksamkeit der Marktbesucher auf sich zog. Der Kapitän trug einen erheblichen Teil dazu bei; händeschwingend kam er zu ihnen herüber flaniert, wobei er lautstark verkündete, welch große Helden sie doch seien, wie sie doch gerade im letzten Moment aufgetaucht wären und wie sie das Schiff mit ihrem unbeschreiblichen Wagemut vor den Barbaren gerettet hätten. Ein kleiner Pulk von Leuten, die eine gute Geschichte witterten, versammelte sich vor der schwankenden Holzbrücke.

"Ja, ja, schon gut", zischte Blauregen. Er schüttelte dem Kapitän ein letztes Mal die Hand, während er die Menge im Hafen bereits nach grün gekleideten Soldaten absuchte. Auf eine Begrüßung wie in Farnheim wollte er diesmal besser vorbereitet sein.

"Auf Wiedersehen, Kapitän." Val verabschiedete sich und der Kapitän schien es sehr zu bedauern, sie ziehen lassen zu müssen.

"Auf Wiedersehen, meine Lebensretter!", rief er ihnen hinterher.

Blauregen verzog das Gesicht, dann verließen sie eiligst das Schiff.

Parzival war darüber ein wenig enttäuscht. "Hätte den Leuten gerne erzählt, wie wir die Barbaren ins Bockshorn gejagt haben. Nur selten trifft man noch auf wahre Helden wie uns!"

"Du hast doch gar nichts gemacht, du warst ja die ganze Zeit bewusstlos", murrte Leonhard. Er war schlecht gelaunt war, seit er heute Morgen sein Spiegelbild in einer Pfütze gesehen hatte.

"Ich habe noch nie so schrecklich ausgesehen!", hatte er tief getroffen verlauten lassen. "Mein Haar ist ein einziger Adlerhorst, meine Rippen stechen hervor wie bei einem afrikanischen Gnu und von meiner Kleidung brauche ich gar nicht erst anzufangen!"

Blauregen hatte ihn nur angestarrt.

Auch Val war wehmütig, allerdings aus einem anderen Grund. Nicht nur, dass er das Leben auf hoher See vermissen würde; mit dem Einlaufen in Alangium war auch die kleine Fantasiewelt geplatzt, die er sich in den letzten Tagen sorgfältig zurecht gesponnen hatte. Er hatte sich vorgestellt, ein einfacher Matrosenjunge zu sein, ganz wie früher, mit wenig Verpflichtungen, die es ihm Spaß machten zu erfüllen. Nun waren sie auf ihrer Reise ein großes Stück vorangekommen und es galt mehr denn je, den Drachen auf schnellstmöglichem Weg zu finden und dingfest zu machen. Val seufzte. Er wurde sich seines jungen Alters und seiner bescheidenen Fähigkeiten erneut schmerzhaft bewusst.

Alangiums Hafen konnte sich sehen lassen. Fischhändler priesen ihre Waren an, Seeleute, die mehr an Piraten als an anständige Männer erinnerten, bahnten sich mit stampfendem Holzbein einen Weg durch die Menge. Auch Soldaten waren da, die Hände kampfbereit um die Schwertgriffe gelegt und Val verzog das Gesicht; von denen hatte er bisher weiß Gott schon genug gehabt. Glücklicherweise schien das Kontrollieren von Neuankömmlingen nicht zu ihren Aufgaben zu gehören.

Schon bald verabschiedeten sich die beiden Ratten von den Reisenden. "Wir müssen Onkel und Tanten besuchen, Cousinen und Cousins, Schwestern, Halbschwestern, Stiefbrüder und Stiefmütter…", zählte Lanzelot auf. "Da ist einiges zu tun."

"Von unseren Abenteuern erzählen …", fügte Parzival dröhnend hinzu. Val meinte, dass bei diesem Ausspruch ein besorgter Ausdruck über Lanzelots Gesicht huschte, aber wenn es so war, verbarg er ihn schnell wieder.

"Wir werden uns bald wieder begegnen", sagte die jüngere Ratte zum Abschied. "Euren Geruch kennen wir überall heraus. Bis bald, junger Löwe! Leon, Blauregen." Dann tauchten sie in der Menge unter.

"Ich wünschte, er würde das nicht so herumschreien", sagte Blauregen mit finsterer Miene und schaute sich um. Die Leute, die seinem Blick begegneten, schauten schnell wieder weg.

"Was meint er damit, er würde unseren Geruch überall herauskennen?", sagte Leonhard gekränkt. Vielleicht dachte er an sein Spiegelbild vom Morgen.

"Nichts weiter. Für Ratten ist der Geruch eines jeden Menschen einzigartig, sie speichern ihn, wie wir das Gesicht eines anderen speichern. So werden sie uns problemlos finden können."

Sie schlenderten eine Weile durch den Hafen. Irgendwie schien Blauregen die Ankunft bei seinem Bekannten hinauszögern zu wollen, denn immer wieder wies er die Jungen auf neue atemberaubende Handelswaren und Ladenbesitzer hin, die gar nicht so atemberaubend waren. Aber sie ließen es sich anstandslos gefallen, weil sie schon lange nicht mehr so viel Zeit an einem so schönen Ort verbracht hatten. Val staunte über die unzähligen Katzen, die zwischen den Menschen wie selbstverständlich herumstreunten und nach Fischresten bettelten. Als er Blauregen danach fragte, nickte der und sagte: "Ja, Katzen wirst du in dieser Stadt wahrlich in jeder Ecke antreffen. Und ihren Herrn wirst du auch bald kennenlernen."

"Wen meinst du?", fragte Leon und wandte den Blick von einem Spielmann, der in der Mitte des Platzes für ein paar Münzen mit einem Dutzend Bällen gleichzeitig jonglierte.

Blauregen sah sich um, als würde er auf etwas warten. "So, genug getrödelt. Gehen wir in den inneren Kern der Stadt."

Wie sich nämlich herausstellte gehörte der Hafen und die angrenzenden Wohnviertel nur zu den äußeren Stadtbezirken. Um in die Marktviertel und zu den großen Plätzen mit mehr Betrieb zu gelangen, musste man einer gewundenen Straße bergaufwärts folgen. Der innere Teil der Stadt war auf einem breiten Plateau gebaut, abgeschnitten vom übrigen Land durch einen breiten, tiefen Graben. Eine doppelspurige steinerne Brücke führte über die Schlucht. Val wagte einen Blick in die Tiefe und sein Magen machte einen Salto rückwärts. Er konnte nicht einmal den Grund sehen, so tief war der Graben. Wagen und Pferde drängelten sich an ihnen vorbei, deren Besitzer sich über den Straßenlärm hinweg wütend anschrien. Es gab kein Geländer und Val starb innerlich tausend Tode, wenn er sich vorstellte, wie sie so nahe am Abgrund kutschieren zu müssen.

"Beeindruckend, nicht wahr?", fragte Blauregen. Er strahlte. "Haben weder Kosten noch Mühen gescheut, diese Gelehrten."

Hinter ihnen ertönte Hufgetrappel. Ein schneeweißes Pferd, das von einem vollständig vermummten Reiter gelenkt wurde, preschte in atemberaubender Geschwindigkeit über die Brücke, zog an ihnen vorüber und drang in gestrecktem Galopp in die Stadt ein. Die Wachen hielten sie nicht auf.

"Boten", erklärte Blauregen, als er die fragenden Blicke der Jungen sah. "Die Gelehrten verschiedener Städte stehen über Boten miteinander in Verbindung, die weiße Lipizzaner reiten."

Val war sprachlos. Nie hatte er einen Platz mit so vielen merkwürdigen Gepflogenheiten gesehen. Es war nun tatsächlich zu spüren, dass sie näher im Landinneren wanderten und weiter weg vom Meer. Er fühlte sich wie ein Fremder.

Die Wachen gingen bei ihrer Kontrolle nur stichprobenartig vor und auch die drei durften unbehelligt ziehen. Aber Val fiel etwas auf, als er die Uniformen der Soldaten näher in Augenschein nahm; er sog überrascht die Luft ein.

"Blauregen", zischte er. "Diese Soldaten – das waren dieselben, die mich angegriffen haben! Damals, als wir dem Drachen in der Talsenke begegnet sind." Er fuhr sich mit den Fingern über die Verletzung am Handgelenk. Egal wie viel Zeit verstrich, die Wunde wollte einfach nicht vollständig verheilen.

"Bist du sicher?", fragte Blauregen mit gerunzelter Stirn.

"Ganz sicher. Ich erkenne ihr Siegel." Er warf einen zweiten Blick auf das silberne Feuer an ihrer Brust, vor dem auch Rosenfeld ihn schon gewarnt hatte. Hüte dich vor silbernem Feuer auf grünem Grund!

Leonhard nickte. "Hundert Prozent."

"Nun, natürlich, die Soldaten der Gelehrten. Mitunter wohl auch Leibgarde des Drachen", sagte Blauregen nachdenklich. "Sie werden dich unmöglich erkennen. Komm. Und hör auf, daran herum zu reiben!"

Val ließ seine Hand los. Des Öfteren warf er einen Blick über die Schulter, ehe er durch die bronzenen Torflügel trat. Dann zog ihn der Anblicks Alangiums in seinen Bann. Die Häuser waren höher, als er es von Amalthien gewohnt war, glatt wie Schlangenhaut und von einem ockerfarbenem sanften Gelb. Durch gedrungene Gässchen zog sich eine bunte Menge von Menschen, Wagen, Hunden, Eseln und Pferden. Standbetreiber boten ihre Waren an und versuchten dabei, sich gegenseitig zu übertönen.

"Spiegelndes Auffangglas! Sternentau gefangen, ganz leicht gemacht!"

"Verhexte Amulette! So bereitet man seinem schlimmsten Feind einen Tag in der Vorhölle!"

Ein anderer hob eine Hand voll roter Küken hoch. "Söhne des berühmten Torro! Gewinnen garantiert jeden Kampf für Euch! Holt Euch jetzt den nächsten Champion!"

Eine Frau fragte, wie er denn wisse, welche von den Tieren weiblich und welche männlich seien. Der Händler beachtete sie nicht und versuchte stattdessen, ihre keifende Stimme zu übertönen. Val grinste und blickte weiter. Zwar fiel ihm auf, dass die Menschen allesamt recht dünn waren. Ihre Hände gezeichnet von harter Arbeit, und ihre Kleidung schäbig. Es gab auch Bettler, mehr als gut war, aber alles in allem hatte es den Anschein, dass es den Leuten gut ging. Vielleicht hatten Blauregen und die Ratten übertrieben, als sie von Revolution gesprochen hatten. Im Moment wirkte jedenfalls alles ganz friedlich.

Wuuusch. Etwas sauste keine fünf Zentimeter neben seinem rechten Fuß vorüber und hätte ihn beinahe das Gleichgewicht gekostet. Es sah aus wie eine tönerne Transportkiste, aber er konnte sich nicht sicher sein, da war sie schon um die nächste Ecke gebogen.

"Pass auf, dass du nicht auf die Schienen gerätst", sagte Blauregen gut gelaunt und zog ihn etwas zur Seite.

Val sah, was er meinte. Die ganze Straße entlang zog sich eine Einsenkung, vielleicht fünf Zentimeter tief. Auf ihr fuhren in regelmäßigen Abständen kleine Kisten vorbei, die mit unterschiedlichen Gegenständen beladen waren; er sah Kohle, Briefe, Orangen, sogar lebende Tiere.

"Ah, Alangiums berühmtes Transportsystem", nickte Leonhard. "Davon habe ich gehört. Wird mit Bewegungsshmi betrieben, nicht wahr?"

Val blickte staunend auf. Er sah, dass sich die Schienen sogar über Häuserwände zogen und fast im 90-Grad-Winkel bergauf gingen. Ja, sie erstreckten sich über mehrere Stockwerke. Und als er ganz genau hinschaute, sah er auch, dass Kisten die Palastwände herabfuhren. Die ganze Stadt war ein riesiges Transportnetz. Er brach in ungläubiges Lachen aus.

Dann bekam seine Stimmung einen jähen Dämpfer verpasst. An einer Häuserwand aufgereiht standen mehrere Soldaten in grüner Uniform. Jeder von ihnen führte einen Hund an der Leine von der Größe eines jungen Kalbs. Die Tiere hatten borstiges, blauschwarzes Fell und fingerlange Zähne, die aus ihrem Mundwinkel hervortraten, selbst wenn sie die Mäuler geschlossen hatten. Im Moment wirkten sie entspannt, aber Val spürte die Bedrohung, die von ihnen ausging wie ein Prickeln auf der Haut. Blauregen hatte die Tiere noch nicht bemerkt, er schaute in entgegengesetzter Richtung an den Horizont. Val wollte ihn gerade darauf aufmerksam machen, als er zu sprechen begann.

"Die Gelehrtenburg", sagte er. "Ich verwette meinen linken Arm darauf, dass der Drache sich dort drin versteckt hält."

Val horchte auf. Die Burg stand auf einem Hügel mitten im Zentrum von Alangium, wo sie von jedem Standpunt aus gut zu erkennen war. Sie war ganz aus braunem Gestein gebaut und erstreckte sich fast von einem bis zum anderen Ende der Stadt. Silberne Fahnen wehten im Wind.

"Wirklich?", fragte Leonhard. "Dann sollte es ja nicht sehr schwer sein, ihn da raus zu holen, oder? Wir gehen einfach rein und-"

Aber Blauregen fiel ihm ins Wort. "So einfach ist das natürlich nicht. Jede Wette, dass er durch eine Vielzahl mächtiger Zauber geschützt wird."

"Oh", sagte Leonhard und seine Gesichtszüge erschlafften. "Und wie wollen wir ihn dann kriegen?"

"Ich habe Freunde hier." Blauregen nickte nach unten auf den sandigen Boden. "Im Untergrund. Leider weiß ich das derzeitige Losungswort nicht. Deshalb könnte es schwierig werden, Zugang zu ihrem Tunnelsystem zu erhalten …" Sie waren weiter gegangen, ohne auf ihren Weg zu achten, in Richtung der Hunde. Val, der von seinem Instinkt gewarnt wurde, sah, wie der erste sich plötzlich versteifte, als ihm ihr Geruch in die Nase wehte. Witternd hob das Biest die Schnauze, zog die Lefzen hoch und begann zu knurren.

"Ähm … Blauregen … die Hunde." Val zupfte den Mann am Ärmel. Er wandte sich um. Das Fell auf dem Rücken der Hunde sträubte sich. Beinahe gleichzeitig fielen die übrigen Tiere ein, fletschten die Zähne und rissen an den Leinen ihrer Führer. Ihre bösen gelben Augen waren auf Val geheftet und ihrem Blick saß Mordlust.

"Bluthunde!", stieß Blauregen entsetzt hervor und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. "Mein Gott, ich hab vergessen – sie riechen es, Val! Sie wissen, wer du bist!"

Der erste riss sich los. Seinem Führer wurde die Leine einfach aus der Hand gerissen. Er starrte die Fremden mit schreckgeweiteten Augen an. Ihm war klar, was das Gebaren seines Hundes zu bedeuten hatte.

"Der Rote Löwe!", schrie der Soldat und deutete auf sie. Wer genau von ihnen den verräterischen Geruch an sich hatte, konnte er nicht ausmachen, deshalb zitterte sein Finger zwischen ihren Gesichtern hin und her. Mehrere Passanten drehten sich um, glotzten. Blauregen riss Val an der Schulter herum und schubste ihn vorwärts. Er stolperte in die nächste Seitenstraße, wandte panisch den Kopf. Wo sollte er hin? Nach allem, was er wusste, konnte er auch direkt in eine Sackgasse rennen.

"Schneller, Val!"

Wütendes Knurren in seinem Rücken sagte ihm, dass der Hund die Verfolgung aufgenommen hatte; er hörte das schnelle Trommeln der Pfoten und spürte einen Luftzug am Schenkel. Angstschweiß brach ihm auf der Stirn aus und er rannte noch schneller. Leute sprangen eilig aus dem Weg, als sie durch ihre Mitte stürmten, manche dagegen versuchten, Val zu packen. Verzweifelt duckte er sich unter ihren Händen weg, bog in eine Seitengasse, schlug Haken und musste plötzlich einsehen, dass er Blauregen und Leonhard verloren hatte. Panisch schaute er um sich. Seine Umgebung war ein Kaleidoskop bunter Farben und Schemen. Woher zum Teufel sollte er wissen, wohin er rennen sollte? Ein knappes Zuschnappen zweier mächtiger Kieferknochen an seinem Bein ließ ihn aufschreien. Er sprang über Karren und Ladenstände und hoffte, die Hindernisse würden den Hund aufhalten. Ein lautes Krachen, fliegende Holzsplitter und ein weiteres Schnappen nah an seiner Ferse ließen diese Hoffnung platzen; er spürte den heißen Atem des Tieres auf der Haut. Val schrie auf. In seiner Verzweiflung riss er einen Kohlstand über den Haufen und die grünen Früchte ergossen sich auf die Straße. Der Hund zerstampfte sie unter der Wucht seines Auftretens zu Brei, er kam noch näher, biss dicht neben Vals Fußgelenk zu, bekam sein Hosenbein zu fassen. Der Junge stolperte, fiel beinahe zu Boden, während er verzweifelt versuchte sich loszureißen. Um ihn herum entstand ein Menschenauflauf. Niemand machte Anstalten ihm zu helfen. Fingerlange gefletschte Zähne schoben sich in sein Blickfeld, eine Kette weiß glänzender Anhänger baumelte vom Hals des Tieres; diese waren das letzte, was er sehen würde. Val schloss die Augen. Plötzlich hob sich der Gullideckel unter ihm aus der Verankerung und eine Hand erschien ihn der Öffnung. Val, der Hund und alle übrigen wanden entgeistert die Köpfe.

"Hier rein, Junge!" Eine kräftige Hand packte ihn am Fuß und zog ihn nach unten, ehe er reagieren konnte; sie riss ihn los vom Biss des Hundes. Val schrie, aber sein Schrei wurde jäh abgerissen, als er in den Tunnel nach unten gezogen wurde. Er sah sein eigenes Entsetzen auf den Gesichtern der Umstehenden widergespiegelt. Der Deckel wurde zurück an seinen Platz geschoben und der Hund biss grollend ins Leere. Val sah sein zornentbranntes gelbes Auge, bevor er ihn aus dem Blickfeld verlor.

 

Der Untergrund

Schwere Hände hatten Val aufgefangen und pressten sich ihm auf Mund und Nase, dass er nicht atmen konnte. Sie waren feucht und rochen nach Schweiß. Er zappelte und wand sich, der Griff wurde ein wenig lockerer und er schnappte gierig nach Luft. Bevor er schreien konnte, war sein Mund wieder verschlossen. Es war stockdunkel und er konnte nichts sehen. Die Luft im Tunnel roch muffig, wie wenn Wasser zu lang in einem Raum steht und nicht ablaufen kann. Nach seinem Lauf verstärkte diese schlechte Luft seine Atemnot nur noch. Er hustete und würgte, strampelte mit Händen und Füßen im Griff des Mannes. Denn dass es ein Mann war, stand für ihn außer Frage.

"Wehr dich nicht, Junge", hörte er eine melodische Stimme neben sich. Val stutzte. Sollte die Stimme nicht hinter ihm ertönen? Und sollte sie nicht viel grober klingen? Da erst nahm er wahr, dass es zwei Paar Füße waren, die auf dem feuchten Tunnelboden auftraten. Der, der ihn festhielt, musste schwer sein, denn seine Schritte klangen laut und stampfend, Wasser spritzte in alle Richtungen. Die Person neben ihm, die ihn angesprochen hatte, bewegte sich sehr viel leichtfüßiger fort, fast tänzelnd. "Zob kannst du nicht entkommen. Der ist wie ein Tier", sagte sie.

"Lass mich los!", wollte Val sagen, aber die Hand dämpfte seine Worte ab zu einem undeutlichen mmmhmhmm.

Die Stimme sprach weiter, sie klang erheitert. "Oh, wenigstens bist du nicht stehen geblieben, wie der arme Tropf vor dir. Blutige Schweinerei, als der Hund ihn eingeholt hat, sag ich dir."

Val erstarrte, als er sich das vorstellte. Dann kämpfte er noch verbissener gegen den Griff des Mannes. Vergeblich. Sein Entführer trug ihn, als hätte er das Gewicht einer Fliege, und schien seine Fluchtversuche gar nicht wahrzunehmen. Vals Gedanken liefen auf Hochtouren. Wer waren seine Entführer? Was wollten sie von ihm? Wo waren Leonhard und Blauregen? Hatten die Hunde sie erwischt? Diese blutige Schweinerei wollte er sich lieber nicht vorstellen. Ein erneuter Hustenanfall schüttelte ihn, seine Lungen drohten zu bersten.

"Lockere deinen Griff, Zob, du erstickst ihn noch."

Augenblicklich wurde die Hand von seinem Mund genommen und Val schnappte gierig nach Luft, hustete und spuckte. Sobald er genug Atem geschöpft hatte, wandte er den Kopf und sagte in Richtung der Stimme:

"Ich warne dich! Ich- ich bin gefährlich! Ich-"

Die weiteren Worte blieben ihm im Halse stecken, denn in diesem Moment gingen sie unter einer Fackel hindurch und das Licht erhellte die Gesichter seiner Entführer. Der Blick violetter Katzenaugen traf ihn, das Gesicht eingerahmt von flammend rotem Haar. Er hatte plötzlich so eine Ahnung, wer hier gefährlich war.

Aber der junge Mann lachte, dass sich seine merkwürdigen Augen zu Halbmondsicheln verengten.

"Oh ja, ich wette, deshalb bist du vor dem Hund weggelaufen, weil du so gefährlich bist."

Val konnte nicht antworten, erschüttert von seinem Anblick.

Von der Ferne drang Stimmengemurmel an seine Ohren, ein Zischen und ein Fauchen. Bevor er sich irgendeinen Reim auf das Geschehen machen konnte, betraten sie eine Steinhalle, die von Fackeln an der Wand schwach erleuchtet war. Endlich konnte er wieder etwas sehen und er hörte auf zu zappeln. In der Mitte der Halle warteten Leonhard und Blauregen, arg mitgenommen, jedoch, wie Val missmutig feststellte, von niemandem festgehalten.

"Val! Oh Gott sei Dank!"

Blauregen rannte zu ihnen, riss ihn aus den Armen seines Entführers, schüttelte ihn, drehte ihn hin und her, untersuchte ihn auf Wunden irgendwelcher Art.

"Alles klar? Bist du verletzt?"

"Nein, alles super." Val, dem so viel Fürsorge peinlich war, wand sich aus seinem Griff. Er blickte über die Schulter und sah den Mann, der ihn festgehalten hatte. Er war froh, dass er dessen Gesicht im dunklen Tunnel nicht gesehen hatte. Es sah furchterregend aus mit dem riesigen Mund und den tief in den Höhlen liegenden Augen. Er verzog den Mund zu einem zahnlosen Lächeln und wirkte beinahe wie ein Barbar. Val überlief ein Schaudern.

Blauregens Blick fiel auf seinen Begleiter. Die Anspannung fiel augenblicklich von ihm ab und ein erschöpftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

"Penn", sagte er.

Der Mann mit dem roten Haar lachte und es klang wie ein Glockenspiel. Blauregen umarmte ihn und lächelte, wie Val es noch nie gesehen hatte. Aufrichtig, ehrlich, glücklich. Das war Penn? Denn so, erinnerte er sich, hatte der Adressat des Briefes geheißen, den sie mit dem Falken verschickt hatten. Mit ihm also stand Blauregen schon die ganze Zeit in Kontakt. Val konnte nicht anders als ihn anstarren. Er war nicht viel größer als Leonhard und so schmächtig, dass es aussah, als könne ihn der leiseste Windhauch von den Füßen wehen. Aber Val hatte das Gefühl, dass mehr hinter ihm steckte, als man auf den ersten Blick erwartete. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer kurzen spitzen Nase, diese beunruhigend violetten Augen, und fein geschwungene Augenbrauen, die ebenso blutrot waren wie sein Haar. War er wirklich ein Mensch?

"Lang ist's her", sagte er und es klang wie das Schnurren einer Katze.

Blauregen schüttelte lachend den Kopf. "Penn, ich habe schon an gar kein Wiedersehen mehr geglaubt."

"Hätte mir fast die Sprache verschlagen, als ich dich da oben sah, Blauregen. Eigentlich hätte ich dir ja nicht helfen dürfen, weil du das Losungswort nicht kennst, aber dann dachte ich mir, ich könnte dich auch nicht von den räudigen Bluthunden zerfleischen lassen."

"Nett von dir", meinte Blauregen mit einem gequälten Grinsen. Sein Mantel und das darunterliegende Hemd sahen arg in Mitleidenschaft gezogen aus als wären sie in einen Fleischwolf geraten; Leonhards Kleider waren in keinem viel besseren Zustand. Val fragte sich, ob sie den Biestern wohl noch knapper entronnen waren als er. Plötzlich kam ihm ein beunruhigender Gedanke. "Haben sie - ich meine, wissen die Soldaten jetzt, wie ich aussehe?", fragte er.

Blauregen schüttelte den Kopf. "Sie wissen nicht mehr als das, was Zierkies ihnen ohnehin schon erzählt hat. In dem Chaos dort oben konnten sie nicht ausmachen, wen die Hunde genau anknurrten. Leon und mir sind auch ein paar gefolgt, die Soldaten waren wohl eher der Meinung, dass ich … dass sie mir folgen sollten."

Val verstand, dass er vor den Fremden nicht offen sprechen konnte.

Blauregen wandte sich an Penn. "Hast du meinen Brief nicht bekommen? Ich wollte, dass du uns am Hafen abholen kommst."

"Nein", antwortete dieser. "Mit einem Falken geschickt?"

Blauregen nickte. "Abgefangen."

"Vielleicht waren euch die Soldaten deshalb auf den Fersen."

"Niemand hätte den Brief lesen können, ich habe ihn auf die übliche Weise verschlüsselt."

"Die Gelehrten haben ihre Mittel und Wege", sagte Penn nachdenklich.

Dann trat er einen Schritt zurück und wies mit einer Handbewegung auf die beiden Jungen.

"Was hat es mit ihnen auf sich? Wer ist der Junge, der so gefährlich ist, dass Wolfshunde vor ihm davonlaufen?"

Vals Wangen brannten. Er wünschte sich, er hätte das vorher im Tunnel nicht gesagt.

"Was?", fragte Blauregen.

"Nichts", sagte Val schnell.

"Sind sie das, was ich glaube?", fragte Penn.

Blauregen sah ihn nicht an. "Wo hast du das denn schon wieder gehört?"

"Oh, es gibt Gerüchte, Blauregen. Haufenweise."

Blauregen lächelte gequält. "Und ich wette, die Hälfte davon ist wahr."

Leonhard, dem es an Aufmerksamkeit mangelte, meldete sich zu Wort. "Wo sind wir hier überhaupt? Was ist das für ein Loch?" Er ließ seinen Blick bedeutungsvoll über die feuchten Wände und den schmutzigen Pflasterstein schweifen. Einer seiner Mundwinkel zog sich verächtlich nach oben.

"Ein paar Kilometer unter der Stadt", erklärte Penn. "Nicht genutzte Ausläufer der Kanalisation. Das ist das Hauptquartier des Untergrunds."

Leonhard starrte ihn an, seine Lippen formten stumm das Wort Kanalisation. Dann fing er sich wieder. "Und du bist der Anführer, oder was?" Sein Blick war eindeutig verächtlich. Val stieß ihn in die Seite. Er erinnerte sich daran, wie er ihn auf Nusnuth kennen gelernt hatte - all die Beleidigungen, all die Schmähungen und verfluchte seine Arroganz, die seinen ansonsten ganz akzeptablen Charakter unausstehlich machte.

"Leon hier ist Gelehrter der dritten Garde musst du wissen", erklärte Blauregen. Sein Gesichtsausdruck war bemüht gleichgültig, als er das sagte, aber seine Mundwinkel zuckten verdächtig.

"Ah, noch ein Gelehrter", sagte Penn gelassen.

"Was soll das denn heißen?", schnappte Leon.

Plötzlich wurden Stimmen laut. Penn hob eine Hand, wandte das Gesicht halb ab und lauschte. Er schnalzte kritisch mit der Zunge. "Jemand will dich sehen", sagte er zu Blauregen. Es klang beinahe vorwurfsvoll, als wäre das seine Schuld. "Ich habe sie gebeten, mich erst mit dir sprechen zu lassen, aber naja … du kennst sie ja."

Der jemand war eine junge Frau mit lockigen braunen Haaren, die in diesem Moment im Torbogen erschien. Sie war höchst merkwürdig gekleidet, in weite Reifröcke und eine – wie Val fand – großzügig ausgeschnittene Bluse, die mehr offenlegte als sie verdeckte. Unter den Röcken lugte eine zerrissene Strumpfhose hervor. Ihr Blick fand den jungen Mann.

"Blauregen." Sie klang ungläubig, beinahe zweifelnd.

Blauregen starrte sie an wie eine Erscheinung. Ein verzerrtes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als bereitete ihr Anblick ihm Schmerzen.

"Accasia", murmelte er mit heiserer Stimme. "Ich-"

Sie ging langsam auf ihn zu. Val erwartete, dass sie ihm um den Hals fiel genau wie Penn, aber es kam ganz anders. Sie trat ganz nahe an in heran, dann hob sie die Hand und schlug ihm ins Gesicht - einmal - zweimal - dreimal. Val zuckte zusammen. Leon stieß einen leisen Pfiff aus und schaute das Mädchen halb empört, halb bewundernd an.

"Accasia!" Penn packte sie an der Hand und riss sie zurück. Blauregen ertrug die Schläge kommentarlos. Als sie schließlich zitternd auf ihre Ballen zurücksank, schaute er sie flehend an, nicht wütend, wie man es vielleicht erwarten könnte.

"Es tut mir … leid", hörte Val ihn sagen, so leise, es war kaum auszumachen.

Sie starrte ihn nur an und ihre großen braunen Augen füllten sich mit Tränen. Sie sagte nichts, drehte sich um, ging und beendete damit ihren verstörenden Auftritt. Schweigen senkte sich über die Halle. Aber Blauregen wirkte nicht erleichtert, nachdem sie gegangen war; er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und sah plötzlich schrecklich müde aus. Wieder einmal trat dieser gehetzte Ausdruck in seine Augen. Seine Hände flogen wie von allein zum Medaillon an seinen Hals. Was hatte das zu bedeuten? Penn sah ihn an und Val meinte, so etwas wie Mitleid in seinem Blick sehen zu können. Aber er sagte nichts.

Das übernahm jemand anders. "Ist das wirklich Blauregen?"

Erst jetzt richtete Val seine Aufmerksamkeit auf die Gestalten, die sich zuhauf an den feuchten, dunklen Wänden tummelten. Er sah, dass das Zischen und Fauchen, das er gehört hatte, von kleinen blauen Feuern in bunten Gläsern stammte, die man entzündet hatte, um die Kälte zu vertreiben. Die Untergrundler kamen näher, zögerlich, als könnten sie es nicht wirklich glauben. Blauregen war ihnen allen bekannt, sie umarmten ihn, fragten ihn, was er gemacht hatte und wo er so lange gewesen war. Männer wie Frauen, einer mit einem abschreckenderen Äußeren als der andere. Es gab große Leute, kleine, dünne, dicke, muskulöse, abgemagerte, welche mit braunen Haare, schwarzen, blonden, rötlichen (wenn auch niemals in einem so satten Farbton wie Penns); Leute, die in schwarze Mäntel gekleidet waren und Schnürstiefel, andere, die Kutten trugen oder Roben wie Priester, Frauen in Hosen (auf dem ersten Kontinent zu dieser Zeit etwas ganz Undenkbares) und Männer in Leggings, wie man es aus Geschichten über Elfen kannte. Val und Leonhard wurden nacheinander vorgestellt. Leonhard legte eine gewichtige Miene an den Tag, schüttelte Hände wie ein Profi und achtete darauf, dass seine Gelehrtenmanschetten für alle gut sichtbar waren. Val schaute den Menschen nicht lange in die Augen und murmelte nur verhaltene Begrüßungen. Im Gegensatz dazu fiel auf, dass ihr Interesse an ihm weitaus größer zu sein schien. Zwar mäßigten sie ihre Fragen nach seiner Herkunft und seinem Vorhaben. Gleichzeitig ließen sie ihren Blick neugierig auf seiner zerschlissenen, blutigen Kleidung ruhen und hielten seine Hand etwas zu lange fast, als sie sie schüttelten. Gut möglich, dass Gerüchte über einen von Soldatenhunden verfolgten Jungen bereits die Runde gemacht hatten.

Val sah sich nach Blauregen um. Obwohl er lächelte und seine alten Freunde herzlich begrüßte, schien es, als ob es ihm nach dem Zusammentreffen mit dem Mädchen nicht mehr gut ging. Er hielt sich sehr nahe bei Penn; wann immer er sich bewegte, machte auch er einen Schritt zur Seite, fast wie ein Satellit.

Zudem fiel Val auf, dass nicht alle Leute, die dem Untergrund angehörten, glücklich waren über ihre Ankunft. Leises Murren drang von einer Gruppe an der Wand herüber. Sie tuschelten. Val erkannte den Jungen wieder, der in der Mitte der Gruppe stand. Sein Name hatte in seinen Ohren fremd geklungen und die Begrüßung war auf seiner Seite sehr kühl ausgefallen, fast schon feindselig. Nox. Ob sie etwas ahnten?

Nachdem das Wichtigste gesagt und die herzlichsten Begrüßungen ausgetauscht worden waren, nickte Penn Blauregen unauffällig zu. Er wies mit dem Kopf auf die Wand gegenüber, wo ein Torbogen eingelassen war, den Val bisher übersehen hatte. Blauregen setzte sich sogleich in Bewegung und bedeutete Leon und Val mitzukommen. Auch Zob, der gigantische Riese, der Val durch den Tunnel geschleppt hatte, schloss sich an. Er ließ Penn niemals allein und folgte ihm wie ein Hund. Der Torbogen führte sie in ein zweites Abteil des Kellergewölbes, genauso kalt und feucht wie die Halle, in der sie bis eben gestanden hatten, im Gegensatz dazu aber leer. Penn ging von der Tür weg und wies Zob an, niemanden hereinzulassen. Dann drehte er sich zu Blauregen um; sein Blick hatte sich plötzlich verändert, war scharf und berechnend.

"Was führt dich her?", fragte er geradeheraus.

Blauregens Augen verengten sich angesichts des veränderten Tonfalls. "Kann das nicht warten, bis-?

"Nein." Penns Blick ruhte auf Val. "Die Hunde waren völlig außer sich, Blauregen, sowas hab ich noch nicht erlebt. Es gibt Gerüchte … Warum sind sie so scharf darauf, ihn umzubringen?"

Blauregen wirkte nicht glücklich über den Verlauf des Gesprächs. Val konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Schließlich sagte er langsam: "Du hast es schon erraten, mein Freund."

"Der Shogha?" Penn musterte Val mit neuem Interesse und tippte sich mit dem Finger nachdenklich ans Kinn. "So was in der Art hab ich mir tatsächlich schon gedacht …"

Val fühlte sich unter seinen forschenden Blicken zunehmend unwohl.

Penn setzte ein höfliches Lächeln auf. "Und hier in Alangium wollt ihr was genau?"

"Wir müssen den Grünen Drachen finden."

Zob durchmaß mit wenigen Schritten den Raum, packte Blauregen am Kragen und schmetterte ihn mit voller Wucht gegen die dahinter liegende Wand. Val konnte gar nicht so schnell schauen, wie alles passierte. Blauregen stöhnte schmerzerfüllt auf.

"Dem Jungen werdet ihr nichts tun!", donnerte Zob. "Ich wusste es, Penn! Er bringt nur Unglück! Denk nur an letztes Mal! Die Wachen haben recht damit, niemand Fremdes mehr herein zu lassen! Die Roten – sie – sie wollen uns doch nur schaden!"

Leonhard und Val schrien mit einiger Verspätung auf und versuchten, den Riesen von Blauregen wegzubewegen; es war ungefähr so, als versuchten sie einen Felsblock zu verschieben. Auch Penn hatte Mühe ihn zu beruhigen, er packte ihn am Arm und obwohl er um einiges schwächer sein musste, ließ Zob Blauregen los. Der fiel schwer atmend auf den Boden und rieb sich die Kehle an der Stelle, wo rote Würgemale zu erkennen waren. "Verdammt, kannst du nicht besser auf dein Hündchen aufpassen, Penn?", keuchte er atemlos.

"Wenn es um den Drachen geht, ist er ein wenig empfindlich. Wie die meisten Stadtbewohner. Auch ich bin überrascht. Er ist grün, musst du wissen." Penns Blick war merklich kühler geworden.

"Grün?", wiederholte Blauregen verächtlich. "Du schwächelst."

Penn sagte nichts.

"Du denkst, ich hätte auf die dunkle Seite gewechselt, was?"

Sein rothaariger Freund kämpfte mit den nächsten Worten. Dann schluckte er sie hinunter und seine Gesichtszüge glätteten sich im selben Moment. "Viele Blauregen, aber nicht du."

Die Spannung war aufgehoben. Blauregen richtete sich langsam auf, klopfte sich den Staub von der Hose. Umsonst, dachte Val.

Penn ließ nicht locker. "Und trotzdem, ich muss es wissen, was wollt ihr von dem Drachen?"

"Das ist eine lange Geschichte."

"Ich habe Zeit."

"Könnte ich mich vielleicht mal hinsetzen?", warf Leonhard ein. Die schlechte Laute stand ihm ins Gesicht geschrieben. "Immerhin mussten wir gerade vor brutalen wahnsinnigen Wolfsbestien in dieses kalte, stinkende Loch fliehen und ich stehe mir hier noch die Beine in den Bauch! Gegen einen Happen zu essen hätte ich übrigens auch nichts einzuwenden!"

Penn starrte ihn an und der verwirrte Blick, mit dem er Blauregen bedachte, schien zu sagen: Was zum Teufel hast du mir denn da ins Haus geholt? Aber er ging davon, um das nötige zu holen.

Sofort wandte Leon sich an Blauregen. "Du willst doch nicht wirklich hierbleiben bei diesen … Wilden, oder? Da holen wir uns ja sämtliche Krankheiten! Und was ist mit diesem Typen los? Allein wie er aussieht, ist der eine Elfe oder was? Warum hat er so rote Haare?"

"Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig du lernst, Leonhard Stark", antwortete Blauregen säuerlich. "Erstens nehme ich weder Befehle noch unangebrachte Kritik von dir entgegen und zweitens erzähle ich dir nichts über Leute, was sie dir nicht selbst erzählen würden. Wir bleiben hier, ob es dir passt oder nicht. Basta."

Leonhard schnappte nach Luft ob dieser unhöflichen Worte, was ihn aber glücklicherweise davon abhielt zu antworten. Val, der spürte, dass die erste Hürde genommen war, überkam die Erschöpfung mit einem Schlag. Er taumelte ein wenig. Blauregen bemerkte es sofort und griff ihn bei der Schulter.

"Der Junge muss sich ausruhen", sagte er zu Zob. "Können wir in einen der Schlafräume?"

Zob nickte, nun, da Penn sie akzeptiert hatte, viel freundlicher gestimmt, und wandte sich zum Ausgang. Die anderen folgten ihm, auch Leonhard, der einen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte ganz nach dem Motto: Ich habe es sowieso nicht nötig, mit einem von euch zu sprechen. Val war es gerade recht. Er war schrecklich müde.

Es stellte sich heraus, dass Zob eigentlich sehr nett war, ein wenig langsam vielleicht, aber nett. Er hatte sich schon als kleines Kind Alangiums Untergrund angeschlossen, nachdem Penn ihn aus einer Marktrangelei befreit hatte, bei der er beinahe als Dieb verhaftet worden wäre. Daher kam es auch, dass Penn, der kleine, zierliche Penn so etwas wie eine Vaterfigur für ihn darstellte. Der Riese nun führte sie in einen Schlafraum, der ein wenig höher gelegen und deshalb weniger nass und dunkel war als die vorherigen. Um die Feuerstelle in der Mitte lagen ein paar dreckige und von Löchern übersäte Matratzen. Val nahm die erstbeste in Beschlag ohne groß darüber nachzudenken und ließ sich darauf fallen. Ein modriger Geruch stieg ihm in die Nasen, aber er störte sich nicht daran. Er fühlte sich so ausgelaugt wie noch nie zuvor in seinem Leben.

"Shogha", sagte Zob nachdenklich, während er mit zwei Zündsteinen versuchte, ein Feuer in Gang zu bringen. "Ich frag mich, wie das ist ..."

Offenbar wartete er auf eine Antwort. Eigentlich hatte Val keine Lust zu reden, schon gar nicht über dieses Thema. Was sollte er auch sagen? Oh, es ist toll. Besonders mag ich es, ständig von einem Ort zum anderen zu hetzen, wo neue, noch üblere Gefahren auf mich warten als davor. Ich weiß nicht, ob ich meine Familie jemals wiedersehen werde, über die ich nicht einmal nachdenken darf, weil es dann so wehtut, dass ich nicht atmen kann. Ich bin ständiger Gefahr ausgesetzt, seien es kampffreudige Soldaten, verrückte Gelehrte oder blutdürstende Wolfshunde. Ich schlafe auf Matratzen, so dreckig, dass ich sie nicht einmal einem räudigen Köter zumuten würde. Mein Begleiter ist ein verwöhnter arroganter Snob, von dem ich in regelmäßigen Abständen aufs Übelste beleidigt werde. Ja, das Leben als Shogha ist toll.

Blauregen kam in den Raum gestiefelt und ersparte ihm die Antwort. Mit seiner Hilfe schafften sie es ein Feuer zu entfachen. Val wärmte sich die Hände. Er war so müde, dass ihm die Augen zufielen.

Es dauerte nicht lange und Penn erschien auf der Türschwelle. Er bewegte sich leichtfüßig wie ein Tänzer, aber der Ausdruck in seinem Gesicht war ernst.

"Ich habe dafür gesorgt, dass uns heute Nacht niemand mehr stört", sagte er und ließ sich im Schneidersitz vorm Feuer nieder. "Bitte erzählt mir, was ihr bisher erlebt habt. Lasst nichts aus. Und was ihr als Nächstes vorhabt."

Blauregen schaute die beiden Jungen an. Mit klammen Fingern rollte er sich eine Zigarette. Zum ersten Mal seit ein paar Tagen fand er wieder Gelegenheit dazu. "Über den ersten Teil eurer Reise weiß ich nichts", sagte er nach einem tiefen Zug. "Vielleicht sollte Val die Geschichte erzählen. Mit ihm fängt sie schließlich an."

Val erstarrte kurz, als sich alle Blick auf ihn richteten, dann nickte er. Er ordnete seine Gedanken, die ineinander verschlungen waren wie ein Möbiusband, dann fing er an. Als er von den Visionen seines Bruders erzählte, sah Blauregen aus, als wolle er etwas einwerfen, aber etwas in Vals Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab. Val war froh, denn er wollte nicht länger erzählen als nötig. Er ließ Leonhards abstoßende Arroganz und die augenscheinliche Bedrohung nicht aus, die von ihm ausgegangen war. Leonhard war mit dieser Darstellung gar nicht zufrieden und schritt immer wieder berichtigend ein. Zob und Penn lachten und Val spürte, wie eine große Last von ihm abfiel. Es tat gut, sich anderen Menschen anzuvertrauen, außerdem bewirkte das Erzählen, dass er einiges an Überblick gewann. Penn hörte geduldig zu und unterbrach ihn nicht. Bei der Erwähnung der Soldaten und der Wunde allerdings verfinsterte sich sein Blick.

"Kann ich sehen?", fragte er.

Val schob zögerlich den Ärmel hoch und zeigte ihm die Wunde, die das Messer geschlagen hatte. Sie war fast verheilt, aber die schwarzen Streifen unter der Haut, die sich fast bis zum Ellbogen zogen, waren noch deutlich sichtbar.

Penn nickte nur und schaute Blauregen vielsagend an. Der zeigte keine Regung.

"Und nun?", fragte Penn, als er sich wieder zurückgelehnt hatte und Schatten sein Gesicht verschluckten. "Was habt ihr als Nächstes vor?"

"Nun", sagte Blauregen schwer. "Ich nehme an, wir müssen in den Palast."

"Ihr wollt den Drachen entführen?"

"Wenn es sein muss."

"Das ist unmöglich. Er ist besser geschützt als die Kronjuwelen der Königin."

"Es gibt immer Schwachstellen, wie du weißt."

Penn dachte nach und kaute dabei an seinen Fingernägeln. Seine violetten Augen flackerten unruhig in ihren Höhlen hin und her. Schließlich hob er den Blick. "Morgen kann ich euch zum Palast bringen. Dann könnt ihr euch einen Überblick verschaffen, wenn du willst."

"Du denkst, ich nehme Val mit? Die Hunde hätten uns schneller erwischt, als wir Gelehrtenkokolores sagen könnten."

"Wir werden sehen", sagte Penn und lächelte geheimnisvoll.

Val streckte sich auf der Matratze aus und seufzte. Obwohl es stank, obwohl so viel passiert war und obwohl er nicht wollte, schlief er sofort ein.

 

Der Drachenvogel

Am nächsten Morgen erwachte Val früh, weil ihn etwas an der Nase kitzelte. Als er die Augen aufschlug, bekam er beinahe einen Herzinfarkt. Leonhard hatte sich über ihn gebeugt und sein Gesicht war nur Zentimeter von dem seinen entfernt. "Steh auf, Val! Heute ist Kirmes, die dürfen wir nicht verpassen!"

"Wie? Was ist?" Val gähnte und drehte sich auf die andere Seite.

"Kirmes. Die ganze Stadt ist auf den Beinen! Komm schon!"

"Nein …"

"Val!" Leonhard boxte ihn.

Val schlug grummelnd die Decke zurück. Das Feuer war in der Nacht ausgegangen; Kälte und Feuchtigkeit kroch ihm unter die Kleider. Gähnend sah er sich nach etwas Essbarem um. "Wie soll ich nach draußen kommen? Man würde doch sofort wieder Jagd auf mich machen." Das gelbe Auge des Wolfes hatte ihn bis in seine Träume verfolgt.

"Ich glaub, wir haben eine Lösung gefunden", meinte Leonhard und zwinkerte.

"Was meinst du?"

"Siehst du gleich!"

Val folgte Leonhard in die Halle, in der sie am Vorabend von Penn empfangen worden waren. Sie war so etwas wie der Mittelpunkt des Lagers; man konnte fast sicher sein, wenn irgendwo etwas passierte, dann hier. An Steintischen, die man aus den Wänden hatte wachsen lassen, hatten sich ein paar Frühstückende versammelt. Hin und wieder hob ein Untergrundler den Kopf und begrüßte die beiden Jungen mit einem Nicken. Val, der schon fast all ihre Namen vergessen hatte, lächelte und nickte artig zurück.

Blauregen winkte die beiden zu sich.

"Greift zu." In einem Korb lagen Brot, Semmeln und Äpfel. Val griff sich eine Semmel, biss hinein und kaute zufrieden. Eins stand fest, die Bäcker von Alangium verstanden ihr Handwerk.

Penn ließ die Gruppe Männer stehen, mit der er bis eben angeregt geplaudert hatte und gesellte sich zu ihnen. Unauffällig betrachtete Val sein Haar. Er wollte überprüfen, ob es wirklich so satt leuchtend war wie in seiner Erinnerung.

War es.

Ein weiterer Mann ließ sich Val gegenüber auf die Steinbank fallen. Er war groß und drahtig, hatte lockige schwarze Haare, einen Schnauzer und einen Dreitagebart. In der Scheide an seinem Gürtel steckte ein Degen. Val erinnerte sich, dass er Schwarzkralle genannt wurde.

Schwarzkralle machte sich auf seinem Sitz breit und beäugte die beiden Jungen wohlwollend. "Wisst ihr, wir Untergrundler sind nicht ganz blöde", sagte er mit rauer Stimme. Es klang so wie das Geräusch, das Holz von sich gibt, wenn es mit Schmirgelpapier geglättet wird. "Das Gerücht geht um, dass einer von euch beiden der Rote Löwe ist. Verfolgungsjagden mit Blutwölfen soll es bereits gegeben haben."

Val hatte Mühe, sein Erschrecken zu verbergen. Mit einer Konfrontation so früh am Morgen hatte er nicht gerechnet. Was sollte er darauf antworten?

Leonhard dagegen verschränkte lässig die Arme vor der Brust und schnaubte. "Wenn ich es wäre, würde ich es nicht unbedingt einem auf die Nase binden, der Schwarzkralle heißt und Schattenmagie beherrscht."

Schwarzkralle blinzelte. "Woher weißt du das?"

"Dein Schatten bewegt sich, wenn du es nicht tust. Schau, er zwinkert mir zu."

Schwarzkralle haute mit der Faust auf den Tisch - Val zuckte zusammen -und brach in schallendes Gelächter aus. Das Gemurmel in der Halle erstarb und mehrere Köpfe wandten sich zu ihm um. "Aufgeweckt, der Kleine! Gefällt mir! Ich tippe dann mal auf dich!"

"Vergiss nicht, Blauregen könnte es auch sein, nach allem, was wir wissen", sagte Penn gut gelaunt. Er setzte einen Fuß auf die Steinbank und stützte seinen Ellbogen darauf ab.

"Nah, ich bleibe bei dem Jungen."

"Schattenmagie?", fragte Val. "Wie lernt man das?"

"Hab ich dir doch gesagt, Val. Seelenmagie. Jetzt schaut mich nicht alle wieder an, als hätte ich ihm nichts erklärt!"

"Ich hab mein Handwerk von der Nächtlichen gelernt. Nicht viele kommen lebend aus diesem Dienst wieder heraus." Schwarzkralle zwinkerte. In seinen Augen saß der Schalk.

"Und wenn sie es tun, erwartet sie alle dasselbe Schicksal: die Nächtliche verlangt einen Lohn für die von ihr geliehene Macht. Nach ein paar Jahren holt sie sich, was ihr zusteht." Blauregens Blick war ernst.

Schwarzkralle zuckte unbekümmert die Schulter. "Lieber dreißig Jahre machtvoll, als ein ganzes Leben ein niemand. Das ist meine Meinung."

"Jeder denkt anders darüber", sagte Blauregen.

Schwarzkralle lächelte wissend.

Val schaute sich in der Halle um. Wie viele weitere Untergrundler beherrschten wohl die so gefährliche, machtvolle Seelenmagie? Würde er etwas davon zu sehen bekommen?

Er merkte, dass ein Blick auf ihm ruhte und wandte den Kopf.

"Schmeckt dir das Brot?", fragte Penn grinsend.

Val nickte.

Erst als Penn nicht aufhörte zu grinsen, wurde er misstrauisch. Was war so komisch?

"Was hast du da rein getan?", fragte er erschrocken.

Plötzlich biss er auf etwas Hartes. Er stieß einen Laut des Entsetzens aus und spuckte den Gegenstand in seine Hand. Es war ein unscheinbarer hellrosa Stein.

Blauregen rollte die Augen. "Hättest du ihn ihm nicht einfach geben können?"

"Ich war gestern unterwegs und habe etwas in Besitz genommen, das dir von Vorteil sein wird", erklärte Penn. Zufrieden verschränkte er die Arme vor der Brust.

"Wie in Besitz genommen?", fragte Val argwöhnisch. Er drehte den Stein in seiner Hand und musterte ihn von allen Seiten.

"Das lass mal meine Sorgen sein. Wie findest du ihn?"

"Was soll ich denn damit?", wollte Val fragen, aber die Frage blieb ihm im Halse stecken. Er fühlte die Veränderung: Es war, als hätte sich ein unsichtbarer Schleier über sein Gesicht gelegt, der ihn vor den Blicken der anderen abschirmte. Plötzlich schien er weniger präsent als die anderen, irgendwie verborgen. Sprachlos schaute er zu Penn auf. Wenn seine Vermutung stimmte, war dieser Stein von unschätzbarem Wert.

"Er verdeckt deine Existenz, deine ganze magische Erscheinung. Nicht zuletzt deinen Geruch. Die Hunde werden dich nicht riechen können", bestätigte Penn.

"Das ist unglaublich", staunte Val und blickte auf das kleine unscheinbare Objekt in seinen Händen. Perlen von ähnlicher Farbe hatte Violetta um den dicken Hals getragen.

"Verwahr ihn gut und sieh zu, dass er dir nicht abhandenkommt."

Val nickte und verstaute den Stein sorgfältig in seiner Hosentasche. "Danke, Penn!"

"Hast du den Bäcker extra bestochen, damit er den Stein in der Semmel verarbeitet?", fragte Leonhard.

Penn nickte lachend.

Blauregen antwortete: "Hat er nicht. Wart's ab. Du wirst heute noch mehr von seinen Taschenspielertricks zu Gesicht bekommen." Suchend blickte er um sich. "Wartet hier. Zob wird gleich hier sein."

"Was wollen wir mit dem?", fragte Leonhard wenig begeistert. Er hatte dem Riesen die wenig freundliche Begrüßung vom Vortag noch nicht verziehen.

"Was wirst du tun?", fragte Val.

Blauregen antwortete nicht.

Während sie dastanden und warteten, kam erneut Trubel auf. Ein Neuankömmling wurde von allen Seiten freundlich begrüßt. Es war eine Frau und ihr Anblick entlockte Leonhard ein leises Pfeifen. Sie trug schwarze Leggings und ein einfaches grünes Hemd, das an Bund und Ärmeln ausgefranst war. Es war bauchfrei und offenbarte eine Reihe stahlharter Muskeln. Das Haar hatte sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, über ihrem Rücken hing ein Köcher voll mit Pfeilen. Wie eine Waldelbe sah sie aus, und wie eine schöne noch dazu, wäre da nicht die grässliche Narbe auf ihrer Wange gewesen, die sich quer über ihre ganze linke Gesichtshälfte zog. Rot und fleckig war sie, die Haut an den Rändern pockennarbig. Val wandte den Blick ab, sobald er es sah; er konnte sich vorstellen, dass sie deshalb nicht angestarrt werden mochte. Leonhard war weniger rücksichtsvoll.

"Was ist denn mit der passiert?", fragte er laut.

"Hallo, Fürstin!", rief Schwarzkralle ihr zu. Die Frau hob kurz den Kopf, äußerte aber ansonsten kein Zeichen des Wiedererkennens. Sie zog Penn beiseite und verwickelte ihn in ein leises Gespräch. Das Echo ihres Flüsterns hallte durch den ganzen Raum, auch wenn man die Worte nicht verstand.

"Die Fürstin?", fragte Leonhard.

"Jeder nennt sie die Fürstin, ihr echter Name ist streng geheim", erklärte Schwarzkralle. "Ihr Ehemann ist ein angesehener Adeliger, der auch im Alten Rat vertreten ist."

"Tatsächlich?" Leonhards Interesse steigerte sich merklich.

"Früher hat sie noch leichter Informationen von ihm stehlen können, dann hat er ihr Doppelleben erkannt - daher auch die Narbe."

"Er hat sie so schwer verletzt?", fragte Val ungläubig. "Seine eigene Frau?"

Schwarzkralle sah ihn kurz an. "Ich glaube, du weißt nicht ganz, wozu die obere Schicht der Gesellschaft fähig ist, Junge. Sie tun viel, wenn es um Rang und Namen geht."

Leonhard hatte einen wissenden Gesichtsausdruck aufgesetzt; er nickte. Dabei war er viel behüteter aufgewachsen als Val.

"Wie - hat er es getan?"

"Er hat ihr Säure ins Gesicht geschüttet."

Val konnte nicht anders, er starrte die Fürstin mit offenem Mund an. Jedes einzelne Haar auf seinen Unterarmen stellte sich auf, als er sich diese grausame Tat vorstellte.

"Und dann hat sie ihn verlassen und lebt seitdem mit euch im Untergrund?"

Schwarzkralle sah immer verwirrter drein. "Man verlässt einen Fürsten nicht so einfach! Sie kann sich nicht scheiden lassen. Aber sie zahlt es ihm heim, indem sie seine und die Angelegenheiten des Rates ausspioniert und an Penn weitergibt. Hier genießt sie gewisse Immunität. Alangium fällt nicht unter den Herrschaftsbereich des Rates. Noch nicht."

Dann wurde Schwarzkralle von Penn herbeigewunken und der Mann verabschiedete sich von ihnen.

Val blieb zurück mit dem leeren Gefühl im Bauch, dass die Welt viel verkommener war, als er geglaubt hatte.

 

Zob nahm sich der beiden Jungen an. Blauregen sagte ihnen, er habe wichtige Geschäfte zu erledigen, die "strengster Geheimhaltung" bedurften. Val und Leonhard gewöhnten sich langsam daran, keine näheren Informationen zu seinem Tun zu erhalten.

Der Riese hob sie die glitschige Leiter hinauf an die Oberfläche, wo bereits reger Trubel herrschte. Val, der bereits gestern bei ihrer Ankunft gedacht hatte, es wäre viel los, musste einsehen, dass das nichts war im Vergleich zu den Massen, die heute unterwegs waren.

Sie zogen los Richtung Stadtzentrum. Zob bequatschte sie ohne Unterlass. Er erzählte vom Leben im Untergrund, ihren gefährlichen Missionen, mit welchen Menschen (und anderen Wesen) er dabei zu tun hatte, von Liebschaften und Feindschaften. Ohne es zu wollen, schlug er mit seiner massigen Gestalt eine Bresche in die Menge. Die Leute machten einen Bogen um ihn und schlugen automatisch den Blick nieder, wenn er sie ansah; sie hielten ihn für gefährlich. Seine Begleitung und der Stein in seiner Hosentasche bewirkten, dass Val sich sicher fühlte. Er konnte die neuen Eindrücke, die er gewann, unbefangen auf sich wirken lassen, fast wie ein ganz normaler Junge, der zu Besuch in der Stadt war.

"Warum ist ausgerechnet heute Kirmes? Irgendein besonderer Anlass?", fragte Val. In der Nähe hatte man die Transportkisten, die zum Briefe und Warenverschicken verwendet wurden, an Eisenstangen drapiert und ließ sie nun mit Bewegungsshmi im Kreis herumfahren, zur Freude der Kinder, die mit zum Himmel gestreckten Händen darin saßen und jubelten.

"Oh ja", nickte Zob. "In drei Wochen feiern wir das Drachenfest. Die Kirmes soll helfen, die ganze Stadt in die richtige Stimmung zu versetzen."

"Was ist das Drachenfest?"

"Das wirst du noch früh genug sehen." Zob zwinkerte.

Sie blieben bei einer Gruppe von fünf Feuerspuckern stehen; die Show, die sie ablieferten, wäre der Unterhaltung eines Königs würdig gewesen. Und wer wusste es schon? Vielleicht sah ihnen ja Adair von einem Fenster des Palastes aus zu.

Die Männer spien meterhohe Flammensäulen in die Luft, ließen Feuerzungen über ihre nackten Arme lecken und gurgelten und spuckten Kerosin wie Leitungswasser. Sie formten kleine Tiere aus Feuer - Hasen, Katzen, Pferde - die sie dann zum Vergnügen des Publikums kleinen Kindern und alten griesgrämig dreinschauenden Männern nachjagten. Val sah in letzter Zeit genug Feuer in seinen Alpträumen und war froh, als die Vorstellung vorbei war. Seine Haut prickelte noch nach einigen Minuten unangenehm.

Mit einem Mal merkte er, dass er beobachtet wurde. Er sah auf und begegnete dem bernsteinfarbenen Blick eines Falken, der es sich auf einem Dachfirst in der Nähe gemütlich gemacht hatte. Obwohl Val ihm länger in die Augen schaute, wandte das Tier den Blick nicht von ihm. Er betrachtete ihn so gründlich, als wollte er irgendein Geheimnis ergründen, das er an ihm vermutete.

"Sieh mal, der Falke." Er stupste Leonhard an.

"Wo?"

"Da!" Aber als Val sich umdrehte, war der Falke verschwunden. "Ich schwöre, der saß da gerade noch auf dem Dachfirst …"

"Na und? In der Stadt wimmelt es von Falken, man benutzt sie, um Botschaften zu verschicken."

Aber Val wurde das Gefühl nicht los, dass der, den er gerade gesehen hatte, kein Brieffalke war.

Als nächstes trafen sie auf die übrigen Untergrundler, die neben all den wichtigen Geschäften Zeit fanden, sich auf der Kirmes zu vergnügen. Blauregen tauchte aus dem Nichts auf und zog Val kurz zur Seite: "Der Stein wirkt, ja?"

"Bestens", gab Val strahlend zurück. "Kein Zwischenfall mit den Wölfen bislang."

"Gut." Blauregen wirkte dennoch besorgt. "Bleib bei Zob, Penn und den anderen. Ich muss für ein paar Stunden verschwinden."

"Was machst du?", rief Val ihm hinterher, aber Blauregen lächelte nur unbestimmt und verschwand in der Menge. Val schaute ihm sehnsüchtig nach; zu gern hätte er ihn auf seinen gefährlichen Missionen begleitet.

Leonhard boxte ihn in die Seite. "Schau mal, da ist Penn!"

Val blickte in die angezeigte Richtung. Tatsächlich, dort auf einer kleinen Kanzel, halb verborgen von der Masse an Zuschauern, die sich um ihn versammelt hatte, stand der rothaarige Untergrundler und lächelte listig in die Menge. Er war die Grinsekatze höchstpersönlich. Er ließ sich unsichtbar werden und tauchte hinter den zu Tode erschrockenen Passanten auf, um ihnen lässig auf die Schulter zu klopfen. Jeder, der einen Hauch seines "Nebels des Vergessens" einatmete, konnte sich für schätzungsweise fünf Minuten nicht daran erinnern, wer er war; es war lustig mit anzusehen, wie sie ihre vollkommen aufgelösten Ehegatten, Kinder und Freunde fragend, aber unwissend anschauten. Einer, der von seinem Freund nach Hause geleitet werden sollte, schlug um sich und klagte ihn der Entführung an; sein Schreien konnte man noch eine ganze Zeit später durch die Gasse schallen hören. Penns Almosenhut war schnell bis zum Rand gefüllt.

"Er ist ein Meister der Illusion", staunte Leonhard.

Val schaute lachend bei der Vorstellung zu. Er war beeindruckt; das vierte Shmi galt als eines der schwersten zu perfektionieren. Gleichzeitig war er sich sicher, dass Penn noch viel mehr drauf hatte als diese Taschenspielerstricks. Wahrscheinlich konnte er ganz andere Saiten aufziehen, wenn er mit einem Feind zu tun hatte. Als Penn auf die beiden Jungen aufmerksam wurde, wollte er sie prompt in seine Kunststücke mit einbeziehen als Versuchskaninchen für seine Magie. Aber sie schüttelten nur die Köpfe und gingen schnell weiter.

"Ist auch besser so", sagte Zob glucksend. "Sonst könnte es sein, dass ihr euch den ganzen Tag nicht mehr an eure Namen erinnert oder meint, ihr wärt Eichhörnchen oder so was."

Val kaufte sich am Stand eines freundlichen alten Mannes eine Steinschleuder; deren Handwerk beherrschte er schon seit frühester Kindheit, als er mit Robin zusammen geübt hatte, Äpfel von Bäumen herunterzuschießen oder Fische durchs Wasser hindurch zu erlegen. In der Gesellschaft all der fähigen Magier um ihn herum kam er sich schwach und unbewaffnet vor. Mit der Steinschleuder in der hinteren Hosentasche hatte er zumindest ein Mittel, und mochte es noch so kindisch wirken, um sich zu verteidigen.

Leon wollte sich als nächstes die Ringkämpfer ansehen, die auf dem Zobäus-Platz die Straße runter auftraten. Val und ihr riesenhafter Aufpasser hatten nichts dagegen einzuwenden. Während sie sich vom Strom der Passanten treiben ließen, rückte der Palast zunehmend in ihr Blickfeld. Drohend wie ein erhobener Zeigefinger stand er da und tauchte die halbe Stadt in seinen Schatten. Val sah zwei Vögel seinen höchsten Turm umkreisen, die Sonne im Rücken. Dann wurde er abgelenkt, sie waren da: Aufgeteilt auf die vier Ecken des Platzes stand jeweils eine Gruppe grün gerockter Soldaten mit ihren Furcht erregenden Begleitern, den Wölfen. Noch waren sie entspannt und schauten dem bunten Geschehen teilnahmslos zu. Vals Körper war mit einem Male gespannt wie eine gezogene Bogensehne. Die gestrige Verfolgungsjagd spielte sich noch einmal vor seinem inneren Auge ab. Als hätte er seinen Blick gespürt, wandte der größte der Wölfe plötzlich seinen Kopf. Er starrte ihn an. Val starrte zurück. Obwohl er den Stein in seiner Handfläche spürte, glatt und fest, war er sich in diesem Moment sicher, dass der Wolf ihn erkannte. Er zog langsam wie in Zeitlupe die Lefzen hoch und begann leise zu knurren. Val erkannte seine gelben Augen und die Kette, die um seinen mächtigen Hals gebunden war. Erst jetzt registrierte er die erschreckende Ähnlichkeit der Anhänger mit menschlichen Fingernägeln. Val wurde übel. Da rempelte ihn jemand von der Seite an, er stolperte und fiel zu Boden. Als er aufsah, hatte der Wolf noch immer den Blick auf ihn gerichtet. Gleichzeitig legte sich sein gesträubtes Fell und seine Lefzen fielen herab. Er machte keine Anstalten, sich loszureißen. Der Stein zeigte Wirkung. Trotzdem war Val unsicher und aufgeregt; ungeduldig zupfte er seinen Freund am Ärmel.

"Leon, die Wölfe!"

"Ja." Leonhard beobachtete sie schon eine ganze Weile. "Aber sie riechen dich ja nicht, oder?"

"Leon, ich schwöre, der eine da, der große, er kennt mein Gesicht."

"Meinst du?"

"Du hättest mal seinen Blick eben sehen sollen!"

Leon schüttelte den Kopf. "Er wird dir nichts tun. Eigentlich dürfte er dich überhaupt nicht sehen. Er sieht ja mit seiner Nase. Da wo du bist, ist für ihn nur ein weißer Fleck."

"Aber er hat nun mal auch Augen! Und mit denen erkennt er mich. Das ist der Wolf, der mich gestern bis zum Gullideckel verfolgt hat."

Leon wirkte verunsichert. Dann sagte er: "Solange er dich nicht angreift, ist ja alles gut."

"Mhm." Val wollte nicht zugeben, dass er Angst hatte. Und erst recht wollte er nicht zurück in die Kanalisation, wo doch gerade so viel in der Stadt geboten war.

"Was gibt’s da zu tuscheln?", fragte Zob mit schmalen Augen.

"Nichts. Schau mal, die Ringkämpfer!", versuchte Leon seine Aufmerksamkeit zurück auf die Gegenwart zu lenken. Es funktionierte. Val drehte sich um und vergaß die Hunde in seinem Rücken. Zwei riesige Männer - wenn auch nicht so riesig wie Zob - muskulös wie Bergarbeiter, standen sich im Ring gegenüber und taxierten sich. Dann gingen sie aufeinander los. Val war vertieft ins Spiel der Muskeln, und schaute aufgeregt dabei zu, wie sie mit bloßen Händen versuchten, ihren Gegner zu Boden zu werfen. Das war die Kampfweise, wie er sie mochte, ohne Magie oder andere Hilfsmittel.

Beinahe fühlte er das Verlangen, selbst in den Kampf einzusteigen und seine Kraft unter Beweis zu stellen. Das war der Rote Löwe in seinem Inneren. Er fing an mit den Fußballen auf und ab zu wippen, Blut rauschte ihm in den Ohren. Bevor er auch nur einen Schritt machen konnte, fiel plötzlich ein Schatten über ihn. Er blickte auf und sah einen mächtigen grünen Vogel auf sich herabstürzen. Mit einem Schrei riss er die Arme vors Gesicht und drehte sich zur Seite, aber der Vogel hatte es auf ein anderes Ziel abgesehen. Val fühlte einen Ruck an der rechten Hosentasche, als er seine Krallen hineinschlug. Ein Gegenstand wurde hervorgezogen. Dann erhob sich der Vogel flügelschlagend in die Lüfte. Ein wenig zu spät deuteten die Leute mit dem Finger auf ihn und stießen erschrockene Rufe aus. Val packte die Angst wie eine pechschwarze Welle.

"Den Stein! Er hat den Stein!"

"Was!?"

Val lief los. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass die Wölfe seinen Geruch aufgeschnappt hatten.

"Val, er fliegt zum Palast!" Leonhard war an seiner Seite. Sie hörten Zob in der Ferne brüllen.

"Er darf nicht entkommen!"

"Val, er fliegt! Wie willst du ihn einholen?"

"Hiermit!" Der Plan hatte sich ganz von allein in seinem Kopf geformt. Val bog ab und rannte zu den steinernen Transportkisten, die unbewegt auf den Schienen standen. Indem er sich mit beiden Händen am Rand abstützte, schwang er sich in die vorderste Kiste und nahm Platz. "Schnell!", schrie er Leonhard an.

Der war entsetzt stehen geblieben. "Was hast du vor?"

"Bewegungsshmi! Los! Leon, MACH SCHON!"

Leonhard gab einen verzweifelten Laut von sich. Dann schwang er sich hinter ihm in die Kiste. Er zauberte. Das ganze Gefährt erhob sich eine Handbreit in die Luft, schaukelte ein wenig und stand dann still; Leon zauberte weiter, die Kiste fuhr an und nahm schnell an Geschwindigkeit auf.

"Es funktioniert!", sagte Val. Sein Magen machte einen Salto rückwärts. Ein paar Leute waren auf das Treiben der Kinder aufmerksam geworden, sie stießen wütende Schreie aus, wagten es aber dann doch nicht, sich ihnen in den Weg zu stellen. Hinter sich hörte Val das Trommeln der Hundepfoten auf dem Boden. Sie waren ganz nahe. "Schneller!"

Leon zeichnete, punktierte und beschrieb Kreise wie ein Wahnsinniger. Sein Gesichtsausdruck dabei war höchst konzentriert und Val wusste: ein falscher Strich und sie konnten in den Tod stürzen. Sie glitten die Rutschbahn entlang nach oben.

Val blickte über die Schulter. Der Wolf mit den gelben Augen war nur einige Meter entfernt. Er hatte die Zähne gefletscht und ließ seine gewaltigen Kiefer in der Luft zusammenkrachen. Sein Blick besagte es ganz deutlich: wenn ich dich erwische, beiße ich dir deinen kleinen, wohlschmeckenden Kopf ab. Val schluckte.

Aber sie schafften es, sie fuhren eine steile Erhöhung nach oben und entschwanden aus ihrem Gesichtskreis.

"Da ist er! Sieh doch!"

Der grüne, schuppige Vogel war etwa hundert Meter vor ihnen. Mit kräftigen Flügelschlägen bekämpfte er den Gegenwind.

Die Kiste auf den Schienen hatte mittlerweile halsbrecherische Geschwindigkeit erreicht.

"Val, ich glaube, das ist ein Drachenvogel!"

"Er biegt ab, wir müssen ihm folgen!"

Leon grunzte nur; er sah selbst, was er zu tun hatte. Mit weiteren Fingerstrichen baute er die Bewegungen aus, der Schlitten erhob sich höher in die Luft und wechselte in einem mächtigen Hüpfer auf die Rutschbahn eins weiter oben. Bei der Landung kamen sie ins Straucheln und hätten beinahe das Gleichgewicht verloren. Val klammerte sich an den Rändern fest und keuchte: "Weiter!"

Leon beschleunigte noch weiter, sie machten Boden gut und der Vogel kam näher.

Die Welt unter ihnen zog in einem einzigen irren Farbenschleier an ihnen vorbei, ihre Bewohner nur noch so klein wie Ameisen. Val wurde schwindelig; er sah nicht noch einmal nach unten.

"Val, das ist ganz sicher ein Drachenvogel!"

"Ich weiß." Val heftete seinen Blick auf die eifrig schlagenden Flügel. Er hätte es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen können, aber in diesem Licht wirkten die Federn hart und glänzend wie die Schuppen eines Fisches. Seine Umrisse waren unförmig und er hatte Zacken auf dem Rücken. Er war grün wie Buchenlaub. Val dachte an seinen eigenen Löwenvogel und musste grinsen. "Mein Gott, diese Viecher sind aber echt hässlich."

Der Palast rückte bedrohlich näher. "Wir müssen ihn aufhalten, er darf den Stein nicht dem Drachen überbringen!"

"Womit sollen wir ihn aufhalten?"

"Mit Kohle!" Leonhard wies auf das Transportgut, auf dem sie saßen. Kurz shmite er nur mit einer Hand weiter, und griff mit der anderen nach dem schwarzen Gestein. Die Kiste schaukelte ein wenig. Val folgte seinem Beispiel, er nahm ein Kohlestück und legte es in die Schlaufe seiner Steinschleuder. Er zielte und schoss. Es verfehlte den Vogel um Haaresbreite. Der wandte den Kopf; als er erkannte, dass er verfolgt wurde, drehte er eiligst ab.

"Verdammt!"

"Hinterher!"

Der Wind pfiff ihnen um die Ohren, schnitt ihnen in Augen und Gesicht. Noch einmal ließ Leonhard den Kasten springen, diesmal gleich über zwei Rutschbahnen hinweg.

"Umpf!", machte Val. Gut, dass sein Magen seit letzter Zeit an einiges gewöhnt war.

"Ich will es auch versuchen!" Leonhard schoss mit Kohle nach dem Vogel. Er streifte nur leicht die Spitzen seiner Schwanzfedern. Der Vogel schrie heiser auf und flog noch schneller.

"Du vertreibst ihn!"

"Wir müssen näher ran!"

Val stand in der Kiste auf und wäre beinahe herausgefallen, weil es so schwankte; er wusste, ein Sturz bei dieser Geschwindigkeit und aus dieser Höhe würde unweigerlich mit dem Tod enden. Er musste es trotzdem versuchen. Er hatte Angst, dass der Vogel jeden Moment abdrehen und zu Adairs Räumen fliegen würde, die an der Palastfront gelegen waren. Aber der Vogel behielt die Richtung bei.

"Der Drache wohnt anscheinend im hinteren Teil des Palastes!", sagte Leon.

Sie waren nun beinahe gleichauf mit dem Vogel. Das Tier warf ihnen einen panischen Blick aus schwarzen Perlaugen zu. Val spannte die Schleuder. Er wusste, dass er ihn dieses Mal erwischen würde. Das Kohlestück traf die linke Schwinge; sie brach. Trudelnd, wild mit nur einem Flügel schlagend, stürzte der Vogel in die Tiefe.

"Nach unten!", schrie Val. Er duckte sich wieder in die Kiste.

Sie durchbrachen eine Mauer, sackten zehn Meter in die Tiefe und landeten auf der nächsten Transportbahn. Es ging steil in einem 45-Grad-Winkel nach unten.

"Da ist er, auf dem Boden! Er versucht immer noch zu fliehen, er rennt!"

Die beiden Jungen waren für einen Moment so abgelenkt, dass sie nicht mehr auf ihren Weg achteten. Sie sahen nicht, dass sie auf eine Sackgasse zuhielten, bis es zu spät war. Die Kiste krachte gegen eine massive Backsteinmauer; mit einem Schrei hoben sie von der Bahn ab, segelten durch die Luft - und landeten auf einem Haufen vergammelten Gemüse.

Sich aufrappelnd und schimmligen Lauch von den Schultern kratzend, kamen sie auf die Beine. Der Betreiber der Mülldeponie schrie sie an mit Lungen wie ein Blasebalg: "Wie oft soll ich euch Lausebengeln noch sagen, dass die Transportbahnen kein Spielzeug sind! Wollt ihr euch den Hals brechen, oder was?"

"Schnell, hinterher!", keuchte Val. Sie kletterten und fielen von dem Müllberg hinunter. Der Vogel verschwand gerade in einem Hinterhof. Er bewegte sich am Boden genauso flink wie in der Luft, nur war sein Gang ein wenig watschelnd.

"Wo ist er hin?"

"Sieh, ein Loch in der Mauer, da ist er durchgeschlüpft!" Val warf sich flach auf den Boden und robbte hindurch, es war kaum groß genug für ihn, deshalb hatte Leonhard es noch schwerer. Schließlich schafften sie es.

"Wo?", keuchte Leonhard. Er hatte Schrammen und Kratzer im Gesicht und auf seiner Kleidung klebte Lauch.

"Da, der Brunnen!"

Der Drachenvogel war auf den Rand eines steinernen Brunnens gehüpft. Er schaute sie kurz an, dann sprang er und verschwand in der dunklen Öffnung.

"Nein!", rief Val. Er sprintete zur Wasserquelle und stützte schwer atmend beide Hände auf den Rand. Er stierte ins Wasser. Nur sein eigenes entsetztes Gesicht starrte zurück.

"Er taucht nicht mehr auf", sagte Leonhard. "Er ertrinkt!"

"Dann würde er doch wieder an die Oberfläche kommen!", widersprach Val. "Außerdem, hast du Wasser platschen hören, als er hineingesprungen ist?"

Leonhard sah ihn erstaunt an. "Nein!"

Val nickte. Er auch nicht. Er beugte sich noch ein wenig tiefer über den Brunnenrand. Sein Gesicht war nur noch wenige Finger breit von der Oberfläche entfernt. Er meinte, einen anderen Ort im Wasser zu sehen. Einen steinernen Tunnel.

"Ich glaube, das ist gar kein Brunnen", murmelte er. "Eher ein Geheim-"

Er verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber. Die ganze Welt wurde auf den Kopf gestellt. Als er durchs Wasser fiel, war es weder nass noch kalt.

 

Er fiel von der Decke und traf auf schmutzigen, grauen Pflasterstein. Benommen blieb er einen Moment liegen. Im nächsten Moment rollte er mit einem Schrei auf die Seite, als Leonhard durch das Loch herabfiel und an exakt derselben Stelle landete, wo eben noch sein Kopf gelegen hatte.

"Geheimgang!", führte Leon seinen Satz zu Ende. Staunend blickten sie sich um. Sie waren in einem steinernen, mit Efeu bewachsenen Tunnel. Alte Wagenräder und leere Flaschen lagen an der Mauer, durch einen Spalt an der Decke fiel Sonnenlicht. Val meinte, den Hinterhof wiederzuerkennen, auf dem sie gerade noch gestanden hatten.

"Wo meinst du, führt der …"

"Hin? Ich schätze, in den Palast. Oder was meinst du?"

Leon nickte. Er war blass um die Nasenspitze. "Sollen wir …?"

"Zurückgehen und Blauregen Bescheid sagen?" Auch Val hatte schon daran gedacht.

Aber Leonhard schüttelte entschieden den Kopf. "Der würde uns nur wieder im Quartier der Untergrundler abstellen und selber rausfinden, was los ist."

"Also nur wir zwei?"

Leonhard nickte und sie erhoben sich.

Sie gingen ein paar Minuten schweigend Seite an Seite den Tunnel entlang. Hin und wieder fiel Licht durch die steinerne Decke und Marktlärm von der Oberfläche hallte zu ihnen herunter. Ein merkwürdiges Gefühl, einerseits als Beobachter und gleichzeitig vor aller Augen verdeckt unter der Erde zu wandeln. Dann wurde es zusehends dunkler und stiller um sie herum. Das Höhlensystem wurde breiter und verzweigte sich. Sie nahmen die Abbiegungen den Himmelsrichtungen entsprechend. Schließlich betraten sie einen merkwürdig geformten Gang. Er war zweischiffig, in der Mitte durch eine Reihe Stalagmiten getrennt; der linke Höhlenraum war das exakte Ebenbild zum rechten. Zuerst dachte Val sich nichts dabei und tat ahnungslos den ersten Schritt - und verharrte mitten in der Bewegung. Das Spiegelbild allein hätte gereicht. Er sah aber nicht einfach nur sein menschliches Abbild, den Jungen Val. Was ihm in die Augen schaute, war ein flammend roter Löwe.

"Grundgütiger!", rief er.

"Was?" Leonhard warf den Kopf hin und her.

"Siehst du das denn nicht!?"

"Was nicht?"

Val starrte den Löwen an und der Löwe starrte ihn an. Wo Luft, wo nichts als Mauer hätte sein sollen, stand das rote Tier, so lebensecht und detailgetreu, dass Val nicht an seiner Existenz zweifeln konnte. Alles an ihm war rot, die Schnurrhaare, die Mähne, selbst die Krallen. Val wagte nicht zu atmen. Nur eins stimme nicht: die Konturen des Tieres waren merkwürdig verschwommen und flackerten, wie eine Mischung aus Rauch und Nebel. War es doch nichts weiter als eine Traumgestalt? Aber was es auch war, es war da. Hätte Val die Hand ausgestreckt, hätte er ihn berühren können.

"Na, den Löwen!", sagte er. "Den Löwen, der mich anstarrt!"

"Wo ist da ein Löwe?", fragte Leonhard und starrte auf die Stelle, auf die Val deutete. Er sah nichts als Luft. "Ein roter Löwe?"

"Ja, ich glaube …" Val schüttelte leicht den Kopf. "Ich glaube, er ist ich." Langsam streckte er eine Hand aus. Sie zitterte.

"Was tust du da? Lass das!", sagte Leonhard scharf.

"Er will es aber so."

Er hörte selbst nicht, wie merkwürdig seine Stimme klang.

"Val, hör auf damit!" Leonhard packte seine Hand, versuchte, ihn zurückzuziehen. "Sieh ihm in die Augen, Val!" Seine Stimme klang panisch. "Hat er gelbe Augen?"

"Ich … ja."

"Es ist eine Falle, Val! Fass ihn nicht an! Es ist Fauces!"

Aber Val konnte nicht widerstehen, das Verlangen war zu groß.

"NICHT, VAL!"

Kurz fühlte er weiches, samtenes Fell unter den Fingern, fühlte die Wärme des Blutes, das unter der Löwenhaut pulsierte. Dann drehten sich seine Augäpfel nach innen und er sank zu Boden.

 

Löwe

Alles war dunkel, als er wieder zu sich kam. Und so still wie in einem Grab. Langsam kämpfte Val sich auf die Füße, taumelte ein wenig und sah sich um. Das Land, das sich in alle vier Himmelsrichtungen bis an den Horizont erstreckte, war karg, Sand bedeckte die weiten Flächen, so weit das Auge reichte. Val legte den Kopf in den Nacken. Über ihm spannte sich der Nachthimmel über die Welt, schwarz mit unzähligen weißen Punkten übersät, Sterne, die einander den Titel um das hellste Funkeln streitig machten. Alles wirkte näher als gewöhnlich, die weißen Schlieren der Milchstraße beinahe mit den Händen greifbar. Erneut sah Val sich um. Langsam dämmerte es ihm. Er war im Weltall, der sandige Boden Oberfläche eines fremden Planeten. Er war nicht länger Bewohner des Planeten Erde. Ein ungläubiges Lachen entfuhr ihm. Im nächsten Moment schlug er sich die Hand vor den Mund. Hatte er gerade so gelacht? Ein unheimlicher Verdacht beschlich ihn. Langsam blickte er an sich herunter - und erstarrte. Seine Vermutung bestätigte sich. Es war unglaublich. Wo seine Füße hätten sein sollen, gruben sich zwei gewaltige rote Pranken in den Sand. Aus seinen Augenwinkeln sah er die Schnurrhaare, die von seiner Schnauze abstanden und heftig zitterten. Er lachte erneut, probeweise, und es klang unheimlich, tief und grollend, wie das Klackern von Steinen in seiner Kehle.

"Wo bin ich? Was soll ich hier?", murmelte Val in einer fremden Stimme. Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Wie viel leichter das ging, wenn man plötzlich vier Beine hatte!

Hinter ihm befand sich eine Felswand aus grobem braunem Gestein. In den Berg eingelassen war eine kleine Öffnung, schwarz und unheilvoll, gerade groß genug, dass ein junger Löwe sich hindurchquetschen konnte. Allem Anschein nach führte sie in eine Art Höhle.

"Drachen leben in Höhlen", murmelte Val. Eine Weile stand er da und starrte in das schwarze Loch, als könnte jeden Moment etwas aus seinen Tiefen gekrochen kommen. Dann gab er sich einen Ruck. Wenn er ewig so herumstand, würde auch nichts dabei rumkommen. Er kletterte durch die Öffnung. Nur dass er dabei mehr fiel als kletterte und schließlich vollkommen den Halt verlor. Die letzten Meter rutschte er auf einer glatten Steinbahn nach drinnen.

Mit einem Sprung kam er auf die Beine. Kraft und Schnelligkeit durchströmten ihn, wie er es mit seinem anderen Körper nie kennengelernt hatte. Wie dieser andere Körper ausgesehen hatte, hatte er schon beinahe vergessen. Schwach war er gewesen, klein, nichts im Vergleich zu dieser Macht. Er brüllte und lachte, dass es von den Wänden nur so widerhallte; wenn er mit dem Fuß aufstampfte, sandte er eine Welle des Donners über die Erde.

Je weiter er sich vom Höhleneingang entfernte, desto dunkler wurde es. Automatisch passte er seine Schritte an, ging langsamer, und blickte wachsam um sich. Auch wenn er stärker war, unbesiegbar war er nicht.

Nach einer Weile kam ein Schimmer in der Dunkelheit auf. Grünes Licht. Er betrachtete das als ein gutes Zeichen und beschleunigte seine Schritte. Das Herz pochte ihm vor Aufregung in der Brust. Dann sah er es. In der ihm gegenüberliegenden Wand war ein Torbogen eingelassen und darin flackerte ein gewaltiges grünes Feuer, zehn Meter hoch, die obersten Zungen leckten an der Decke. Val blieb stehen und staunte.

"Drachenfeuer!"

Dies musste das Tor zum Drachen sein. Keine Frage.

Erst da sah Val den Wächter. Ein Wesen wie dieses hatte er noch nie gesehen. Der Oberkörper war der eines sehr kräftigen Mannes, unter der silbernen Rüstung pulsierten dicke Muskelstränge an Armen und Brust. Die Beine und Füße aber stammten vom Körper eines Stieres; anstatt Zehen hatte er graue mächtige Hufe von der Größe eines Suppentellers, alles oberhalb der Knöchel war mit braunem drahtigem Pelz überzogen. Auch das Gesicht bedeckte eine silberne Rüstung, einzig für die Augen waren zwei Schlitze freigelassen worden. Dazwischen konnte man die Züge eines breiten braunen Nasenrückens ausmachen und hoch gelegener Wangenknochen.

Val reckte das Kinn und trat ihm entschlossen entgegen. In dieser Gestalt kannte er keine Angst. Er merkte nicht einmal, wie sein Schwanz vor Aufregung durch die Luft peitschte und eine Spur aus Flammen hinterließ.

Der Wächter wartete, bis er direkt vor ihm stand.

"Losung?", fragte er dann in einer tiefen Bassstimme.

Val kniff die Augen zusammen. Er war nicht gekommen, um Spielchen zu spielen. Er probierte es aufs Geratewohl. "Löwe?", fragte er.

"Falsch."

"Drache?"

Der Wächter schüttelte den Kopf. An den Augenfältchen erkannte man, dass er lächelte.

Eine kleine Stimme in Vals Hirn sagte: "Hör lieber auf damit!" Seltsamerweise war es Blauregens Stimme. "Wer weiß, was passiert, wenn du dreimal falsch geraten hast!"

Aber Val fühlte sich übermächtig, unbesiegbar. Erfolgreich verdrängte er die Stimme in die hinterste Ecke seines Gehirns. Er war der Rote Löwe, verdammt. "Fauces?", fragte er.

"Nein", sagte der Wächter sanft.

Val spannte die Muskeln an. Er wartete darauf, dass er ihn nun angreifen würde. In der Löwenform war er bereit zu kämpfen.

Aber das Stierwesen blickte zur Decke und wartete. Val folgte seinem Blick. Ein Oculus, eine runde Öffnung in der Deckenmitte, gab den Blick auf den schwarzen Nachthimmel frei. Nur war der nicht mehr schwarz. Ein mächtiges Grollen ertönt; dunkle wabernde Wolken zogen auf, breiteten sich mit erschreckender Geschwindigkeit über die gesamte Wölbung aus. Blitze zuckten in ihren Tiefen.

Val verstand nicht. Ein Gewitter? Im Weltall? Dann sah er es. Es sandte ihm einen eiskalten Schauer den Rücken hinab. Inmitten der Wolken war ein Auge, ein einzelnes gelbes Auge. Es war das Auge einer Schlange und es warf suchende Blicke auf die Oberfläche des Planeten. Es suchte nach ihm. Fauces.

Er musste rennen!

Val wirbelte herum, grub die Krallen in den Sand. Hals über Kopf stürzte er Richtung Höhlenausgang, machte vollen Gebrauch seiner vier Pfoten und seiner Löwenkraft. Noch nie in seinem Leben war er so schnell gerannt. Angst packte ihn wie eine pechschwarze Welle. Er brauchte mehrere Anläufe, die Rutschbahn nach oben zu kommen, dreimal hintereinander legte es ihn auf die Schnauze und er musste von vorn anfangen. Draußen auf der Ebene wagte er einen weiteren Blick. Das Auge warf suchende Blicke um sich - dann hatte es ihn entdeckt. Ein hohes ohrenbetäubendes Kreischen, das Val beinahe das Trommelfell zerriss, ertönte im Auge des Sturms. Hinten am Horizont sah er etwas, das ihm die Luft raubte. Schatten von hunderten gewaltigen Tieren, eine ganze Phalanx, strömten in einer Reihe nebeneinander auf ihn zu. Staub wirbelte unter ihren Füßen. Sie hatten nur ein Ziel: ihn. Fauces Jäger.

Val warf sich herum. Sein Herz hämmerte wie wild. Er wusste nicht, wohin. Sein Instinkt riet ihm, an die Stelle zurückzulaufen, wo er aufgewacht war. Aber wo war diese Stelle? Er schoss los, umkreiste den Berg, während die Phalanx immer näher kam. Wenn die Tiere ihn erwischten, so wusste er, würde auch das Auge zu ihm herabstoßen. Die Umgebung zog verschwommen an ihm vorbei, er wusste nicht mehr, wohin er trat. Dann hätte er beinahe geschrien vor Erleichterung. An einer Stelle über dem Boden sah er einen leuchtend blauen Kreis. Ein Portal. Ein letztes Mal blickte er über die Schulter. Zwei riesige schwarze Pferde mit roten Feueraugen und wild stampfenden Hufen klebten ihm an den Fersen, eins stieß ein zorniges Schnauben aus, biss nach ihm und Val spürte seinen heißen Atem auf der Haut. Mit letzter Kraft beschleunigte er seine Schritte, sprang durchs Portal und war verschwunden.

 

"Er kommt zu sich!"

"Gib ihm nochmal eine!"

Ein scharfer Schmerz durchzuckte seine Wange. Val schlug die Augen auf. "AU!"

Blauregen stieß einen erleichterten Seufzer aus.

Val setzte sich auf, fasste sich an den Kopf, alles drehte sich. "Was ist passiert?" Er schaute über die Schulter, auf der Suche nach schwarzen Pferden mit Feueraugen. Erst langsam erkannte er seine Umgebung. Es war die Straße, die man überqueren musste, wenn man vom Zobäus-Platz zum Lager unterwegs war. Man hatte ihn hinter einem Gemüsestand auf einem Sack Kartoffeln abgelegt, er spürte die Früchte in seinem Kreuz. Der Ladenbesitzer starrte sie von seiner Kasse aus furchtsam an. Wie viel Geld hatten sie ihm zahlen müssen, dass er einen bewusstlosen schreienden Jungen hinter seine Ladentheke ließ?

"Das würde ich gerne wissen!" Leonhard schrie fast. Val hatte ihn noch nie so aufgelöst gesehen. "Die letzten zehn Minuten habe ich verbracht, dich zuckend durch die halbe Stadt zu schleppen! Ich dachte, Fauces hätte von dir Besitz ergriffen oder so! Gott sei Dank habe ich Blauregen gefunden, ich weiß nicht, was ich sonst gemacht hätte!"

"Es - nein, ich - stimmt, Fauces habe ich auch gesehen", stotterte Val. Die Erinnerung an den fremden Planten kehrte zurück, sein Auftreten in der Löwengestalt, sein dreimaliges Falschraten - und das Auge.

"Was?", sagte Blauregen scharf. "Was hast du gesehen?"

Also erzählte Val, angefangen beim Drachenfeuer bis hin zu Fauces' Verfolgungsjagd. Als er geendet hatte, herrschte einen Moment Stille.

"Oh mein Gott." Leonhard war blass. "Ich will mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn er dich geschnappt hätte!"

Val schluckte. Das wollte er auch nicht.

"Fauces hat nach dir gesucht?", fragte Blauregen. "Er war dir nah?"

Val nickte. Etwas in Blauregens Blick machte ihm Angst. Als hätte er ihm nicht viele Dinge erzählen können, die ihn mehr beunruhigt hätten. "Was ich gesehen habe … ist das wahr?"

Blauregen sagte nichts. Sein Blick, als er sich mit allen zehn Fingern durchs schmutzige Haar fuhr, sprach Bände.

"Das Feuer … ", begann Val.

"Gibt es auch im Palast."

Das hatte er erwartet. Aber es war eine andere Sache, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. "Er ist auch hier, nicht wahr?", fragte er verzweifelt. "Oder er kommt hierher, nach Alangium! Bald!"

Blauregen hätte ihm gern widersprochen. "Alles, was an diesem Ort passiert ist, passiert auch hier. Es ist eine Parallelwelt, deine zweite Existenz. Es ist echt. Ich gebe dir noch bis zum Ende des Sommers. Dann wird er in Alangium sein."

Val starrte ihn an. Darauf wusste er keine Antwort.

Leonhard schaltete sich ein. "Wer wird hier sein?"

"Fauces."

"Fauces!? Aber wieso- ich dachte-"

"Ja, im Moment geht er gerade dem Hinweis nach, dass er sich auf dem vierten Kontinent aufhält." Blauregen winkte ab. "Aber diese Lüge wird ihn nicht mehr lange hinhalten. Die Vorgänge in Alangium sind zu bedeutend, als dass er sie lange ignorieren könnte. Das Gleichgewicht ist gestört." Plötzlich fuhr er sich mit der Hand unter den Mantel. Er zog ein Fläschchen hervor, entkorkte es in einer schnellen Bewegung und stürzte seinen Inhalt in einem Rutsch hinunter. Ein Beruhigungsmittel vielleicht. Oder ein sehr starker Schnaps.

"Alles, was dort passiert ist" - Val wiederholte seine Worte - "passiert hier?"

Blauregen nickte ungeduldig. "Es ist nur eine Spiegelung deiner Selbst. Eine Parallelwelt."

"Das Feuer. Das Feuer, hinter dem sich der Drache verbirgt."

"Was ist das für ein Feuer?", fragte Leon, genervt, dass sie in Rätseln miteinander sprachen.

"Grünes Feuer. Drachenfeuer. Ich musste ein Losungswort vorbringen, um es durchschreiten zu können. Ich hab falsch geraten, dreimal." Schamgefühl packte ihn. Er erinnerte sich an die warnende Stimme, die so nach Blauregen geklungen hatte.

Aber niemand schalt ihn.

Blauregen und Leonhard tauschten einen langen Blick aus.

"Was?", fragte Val. "Wisst ihr etwa, welches Losungswort das sein könnte?"

"Ich habe eine Idee", antwortete Blauregen zögerlich.

"Welches?"

Leonhard antwortete mit einem Seufzen. "Es ist immer dasselbe Prinzip. Es ist ein Losungswort, das nur Leute kennen, die dem sich Versteckenden nichts Böses wollen. Es ist vermutlich sein Name."

"Sein Name?" Val fiel aus allen Wolken. "Sein echter Name?" Sogleich sausten ihm hundert zufällige Jungennamen durch den Kopf. Ihm wurde schwindelig, als er sich vorstellte, den einen richtigen darunter herausfinden zu müssen. "Wie - steht das irgendwo geschrieben? Oder …"

Die anderen sahen ihn mit düsterer Miene an.

"Oder wie sollen wir das sonst herausfinden?"

Blauregens Gesichtsausdruck war grimmig, als er aufstand. "Wir werden sehen."

 

Blauregen hatte den Gullideckel, der zum Lager führte, gerade beiseitegeschoben, als Hufgetrappel ertönte. Val hob den Blick und sah ein weißes Botenpferd, wie es in gestrecktem Galopp auf sie zupreschte. Staub wirbelte unter seinen Hufen auf, das üblicherweise schneeweiße Fell war schweißverklebt und schmutzig. Der Bote auf seinem Rücken schien keine Rücksicht auf Verluste in der Bevölkerung zu nehmen, eine Frau konnte ihr Kind gerade noch zur Seite ziehen, bevor es über den Haufen gerannt wurde. Der Mann achtete überhaupt nicht auf ihr wütendes Geschrei. Blauregen zog Val und Leonhard in der schmalen Straße an die Häuserwand, um das Gespann vorbeizulassen. Aber der Reiter riss heftig an den Zügeln, das Pferd grub die Hufe in den Sand und kam mit schäumendem Maul und bebenden Flanken neben ihnen zum Stehen. Der schwarzgekleidete Bote, dessen Arme und Gesicht trotz der Hitze vollständig vermummt waren, abgesehen von zwei schrägen Schlitzen für die Augen, griff in seine Tasche und beförderte zwei Rollen Papier zutage. Offenbar hatte er nach ihnen gesucht. Ein Menschenauflauf entstand um sie herum. Blicke bohrten sich in ihre Gesichter.

"Eine Nachricht für den Roten Löwen!", sagte der Reiter laut vernehmlich. Ein paar Leute drehten sich um und glotzten.

"Sei doch still!", zischte Blauregen und stellte sich vor Val, um ihn von den Blicken abzuschirmen. "Musst du seinen Namen hier so herum posaunen?"

Der Bote antwortete nicht und händigte Val eine Schriftrolle aus, die von einem schwarzen samtenen Band verschnürt war. Der Junge nahm sie erstaunt entgegen und sein Herz schlug ein wenig schneller gegen seinen Rippenbogen. Wer würde ihm denn schreiben?

"Und eine für Herrn Blauregen …"

"Sag noch einen einzigen Namen und ich schneid dir deine verdammte Zunge heraus!"

Zur Antwort bekam auch er eine Schriftrolle. Nachdem er seinen Auftrag erfüllt hatte, stieß der Bote seinem tänzelnden Pferd die Schenkel in den Bauch, es wirbelte herum und sie stoben davon, Richtung Palaststraße. Staub und Steine peitschten hinter ihnen her, Val hustete, seine Augen tränten.

"Dummes Pack!", schimpfte Blauregen. "Und wenn sie noch so unparteiisch sind, ich kann sie auf den Tod nicht ausstehen. Mach das doch nicht hier auf, Junge!" Er schlug Val auf die Finger, die gerade das Blatt entrollen wollten. "Bin ich nur von Hirnrissigen umgeben?", stöhnte er. "Du kannst es im Lager lesen! Rein jetzt! Mach schon!"

Die Jungen kletterten in das Loch, Blauregen folgte ihnen auf dem Fuß, er schob den Deckel über sie und alles wurde schwarz.

Eine Stimme drang aus einer Wandnische. "Losungswort?"

Blauregen wandte sich nicht einmal um, während Val angestrengt in die Finsternis starrte, um zu erkennen, wer gesprochen hatte.

"Hoffnung", knurrte Blauregen und sie durften passieren.

"Wer schreibt dir denn?", fragte Leonhard, während sie untertags im feuchten Tunnel zum Lager liefen.

"Ich weiß nicht." Val war gespannt wie ein Flitzebogen, es endlich herauszufinden. Er stolperte ein paar Mal in der Dunkelheit.

"Was, wenn es … du weißt schon, vom Feind ist?"

"Sicher nicht", erklang Blauregens gereizte Stimme hinter ihnen.

"Woher weißt du das?", fragte Val.

"Ist logisch."

Val zuckte die Schultern und ging nicht näher darauf ein. Er wusste aus Erfahrung, dass man missgelaunte Erwachsene besser in Ruhe ließ. Sie gingen schneller als gewöhnlich, das Geräusch ihrer Schritte verfing sich in den steinernen Gängen wie das Flattern eines Vogels. Immer genau dann, wenn der Lichtkreis der letzten Fackel erreicht war, traten sie in den der darauffolgenden. Das ganze System war perfekt ausgeklügelt und hatte sicherlich eine Menge Planung und Ausmessung erfordert.

Zwei Gestalten standen dicht aneinander gedrängt im Tunnel. Es waren Penn und Accasia; Penn küsste sie. Val blieb erstaunt stehen. Das Paar drehte sich um. Penn erkannte Blauregen und die Röte schoss ihm ins Gesicht, bis es dieselbe Farbe angenommen hatte wie sein Haar. Ohne ein Wort der Begrüßung drehten sie sich um und verschwanden tiefer im Tunnelsystem.

"Ich wusste gar nicht, dass die beiden …", sagte Val. Dann sah er Blauregens Gesicht. Heftiger Schmerz lag darin, als hätte man ihm gerade eine Ohrfeige verpasst. Seine Finger flogen zum Medaillon an seinem Hals. Er ging an ihnen vorbei wie ein Roboter.

Val und Leonhard tauschten einen beunruhigten Blick aus, ehe sie ihm folgten.

Dann kamen sie wieder ans Licht. Der Zwischenfall hatte ihrer Aufregung kurzzeitig einen Dämpfer verpasst, aber jetzt war der Brief erst mal wichtiger als Blauregens Gefühle.

Val ging zielstrebig an den Untergrundlern vorbei, die ihnen grüßend zunickten, lief zu den Fackeln an der Wand und faltete dort das Papier auseinander. Seine Hände zitterten ein wenig.

"Rosenfeld", sagte er, nachdem er zuerst auf die Unterschrift geschaut hatte. Dann las er aufgeregt den Rest, während Leonhard ihm die Schulter sah.

 

An den Roten Löwen:

Zuerst einmal möchte ich Dir meine herzlichen Glückwunsche aussprechen, dass Du es geschafft hast, so lange zu überleben. Viele hätten wohl dagegen gewettet. Weiterhin bitte ich Dich, diesen Brief sorgfältig zu lesen und die darin enthaltenen Informationen gut abzuspeichern, weil sich das Papier in wenigen Minuten selbst zerstören wird.

Was zu tun gilt:

 

1. Finde den Drachen

2. Brich den Fluch

3. Finde den Eingang zur Burg

4. Beachte unbedingt diese Reihenfolge!

 

Herzliche Grüße,

der Gelehrte Rosenfeld

 

Val las das Geschriebene mehrere Male, in der Hoffnung, daraus schlau zu werden. Diese Hoffnung blieb vergeblich.

"Was soll das?", fragte er ungehalten. Leonhard las noch immer mit leicht geöffnetem Mund den Brief und schüttelte den Kopf.

"Finde den Drachen … Na was glaubt er, was ich hier mache? Urlaub? Das hätte er mir ja wohl auch sagen können, als wir in Rufus' Villa waren, dann wär ich nämlich den Soldaten nicht begegnet und auch nicht halb aufgeschlitzt worden! Und dann von wegen …" Er schaute nach dem genauen Wortlaut. "Finde den Eingang zur Burg … was soll das für eine Hilfe sein? Ich weiß, dass ich das tun muss, das braucht er mir nicht in einem Brief zu schreiben." Er schüttelte den Kopf. "Das einzige, was ich nicht kapiere ist dieser Fluch da, und zu dem sagt er kein Sterbenswörtchen mehr! Was für ein Fluch soll das sein? Und dann - warum unbedingt in dieser Reihenfolge? Kommt sonst die Reihenfolge-Polizei, oder was?" Er spuckte verächtlich aus.

Leonhard hatte gerade zu Ende gelesen, als der Brief in Flammen aufging. Erschrocken ließ Val ihn zu Boden fallen, wo er verglomm und nichts übrig blieb außer einem Häufchen Asche.

"Was soll das?", fragte Val noch einmal und strengte sich trotz seiner Wut an, die eben gelesenen Worte auswendig zu lernen. "Was stand da schon Geheimes drin?"

"Ich weiß nicht." Leonhard biss sich auf die Lippe und dachte scharf nach. "Der Fluch ist mir neu, ich frage mich ..."

"Was?" Aber dann sah Val, dass auch Blauregen vor einem Haufen glühender Asche stand und auch er ein verärgertes Gesicht machte.

"Hat dir Rosenfeld auch geschrieben? Was hat er dir geschrieben?", wollte er wissen.

"Geht dich nichts an", antwortete er brüsk. Er fuhr sich übers stoppelige Kinn, wie er es so oft tat, wenn er nachdachte.

"Na hör mal, ich bin der Löwe oder nicht?"

Ein paar Leute wandten die Köpfe, Blauregen sandte ihm einen mörderischen Blick.

"Wenn er dir gewisse Dinge nicht geschrieben hat, wird er seine Gründe dafür haben." Dann stolzierte er ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.

"Das ist ungerecht", beschwerte Val sich und starrte ihm hinterher.

Leon wollte ihm gerade seine Meinung darlegen, als sich draußen Stimmen erhoben. Jemand sagte: "Mir egal, lass mich los, Penn, ich werd mit dem Kerl reden!"

Val wandte sich um. Sein Instinkt sagte ihm, dass er selbst Anlass des Streits war. Ein junger Mann mit nach hinten gekämmtem schwarzen Haar stand im Torbogen, seine Brust hob und senkte sich sehr schnell. Auf dieses Ereignis hatte Val zugegebenermaßen von Anfang an gewartet. Es war Nox.

"Ich will wissen, warum er hier ist!", sagte er laut und durchbohrte Val mit seinem Blick. "Es gibt Gerüchte! Gerüchte von Feinden des Drachen! Die Bluthunde haben einen kleinen blonden Jungen verfolgt, fremdländisch im Aussehen! Das war doch er, oder nicht?"

Penn packte ihn von hinten an der Schulter. Seine Körperhaltung drückte Wut aus. Auch Val wurde wütend. Kleiner Junge?

"Genug, Nox! Er ist mit Blauregen zusammen hier und das muss dir als Begründung genügen."

"Ich kenne deinen Blauregen nicht", spuckte Nox dem Anführer des Untergrunds vor die Füße. "Warum müssen sie keinen Test bestehen wie wir anderen? Ich musste, um aufgenommen werden, gegen dich antreten! Warum sie nicht?"

"Wir haben unsere Gründe." Blauregen stand plötzlich in der Tür. Seine Augen waren blaues Feuer.

"Ja, weil ihr Feiglinge seid!", rief Nox.

"Was?" Val sprang auf. Galle stieg ihm die Kehle hoch. "Ich kämpfe gern gegen dich, du dämlicher Aufschneider!"

"Val, lass es sein!" Blauregen funkelte ihn zornig an. "Penn, unterbinde das!"

"Nox, es reicht! Ich dulde so etwas hier nicht." Penns Stimme war ganz ruhig und deshalb umso eindringlicher. Er meinte es ernst. Nox verharrte noch einen Moment in der angespannten Position, dann presste er die Lippen aufeinander und trat zurück. Vielleicht erinnerte er sich an den Kampf zwischen ihnen beiden, den er gerade erwähnt hatte. Val konnte verstehen, dass er nicht scharf auf einen zweiten war.

"Das ist es noch nicht gewesen!", zischte er Val zu.

Der erwiderte furchtlos seinen Blick.

"Was glaubt der eigentlich, wer er ist?", regte Leonhard sich auf, nachdem er aus dem Raum gestürmt war. "Wenn der wüsste, wer du bist, dann würde er seine verdammte Klappe nicht so voll nehmen!" Er sah aus, als wäre er drauf und dran, ihm nachzurennen. Bestimmt hatte in seinem ganzen Leben noch nie jemand so mit ihm gesprochen. Oder mit der Person, die bis zum Rest seiner Tage an ihn gebunden war. Val tat der Gedanke Genüge, dass er bereit war, sich für ihn zu schlagen. Deshalb sagte er nur:

"Lass gut sein, Leon, das haben wir gar nicht nötig."

"Aber der Typ hat eine Abreibung dringend nötig!"

Blauregen kam zu ihnen herüber, die Stirn in Falten gelegt. "Haltet euch fern von ihm, ja? Kämpft nicht mit ihm. Versprecht mir das."

"Wieso nicht?", fragte Leonhard. "Er hat uns beleidigt, er hat dich beleidigt, er-"

"Lass es einfach sein." Blauregen war weder wütend noch herrisch, sondern er trat auf wie jemand, der wusste, wovon er sprach. "Penn nimmt Leute nicht ohne Grund in seine Bande auf. Nox ist ein sehr fähiger Magier."

"Ich bin auch ein fähiger Magier", sagte Leon durch zusammengebissene Zähne. "Ich habe viel gelernt, seit ich mit dir zusammen bin!"

"Ich habe nie gesagt, dass du es nicht wärst."

Leon blinzelte und schaute ihm überrascht nach. Val musste ein Grinsen unterdrücken. Blauregen wusste immer die richtigen Worte.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang er auf und schloss zu dem jungen Mann auf. "Blauregen, was genau ist Nox' Problem? Selbst wenn er wüsste, dass ich … " Er senkte die Stimme zu einem Flüstern, "… dass ich der Löwe bin, was für einen Unterschied macht es für ihn? Ich bin doch auch gegen die Schlagen und gegen Adair."

"Aber du bist eben auch der Rote Löwe. Dein früheres Leben hat den Drachen umgebracht. Sie mussten sehr lange auf einen neuen warten. Außerdem weiß niemand, warum Asher das getan hat. Deshalb verzeihen sie ihm - und dir - das nicht."

"Aber ich kann ihnen doch dabei helfen, Adair zu stürzen!"

"Mal abgesehen davon", sagte Blauregen und sein Blick verfinsterte sich, "dass ich nicht will, dass du dich in irgendwelche aufrührerischen Aktivitäten verstrickst, ändert das für Nox und seine Anhänger nichts. Sie hassen dich, verstehst du? Sie wollen lieber zugrunde gehen, als Hilfe von dir annehmen. Die Fehde mit dem Löwen ist ihnen ernster als die mit Fauces."

Val presste die Lippen aufeinander, nickte und sagte nichts mehr.

"Mach dir nichts draus." Blauregen hielt inne. Er betrachtete ihn forschend. "Dir macht es tatsächlich etwas aus, dass er dich nicht mag, oder?"

"Nein", sagte Val leise und mied seinen Blick.

"Ach, Val, deine Sorgen möchte ich haben!" Er wuschelte ihm lachend durchs ohnehin schon zerstrubbelte Haar.

 

*

 

Der Drachenvogel hüpfte aus der Transportkiste. Er hatte Glück, dass sie so nahe am Fenster seines Zuhauses vorbeifuhr, sonst hätte er mit dem verletzten Flügel ein Problem gehabt. Der rosa Stein steckte noch immer in seiner Kralle, erzeugte bei jedem Schritt ein dumpfes Klonk, als er über den Dachfirst humpelte. Er kletterte auf das Fenstersims. Wofür er normalerweise keine anderthalb Minuten brauchte, war er mit seiner Verletzung heute fast viermal so lang unterwegs. Die schuppigen Federn und sein verletzter Flügel, den er in einem schiefem Winkel von seinem Körper abspreizte, waren so sperrig, dass er auf dem schmalen Brett kaum genug Platz hatte. Wütend hackte er mit seinem krummen Schnabel nach der Fensterscheibe. Es gab ein unerträglich hohes, quietschendes Geräusch. Der Drache mit seinem guten Gehör hörte ihn sofort.

Keine Sekunde später wurde das Fenster aufgerissen und der blasse Junge ließ ihn hinein.

"Oh, Ruki, du bist schon zurück! Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?"

Ruki watschelte ins Zimmer. Er würdigte seinen Herren keines Blickes. Heute war eine Tortur gewesen. So war er in dreizehn Jahren noch nicht gequält worden.

"Ruki, bleib doch hier, lass mich das untersuchen!"

Der Junge packte ihn und Ruki schrie auf vor Empören.

"Selber schuld, wenn du nicht stehen bleibst!" Mit einer Berührung war der gebrochene Flügel geheilt. Ruki war noch lange nicht versöhnt. Wild zeternd hackte er nach der Hand des Jungen. Er ließ ihn los.

"Soll das heißen, du hast ihn gefunden?" Der Drache war das eigenwillige Verhalten seines Vogels gewohnt.

Ruki ließ einen Schrei verlauten. Das sollte man meinen!

"Wirklich? Soll das heißen, er ist hier?"

Zur Antwort streckte Ruki eine schwarze Kralle aus und ließ den kleinen rosa Stein zu Boden fallen. Der Drache fing ihn noch im Flug auf.

"Ein Unsichtbarkeitsstein", murmelte er und untersuchte den kleinen Gegenstand ganz genau. "Der Löwe hat mächtige Verbündete im Untergrund!" Er wandte sich um. "Was ist passiert? Wo ist er jetzt?"

Aber Ruki war müde. Seine Flügel taten weh, sein Schnabel schmerzte, von seinen Füßen ganz zu schweigen. Alles nur für einen blöden Stein. Mit einem wütenden Krächzer humpelte er in Richtung seines Körbchens. Er ließ sich hineinfallen und schloss die Augen. Die Fragen seines Besitzers blendete er einfach aus.

Irgendwann gab der Drache es auf. Er hatte ohnehin genug gehört, den Rest konnte er sich auch so zusammenreimen. Nachdenklich ließ er den Stein in die Luft schnellen und fing ihn anschließend wieder auf. "Schön, Löwe, du bist hier", murmelte er. "Dann kann das Spiel also beginnen."

Er klingelte einen Diener herbei.

"Ich brauche Salomo", trug er dem Mann auf. "Den Leitwolf."

 

Val und Leonhard saßen in der Gemeinschaftshalle. Leonhard versuchte, Schwarzkralle zu überreden, ihm Schattenmagie beizubringen, aber der zeigte sich widerwillig.

"Wenn du mich fragst, Leon, bist du eher ein Lichttyp. Ich möchte dich nicht auf die falsche Bahn bringen. Frag doch Blauregen, ob er dir hilft."

"Blauregen ist schon den ganzen Tag völlig aus dem Häuschen." Leon rollte die Augen. "Seit du weißt schon …"

Nur ausgewählten Untergrundlern hatten sie erzählt, was im Tunnel unter dem Schloss passiert war. Nämlich Penn und Zob. Schwarzkralle hatten sie allein die Geschichte mit dem verlorenen Unsichtbarkeitsstein erzählt.

"Ich hoffe nur, dass uns das nicht noch zum Verhängnis wird …" Schwarzkralles Schatten duckte sich ängstlich unter vorgehaltene Ellbogen. Schwarzkralle schlug ärgerlich nach ihm. Der Schatten hielt sich den Bauch vor Lachen.

"Dass uns die Wölfe hier finden? Unmöglich. Dann hätte der Drache sie auf der Stelle auf unsere Spur ansetzen müssen. Wir sind viel zu tief in der Kanalisation, nein, ich denke, wir müssen uns keine Sorgen machen …" Leonhard wurde vom Auftauchen Likojs unterbrochen. Der kleine Junge war augenscheinlich nervös, er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. In den Händen hielt er einen Strauß Abelia-Blumen, die, wie Val wusste, Schwarzkralle gestern Abend am Stadtrand für die Fürstin gepflückt hatte.

"Das soll ich dir von der Fürstin geben …" Likoj händigte die Blumen aus.

Schwarzkralle nahm sie stumm entgegen. Sie waren völlig zerfleddert, die Blüten sahen aus, als hätte eine Horde Ratten daran genagt; dem Geruch nach zu urteilen, waren sie anschließend auf einer Müllhalde gelandet.

Leon brach in schallendes Gelächter aus, Val war entsetzt.

"Ich mache ihr keinen Vorwurf", sagte Schwarzkralle, wohlweislich so laut, dass es auch die Fürstin hören konnte, die mit ein paar Freunden auf den Steinbänken in der Ecke saß. "Sie ist verheiratet, da ist es nicht ganz leicht, sich die Gefühle für einen anderen Mann einzugestehen. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken … Oh, komm schon, das war ein Wortspiel!"

Dann kam Unruhe auf. Blauregen versuchte, Penn davon abzuhalten, durch das Steintor zu gehen. Sie stritten. Ihr Flüstern hallte lauter von den Steinwänden wider, als sie vielleicht vermuteten.

"Ich werde ihn einfach fragen", sagte Penn und duckte sich unter seine Arme hindurch. "Hören wir, was er selber davon hält."

"Du weißt genau, dass er dir nichts abschlagen wird!"

"Stimmt." Penn grinste ihn schief an. Dann ließ er ihn stehen und lief zu Val. Der schaute ihn fragend an.

"Val, du erinnerst dich sicherlich noch an Nox?"

Der nickte verhalten. Die unerklärliche Feindseligkeit des Jungen würde er nicht so schnell vergessen.

"Siehst du, mehrere Mitglieder des Untergrunds beginnen, sich unwohl zu fühlen." Val sah, wie Schwarzkralle Penn einen misstrauischen Blick zuwarf. Der ignorierte ihn. "Weil Leonhard und du noch keine eingeschworenen Mitglieder seid. Ihr habt noch keinen Eid abgeleistet, dass ihr unserer Sache helfen wollt."

Val runzelte die Stirn. Ein Eid? "Klar, wollen wir dir helfen. Blauregen und du, ihr seid doch Freunde."

"Es geht hier aber um dich, Val", sagte Penn geduldig. "Um dich und Leonhard. Ihr habt euch noch zu keiner Seite bekannt."

Val begriff langsam. "Du willst …"

"Dich", antwortete Penn. "Dein Wort und deine Treue."

Val starrte ihn an. Er fühlte, dass mehrere Blicke auf ihm ruhten. Penn hatte ihn nicht um ein Gespräch unter vier Augen gebeten, er wollte, dass alle Untergrundler Zeugen von seiner Antwort wurden.

"Val, ich möchte, dass du einen Eid schwörst. Dass du die Revolution nach besten Kräften unterstützt und nichts davon preisgibst, was du hier zu sehen bekommst. Dasselbe verlange ich von dir, Leonhard."

Als keiner antwortete, setzte er hinzu: "Jeder hier hat das gemacht. Schwarzkralle auch, nicht wahr, Schwarzkralle?"

Der presste die Lippen aufeinander. "Das ist etwas völlig anderes, Penn."

Aber Penn winkte ab und wandte sich erneut den beiden Jungen zu. "Also?"

"Ein Eid von magischer Natur sein, nehme ich an?", fragte Leonhard.

Penn lächelte bloß. "Was denkst du, hm?"

"Was heißt das?", wollte Val wissen.

"Das heißt", sagte Blauregen und trat einen Schritt vor. "Dass du tatsächlich alles tun musst, was in deiner Macht steht. Ohne Ausnahme. Sonst stirbst du." Seine Miene, als er das sagte, war unergründlich.

Val gingen fast die Augen über. "Was?"

"Val." Penn nahm ihn an den Schultern und blickte ihn ruhig an. "Das hier ist deine Stadt. Okay? Dies sind deine Kämpfenden. Wenn du sie nicht nach besten Kräften unterstützen willst, hast du hier sowieso nichts verloren."

Val machte sich von seinem Griff los, schaute aufgewühlt zwischen den dreien hin und her. Er wusste nicht, was er tun sollte.

"Was denkst du?", fragte er Blauregen.

Dessen Gesicht war unbewegt und es war unmöglich zu erkennen, was er dachte. "Das ist allein deine Entscheidung, Val."

"Was ist mit dir, Leonhard?"

Auch der Gelehrtensohn schüttelte den Kopf. "Ich bin an dich gebunden. Ich tue, was du tust."

Val unterdrückte ein Stöhnen. "Kann ich darüber nachdenken? Ich weiß nicht, wie-?"

"Nein, Val", sagte Penn. "Entscheide ich jetzt."

Niemand widersprach, man hatte lange auf diesen Moment gewartet; Spannung lag in der Luft so dick wie Vanillesoße. Val schaute zu Boden. Die Minuten zogen sich hin. Schließlich holte er tief Luft. "Ich werde den Eid schwören."

Blauregen schloss kurz die Augen. Er hatte auf eine andere Wahl gehofft.

"Dann ich ebenfalls", sagte Leonhard leise.

Penn gab noch nicht einmal mit einem Wimpernzucken zu erkennen, wie zufrieden er war. "Wir fangen gleich an", sagte er in bemüht gleichgültigem Tonfall. "Es ist keine große Sache." Und er verschwand aus der Halle.

Das Schweigen, das sich danach ausbreitete, war unangenehm. Val mied Blauregens Blick.

Als Penn zurückkam, hatte er einige der Untergrundler als Zeugen und auch die beiden Ratten, Lanzelot und Parzival, im Schlepptau.

"Was macht ihr denn hier?", fragte Val entgeistert.

"Wir wollten mit Penn reden, wichtige Dinge besprechen, dann hat er von eurem Schwur erzählt. Wir dachten, es wäre eine gute Idee, wenn wir bei der Einführung dabei sind." Lanzelot schüttelte ihm und Leonhard gewichtig die Hand. Seine rosa Pfote verschwand vollständig zwischen ihren menschlichen Fingern. Dem unaufgeregten Betragen der anderen nach zu urteilen, war der Anblick der Ratten im Lager keine Seltenheit.

"Ich weiß, es ist streng geheim." Lanzelot zwinkerte ihm zu. "Dass du der Shogha bist und so weiter."

Val legte grinsend den Finger an die Lippen. "Shh!"

"Was treibt ihr immer so?", fragte Blauregen. Nichts deutete auf seine Aufgewühltheit mehr hin. Er hatte sich anscheinend mit seinem (oder viel mehr Vals und Leonhards selbstgewählten Schicksal) abgefunden. "Immer noch im Waisenhaus tätig?"

"Natürlich. Wir bilden unsere Rekruten sorgfältig aus."

"Ich bin mir nicht sicher, ob ich wissen will, was das heißt."

"Im Falle eines Angriffs wirst du es sehen."

"Na, hoffen wir, dass es dazu nicht kommt."

Val folgte dem Wortwechsel interessiert, aber es blieb keine Zeit für Fragen.

Die Fürstin und Penn übernahmen die Leitung der Zeremonie. Irgendein Witzbold in der letzten Reihe stimmte einen feierlichen Trompetenton an, als sie anfingen zu sprechen. Ein eisiger Blick von seitens der Frau brachte ihn zum Schweigen.

Sie wandte sich an Val. Der war nervös, weil sie ihm bisher mit keinem Blick zu verstehen gegeben hatte, dass sie wusste, dass er existierte. Ihr schönes Gesicht war gleichgültig. Val bemühte sich, nicht auf ihre Narbe zu starren.

"Valentin Rabenfeder, wirst du den Untergrund Alangiums nach allen dir fähigen Kräften unterstützen? Schwörst du, dass keins seiner Geheimnisse durch deinen Mund nach außen dringt?"

Val räusperte sich. Alle Augenpaare ruhten auf ihm. "Ich schwöre es", sagte er. Er keuchte und fasste sich an die Brust. Der Eid legte sich wie eine Eisenkette um sein Herz, schnürte ihm für einen Moment die Luft ab. Dann war das Gefühl vorbei und er konnte wieder freier atmen. Das bedeutete es also, wenn das Versprechen von magischer Natur war, dachte er erschrocken.

Leonhard legte den Schwur nach ihm ab. Im Gegensatz zu ihm verzog er keine Miene, nachdem er die Worte ausgesprochen hatte.

Die ganze Sache war auf ein paar Minuten vorbei, genau wie Penn es vorausgesagt hatte, dann waren sie offiziell Mitglieder des Untergrunds. Das Publikum jubelte, Schwarzkralle und Zob am lautesten. Von irgendwoher regnete Konfetti auf die beiden herab, aber es war nur eine Illusion.

Nicht ausschließlich alle waren in Feierlaune. Nox wandte sich mit einem bitteren Gesichtsausdruck ab und ein paar seiner Anhänger folgen ihm, aufrührerische Parolen murmelnd.

Penn trat zu ihnen. Jetzt, wo nichts mehr schiefgehen konnte, zeigte er seine Freude ganz unverhohlen, er grinste wie ein Honigkuchenpferd. "Ihr braucht das Drachentattoo, Jungs. Anders werdet ihr überall herausstechen."

Val hatte besagtes Tattoo schon auf den Händen der anderen Untergrundler gesehen, den schwarzen Fleck aber nicht unbedingt als Drachen erkannt.

Val streckte die Hand aus. Penn drückte Zeige- und Mittelfinger auf die empfindliche Haut über seiner Daumenspeiche. Val entfuhr ein überraschtes Keuchen, als Schmerz wie der Biss eines wilden Tieres durch seinen Körper jagte. Er blinzelte. Nun hatte er auch er den kleinen schwarzen Drachen auf der Haut, der ihn als Bürger Alangiums auszeichnete.

Er schaute zu Penn auf und lächelte.

Die Feierstimmung hielt nicht lange an. Mehrere Männer und Frauen verabschiedeten sich, küssten ihre Liebsten, die Gesichter besorgt. Es galt, wichtige Geschäfte zu erledigen, heute noch mehr als in anderen Nächten. Wenn Val gedacht hatte, mit dem Schwur würde sich die Verschwiegenheit über die Missionen ändern, hatte er sich getäuscht: Er erfuhr nicht das Geringste. Die Ratten salutierten und verschwanden mit den übrigen.

"Versteh nicht, warum du sie das hast machen lassen", murmelte Schwarzkralle Blauregen zu. Obwohl er sich freudig gegeben hatte, war er beunruhigt über Vals Schwur.

Immerhin war er jetzt einer Obrigkeit unterstellt, vor der er sich verantworten musste. Und wenn es nur Penn war.

Blauregen lächelte bloß. "Du kennst doch Penn. Er hätte früher oder später irgendeinen Weg gefunden. So hat es zumindest noch den Anschein, als hätte er sein Schicksal selbst gewählt."

Val tat, als hätte er sie nicht gehört. Leonhard und er verglichen ihr Drachentattoo. Val fand, seines sah ein wenig anders aus, irgendwie verlaufen. Er rubbelte gerade daran herum, als Blauregen zu ihm trat. Er griff in seine Hosentasche und förderte eine abgegriffene Scherbe bunten Glases zutage. Er drückte sie Val in die Hand und schloss seine fünf Finger darum.

"Du weißt, ich wollte nicht, dass du den Schwur leistest."

Val wich verlegen seinem Blick aus. "Es wird mir schon nichts passieren."

Blauregen nickte. "Hoffen wir es. Solltest du aber jemals in Gefahr geraten und sollte ich aus irgendwelchen Gründen nicht in deiner Nähe sein, halte diese Scherbe ins Licht. Sie wird aufleuchten, ich kann sehen, wo du bist und dir zu Hilfe eilen."

"Danke", sagte Val achtlos und steckte die Scherbe ein. Gleich darauf hatte er sie vergessen. Er rechnete nicht damit, in Gefahr zu geraten.

 

Val war so hundemüde, dass ihm schon im Stehen die Augen zufielen. So viel war an diesem Tag passiert, dass seine Abenteuerlust fürs erste vollends gestillt war. Zob schließlich trug ihn auf einen Wink Blauregens in den Schlafraum und bettete ihn sanft auf eine Matratze.

"Tapferer Junge", flüsterte er und tätschelte ihm den Kopf, ehe er ihn verließ.

Stunden vergingen, aber Val fand keine Ruhe. Immer wieder kam er auf, schweißgebadet, während ihm das Herz wie ein Presslufthammer in der Brust schlug. Er erinnerte sich nicht an die Träume, aber er wusste auch so, dass sie ihm nichts Gutes zeigten. Irgendwann hörte er ein Heulen. Ein schauriges, abwechselnd leiser und lauter werdendes Heulen, das ihm die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Zuerst hielt er es für ein Überbleibsel aus seinem letzten Traum, Hintergrundmusik, die nicht abgestellt worden war. Er träumte von Blutwölfen? Dummes Unterbewusstsein, dann würde er in Zukunft doch nur noch mehr Angst vor ihnen haben.

Er wartete darauf, dass er wacher wurde und mit dem Schlaf das Heulen verschwand. Erst spät, nachdem er sich mehrere Male mit einem kräftigen Zwicken in den Arm davon überzeugt hatte, dass er nicht mehr schlief, verstand er. Nämlich als das Trommeln von Pfoten und das Hecheln von unzähligen Mäulern sich zu dem Schauerlaut mischte. Mit einem Schrei sprang er auf.

"Blauregen! Die Wölfe, sie kommen! In den Tunneln!"

Mehrere Schlafenden rührten sich, hoben träge die Köpfe. "Was ist los?", murmelte jemand. "Wer schreit hier so?"

"Was?" Blauregen war sofort hellwach. Er schlief nie besonders fest.

"Sie haben meine Spur aufgefangen! Ohne den Stein bin ich schutzlos!"

Die Warnung erfolgte keine Sekunde zu früh; schon brachen die ersten Biester durch den Torbogen. Val blieb vor Schreck das Herz stehen. Auf ihren Rücken saßen grün gerockte Soldaten, die Schwerter kampfbereit, die Helme tief ins Gesicht gezogen. Sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, Blauregen war der einzige Magier, der sich ihnen entgegenstellte. Sein Lichtschwert wirbelte so schnell durch die Luft wie eine zubeißende Schlange. Seine Leuchtkraft in den frühen Morgenstunden war allerdings sehr schwach, kaum eine Drittel dessen, wozu es in seiner Glanzzeit fähig war. Leonhard kam auf die Beine, verstand mit einem Blick, was los war und stürzte sich furchtlos in den Kampf. Mit Angriffsshmi versuchte er, die Wölfe zur Rückkehr zu bewegen. Ein frustriertes Keuchen entfuhr ihm, als seine Magie keine Wirkung zeigte. Im letzten Moment zog er sein Schwert und parierte damit den Biss des angreifenden Hundes. Val eilte ihm zu Hilfe. Um ihn herum herrschte heillose Verwirrung. Nur die wenigsten hatten so schnell geschaltet wie Leonhard, der Großteil war einfach überrannt worden. Und eine Vielzahl der Untergrundler, so erkannte Val mit Schrecken, war überhaupt nicht da! Er erinnerte sich, dass sie sich am Vorabend verabschiedet hatten und es waren ausgerechnet die fähigsten Magiekämpfer gewesen, Penn, Schwarzkralle, die Fürstin. Immer noch neue Wölfe strömten durch den Eingang, Val hatte ja keine Ahnung davon gehabt, wie groß das Rudel wirklich war! Und die Untergrundler, die sich in eine kämpfende Position vorgearbeitet hatten, hatten genauso verwirrte Gesichter aufgesetzt wie Leonhard. Ihr Angriffsshmi wirkte bei den Wölfen nicht!

"Wir müssen den anderen Bescheid geben!", schrie Trevor, während er einen Wolf davon abhielt, ihm den Arm zu zerfleischen. Er kämpfte gleichzeitig gegen Ross und Reiter. "Allein schaffen wir es nicht!"

"Ja, wie denn?", brüllte Blauregen zurück.

Gegen diese Übermacht hatten sie nicht den Hauch einer Chance. Der Angriff der Soldaten war zu sorgfältig geplant worden. Als die Untergrundler versuchten, sich ihre überlegenen Kenntnisse des Untergrundsystems zunutze zu machen, wurden sie erneut überrascht. Die Wölfe umzingelten sie von den anderen Eingängen, sie hatten sich im Vorneherein verteilt und sie eingekesselt. Val sah Blauregen in einen Kampf mit gleich drei Gegnern verwickelt. Auf Dauer wurde es selbst ihm zu viel. Die Wölfe waren trotz ihrer Körpergröße unglaublich flink und wendig, bissen und schnappten, als hinge ihr Leben davon ab. Zudem war Blauregens Lichtschwert immer noch schwach, mittlerweile hatte es angefangen zu flackern, als könnte es jeden Moment ausgehen. Zum ersten Mal war Val enttäuscht, dass Blauregen kein Schattenmagier war.

"Scheiße, Val, das werden immer mehr!" Leonhard hatte alle Hände damit zu tun, sich und seinen Schützling vor den Angriffen der Biester zu beschützen. Val fuchtelte unnütz mit dem Schwert durch die Luft, aber Leonhard wollte ihn nicht einmal in die Nähe der Wölfe lassen. Seine Hände zeichneten Shmi so schnell, dass sie zu verschwimmen begannen. Vals Verzweiflung, als er sich umblickte, wuchs. Viele Untergrundler lagen bereits am Boden, verwundet oder vielleicht Schlimmeres. Immer noch waren Schwarzkralle und ein paar der anderen fähigeren Magier nicht zurückgekommen. Vielleicht war es ihnen unmöglich, von außen ins Lager einzudringen. Was es auch war, ohne sie hatten sie keine Chance, das Lager zu verteidigen.

Mehr Leute verstanden das.

Blauregen, der heftig aus einer Bisswunde am Arm blutete, stürzte zu den beiden Jungen. "RÜCKZUG!", brüllte er. "RÜCKZUG!"

Er zerrte sie zu den Toren.

Rückzug war gut, dachte Val erschrocken, während er hinter ihm her stolperte. Die Wölfe waren überall, schnappten und bissen und ließen sie nicht vorbei.

"Blauregen!", schrie er. "Sie versperren den Weg!"

Sein Blick fiel auf eine kleine Gestalt in der Hallenmitte. Likoj, zitternd, furchtsam, der mit einem Schwert in der Hand dastand, unfähig sich zu rühren, während der größte der Wölfe auf ihn zustürzte. Der mit der Kette aus Zähnen, der gnadenloseste von ihnen.

"Nein!" Leonhard shmite wie ein Wahnsinniger, aber ohne ersichtliche Wirkung. Die Wölfe waren immun gegen sein Zaubershmi.

Val rechnete damit, Likoj zum letzten Mal zu sehen. Er krallte seine Finger in Leons Ärmel und hatte den entsetzten Schrei bereits auf den Lippen. Dann sprang den Wolf etwas an, etwas Kleines, Schwarzes, Fauchendes. Dann noch etwas, es geschah noch einmal und dann noch einmal. Insgesamt fünf der Schemen stürzten sich auf das so viel größere Tier, bissen, kratzten und schlugen es windelweich.

Val erkannte sie schließlich. "Katzen!", rief er erstaunt.

Er wandte den Kopf um zu sehen, wer die Magie wirkte. Penn stand in der Mitte des Torbogens, mit ausgebreiteten Armen und leuchtendem Haar; wie ein Racheengel sah er aus. Hinter ihm strömten weitere hunderte der kleinen Schattenkrieger in den Raum.

Penn war hier! Sie waren gerettet!

"Das also ist seine Magie!", flüsterte Val.

Die Katzen waren aus Schatten gemacht. Ihre Augen glühten grün wie Smaragde. Wie schwarze Banner flatterten Schatten an ihren Ohren, Beinen und Schwänzen. Sie konnten sich aus dem Nichts manifestieren, konnten mit ihren Pfoten Schläge verteilen, die einen ausgewachsenen Bullen von den Hufen gehauen hätten. Mit gesteigerter Geschwindigkeit gingen sie auf die Bestien los. Nun waren die Soldaten an der Reihe angsterfüllt zu schreien.

"Nun komm schon, Val! Raus hier!" Blauregen zerrte ihn zu einer Lücke in der Formation.

"Aber die Katzen! Sie gewinnen!"

"Nein, Val, er kann sie nicht ewig aufhalten!"

Val sah ein, dass er recht hatte. Die Wölfe konnten die Katzen mit einem Biss zu reinem Nichts zerstäuben. Penn verschaffte ihnen nur Zeit.

Plötzlich blieb Blauregen stehen. "Accasia!"

Val folgte seinem Blick. Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen auf dem dreckigen Boden, die Gliedmaßen merkwürdig verrenkt, ihre Locken wie ein Heiligenschein um sich ausgebreitet.

Oh, bitte nicht.

"Nein!" Blauregen stürzte an ihre Seite. Er fühlte ihren Puls und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie lebte noch. Er hob sie vom Boden auf, ganz sanft, als wäre sie aus Glas.

"Komm, Val!" Leonhard zog ihn weiter.

Endlich rannten sie aus der Halle.

Sie liefen lange durch den Untergrund, aus Angst, eingeholt zu werden, wenn sie stehen blieben. Bei der nächsten sich ihnen bietenden Gelegenheit kletterten sie auf die Straßen. Sie wurden nicht verfolgt, aber der Schock saß tief. Ein paar der Frauen weinten. Likojs Mutter hatte ihren Jungen aufgehoben und an ihre Brust gepresst, obwohl er viel zu schwer war, getragen zu werden. Auf ihrem Gesicht glitzerten Tränen.

Auf Häuserdächern, in Dachgiebeln und Speichern der Untergrundler suchten sie Zuflucht. Dort war es trocken und zumindest für den Moment einigermaßen sicher.

"Wartet hier", sagte Blauregen mit heiserer Stimme zu ihm. Er selbst hielt nach einem Bett für Accasia Ausschau. Seit er sie in seine Arme gehoben hatte, hatte er sie nicht einmal abgelegt.

Val saß wie versteinert in dem Trubel um ihn herum da. Er konnte nur an Penn denken, wie er da unten fast allein für ihre Sicherheit kämpfte, der vereinten Kraft der Soldaten ausgeliefert, mit nichts an seiner Seite als fauchenden Schatten … Aber plötzlich war er da, verschwitzt und erschöpft, einen Ausdruck grimmiger Trauer im Gesicht. Der Kampf im Untergrund war also zu Ende, das Lager verloren. Val schloss die Augen. Er konnte sich nicht darüber freuen, dass er unverletzt war. Obwohl er nur wenige Tage dort unten verbracht hatte, war das Lager ein Quell der Sicherheit, ein zweites Zuhause für ihn geworden. Jetzt standen sie vollkommen mittellos da.

"Gib sie mir", sagte Penn. In seinem Gesicht prangte eine große Schnittwunde, aus der Blut über seine Wange hinablief wie eine Träne. Erst sah es aus, als wollte Blauregen sich weigern, dann gab er Accasia aus seinen Armen.

"Tut mir Leid", flüsterte er.

Penn nickte nur. Er brauchte nur einmal zu fragen. Für den Helden der Schlacht wurde ohne viel Getue ein Bett aus Stroh bereitgestellt. Dort legte er Accasia ab, strich ihr das gelockte Haar aus der Stirn. Mehrere der Frauen legten ihm eine Hand auf die Schulter und auch die Männer trösteten ihn.

"Zumindest sind wir alle noch am Leben. Das haben wir nur dir zu verdanken, Penn", sagten sie zu ihm.

Die Fürstin und Schwarzkralle stießen ein paar Minuten später zu ihnen; sie waren völlig außer Atem und ihre Kleidung trug die Spuren von einem wilden Kampf.

"Wir wurden von den Wölfen bereits im Osttunnel angegriffen! Wir konnten nicht rechtzeitig kommen." Schwarzkralle war unglaublich wütend auf sich selbst, er rang die Hände und trat aus lauter Frust mit voller Wucht gegen einen Holzbalken, sodass er sich fast die große Zehe brach.

"Es hätte keinen Unterschied gemacht", antwortete Penn schwer. "Sie kennen den Weg. Dort unten ist es für uns nicht mehr sicher."

Einstimmiges Klagen folgte diesen Worten. Für diese Menschen war das Lager noch mehr ein Zuhause gewesen als für Val. Manche hatten nie irgendwo anders gelebt. So zum Beispiel Zob. Er kauerte in einer Ecke und weinte, seine gewaltigen Schultern bebten wie bei einem Kind. Val konnte nicht hinsehen.

Nox wusste, wer der Schuldige war. Seine Stimme troff vor Hass. "Es ist passiert, kaum, dass wir ihn aufgenommen haben! Kaum, dass die beiden Mitglieder des Untergrunds geworden sind, finden die Soldaten uns! Das ist kein Zufall! Sie bedeuten nur Böses für uns!"

Val sah, dass mehr Menschen als sonst seinen Worten Gehör schenkten. Misstrauen regte sich auf ihren Zügen.

"Halt deine verdammte Klappe, Nox!", zischte Blauregen und ging drohend auf ihn zu.

Val selbst musste von Leonhard aufgehalten werden, sonst hätte er sich auf ihn gestürzt. Seine Nerven lagen blank.

Nox wurde losgeschickt, in anderen Dachkammern zu helfen, provisorische Nachtlager zu errichten. Die Gruppe verkleinerte sich, bis nur noch eine Handvoll Untergrundler übrig war.

"Wir werden uns ein anderes Lager errichten", sagte Trevor aufmunternd. Aber er klang selbst nicht gerade zuversichtlich. "Das alte war doch ohnehin ein wenig feucht und schimmlig, oder nicht?"

Aber niemand lachte. Heute war niemandem mehr nach Lachen zumute.

"Blauregen, was können wir tun?" Obwohl Val wusste, dass es besser wäre, es nicht zu tun, nahm er sich Nox' Worte zu Herzen. Es war doch wirklich seine Schuld. Hätte er besser auf den Stein aufgepasst, oder hätte er sich dem Untergrund an erster Stelle niemals angeschlossen …

Blauregen schien seine Gedanken zu lesen. "Nein, Val, ich lasse nicht zu, dass du dich so grämst. Dich trifft keine Schuld, hast du verstanden? Du musst jetzt schlafen."

Val sah die Anfänge eines Verwirrungsshmis auf seinen Fingern, dann übermannte ihn die Müdigkeit.

 

Am nächsten Tag waren immer noch alle mit Aufbauarbeiten beschäftigt. Die Stimmung war gedrückt, niemand sprach. Die letzte Nacht hatte man eher provisorisch auf Heu und Stroh und den am bequemsten aussehenden Holzbalken verbracht, heute wurden Betten, Matratzen, Kochutensilien, Waschmöglichkeiten und Spielsachen für die Kleinen herbeigeschafft. Das meiste der Sachen bezog man von den Familien der Untergrundlern, vieles klaubte man auch von der Straße auf und hin und wieder ließ man etwas, ohne zu bezahlen, von den Ständen mitgehen. Penn schalt die Diebe, wenn auch eher halbherzig; er war froh um jeden Kreuzer, den sie sparen konnten. Val wollte helfen, Dinge von einem Ort zum anderen zu schleppen, aber niemand erlaubte ihm, auch nur einen Fuß von dem Dachgewölbe herunterzusetzen, da er ja keinen Unsichtbarkeitsstein mehr besaß.

"Kommt gar nicht in Frage", hatte Blauregen gesagt, als er ihn zum x-ten Male darum gebeten hatte und sich schließlich heimlich davon schleichen hatte wollen. "Wenn wir dich jetzt auch noch verlieren, können wir uns ja gleich einbuddeln." Er hatte es zum Spaß gesagt, aber Val durchfuhren die Worte wie ein Stich.

So war er, von den Verletzten mal abgesehen, der einzige, der im neuen Lager zurückbleiben musste. Es war besonders hart, Leonhard und sogar Likoj, den Kleinsten, arbeiten zu sehen, während man selber gar nichts tun konnte. Vor allem wenn man sich selbst die Schuld an der ganzen Misere gab.

Um wenigstens nicht vollkommen untätig zu sein, kümmerte er sich um Accasia, Marvin und andere Verletzte, deren Namen er nicht kannte. Er wechselte Verbände, maß Fieber, fütterte und wusch die Patienten.

Es kam selten vor, dass niemand an Accasias Bett saß und er problemlos zu ihr durchdringen konnte. Zum einen war da ihre beste Freundin Zolia, die einige Tränen für sie verdrückte, Untergrundler, die mit ihr zusammen aufgewachsen waren und zu guter Letzt Blauregen und Penn. Val wurde aus dem Verhalten der beiden Männer nicht schlau. Seit sie verletzt worden war und schlafend auf dem Lager lag, schien Blauregen wie magisch von Accasia angezogen zu werden. Oft saß er einfach nur neben dem Strohhaufen, hielt ihre Hand und betrachtete ihr Gesicht. Beinahe zärtlich wurde sein Blick dabei mitunter.

Klar, eine naheliegende Erklärung war, dass Blauregen eben in Accasia verliebt war - aber da war ja auch noch Penn. Sobald der sich näherte, zog Blauregen seine Hand zurück, stand hastig auf und überließ Penn das Wachen. Dann sah man den rothaarigen jungen Mann in genau derselben Position am Lager der Kranken sitzen, nur dass er zur Abwechslung manchmal mit dem Daumen über ihren Handrücken fuhr. Val war verwirrt. Wenn Accasia Penns Mädchen war, und das war sie, wenn man den Küssen nach urteilte, die er gesehen hatte, warum duldete Penn dann Blauregens Schwärmerei für sie? Warum war sogar oft so etwas wie Verständnis in seinem Blick, wenn er Blauregen auf die Schulter klopfte und ihn ablöste?

Schließlich wurde Val die Grübelei zu blöd. Von Liebe und solchen Sachen, schloss er, verstand er eben nichts.

Leonhard verbrachte seine Mittagspause im neuen Lager. Er lachte ihn aus, als Val ihm seine Beobachtungen mitteilte. "Val, bist du blind, oder was? Er ist ganz offensichtlich verliebt in sie."

Val runzelte die Stirn. "Glaub ich nicht. Er hätte sich niemals in sie verliebt, weil Penn sein Freund ist."

"Val, das kann man sich doch nicht aussuchen." Leonhard schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln.

Val wurde wütend. Seit wann war er denn Experte in Liebesdingen?

"Ich hab sogar einen Beweis", quatschte Leon weiter.

"Welchen?"

"Das Medaillon. Er hat das Bild von ihr in seinem Medaillon. Und wie könnte man das sonst interpretieren?"

"Hm. Bist du dir sicher?"

"Hundertpro. Ich hab es mal gesehen, als ich mich von hinten angeschlichen hab. Ich gebe zu, im ersten Moment war ich ein wenig enttäuscht. Das Bild einer Frau. Ich hätte mit irgendwas Geheimnisvolleren gerechnet."

Val gab ihm recht. Eine Anleitung für verbotene Magie oder Geheimzeichen in einer fremden Sprache zum Beispiel, das wäre schon cooler gewesen.

Dann verabschiedete sich Leon in die Nachmittagsschicht und Val blieb allein zurück.

Nicht für lange allerdings.

Während er gerade lustlos den Boden fegte und den angesammelten Dreck und Staub aus dem Fenster kippte, fand Nox seinen Weg herein. Er hatte Kissenbezüge und Waschschüsseln dabei, die er Penn hatte überbringen wollen. Nun fand er niemanden vor außer Val; diese Gelegenheit wollte er sich um nichts auf der Welt entgehen lassen. Er ging auf ihn zu und ließ bedrohlich seine Muskeln spielen. Sein Haar trug er wie immer nach hinten gekämmt in einem Pferdeschwanz, mit Öl geglättet, vielleicht, damit es ihn nicht störte, wenn er sich in Raufereien verstrickte. Val erhob sich langsam. Er bemühte sich, keine schnellen Bewegungen zu machen, die ihn reizen könnten.

"Wie kannst du es überhaupt wagen, dich um sie zu kümmern, wenn du doch allein die Schuld daran trägst, dass ihnen etwas passiert ist?", fauchte der junge Mann. Seine schwarzen Augen glommen vor Hass. Er war zwei Köpfe größer als Val, sportlich und durchtrainiert.

Aber Val wollte nicht klein beigeben. "Was willst du, Nox?", sagte er so feindselig, wie er nur konnte.

"Was ich will?", wiederholte der leise. "Dass du verschwindest, du kleines Scheusal, und deine verrückte Anhängerschaft gleich mitnimmst!"

"Wenn du jemand Verrücktes sehen willst, dann schau nur mal in den Spiegel!"

Nox' Nasenflügel bebten vor Wut. "Du hast keine Ahnung, wovon du redest, du hast keine Ahnung von dem, was wir durchmachen mussten!"

"Ich hab selbst einige Dinge erlebt, die nicht gerade lustig waren!"

"Du weißt gar nichts!"

"Halt die Fresse!"

Nox schubste ihn, dass er beinahe auf Accasia gefallen wäre.

Plötzlich brannte bei Val eine Sicherung durch. Mit einem Mal war er nicht mehr Val, der schwache dürre Dreizehnjährige, sondern ein wildes Tier, das brüllend Vergeltung forderte.

"AAARGH!" Mit einem Schrei stürzte er sich auf den viel größeren Jungen, trat ihn, kickte ihn, bearbeitete ihn mit Händen und Füßen. Nox traf der Angriff völlig unerwartet, er stolperte, fiel hin und schlug mit dem Hinterkopf auf eine neu hereingetragene Eckbank. Val konnte nicht aufhören, ein Dämon hatte von ihm Besitz ergriffen. Blut rauschte in seinen Ohren, von fern hörte er ein schwaches Singen; es stachelte ihn weiter an. Er schlug noch, obwohl Nox bereits bewusstlos war.

Plötzlich war Blauregen da, eine eiserne Hand schloss sich um seine Schulter und riss ihn zurück. "VAL, WAS TUST DU?" Außer unbändigem Zorn war noch etwas anderes in seinem Blick: Angst.

Val sah immer noch rot. Er schlug um sich und brüllte. Nur langsam, während Blauregen ihn festhielt, verging die Wut und mit ihr der Blutrausch. Der dunkle Schatten, der tief in seinem Inneren entsprungen war, verschwand aus seinem Gesicht, wich Fassungslosigkeit.

Schwer atmend sank er auf den Boden.

Blauregen ging neben Nox in die Knie, fühlte seinen Puls. Schließlich heilte er die Platzwunde an seinem Hinterkopf mit ein paar geflüsterten Worten. Nox stöhnte und ein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Er lebte, er würde wieder aufwachen.

Val war wieder er selbst. Erst langsam verstand er, was eben passiert war. "Blauregen!", sagte er entsetzt. "Das war nicht ich! Ich weiß nicht, was da von mir Besitz ergriffen hat, du musst mir glauben!"

Blauregen gab mit keinem Zeichen zu verstehen, dass er ihn gehört hatte. Er ging davon und ließ Nox in der Luft neben sich herschweben.

Val konnte sich nicht beruhigen. Nie in seinem Leben hatte er sich so gefühlt, so … böse. Später erzählte er Leonhard davon, im Flüsterton, sodass niemand ihn hören konnte; er musste sich einfach jemandem anvertrauen. Leonhard verzog keine Miene, während er lauschte, auch nicht beim ganz üblen Part, und Val war ihm dafür dankbar.

"Ach, deshalb ist Blauregen so schweigsam …" Beide blickten sie verstohlen zu dem jungen Mann, der mit dem Rücken zu ihnen im Kreis der Untergrundler saß. Penn erläuterte mit leiser Stimme ihr weiteres Vorgehen in nächster Zeit, und das Feuer auf dem Boden erhellte seine Gesichtszüge. Wenn Blauregen ihre Blicke spürte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.

"Aber was meinst du damit, du hast nicht aufhören können?"

"Ich weiß nicht, Leonhard, das war nicht ich! Ich meine, er war bewusstlos - niemals würde ich - das weißt du doch, oder? Oder?" Er war lauter geworden, ein paar Leute warfen ihnen neugierige Blicke zu. Val dämpfte seine Stimme.

"Ja, Val, das weiß ich", sagte Leonhard schnell. "Meinst du … Meinst du, es war der Löwe in dir?"

"Ich weiß nicht, was es sonst sein sollte", sagte Val verzweifelt. Er wollte nicht glauben, dass irgendetwas böses in seinem Inneren schlummerte, irgendein Tier, das jeden Moment hervorbrechen und die Kontrolle übernehmen konnte.

"Aber … Ich meine, das ist dir doch noch nie passiert. Vielleicht … das waren ja keine normalen Umstände, Nox hat dich tagelang provoziert und deine Nerven lagen blank, nachdem, was im Untergrund passiert ist. Das ist nur verständlich. Es hätte jeden treffen können."

"Ja", sagte Val. Er fasste sich an den Kopf, der brummte wie ein Bienennest. "Ja, du hast recht. Es wird nicht wieder passieren." Aber das Singen konnte er nicht vergessen, immer wieder hörte er die geflüsterten Worte, die sein Blut zum Wallen gebracht hatten.

 

Später am Abend suchte Penn ihn auf seinem Dachbalken auf. Val hatte sich zurückgezogen, weil er allein sein wollte. Und weil er spürte, dass die anderen ihn mieden.

"Nox erinnert sich an nichts", sagte Penn. "Wir haben ihm gesagt, dass es ein Arbeitsunfall war."

Val nickte, ohne ihn anzusehen. Selbsthass war alles, was er fühlte, schnürte ihm die Kehle zu.

"Hier, nimm das."

Penn warf ihm einen kleinen samtenen Beutel zu, der oben mit einem Stück Schnur zugebunden war. Geistesgegenwärtig fing Val ihn auf.

"Was ist das?", fragte er.

"Mondpulver. Wirf eine Handvoll davon jemandem ins Gesicht und er schläft ein."

"Ich - danke - aber … wofür?"

"Ach, nur für den Fall, dass du in Zukunft etwas planst, das das gefahrlose Vorbeikommen an einem Wächter beinhaltet." Penn zwinkerte ihm zu, dann ging er davon.

 

Die Wächterin

Val hatte sich Leonhards Taschenuhr aus dessen Jacke stibitzt, sobald er eingeschlafen war. Er betrachtete die goldenen Zeiger im schwachen Schein des Mondes und wartete. Um Mitternacht schließlich klappte er den Deckel zu und erhob sich. Die anderen schliefen tief und fest. Beneidenswert. Im Schlaf konnte einem nichts zustoßen, das Unterbewusstsein spielte einem genau die Bilder vor, die es sehen wollte. Außer man war der Rote Löwe, denn dann wurde man von wiederkehrenden Feuerträumen geplagt oder zur Abwechslung von einem jungen Mann mit nach hinten gekämmtem Haar, den man beinahe erschlug. Val verdrängte die Gedanken. Auf Zehenspitzen schlich er über die Matratzen, darauf bedacht, so wenig Lärm wie möglich zu verursachen. Blauregen zuckte im Schlaf, murmelte etwas und rollte sich auf die Seite. Val hielt kurz inne, dann hüpfte er die restlichen Schritte zur Leiter. In den vergangenen Wochen hatte er gelernt, sich beinahe lautlos fortzubewegen. Man lernt schnell, wenn es um das nackte Überleben geht.

Unbemerkt rutschte er den Fallstrick hinunter. Zum ersten Mal seit achtundvierzig Stunden setzte er wieder einen Fuß auf Alangiums Straßen. Es war ein ungeheuer befreiendes Gefühl. Er ließ die kalte Nachtluft in seine Lungen strömen.

Noch immer hing ihm der verletzte Nox vor Augen und wie er auf ihn eingeschlagen hatte. Sein schlechtes Gewissen war so groß, dass es ihn beinahe verzehrte. Deshalb war ihm das Gespräch mit Penn gerade zur rechten Zeit gekommen; er musste irgendetwas unternehmen, etwas gegen die Ruhelosigkeit tun, irgendwie beweisen, dass er kein schlechter Mensch war. Das Mondpulver hing in einer Schlaufe an seinem Gürtel.

Er wusste, was er nun zu tun hatte.

Im Schutz der Häuser huschte er von Schatten zu Schatten, hielt immer wieder inne, um zu lauschen. Er begegnete keiner Menschenseele, noch nicht einmal eine Katze kreuzte seinen Weg. Nur hin und wieder erklang das Stampfen von schweren Stiefeln, wenn eine Schar Wachen durch die Straßen patrouillierte. Wann immer das passierte, drückte er sich in eine Häusernische und wartete, bis es verklang.

So weit lief alles gut. Dann nahm er Flügelrauschen wahr, alarmiert hob er den Kopf.

Ein Vogel mit wilder Mähne schwebte langsam in einer Spirale zu ihm herab.

"Löwenvogel!", sagte Val überrascht. Erschrocken sah er sich um, ob ihn jemand gehört hatte. Aber es war niemand zu sehen. Er ließ den Vogel auf seinem Arm landen. "Was machst du denn hier?"

Der Löwenvogel rieb zutraulich die Wange an seinen Handrücken.

"Willst du mir helfen? Willst du mit mir zum Palast?", fragte Val.

Aber der Löwenvogel war nicht deswegen gekommen. Er bog seinen schönen Kopf zurück, streckte seinen Schnabel ins Gefieder und ruckte daran. Er hatte sich eine Feder ausgerissen. Er spuckte sie in Vals Hand.

"Eine Feder?", fragte Val. "Aber wozu brauche ich die?"

Der Vogel sah ihn nur an und sein Blick schien zu sagen: Wart's ab. Schließlich bohrte er seine Krallen in Vals Arm, erhob sich und gewann flügelschlagend an Höhe. Dann zog er eine Schleife über seinem Kopf und war verschwunden.

Val sah ihm hinterher. Manchmal verwirrte ihn die Magie und er wusste nicht, was er davon halten sollte. Dann schüttelte er den Kopf. Er durfte keine Zeit mehr verlieren, die Nacht würde nicht ewig währen.

"Wer ist da? Gebt Euch zu erkennen!", dröhnte die Wache, als er sich dem Palasttor näherte. Der zweite Soldat streckte sein Schwert suchend in die Dunkelheit, bereit zuzustoßen.

"Okay", sagte Val und trat ins Licht.

Sie erkannten ihn auf der Stelle. Bevor sie jedoch reagieren konnten, hatte er ihnen mit einem Schlenker des Handgelenks je eine Portion Mondpulver ins Gesicht geworfen. Ein Atemzug später und die beiden wuchtigen Gestalten sanken zusammen, die Köpfe gegen die Steinsäule gelehnt, ein lautes Schnarchen in der Nase. Val hoffte für sie, dass man das Mondpulver später in ihrem Blut nachweisen könnte und sie nicht für ihr Wegnicken bestrafen würde.

Er war so klein, da genügte es, dass er den Kopf zur Seite drehte und den Bauch einzog, um durch die engen Gitterstäbe des Tores zu schlüpfen. Lautlos huschte er über die Beete im Vorhof zum Haupteingang. Die Dornen der Rosen zerstachen ihm die nackten Füße. Dann war er beim Dienstbotengang. Wie erwartet war dieser nicht verschlossen und Val schlüpfte problemlos hindurch. Sein Herz klopfte heftig. Er war tatsächlich im Palast! Die spiegelnden Marmorkacheln am Fußboden und die himmelstürmenden Deckengewölbe über ihm bewiesen es. So einfach hatte er sich das nicht vorgestellt. Es lief fast ein wenig zu glatt.

Dennoch, er gab sich einen Ruck, der schwierigere Teil stand noch bevor. Jetzt galt es den Drachen zu finden und ihm ein paar Milliliter Blut abzuzapfen. Nur leider hatte Val nicht die leiseste Ahnung, wo er zu suchen anfangen sollte - oder wonach er überhaupt suchte. Zwar hatte er eine vage Vorstellung von einem grünen Feuer und einem Namen. Jetzt aber, wo er sah, wie riesig der Palast wirklich war, schwand seine Zuversicht. Trotzdem würde er es versuchen. Er war nicht so weit gekommen, um umzudrehen.

Er blickte sich um. Die Halle war groß und geräumig, mondlichtdurchflutete Gänge führten in wandfreskenverzierte Hallen.

Aufs Geratewohl wählte er einen der vielen Gänge. Irgendwo musste er ja anfangen. Nicht sehr viel später sah er ein, dass dieses Vorgehen sinnlos war. Wie sollte er nur jemals auf einen Hinweis stoßen, wenn er nicht wusste, in welchem Teil des Palastes er sich gerade befand? Vielleicht würde er ja jeden Moment in der Küche oder in einem Bedienstetenzimmer stehen oder im privaten Schwimmbad des Stadtfürsten.

Die Zeit rannte unaufhörlich. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde er nervöser. Zusätzlich drückte ihm die Dunkelheit schwer aufs Gemüt. Er befürchtete, hinter jeder Ecke auf einen Trupp Wachmänner zu stoßen. Und als hätte er es verschrien, hörte er plötzlich Stimmen. Sie kamen direkt auf ihn zu.

Er fluchte und blickte sich um; der Gang bot ihm keine Versteckmöglichkeit. Die Stimmen kamen näher. Kurzerhand suchte er sich den dunkelsten Flecken Wand und presste sich so dicht dagegen wie es sein schmaler Körper zuließ. Vor und neben ihm ragten Statuenkörper aus dem Gestein und verbargen ihn zumindest teilweise.

Eine Gruppe junger Mönche bog um die Ecke, noch Auszubildende, wie man an der schmucklosen Kleidung erkennen konnte und nur ein wenig älter als Val selbst. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus; Wachen mit Hunden hätte er jetzt weniger gut gebrauchen können.

Die Mönche stritten sich über die Aufmachung eines der Ihrigen.

"Ladislaus wird dir den Hals umdrehen, Raban", sagte einer gerade. "Warum plättest du deine Robe nicht endlich einmal zwischen zwei heißen Eisenplatten wie wir anderen auch?"

Raban, ein junger Novize mit schwarzen Haaren, zeigte sich störrisch. "Tove sagt, es ist viel wichtiger, wie es in einem drin aussieht als was man anhat."

"Schon klar, Tove kannst du aber nicht so ernst nehmen wie Ladislaus." Ein dritter Junge gab seinen Senf dazu.

"Tove ist der beste Lehrer, den man sich nur vorstellen kann! Wag es nicht, seinen Namen in den Dreck zu ziehen!"

Der erste Junge, der älteste der Gruppe, trennte die beiden Streitenden. "Würde mich nicht wundern, wenn Ladislaus dich in diesem Aufzug nicht mal in den Raum der Heiligkeit lässt. Dann musst du zurück auf deine Kammer und verpasst den ganzen Spaß."

Rabans sture Antwort konnte Val nicht mehr verstehen, da die Gruppe bereits ans Ende des Ganges gelangt war. Val brauchte nicht lange, um einen neuen Plan zu fassen. Er ging den Jungen hinterher. Was sie da über einen Raum der Heiligkeit erzählt hatten, erschien ihm doch recht vielversprechend. Beinahe war er wieder in Hörweite gelangt, als plötzlich Stimmen aus einem anderen Gang laut wurden. Val schaute sich um und zog eine Grimasse. War die Nacht nicht da, um zu schlafen? Warum ging es hier zu wie auf einem Basar? Diesmal hatte er mehr Glück, eine Tür im Gang stand offen und er schlüpfte in den dunklen Raum dahinter. Er ließ einen Spalt offen, um die Vorbeigehenden zu belauschen. Das hatte ihm in der Vergangenheit schon oft Glück gebracht.

Bei den nächtlichen Spaziergängern handelte sich um zwei ältere Herren, die offenbar ein ähnliches Ziel wie die Novizen hatten, denn sie sagten:

"Ich möchte wissen, ob sie sich diesmal ordentlich zurechtgemacht haben. Vor allem Raban soll ja nicht noch einmal in so einem derangiertem Zustand am Ort der Heiligkeit auftauchen oder ich ziehe ihm die Ohren so lang, dass er darauf stehen kann."

Eine sanfte Stimme antwortete. "Seid nicht zu streng mit ihnen, Ladislaus. Denkt daran, wie neu das alles für sie ist."

"Raban ist mit am längsten von ihnen dabei! Er wird den Abschluss niemals schaffen, wenn er auf diese Weise weiter macht."

"Raban ist ein sehr fähiger Schüler. Sein Glaube ist stark."

"Eure Vorliebe für diesen Jungen habe ich nie verstanden." Verachtung schwang in der Stimme des ersten Mannes mit. "Polonius dagegen, ja, den halte ich für einen vielversprechenden Novizen."

"Im Auswendiglernen der Heiligen Schrift, ja. Sicherlich trägt dies auch einen erheblichen Anteil zur Ausbildung eines Priesters bei. Aber die Persönlichkeit eines Novizen hat nicht weniger Einfluss auf dessen Werdegang, Ladislaus …"

Auch diese Stimmen verklangen. Val widerstand dem Impuls, die Zunge herauszustrecken. Er hoffte, es würde ihm nicht als Sünde angerechnet werden, ehrwürdige Mönche zu belauschen. Er wollte aus der Tür huschen und erstarrte. Kleidung hatte ihn an der Schulter gestreift! Er wirbelte herum. Was er gespürt hatte, war einer von vielen Mönchsumhängen, aufgehängt auf einer weißen Wäscheleine, die sich quer über den Raum spannte. Sie waren offenbar zum Trocknen aufgehängt worden. Val grinste. Seine Glückssträhne schien kein Ende zu nehmen. Er zog sich eine Kutte über den Kopf und verschnürte sie. (Er hoffte, dass sie glatt genug war, um Ladislaus' Ansprüchen zu genügen). Dann schlüpfte er aus der Tür. Zeit, diesen Raum der Heiligkeit zu überprüfen.

 

Er hatte länger gebraucht als beabsichtigt, die Robe richtig zuzuknöpfen (sie hatte hinten und vorne Knöpfe wie Frauenkleider!) und nun war er etwas im Verzug in seinem Vorhaben, die Mönche einzuholen. Er rannte durch die Gänge dorthin, wo er die Gruppe vermutete und achtete nicht wirklich auf seinen Weg. Prompt forderte seine Gedankenlosigkeit ihren Tribut; in vollem Lauf prallte er mit jemandem zusammen und er wäre beinahe hingefallen. Val erstarrte vor Schreck. Ihm gegenüber stand einer der beiden älteren Mönche, die er vorhin belauscht hatte. Ob es Tove oder Ladislaus war, konnte er nicht sagen, er hatte ja ihre Gesichter nicht gesehen. Der Mönch hatte automatisch die Arme nach ihm ausgestreckt, um ihn vor einem Sturz zu bewahren, nun schlossen sich die Hände fester um seine Schultern.

"Aber - wer bist du?", fragte der Mönch verwirrt. Die Kleidung täuschte ihn nicht lange; er kannte ja sein Gesicht nicht.

Obwohl Val wusste, dass es keinen Unterschied machte, war er doch glücklich, dass es Tove und nicht Ladislaus war, der ihn entdeckt hatte. Irgendwie vertraute er dessen Samtstimme. Gleichzeitig fürchtete er sich. Was würde er jetzt mit ihm machen?

Tove runzelte die Stirn. Wie harmlos er doch aussah. Er hatte fast keine Haare auf dem Kopf, ein glattes faltenfreies Gesicht und freundliche braune Augen. "Du bist, aber … das ist unmöglich …"

Von fern hörte man ein hallendes Geräusch, wie wenn mit einem Hammer auf eine Blechscheibe geschlagen wurde. Ein Gong; die Mönche wurden zum Gebet gerufen. Bruder Tove und Val zuckten gleichzeitig zusammen.

"Du darfst nicht hier sein!", wisperte Tove eindringlich. "Im Palast wimmelt es nur so von Wächtern, du kannst von Glück reden, dass ich es war, der dich entdeckt hat. Ich sehe … Gefahr. Noch heute Nacht, Junge!" Seine Augen leuchteten alarmiert auf. "Nimm dies, es könnte dich beschützen!" Tove fasste sich an die Kehle, nahm einen an einer Kette festgemachten Anhänger herunter und legte ihn Val um den Hals. "Ich möchte, nein, ich muss bald mit dir sprechen. Du bist - du hast doch eine entscheidende Rolle in diesem Kampf, oder nicht?" Tove blickte ihn zweifelnd an, versuchte bis auf den Grund seiner Seele zu blicken. Val starrte zurück, stumm vor Entsetzen. Das hallende Geräusch tönte erneut durch den Gang, diesmal mit größerer Dringlichkeit.

"Verdammt." Mönche fluchten also? "Du musst mich so bald wie möglich aufsuchen, ja? Versprichst du mir das, Junge? Spätestens, wenn dir kein Ausweg mehr zu sein scheint! Geh zu Bruder Tove!" Er nickte Val ein letztes Mal zu, drückte seine Schultern, dann drehte er sich um und huschte in Richtung des Geräuschs davon.

Val ließ keuchend die Luft aus. Es dauerte eine Weile, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte. Was war da eben passiert? Man hatte ihn entdeckt und dennoch lebte er noch! Vielmehr hatte man ihm sogar geholfen, obwohl er sich nicht ganz sicher war, was die Kette um seinen Hals zu bedeuten hatte. Seine Finger umfassten den kühlen Stein. Er schüttelte den Kopf. Er hatte jetzt keine Zeit, dieses neue Rätsel zu lösen. Wieder hatte man ihm eine zweite Chance gewährt; das konnte kein Zufall sein. Er würde diesen Raum der Heiligkeit sehen, koste es, was es wolle.

Als er um die Ecke lugte, sah er gerade noch, wie die Novizen durch eine schwere Tür aus dunklem Eichenholz gelotst wurden. Val nutzte die Dunkelheit, schlich sich heran und reihte sich hinter dem letztgehenden Jungen ein. Ohne besondere Notiz von ihm zu nehmen, winkte Bruder Ladislaus Val durch die Tür. Der Junge zitterte vor Freude und Erregung. Dann trat er über die Schwelle. Der Ort der Heiligkeit bot einen beeindruckenden Anblick. Er war riesig, obwohl vollkommen leer bis auf ein paar Steinbänke; Boden und Wände waren in einem dunkelgrünen unheimlich schimmernden Marmor gehalten. Weißer Stuck zierte die Bodenleiste. Am Wichtigsten aber schien der Vorsprung an der Wand, dem man gleich beim Eintreten des Raumes gegenüberstand. In einem runden Torbogen prasselte -

"Drachenfeuer", flüsterte Val. Meterhoch, bis an die Decke, wie in seiner Vision. Die Haare auf seinen Unterarmen stellten sich auf.

"Mittlerweile solltest du dich doch an den Anblick gewöhnt haben", murmelte der Junge, der vor ihm ging. Er maß ihn abschätzend. "Lassen sie jetzt auch schon so junge Novizen wie dich zur Heiligen Andacht?"

Val starrte ihn an. Er verfluchte sich für seine lose Zunge. "Ja", sagte er dann, "Bruder Tove …"

"Schweigt still!", zischte Bruder Ladislaus ihm so giftig ins Ohr, dass Val vor Schreck einen Satz in die Luft machte. "Das ist ein heiliger Ort! Nun, kniet gefälligst nieder!"

Val beeilte sich zu tun, was er sagte; er tat es den anderen Jungen gleich, die sich vor den Steinbänken auf die Knie fallen ließen mit dem Gesicht Richtung Feuer. Schon nach ein paar Minuten taten ihm die Schienbeine höllisch weh, aber er ignorierte den Schmerz. Auf keinen Fall wollte er den Blick abwenden, von dem, was er so verzweifelt gesucht hatte. Hinter diesem Feuer wartete der Drache, davon war er überzeugt, sein perfektes Gegenstück, das Wichtigste, das es im Moment für ihn gab auf der Welt …

Der Gottesdienst begann.

Ladislaus breitete die Arme aus. Dunkler parfümierter Rauch quoll ihm aus den Fingerspitzen und legte sich über den Raum. Prompt fing Val an zu husten, wofür er sich einen weiteren bitterbösen Blick einfing. Die Novizen neben ihm waren an die Zeremonie gewohnt und behielten ihr gleichmäßiges Atmen bei. Val versuchte die unteren Luftschichten einzusaugen; trotzdem hatte er das Gefühl, ersticken zu müssen. Meine Güte, was verbrannte der Kerl da? Eisenkraut?

Ladislaus begann zu sprechen: "Mächtiger Drache, Schöpfer des Firmaments, des Himmels und der Erde, hör uns an! Wir opfern dir und erbitten von dir Gnade und Beistand!"

Die Novizen gaben murmelnd Antwort. Val formte sinnlos Worte mit den Lippen.

"In dieser Zeit, als du vom Löwen bedroht wirst, verlasse dich auf unseren Glauben! Wir vertrauen auf dich, dass du uns aus Sünde und Dunkelheit ins Licht führst!"

Wieder brabbelte Val die Worte, die die anderen vorsagten.

"Bringt die Opfergaben!"

Zwei Novizen aus dem Anfang der Reihe erhoben sich, jeder einen Korb in der Hand. Alltägliche Dinge wurden ins Feuer geschmissen, Obst, Fleisch, Waffen, Schmuck. Nach jeder Gabe leuchtete das Feuer einen Farbton heller.

"Und nun die Reinigung!"

Ein Wagen kam herangefahren, von keuchenden Dienern gezogen. Ladislaus schlug das Tuch auf seiner Ladefläche zurück. Ein bronzener Löwe kam zum Vorschein. Val schluckte. Es sollte ihn darstellen.

"Je heller das Feuer, wenn wir deinen Feind verbrennen, desto näher ist dir der Löwe! Erleuchte uns, Drache!"

Val hockte stocksteif da und hatte über seinen Schreck auch seine schmerzenden Knie vergessen. Hilflos musste er dabei zusehen, wie sie den Löwen ins Feuer schmissen. Flammen umgaben ihn wie ein Glorienschein, dann war er verschluckt. Erst geschah nichts - dann erstarb das mächtige Drachenfeuer auf einen Schlag.

Es wurde totenstill in der Halle. Ladislaus' Augen quollen beinahe über, als er den kümmerlichen Ascheberg ansah, der alles war, was vom Feuer übrig geblieben war. Es war offensichtlich: noch nie zuvor war so etwas passiert. Ängstliches Gemurmel erhob sich unter den Novizen.

Plötzlich - mit einem lauten Knall - flackerte das Feuer erneut empor. Selbst Val sah die Veränderung: Das Feuer hatte sich von einem dunklen Waldgrün in ein helles Smaragdgrün gewandelt. Ladislaus' Gesicht, als er den Gottesdienst abbrach, war angstverzerrt. Die Novizen flüsterten es: Der Drache ist in Gefahr. Der Rote Löwe ist im Palast.

Es war ein Wunder, dass nicht auf der Stelle Alarmzustand ausgerufen wurde. Der Mönch scheuchte die Novizen aus der Tür und trug ihnen auf, schleunigst ins Bett zu gehen. Auf ihre Fragen, was das zu bedeuten hatte, antwortete er nicht. Er wirkte verstört. Val indessen hatte sich hinter den Vorsprung neben dem Altar versteckt. Er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel - dann war er allein.

Hochstimmung hatte ihn gepackt. All das Drama hatte eine erheiternde Wirkung auf ihn. Der Drache hatte es selbst zugegeben: er war in Gefahr. Val also war auf dem besten Wege, ihn zu finden.

 

Ehrfurchtsvoll stand er da und beobachtete das stete Hoch- und Niederzüngeln der Flammen. Er dachte darüber nach, in ihre grüne Wärme zu treten. Selbst wenn es ihm nicht wehtun würde, wenn er hindurch ging (was er bezweifelte, seine Träume waren ihm noch gut in Erinnerung), würde sicher, da er der Rote Löwe und damit der Erzfeind des Drachen war, ein Alarm ausgerufen werden. Außerdem musste man sicher Priester oder Mitglied der Gelehrtengarde sein, um hindurch zu gelangen. Val biss sich auf die Lippen. Irgendwie fühlte er, dass ihm die Zeit davonlief. Vielleicht funktionierte es ja mit Gesichtserkennung oder man musste ein Passwort nennen … Oder man konnte es nur in Begleitung des Drachen durchschreiten …

Aber Val verzagte nicht. Immerhin hatte er das Tor gefunden und das war zumindest schon mal ein Anfang. Blauregen würde sicher staunen. Er stand so da und schätzte seine Möglichkeiten ab, als ihm etwas auffiel. Über dem Feuer in der Wand war ein kleines Messingschild angebracht, fast unscheinbar, und darauf stand etwas in merkwürdigen Symbolen geschrieben. Val erkannte sie als dieselbe Schrift, die in Schiefersteins Büchern gestanden hatte. Sternenschrift. Was wenn darauf stand, wie man das Feuer gefahrlos durchschreiten konnte? Die Schrift konnte er nicht übersetzen.

Nun, Leon könnte es, sagte eine böse kleine Stimme in seinem Kopf. Der Gelehrtensohn wäre ohnehin ein sehr viel fähigerer Löwe als du. Er könnte immerhin zaubern.

Val verbannte die Stimme in ein Hinterstübchen und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Sollte er den Text abschreiben? Er hatte keinen Stift dabei … Konnte er sie sich merken? Er versuchte gerade, sich das erste Wort genau einzuprägen und hörte die Schritte nicht. Der Jemand, der sich von hinten auf ihn warf, bewegte sich vollkommen lautlos wie ein Schatten. Val fühlte nur, wie er zu Boden geworfen und ihm alle Luft aus den Lungen gepresst wurde. Er keuchte vor Schreck. Die Person hielt ihm einen Ellbogen so fest ins Kreuz gedrückt, dass es ihm unmöglich war aufzustehen.

"Ziemlich dumm, nicht gleich zu verschwinden, wenn du mich fragst. Du glaubst doch nicht, dass Ladislaus das Risiko eingehen würde, den Drachen zu verlieren."

Alles hatte er erwartet, nur das nicht. Es war die Stimme einer Frau, eines jungen Mädchens kaum älter als er. Nur leider war sie kalt wie Eis. Er wurde herumgedreht und sah seinem Angreifer ins Gesicht. Alles was er sah, waren zwei braune von dichten Wimpern umrahmten Augen von dunklerer Farbe als seine eigenen, wie Nougat. Der Rest des Gesichtes wurde von einem fein gearbeiteten Eisenhelm verdeckt. Eine Wächterin.

Val wollte erklären, wollte sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, aber seine Zunge gehorchte ihm nicht. Er konnte keine Worte formen, ja er konnte noch nicht einmal atmen. Das Mädchen hatte ihn mit Magie gelähmt! Schlagartig bekam er Angst, er würgte und röchelte, aber kein verständlicher Laut drang ihm über die Lippen. Die Wächterin sah ihn mit unbarmherzigen Augen an.

"Es gibt Vorschriften", sagte sie. "Wer bis hierher ohne Genehmigung vordringt, darf nicht weiterleben. Die Gelehrten sind auf dem Weg."

Sie würde ihn an die Gelehrten verraten! Sie würden ihn auf der Stelle erkennen. Val hatte so viel Angst, dass es ihm teilweise gelang die Lähmung aufzuheben. Er konnte seine Arme bewegen. Unwillkürlich griff er sich in die Hemdtasche, um die Glasscherbe hervorzuholen. Blauregen musste ihm helfen! Das Mädchen wandte erneut Magie an, als sie sah, dass er sich bewegte. Die Scherbe glitt ihm aus den Fingern. Er fühlte, wie er blau anlief.

Dann war der Druck von seiner Kehle plötzlich weg, röchelnd schnappte er nach Luft. Unter der Anstrengung wurde er beinahe bewusstlos, er kippte zur Seite weg. Das Mädchen drehte ihn grob herum und zog den Kragen seines Hemdes ein Stück weit herunter. Die Kette des Mönches kam zum Vorschein.

"Das Zeichen des Widerstands!", zischte das Mädchen.

Val machte sich auf einen erneuten Angriff gefasst. Er war zu erschöpft, um sich zu verteidigen. Aber das Mädchen machte keine Anstalten, ihm erneut die Luft abzuschnüren.

"Seit wann verhalten sich die Rebellen so dumm wie du?", fauchte sie zornig.

Val starrte sie an. Weshalb sollte es sie interessieren, wie es um seine intellektuellen Fähigkeiten stand? Allein die Tatsache, dass er in den Palast eingedrungen war, machte ihn zum Staatsfeind.

Das Mädchen wich einen Schritt zurück. Val konnte es kaum glauben. Er wollte die Chance aber auch nicht tatenlos vergeuden und versuchte aufzustehen. Seine Knie waren weich wie Pudding. Das Mädchen folgte jeder seiner Bewegungen mit den Augen.

"Du hast dreißig Sekunden", sagte sie leise, "bevor ich dir nachrenne, wie es meine Pflicht ist. Nehmen wir an, ich bin gestolpert."

Val brauchte keine weitere Aufforderung. So schnell ihn seine wackeligen Knie trugen, rannte er aus der Eichentür.

 

Er stürmte die Gänge entlang und hatte über seine Aufregung ganz vergessen, wo der Ausgang war. Sein Gehirn hatte noch nicht verarbeitet, was eben passiert war. Er verdrängte es und nahm sich vor, später darüber nachzudenken.

Da hörte er erneut das verräterische Geräusch trippelnder Schritte. Mit einem Fluch wirbelte er herum. Hatte die Wächterin ihn gefunden? Seine Angst stellte sich als grundlos heraus. Jemand rief seinen Namen.

"Val!"

Val kniff die Augen zusammen.

Ein kleiner Schatten sprang auf ihn zu und krallte sich in sein Hosenbein. "Gott sei Dank habe ich dich endlich gefunden! Wie bist du denn hier nur hereingekommen? Du rennst in die vollkommen falsche Richtung! Was hast du dir nur dabei gedacht, wegzulaufen? Weißt du, welch große Sorgen Blauregen sich macht?"

"L-Lanzelot?", stotterte Val. Mit beiden Händen griff er nach dem Angreifer, hielt sich den kleinen Körper vors Gesicht. Tatsächlich, es war die jüngere Ratte. Hätte er das flauschige Fell nicht unter den Fingern gespürt, hätte er es nicht geglaubt.

"Er hat mich geschickt, dich zu suchen! Alle hat er geschickt. Sagt, er lässt dich nie wieder aus den Augen!"

Diese Neuigkeit stimmte Val wütend. Seltsam, wenn man bedachte, dass er sich noch vor wenigen Augenblicken Blauregen an seiner Seite gewünscht hatte. Nun nervte es ihn, dass man ihn wie ein kleines Kind behandelte.

"Es geht mir gut." Kein Wort über den Zwischenfall mit der Wächterin. Es war ja nochmal alles gut gegangen.

"Komm mit mir! Wir treffen ihn draußen."

"Er ist draußen? Blauregen?"

"Er wartet vor dem Palast. Wir konnten uns nicht sicher sein, ob du tatsächlich hier bist und er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Er meinte, ich könne dich schneller finden als er wegen meines überragenden Geruchssinns." Stolz hatte sich zu der Empörung gemischt.

"Wo ist Parzival?"

"Noch im Waisenhaus. Wir dürfen die Kinder nicht vollkommen alleine lassen."

Val nickte. Er fuhr sich mit allen zehn Fingern durchs Haar. Was sollte er jetzt tun?

Die Ratte schlug den Weg Richtung Ausgang ein. "Puh, und ich hätte schon gedacht, du machst dich jetzt auf die Suche nach dem Buch der Namen oder so."

Val erstarrte. "Dem was?"

Lanzelot schlug sich die Pfoten vor den Mund. "Hab ich das gerade laut gesagt? Ich meinte: Nichts! Gar nichts!"

"Was ist das für ein Buch? Steht der Name des Drachen drin? Parzival, sag es mir!" Er packte die Ratte am Schwanz und ließ ihn daran in der Luft baumeln. Das kleine Tier wand und krümmte sich. Schließlich gab er auf.

"Das Buch ist versteckt! Adair versteckt es an einem ganz bestimmten Ort! Du kannst es gar nicht finden! Lass mich runter!"

"Wer weiß davon? Weiß Blauregen davon?"

Die Ratte antwortete nicht, aber der schuldige Ausdruck in seinem Gesicht sprach Bände.

Val konnte es nicht glauben. "Danach suchen sie immer! Penn, Blauregen und die anderen! Immer, wenn sie auf ihre geheimen Missionen gehen! Nur mir sagen sie nichts! Hauptsache dem Roten Löwen sagen sie nichts!"

"Komm, gehen wir", sagte Parzival leise.

"Nein."

"Was meinst du mit nein!?" Lanzelots Stimme rutschte eine Oktave höher.

Val ließ die Ratte zurück auf den Boden. Sein Entschluss stand fest.

"Ich hab so eine Idee, wie ich das Buch der Namen finde. Sag Blauregen, ich komme, wenn der Morgen graut."

"Das geht nicht! Er bringt mich um, wenn er weiß, dass ich dich gehen hab lassen!"

"Tut er nicht. Du kannst mich nicht umstimmen. Erstatte ihm Bericht, nun lauf schon."

Lanzelot zierte sich noch eine Weile, versuchte Val zu überzeugen. Als er sah, dass es aussichtslos war, schüttelte er den Kopf. "Ich hörte ja, dass Rote Löwen stur sind, aber so stur? Auf Blauregens Abreibung kannst du dich schon mal freuen! Dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken."

Mit einem letzten wütenden Blick trippelte er davon. Nachdem er verschwunden war, kam Val sich einsam vor. Einen Freund an seiner Seite hätte er gut gebrauchen können. Kaum hatte er das gedacht, wurde es unerträglich heiß an seinem Gürtel, die Hitze steigerte sich, verbrannte seine Haut. Mit einem leisen Schrei riss Val den Gegenstand herunter - es war die Feder des Löwenvogels. Sie war so heiß, dass er sie augenblicklich loslassen musste. Aber anstatt zu fallen, erstrahlte sie plötzlich in hellem Licht und stieg in der Luft nach oben und hielt erst an, als sie mit ihm auf Augenhöhe war.

"Was zum … ?", murmelte Val.

Die Feder setzte sich in Bewegung. Als er nicht nachkam, blieb sie stehen. Er machte einen stolpernden Schritt auf sie zu, sie flog weiter.

"Du zeigst mir den Weg?", murmelte Val. "Zum Buch der Namen?"

 

Das Spiegelkabinett

Val stolperte hinter der Feder her wie in Trance. Er konnte kaum glauben, dass ihm Hilfe zuteilwurde, ohne dass er etwas dafür tun musste. Er würde das Buch der Namen finden und den Weg durch das Feuer antreten, dachte er. Bei dem Gedanken klopfte sein Herz schneller. Vielleicht wäre nach heute Nacht alles vorbei. Die Wandmalereien und Behänge wurden zahlreicher und prunkvoller, je länger er der Feder folgte, was er als gutes Zeichen deutete. Es machte Sinn, dass ein solch wertvolles Artefakt nicht in einem dunklen Keller aufbewahrt wurde.

Schließlich betrat er einen leeren Gang und blieb stehen. Eine unheimliche Stimmung lag in der Luft, und ein kalter Wind fuhr ihm unter die Kleider. Die Haare auf seinen Unterarmen richteten sich auf. Dann hörte er das Flüstern. Ein Flüstern, das seinen Ursprung nicht in menschlichen Kehlen hatte. Es klang ganz wie vor ein paar Wochen, als er dem Drachen zum ersten Mal begegnet war. Und damals wäre er, nachdem er es gehört hatte, beinahe von einem Dutzend Speere durchstoßen worden. Es drang hinter einer der Türen hervor. Unscheinbar sah sie aus, mit dunklem Eichenholz verkleidet, nicht anders als die anderen. Val, sagte die Stimme. Komm zu mir. Val kannte diese Stimme! Das Blut pochte in seinem Hals und er streckte zitternd eine Hand aus. Was immer es war, das ihn da zu sich rief, er würde es schon herausfinden. Aber die Feder durchkreuzte seine Pläne. Sie fuhr heran und wedelte wütend vor seinem Gesicht auf und ab. Nicht diese Tür!, schien sie zu sagen. Ich möchte dir etwas anderes zeigen! Die magnetische Wirkung, die Val gespürt hatte, ließ nach, das Flüstern verklang. Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick wandte er sich ab und folgte seiner Führerin. Sie flog weiter, an allen Türen vorbei bis zu einem Tor am Ende des Ganges. Dort blieb sie stehen. Als er näher trat, erstarb ihr Licht und sie fiel zu Boden. Weiter würde sie ihm nicht helfen. Mit leisem Bedauern pinnte er sie wieder an seinen Gürtel.

Dann erklang ein leises Geräusch hinter ihm, wie das Rascheln von Kleidung. Val wirbelte herum und starrte in die Dunkelheit. Es war nichts zu erkennen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie gefährlich es war, so lange herumzustehen und eine Tür anzustarren. Damit würde er die Wächter ja geradezu anlocken. Er holte tief Luft; das Tor ging auf, sobald er seine Schulter dagegenstemmte.

Es war ein Saal voller Spiegel. Selbst der Boden spiegelte, so blank war der Marmor. Die Wände und die Decke bestanden aus nichts als Glas. Nacheinander führten Reihen aus Spiegeln vom Eingang weg, kreuzten sich und verliefen sich ineinander, so dass ein richtiges Labyrinth entstand. Val konnte sich das nicht erklären. Was machte ein Spiegelkabinett in Adairs Palast? Die kannte er sonst nur von Jahrmärkten.

Suchend blickte er um sich. Nur sein eigenes fragendes Gesicht blickte hundertfach gespiegelt zurück. Die Feder hatte ihn hierher geführt. Aber wie konnte hier in diesem Labyrinth versteckt sein, was er suchte?

Er entschied, dass er es nie herausfinden würde, wenn er nicht losging. Das Geräusch seiner Schritte fingen sich zwischen den Wänden wie das Flattern eines Vogels.

Er lief recht lange. Hin und wieder stieß er auf eine Sackgasse, dann musste er umdrehen. Nur hatte er an der nächsten Kreuzung schon wieder vergessen, wo er langgegangen war. Irgendwann verlor er den Überblick; er hätte nie damit gerechnet, dass dieser Raum so groß war! Wie sollte er jetzt noch den Ausgang finden? Er verfluchte seine eigene Gedankenlosigkeit. Immer handelte er so vorschnell! Hätte er doch einen Knäuel Faden gehabt wie die Menschen in dieser Geschichte …

Er hörte ein Geräusch zu seiner Linken und wirbelte herum. Die Stimme allerdings erklang von rechts:

"Ich wusste, du würdest nicht gehen."

Val blieb beinahe das Herz stehen. Neben ihm im Spiegel stand eine weitere Gestalt. Die Wächterin aus dem Raum der Heiligkeit. Diesmal reagierte er schneller, zog seinen Dolch und streckte ihn ihr entgegen. Nur dass er nicht sicher sein konnte, wo sie genau stand. Der Geräusch hallender Schritte erklang, als sie die Spiegelfront umrundete und in Fleisch und Blut vor ihm erschien.

Aufmerksame, braune Augen betrachteten ihn hinter der Eisenmaske. "Habe ich nicht schon bewiesen, dass ich dir nichts tun werde?"

"Sicher ist sicher", sagte er mit einem Zucken seines Dolches. Sein Herz pochte viel zu schnell.

"Leg das Ding weg, du kannst es ja kaum halten." Sie hatte Mühe, ihr spöttisches Lächeln zu verbergen.

Val hielt die Waffe trotzig ein wenig höher. Jeden Moment befürchtete er, dass sie ihn mit Magie entwaffnen würde.

Ihm fiel auf, dass sie kleiner war als er, fast einen Kopf. Das war ihm entgangen, als er zu ihren Füßen im Staub gekrochen war. Er umklammerte den Schwertgriff fester.

"Ich wusste, dass ich dich irgendwo schon einmal gesehen hatte", sagte sie. Sie streckte die Hand aus und ließ ein Blatt Papier fallen. Wie von einem plötzlichen Windstoß getragen flog es die paar Meter zu Val. Erschrocken erkannte er sein eigenes Gesicht. Das Mädchen hatte einen Steckbrief von ihm gefunden. Die Ähnlichkeit war nicht abzustreiten. Er sagte nichts.

"Fremdländisch im Aussehen … ", zitierte sie. "Der Junge, der in der Begleitung des Roten Löwen reist …"

Val sog überrascht die Luft ein. Er hatte nicht erwartet, dass sie - dass irgendjemand - so schnell schalten würde. Was würde sie jetzt tun? Mechanisch schüttelte er den Kopf, obwohl es vollkommen sinnlos war abzustreiten.

Das wusste sie genauso gut wie er. Ein Leuchten war in ihre Augen getreten. Sie stolperte einen Schritt auf ihn zu. Zur Antwort hob er den Dolch höher; er wusste nicht, was er tun sollte. Waren weitere Wächter auf dem Weg? Hatte sie Adair Bescheid gegeben? Sein Mund wurde trocken. Mit der Zungenspitze fuhr er sich über die Lippen.

Sie aber konnte nicht mehr an sich halten. Die Worte platzten aus ihr heraus. "Sag, ist es wirklich wahr? Kennst du den Roten Löwen?" Ihr Blick wurde flehend. "Oh, ich muss ihn treffen, oh bitte! Ich kann euch helfen! Ich bin immerhin Wächterin im Palast!"

Val starrte sie an. Mit vielem hatte er gerechnet, aber nicht damit. Sie bot ihnen ihre Hilfe an? Aber sie hatte versucht ihn umzubringen! Sie hat aufgehört, als sie die Kette des Mönchs gesehen hat, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Die Kette des Widerstands, wie ihm allmählich klar wurde. Sie ist auf unserer Seite.

"Ich -" Sein Hirn ratterte.

"Wie kann ich dir helfen?"

Val überlegte. Einen Versuch war es wert, dachte er sich. "Ich brauche das Buch der Namen", sagte er vorsichtig. "Sagt dir das etwas?"

"Das Buch der Namen?" Sie runzelte die Stirn. "Adair hat es. Adair trägt es immer an einer Kette um den Hals."

"Was?" Val schüttelte den Kopf. "Das kann nicht sein, die Feder hat mir angezeigt, dass das Buch hier in diesem Raum ist."

Langsam dämmerte es ihm, was das bedeutete. Die Augen der Wächterin wurden riesengroß, als auch sie verstand.

"Interessant. Verräter in den eigenen Reihen."

Val hätte beinahe geschrien. Die Spiegel zeigten eine dritte Person an, die aus dem Nichts erschienen war. Ganz in schwarz gehüllt, die Augen leuchtend gelb, stand er da und starrte sie an, Adair. Plötzlich wurde es ganz kalt im Spiegelkabinett und um Vals Herz.

Die Wächterin zog ihr Schwert. Nur ihr Blick verriet, wie viel Angst sie hatte.

Adair lächelte. "Ich habe viel auf dich gehalten, Celia. Aber meistens sind es die Erfolg versprechenden, die zu Verrätern werden."

"Ich war es von Anfang an", zischte sie. Das Schwert in ihrer Hand zitterte. "Wie könnte ich je an das glauben, wofür Ihr einsteht?"

Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ging los. Schritte hallten durch den Raum. Val wandte panisch den Kopf nach allen Seiten, sein Dolch zuckte. Von wo würde er kommen?

"Nein, das kannst du nicht", sprach Adair weiter. Er schien überall gleichzeitig zu sein. "Dafür ist dein Geist zu klein, zu beschränkt, die größeren Dinge werden dir immer verborgen bleiben. Aber du bist unhöflich, was drängst du dich so in den Vordergrund? Dein kleiner Freund hier interessiert mich eigentlich viel mehr."

Val vergaß zu atmen. Seine Knie zitterten wie verrückt. Der Adair in den Spiegeln hatte sich verdreifacht. Und jedes einzelne Gesicht grinste ihn an mit diesem irren Lächeln.

"Kennst du meine Gefährten? Lazarus und Istvan. Fauces' Jäger." Zwei Männer wuchsen aus den Schatten und gesellten sich an seine Seite. Ihr Grinsen war nicht weniger fies als das seine. Val wandte sich von einem Spiegel zum nächsten. Wo standen sie? Hinter ihnen, rechts von ihnen, vor ihnen? Auch Celia drehte sich abwechselnd in die verschiedenen Richtungen, bereit zuzustoßen.

"Zuerst war ich verwundert. Was wollte ein kleiner, unscheinbarer Junge wie du im Spiegelkabinett? Aber sie ließen dich gehen, die Spiegel und beinahe hättest du gefunden, wonach du gesucht hast. Sie hätten dich zu mir geführt. Sie lassen dich nämlich nur den richtigen Weg finden, wenn du reinen Herzens bist, weißt du. Ich wollte mich dir schon vorstellen, als sie uns das Geheimnis ganz von allein offenbart hast. Ich danke dir, Celia. An die Steckbriefe hatte ich im ersten Moment gar nicht gedacht."

Vals Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Er konnte nichts dagegen tun.

"Du kannst mir also erzählen, wo der Rote Löwe sich aufhält, Junge? Das finde ich sehr nett von dir." Adair war nun fast da.

Val schüttelte den Kopf. Ein merkwürdiger Schmerz hatte ihn befallen, es war wie ein Druck von allen Seiten auf seinen Kopf. Er kniff angestrengt die Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren.

"Nein?", lächelte Adair. "Wir werden sehen."

Die untere Hälfte seines Körpers löste sich auf, als er plötzlich losflog und auf sie zuraste, der Umhang gebauscht wie die Flügel einer zu groß geratenen Fledermaus. Plötzlich flackerten die Lichter an der Decke des Saals und gingen aus. Ein kalter Wind fuhr durch die Spiegelreihen. Hundert Gestalten gleichzeitig stürmten auf Val und die Wächterin zu.

"LAUF!", schrie sie ihn an. Ihr Gesicht war verzerrt vor Angst. Val stürzte blindlings in den ersten Gang, rannte und schaute über die Schulter zurück. Es war so dunkel, dass er die Hand nicht vor Augen sehen konnte. Er stolperte und schlug sich die Knie auf. Schnell kam er wieder auf die Beine.

"Wozu weglaufen, Junge?", hallte Adairs Stimme von der Decke. "Du kannst mir doch nicht entkommen!"

Insgeheim gab Val ihm recht. Aber er musste an sich glauben. Er musste den Ausgang finden, dann hatte er eine Chance, ihm zu entkommen! Ein krachendes Geräusch und ein Splittern ertönte, als die Männer begannen, die Spiegel zu zertrümmern. Val warf verzweifelte Blicke um sich. Bald hatte er nicht mehr die Deckung der Spiegel. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn schützten. Adair war gewiss nicht reinen Herzens, er dagegen schon.

Der nächste Lazarus war kein Spiegelbild, sondern der echte. Schlitternd kam Val zum Stehen, orientierte sich und stürzte kopflos in den nächsten der Gänge. "Da ist er! Ich hab ihn!", schrie Lazarus triumphierend. Er rannte ihm hinterher und schoss Flüche auf ihn ab, die nur haarscharf an seinem Kopf vorbeizischten. Plötzlich erschien Celia aus dem Nichts, entwaffnete ihn mit einem Hieb ihres Schwerts und stieß ihm das Heft in den Bauch. Ächzend ging er zu Boden.

"NICHT STEHENBLEIBEN, MANN! Renn zur Tür!", schrie sie ihn an, packte seine Hand und zerrte ihn nach rechts. Val erkannte die Zickzackform des Ganges. So war er hereingekommen. Der Weg führte hinaus! Das große schwarze Tor war bereits in Sichtweite, als -

Adair trat hinter einem der Spiegel hervor und versperrte ihnen den Weg. Er lächelte. Die ganze Zeit hatte er am Ausgang gewartet, er spielte nur mit ihnen.

Vals Hoffnung stürzte in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Er atmete schwer. Seine Oberschenkel brannten.

"Sie hätten dir den Weg gezeigt, das ist unglaublich! Du musst wirklich ein sehr braver Junge sein, mein Kleiner." Langsam ging er auf ihn zu. Seine Augen glommen in der Dunkelheit wie die eines wilden Tieres.

Die Kinder wirbelten herum, da traten Lazarus und Istvan aus zwei gegenüberliegenden Gängen hervor. Sie waren eingekesselt. Lazarus war merkwürdig rot im Gesicht und der Blick, mit dem er Celia bedachte, war purer Hass.

"Sackgasse", sagte Adair sanft. "Und nun, Junge, möchte ich mich mit dir unterhalten."

Val konnte sich nicht rühren. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Er dachte nicht an Flucht, wie es zu erwarten gewesen wäre. Er hatte nicht einmal Angst. Adairs Stimme rührte etwas in ihm, etwas, das da nicht sein sollte. Plötzlich sah er Adair nicht mehr als Feind, im Gegenteil, er erkannte einen Freund in ihm, einen Vertrauten, wollte mit ihm sprechen, sich ihm anvertrauen. Ihm sagen, dass er der Rote Löwe war. Val stolperte zurück. Kalter Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. Woher kamen diese Gedanken? Trieb er irgendeine schwarze Magie mit ihm?

Istvan hatte die Distanz mit einem schnellen Schritt überbrückt, packte seine Arme und drehte sie ihm auf den Rücken. Val ächzte vor Schmerz. Bevor sie reagieren konnte, machte Lazarus dasselbe mit Celia.

"NEIN!" Val versuchte, sich loszureißen. Sein Kopf hämmerte und das Denken fiel ihm schwer.

"Viel besser", sagte Adair, noch eine Spur sanfter. Es klang wie das Schnurren einer Katze. Er kam auf ihn zu und lächelte. Die Wirkung war noch heftiger als zuvor. Val hörte seine Stimme und wollte plötzlich nichts lieber tun, als sich vor ihm auf den Boden zu werfen und ihm seine Identität zu offenbaren. Adair ist nicht dein Feind!, schrie jede Faser seines Herzens. Zeig dich ihm! Val stöhnte. Wie lange sollte er dem Drang standhalten? Er versuchte, sich zu konzentrieren, sein Atem ging keuchend. Wenn er rausfindet, dass ich der Löwe bin, bringt er mich um. Wenn er rausfindet, dass ich der Löwe bin, bringt er mich um, alle bringt er um. Blauregen und Leonhard noch dazu. Kämpf dagegen an, Val!

Adair lachte leise. Val durchzuckte ein so heftiger Schmerz, dass er in die Knie ging. Nur dass Istvan ihn wieder hinstellte. Val wollte mit ihm lachen. Was war nur los mit ihm? Wollte er sterben? Er biss sich halb die Zunge ab, im Versuch die Worte zurückzuhalten. Blut verklebte ihm den Mund und lief über seine Lippen.

Adair maß ihn stirnrunzelnd. Er war nun ganz nah und Val konnte seinen leisen Atem hören. Seine Haut war so fahl wie Kerzenwachs. "Was ist los mit dir, Junge?" Er streckte einen Zeigefinger aus und strich ihm über die Unterlippe. Ein Tropfen Blut blieb auf seiner Haut haften. Er schnippte ihn beiseite. "Wozu quälst du dich so?"

Val warf sich im Griff seines Bewachers hin und her. Die Schmerzen waren nicht mehr auszuhalten. Er stöhnte erneut.

"Wo ist der Rote Löwe?", donnerte Adair plötzlich.

Val versteifte sich am ganzen Körper. Sein Widerstand bröckelte. Ich bin es, formte sein Gehirn die Worte … Ich bin es …

"SAG ES IHM NICHT!", brüllte die Wächterin.

Kurz gewann er an Konzentration. Er spuckte Blut und röchelte.

"HALT DEN MUND, du dummes Gör!", zischte Adair sie an. "Wer ist es? Wie lautet sein Name? Sag es mir, Junge!"

Val schüttelte den Kopf wie verrückt, versuchte, sich aus Istvans Griff zu befreien. Er war wie aus Eisen. Val presste die Augen zusammen. Wenn nur das Hämmern in seinem Kopf nicht wäre! Er konnte keinen klaren Gedanken fassen!

Adair bemerkte den Kampf in seinem Innerem. Er legte den Kopf schief. "Wo liegt das Problem, Junge? Ich sehe doch, dass da etwas ist."

Val spuckte mehr Blut. Ihm wurde schlecht vom bitteren metallischen Geschmack in seiner Kehle. Unter keinen Umständen durften ihm die Worte über die Lippen gehen.

Adair lächelte plötzlich, änderte seine Taktik und wärmte seinen Blick. Er sah ihn freundlich an. Adair war schlau.

"Du kannst mir vertrauen", sagte er mit schmeichelnder Stimme. "Sag, was du mir sagen willst, mein Freund."

Die Wirkung war katastrophal. Vals Widerstand brach. Nebel umwaberte seinen Geist. Er spürte bereits, wie seine Zunge die Worte formte.

"NEIN!", brüllte er. Er riss sich aus Istvans Griff, als unerklärliche Kraft seine Adern durchflutete. Schmerz explodierte in seinem Kopf und weiße Punkte tanzten ihm vor Augen. Er konnte nichts mehr sehen.

"Was hat er? Ist er wahnsinnig?" Das war Istvans Stimme. Er versuchte ihn zu greifen, aber Val schlug um sich. Er ging fast in die Knie. Sein Kopf tat so weh, als würde er jeden Moment bersten.

"Das werden wir bald herausfinden", sagte Adair. Er klang nun wütend. Er streckte eine Hand aus. "Sieh mich an, Junge!"

Val gehorchte, ohne es zu wollen. Adair bewegte langsam die Finger. Val fühlte, wie der Geist des Regenten in seinen eigenen vordrang, durch seinen Widerstand glitt wie ein warmes Messer durch Butter. Bilder traten von ganz allein in seinen Kopf. Die Gelehrten, wie sie ihm in Violettas Haus das Ritual erklärten. Blauregen, der ihn an der Schulter packte und ihn mit seinen blauen Augen besorgt ansah.

"NEEEIN!" Val hatte nicht viel Zeit. Er handelte instinktiv, ohne es wirklich zu planen. Es war der einzige Ausweg. Er zog das Stück Glas aus seiner Tasche und hielt es ins Mondlicht. Adair erstarrte. Dieser eine Moment des Zögerns war alles, was Val brauchte. Er packte die Wächterin an der Hand und rannte zum Fenster. Es kümmerte ihn nicht, dass sie im zweiten Stock waren. Es kümmerte ihn nicht, dass Adair fliegen konnte. Es kümmerte ihn nicht, dass sie vermutlich draufgehen würden.

Er sprang und zog das Mädchen mit sich.

Glas zerbarst in tausend feine Scherben, zerschnitt ihnen Hände und Gesicht. Der Schrei des Mädchens hallte in seinen Ohren wider, unnatürlich laut. Dann fielen sie.

Kalte Nachtluft schnitt ihm in die Augen, seine Arme flatterten nutzlos neben seinem Körper.

Sie fielen ein Stockwerk tief, ehe sie auf dem darunter liegenden Balkon aufschlugen. Der Aufprall presste Val alle Luft aus den Lungen. Sterne tanzten vor seinen Augen. Mächtige Glasscherben hatten sich ihm in Arme und Beine gebohrt. Weiteres Blut floss.

Aber sie hatten mehr Glück gehabt als Verstand. Keiner der beiden war so schlimm verletzt, dass sie nicht mehr aufstehen konnten.

"BIST DU WAHNSINNIG?", schrie Celia ihn an. Sie hustete und keuchte. Sie blutete aus einer tiefen Wunde über der Augenbraue.

Val achtete nicht auf sie. Er stolperte in Richtung Balkontür. Er wusste, dass Adair gleich hier sein würde. "Wir müssen hier raus!", sagte er keuchend. Er fingerte an der Klinke herum, aber die Tür war verschlossen. Kurzerhand schlug er mit der Faust durch die Scheibe und betätigte den Knauf. Auf ein paar Schnitte in seiner Hand mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Auf die Sekunden dagegen schon. Sie rannten durch das Zimmer und stolperten auf den Gang hinaus. Das Mädchen deutete nach links, Richtung Atrium. "Da lang! Da ist der Ausgang!"

Hinter sich hörten sie bereits Schritte.

 

Blauregen

Blauregen sah das Funkeln der Glasscherbe und wusste, Val war in Gefahr. Dann erkannte er, aus welchem Teil des Palastes der Hilferuf gekommen war.

"Das Spiegelkabinett!", murmelte er. Es war nicht schwer, die richtigen Schlüsse zu ziehen. "Adair!"

Dann rannte er, so schnell war er in seinem Leben noch nicht gerannt. Er hörte das Fenster bersten, sah die beiden Kinder fallen. Wie Puppenglieder flatterten ihre Arme und Beine in der Luft. Blauregen schrie auf. Es war Val, keine Frage. Es war sein blondes Haar.

Er hörte den Aufprall. Einen schrecklichen Moment lang, als niemand sich rührte, dachte er, Val sei tot. Dann rappelten sich beide auf und stürmten vom Balkon.

"VAL! VAL! ICH BIN HIER!" Blauregen schrie sich die Seele aus dem Leib. Aber der Junge hörte ihn nicht.

Blauregen fluchte, shmite und rannte senkrecht die Palastmauer hoch. Er folgte dem Weg des Jungen hinein.

 

 

Im Atrium stieß er auf die beiden Fliehenden.

"VAL!" Blauregen stürzte zu ihm. Zumindest von Weitem wirkte er unversehrt. Aber der Junge hatte Angst, große Angst. Er lag auf dem Boden und fixierte einen Punkt hinter Blauregen. "Er kommt, Blauregen! Adair, er kommt!"

Die Warnung erfolgte keine Sekunde zu früh. Blauregen sah den dunklen Schatten, die mörderischen gelben Augen und konnte ein Schild hochziehen, bevor ihn der Fluch in die Brust getroffen hätte. Adair lächelte jetzt. Er kümmerte sich nicht mehr um die Kinder. Vor ihm stand der Mann, den er gehofft hatte zu treffen.

Seltsame Ruhe ergriff von Blauregen Besitz. Für diesen Kampf würde er seine ganze Konzentration brauchen, er blendete den Jungen und die Sorge um ihn aus, richtete seine Aufmerksamkeit allein auf den Mann mit den gelben Augen. Die Angriffe kamen Schlag auf Schlag. Blauregen hatte nie mehr als einen Sekundenbruchteil, um zu entscheiden, was er tat. Der Kampf lief fast völlig lautlos ab. Die beiden Duellierenden umkreisten sich und versuchten abwechselnd die Abwehr des anderen zu durchbrechen. Blauregen hatte nie jemanden so kämpfen sehen. Selbst seine Lehrer auf dem Östlichen Kontinent hatten keine Ahnung von solcher Angriffsmagie. Die meiste Zeit parierte Blauregen, führte selbst keine Schläge aus. Es hatte ihn schon immer interessiert, wie er wohl gegen Fauces, den angeblich mächtigsten Magier der Welt ankommen würde. Nun hatte er die Antwort: Nicht gut genug. Schon Adair, sein Handlanger, war ihm überlegen. Die Zeit rann ihm wie Sand durch die Finger. Ewig konnte er diesen machtvollen Angriffen nicht standhalten. Okay, dachte er sich. Zeit, den ältesten Trick der Welt auszuprobieren. Mal schauen, ob Adair ihn kennt. Er dachte es wohlweislich so gut abgeschirmt, dass der Fürst ihn nicht hören konnte.

Zuerst lief alles nach Plan. Adair steigerte die Wucht seiner Angriffe, Blauregen parierte weiter mit gewöhnlichem Verteidigungsshmi. Das machte man so zu Anfang eines Kampfes, erst später, wenn man sich ein Bild von der Methodik des anderen gemacht hatte, griff man auf Licht- und Schattenmagie zurück. Wuusch. Blauregen ächzte. Der Rückstoß von Adairs Angriff ließ ihn einige Meter über den spiegelglatten Boden schlittern. Zumindest diesen Schatten von Adair hätte er mit Licht parieren müssen. Blauregen tat es aber nicht. Mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck und zitternden Händen hielt er an seinem Verteidigungsshmi fest. Er wollte in Adair einen ganz besonderen Eindruck erwecken …

"Keine Seelenmagie?", fragte der Fürst plötzlich.

Blauregen lächelte innerlich. Es hatte funktioniert. Nach außen hin bemühte er sich um einen verzweifelten Gesichtsausdruck.

Nur mit Vals Initiative hatte er nicht gerechnet. Der Junge stürmte vorwärts, ein lächerlich großes Schwert in der Hand.

"VAL, NICHT!" Blauregen verpasste Val einen Magiestoß, der ihn geradewegs gegen die nächste Wand klatschen ließ. Dadurch war er einen Moment abgelenkt. Adairs nächster Angriff kam aus einer unerwarteten Richtung und sein Allzeitverteidigungsshmi wirkte nur halbwegs. Blauregen blieb die Luft weg, als die feindliche Magie seinen Körper durchströmte. Oh, guter Zeitpunkt, dachte er sich. Gerade richtig für Teil zwei des Plans.

Er ließ sich in die Knie sinken, schwach, besiegt. Schließlich fiel er zu Boden, presste sich die Hände auf die Magengrube, als leide er unsägliche Schmerzen.

Adair kam langsam auf ihn zu. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, die Wut und Verwirrung gleichzeitig ausdrückte. Warum freute er sich nicht besser?

Adair stürmte mit seinem Sinn gegen Blauregens geistige Barrieren an. Er hatte ein paar Erinnerungen dabei, die er Blauregen zeigen wollte. Mit der er ihn infiltrieren wollte! Blauregen brauchte sich nicht groß anstrengen, um ihn abzuwehren. Er war ein Meister im Abschirmen. Selbst wenn er wirklich so schwer verletzt wäre, wie er vorgab, hätte er noch genug Kraft, seine Gedanken in Sicherheit zu bringen. Adair erkannte es. Er ging neben ihm in die Knie und lächelte. Warum ließ ein böses Lächeln Menschen nur so gut aussehen?

"Jetzt haben wir ein Problem, was?", fragte er sanft.

Blauregen zählte die Sekunden. Noch drei Sekunden …

Am Rande des Bewusstseins nahm er wahr, dass Val noch immer in der Halle stand. Der Junge schrie auf ihn ein und fuchtelte mit den Händen. Wut flackerte in Blauregen hoch. War er denn wahnsinnig? Warum war er noch nicht weggelaufen? Sah er nicht, dass er sie nicht alle beschützen konnte? Er darf Val nichts tun. Blauregen erschrak. Hatte er diesen Gedanken gerade laut gedacht, ihn nicht abgeschirmt? Weil er vom Herzen und nicht vom Gehirn gekommen war?

Diesmal sah er das Vorhaben in Adairs Augen zu spät, als Val schon am Boden lag, die Hände auf den Kopf gepresst, und vor Schmerzen schrie.

"NEIN!"

Ihm blieb keine Zeit zu überlegen, er musste handeln. Das Lichtshmi brach aus ihm hervor, hell und strahlend, aus Angst um Val doppelt so stark wie gewöhnlich. Adair war wie vor den Kopf gestoßen. Das war immer so. Wenn sie mit keiner Seelenmagie rechneten, hatten sie Allzeitverteidigungsshmi gegen einen Angriff dieser Art auf ein Minimum herabgefahren.

Es war ein Käfig aus Licht. Adair stolperte und fiel zu Boden. Einen Moment lang war er handlungsunfähig.

Mehr brauchte Blauregen nicht. Er beschleunigte seine Bewegungen mit Shmi, bis er beinahe unsichtbar wurde. Er stürzte zu dem am Boden liegenden Jungen, packte ihn mit der einen und das Mädchen mit der anderen Hand. So beschleunigt stürzten sie aus dem Atrium. Adair schaute zu, hinter Gitterstäben aus Licht.

 

Die halbe Stadt durchquerte er binnen weniger Minuten. Blauregen rannte so lange, bis er nicht mehr konnte, ehe er sich eine Verschnaufpause gönnte. Keine Sekunde zu früh. Val, der all die Magie in seinem Körper nicht gewohnt war, brach zusammen und blieb reglos liegen.

Blauregen drehte ihn auf den Rücken und betete zum Himmel. Er wusste nicht, was Adair mit ihm angestellt hatte. Er befürchtete das Schlimmste. Die Erleichterung, die er spürte, als er schließlich die Augen aufschlug, war überwältigend. Sie waren noch voller Leben. Val richtete sich auf und spuckte Blut. Sein ganzer Mund war verklebt. Er blickte wild um sich. Die Straßen Alangiums lagen in vollkommener Stille. "Ist er weg?"

Blauregen nickte und zog ihn auf die Füße. "Wir dürfen nicht stehenbleiben. Wir müssen weiter."

Dann sah er, dass auch das Mädchen bewusstlos war.

"Was machen wir mit ihr?", fragte Val zitternd. Schüttelfrost packte ihn. Es ging ihm weit schlechter, als es den Anschein hatte.

Blauregen deutete zum Deutertempel. "Wir legen sie auf die Schwelle. Dort wird ihr nichts geschehen."

Val zögerte, dann nickte er. "Wie konntest du ihm nur entkommen?", fragte er. "Er hat mich - er hat - da war so viel Druck auf meinem Kopf …"

"Es war nicht leicht. Ich musste einen Trick anwenden." Er legte ihm einen Arm um die Schultern. Die Nacht kam ihm plötzlich viel schöner vor, jetzt wo er das schlagende Herz an seiner Seite spürte.

"Blauregen, ich bin so müde." Dann sank Val erneut vor Erschöpfung in die Knie.

 

Verwirkt

Es hatte angefangen zu regnen. Zu Anfang nur ein harmloser Schauer, entwickelte er sich schnell zu einem halben Orkan. Blauregen versuchte, Val so gut es ging mit seinem Mantel zu bedecken (jetzt rentierte es sich endlich mal, dass er ihn bei seinem Kauf um ein paar Nummern zu groß erstanden hatte!), während er selbst patschnass wurde. Er begegnete keiner Menschenseele. Was auch gut so war, denn wie hätte er sonst den bewusstlosen kleinen Jungen in seinen Armen erklären sollen?

Schließlich stolperte er die Stufen eines kleinen Backsteinhäuschens nach oben; es unterschied sich in keinem Merkmal von den anderen Häusern, mit denen es sich den Straßennamen teilte. Unauffällig, so hatte der Mann, den er suchte, schon immer gern gelebt. Blauregen strich sich das nasse Haar aus der Stirn und klopfte. Das Namensschild war noch dasselbe wie vor fünf Jahren. Dr. Karollus - Magiekundiger. Es dauerte lange, bis jemand öffnete. Blauregen wunderte das nicht; auch er wäre skeptisch, wenn jemand bei diesem Wetter und um diese Uhrzeit bei ihm klopfte. Der Mann, der ihm schließlich öffnete, war sehr überrascht, wen er da auf seiner Türschwelle vorfand.

"Blauregen!", sagte er. "Und … sieh an."

Der Mantel war verrutscht und zeigte einen Teil von Vals blassem Gesicht.

"Kannst du ihm helfen?"

Zur Antwort gab der Mann den Durchgang frei. Er hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Nach wie vor war er groß und hager, hatte eine Glatze und kleidete sich in einen schwarzen Anzug. Die Finger seiner bleichen Hand waren lang wie Spinnenfüße; die Farbe seiner Augen war dagegen so dunkel, dass sie beinahe schwarz wirkten. Blauregen trug Val durch einen Gang in den angrenzenden Raum dahinter; er wurde von einer bleichen hohen Kerze auf dem Tisch mehr schlecht als recht beleuchtet; im Lichtkreis schwirrten ein halbes Dutzend Motten. Hin und wieder schaute Blauregen über die Schulter. Er mochte es immer noch nicht, seinem alten Bekannten den Rücken zuzukehren. Dr. Karollus deutete auf das Bett in der Wandnische. Behutsam legte Blauregen den Jungen darauf ab und trat zurück. Der Magiekundige schob sich an ihm vorbei und griff nach der Hand des Jungen. Blauregen machte eine Bewegung, als woltle er ihn davon abhalten. Karollus hob eine geschwungene Braue.

"Schon gut", murmelte Blauregen.

Karollus nahm erneut Vals Hand. Er berührte kurz nacheinander mehrere Punkte an seinen Armen, seinem Gesicht und den Schläfen, murmelte ein paar Worte in einer fremden Sprache.

"Oh, und was ist das?", fragte er, als er die Wunde des Sternensplitters erkannte.

Blauregen versteifte sich.

"Das Drachentattoo sieht auch nicht gut aus, irgendwie entzündet … Bist du dafür verantwortlich?" Er nickte zu der Wunde.

Blauregen schüttelte den Kopf.

"Was für ein Pech." Karollus machte weiter. Er zeichnete feine Kreise in die Luft über Vals geschlossenen Augen, die sich zu rauchartigen Strukturen manifestierten und ineinander schoben. Das Prozedere zog sich über mehrere Minuten hin. Blauregen wartete ungeduldig; keine Sekunde wandte er den Blick von den bleichen Fingern. Schließlich zeigte der Heiler mit einem Nicken an, dass die Behandlung abgeschlossen war. Blauregen betrachtete den schlafenden Val. Als er ihn reglos auf dem Bett liegen sah, einen gequälten Ausdruck im Gesicht, regte sich ein Gefühl tief in seinem Inneren, das er da so nicht haben wollte. Abrupt wandte er sich ab.

"Macht er es?", fragte er knapp.

Karollus, der sich mittlerweile einen Stuhl herangezogen hatte, beobachtete ihn genau. "Er macht sogar mehr, als du zu hoffen gewagt hast, Blauregen."

Blauregen erstarrte, als ihm die Bedeutung der Worte klar wurde. Er fuhr herum.

"Du hast mir gesagt, es gäbe keine Möglichkeit!", stieß er hervor. Nur mühsam unterdrückte er das Zittern seiner Glieder.

"Willst du dich nicht setzen?", fragte Karollus, wies auf einen freien Stuhl und lächelte.

Blauregen biss die Zähne fest aufeinander. "Nein."

Der andere lachte. "Warum vertraust du mir nicht, Blauregen?"

"Soll das ein Witz sein?" Blauregen schäumte vor Wut. "Du hast mir gesagt, Dario kenne den Zauber nicht! Du bist an allem schuld!"

Karollus zeigte sich von seiner Wut unbeeindruckt. Er griff nach einer Flasche Wein und schenkte sich ein Glas des blutroten, ungewöhnlich dicken Getränks ein. Fragend schaute er Blauregen an, der schüttelte nur unwirsch den Kopf. Karollus seufzte. "So erzählten mir meine Kundschafter. Ich habe dir immer gesagt, dass meine Angaben ohne Gewähr sind. Es ist nicht meine Schuld, dass du nie auf Nummer sicher gehst."

"Das tue ich jetzt. Deshalb glaube ich dir auch kein Wort mehr."

"Und warum bist du dann hier?", lächelte der Magiekundige.

Blauregen malmte mit den Unterkiefern. Er konnte ihm nichts vormachen. Er hatte es nie gekonnt. "Warum gibt es jetzt plötzlich eine Möglichkeit?", fragte er und hasste sich dafür, dass er fragte.

"Na, rate mal. Was ist anders als beim letzten Mal? Wer ist das da in deiner Begleitung?" Der Mann schaute spöttisch zum Lager des Kranken. "Denkst du wirklich, ich hätte es nicht gemerkt?"

"Val", sagte Blauregen. Er setzte sich nun doch, als seine Knie nachgaben. Es fühlte sich an, als würde alle Luft aus seinen Lungen gepresst.

"Du nennst ihn beim Namen?" Der Blick des Arztes bohrte sich in seinen. "Das ist natürlich ein Problem. Du bist nicht länger gewillt, alles zu riskieren, fürchte ich."

"Das bin ich!", sagte Blauregen heftig. "Alles. Sag mir, was ich tun muss!"

"Der Tod nimmt nicht viele als Ersatz, musst du wissen. Der Rote Löwe stellt da eine Ausnahme dar. Wie so oft."

"Du meinst, er muss …" Blauregen konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Es war doch unmöglich. Er ließ den Kopf hängen.

"Oh, keine Sorge, Blauregen, du musst es nicht selber tun." Ein ironischer Unterton mischte sich in Karollus' Stimme. Er räumte ein paar Fläschchen zur Seite und staubte die Tischfläche ab. Er sprach ganz beiläufig vom Tod, als wäre er keine große Sache. "Hör zu: Verwirkst du entweder, oder bist du andererseits verantwortlich dafür, das heißt, bist du die treibende Kraft dahinter, dass das Leben des Roten Löwen beendet wird, dann hast du damit die Macht über den Tod. Es ist ganz simpel. Du kannst einen Tausch mit ihm vereinbaren. Du hast also die Macht, sie zurückzuholen."

Blauregen schaute nachdenklich zum Lager des Bewusstlosen. Ganz von allein fanden seine Finger den Weg zu der Kette um seinen Hals.

 

In den Minuten, bevor er aufwachte, betrachtete er Vals Gesicht. Es war ein hübsches Gesicht, eine Tatsache, derer sich ein Zwölfjähriger noch nicht bewusst war. Blauregen erinnerte sich noch gut daran, wann es ihm selbst klar geworden war.

Er war nun wieder fünf Jahre alt und hielt seiner Mutter den Spiegel, während sie sich schminkte.

Sie war eine schöne Frau, hatte blonde, fast weiße Haare und ein feines schmales Gesicht. Die Augenbrauen hatte sie sich fast vollständig ausgezupft, dafür trug sie ihre Wimpern umso länger.

"Schon in jungen Jahren sieht man es, ob Kinder hübsch werden", sagte sie sanft. Sie frisierte sich mit einem Kamm die Haare. Blau war er gewesen, mit weißen Kristallen darin eingelassen. Das wusste Blauregen noch, weil er es damals bewundert hatte, wie sich das Sonnenlicht in den Steinen fing, jedes Mal, wenn seine Mutter ihn erneut ansetzte. "Bei dir, deinem Bruder und deiner Schwester wusste ich es von Anfang an. Ihr habt ja auch mein Gesicht." Sie lächelte und hielt einen Moment beim Kämmen inne, ließ ihren Blick hoheitsvoll auf ihm ruhen, bevor sie weitermachte. "Es kommt darauf an, ob das Gesicht schmal oder breit ist, ob die Augen weit auseinander oder nah beisammen stehen. Schon im alten Griechenland gab es Theorien darüber. Die mit einem schmalen Gesicht und einer zarten Konstitution hielt man für intelligente, aufgeweckte Menschen. Die, dagegen, die feiste Backen und keinen Hals hatten, das waren die Choleriker und die Dummen."

"Mama", hatte Blauregen gesagt, der damals noch auf einen anderen Namen gehört hatte. "Schönheit ist doch nicht alles." Das war, was sein junges Herz ihm damals diktierte.

Seine Mutter hatte nur gelacht, laut und hohl. "Doch natürlich, mein Kind. Es bedeutet alles." Dann hatte sie ergänzt: "Oder fast alles. Natürlich nützt sie dir nichts, wenn du auf den Kopf gefallen bist. Denn dann werden dich die wichtigen, mächtigen Leute nie lange genug beachten. Aber wenn du klug und dazu noch schön bist, liegt dir die ganze Welt zu Füßen. Schöne Menschen werden ganz anders behandelt. In den meisten Gesellschaften brauchst du nichts weiter als ein hübsches Gesicht, um glücklich zu sein. Merk dir diesen Gedanken, mein Schatz."

Diese Meinung hatte Blauregen seine ganze Jugend lang verfolgt. Wie sehr hatte er doch gefürchtet, den Ansprüchen seiner Mutter nicht gerecht zu werden. Diese Furcht hatte sich als grundlos herausgestellt. Leider war es ihm aber auch nie gelungen, ihre Theorie zu widerlegen.

 

Rebellen in Rot

Als Val aufwachte, war Blauregen neben ihm. Er blinzelte und rieb sich die Augen.

"Wo bin ich?" Er kannte das Zimmer nicht, in dem er lag. Es war eiskalt wie in einer Gruft. Bilder von unheimlichen Gestalten, die alle entweder ihren Hut ins Gesicht gezogen hatten, weil sie nicht erkannt werden wollten, oder in verbotene Aktivitäten verwickelt waren (das Entführen von Kindern war abgebildet und das Aussaugen eines Frauenhalses) zierten die Wände. Val fröstelte.

"Gehen wir zurück ins Lager", sagte Blauregen und erhob sich. Die Dielen des Holzbodens knarrten unter seinem Gewicht.

"Wem gehört das Haus?", fragte Val.

Blauregen antwortete nicht.

"Komm, wir müssen los."

Val war noch nicht wirklich fit für einen längeren Fußmarsch, aber wie immer war Blauregen unerbittlich.

"Wer stehen bleibt, verliert", predigte er, während er ihn um einen Haufen Eselmist herumschob.

Val war noch ein wenig schwummrig vor Augen. Die Stadt war viel geschäftiger als sonst, aber er brauchte lange, bis er es erkannte.

Ein Soldat hatte die Hände auf einem Gartentor abgestützt und brüllte einer Frau etwas zu, die ein Stockwerk höher auf dem Balkon stand. "Häng deine Girlanden auf, Frau! Als Anwohner der Prachtstraße ist es deine Pflicht, dein Haus für den morgigen Tag anständig zu schmücken!"

Die Frau schrie irgendetwas zurück, das Val nicht verstehen konnte. Sie klang zornig.

Verständnislos blickte er sich um. Ähnliche Szenen spielten sich in mehreren anderen Haushalten ab. Ein Schmied hängte Schnüre an einen Pfosten im Boden, an deren Enden grüne Papierdrachen durch die Lüfte flatterten.

"Was ist hier los?", fragte Val langsam.

Blauregen schenkte der Aufregung keine große Beachtung. Er schnauzte einen Bettler an, der ihm mit gefalteten Händen in den Weg trat.

"Das Drachenfest findet morgen statt. Deshalb wird alles in grün und schwarz verziert. Grün für den Drachen und schwarz für Fauces."

Val erinnerte sich. Vom Drachenfest hatte Zob ihm bei seiner Ankunft in Alangium vor ein paar Tagen erzählt. Er hatte allerdings nicht erwähnt, welch zentrale Rolle der Feiertag bei den Stadtbewohnern innehatte.

"Das ist ja Wahnsinn!"

Zwei Kinder rannten an ihnen vorbei, sie spielten Fangen. Der vordere stellte dabei den Löwen dar, erkennbar an der roten Halskrause, der zweite einen Soldaten; er hatte ein Holzschwert in der Hand. "Ich werde dich einsperren, Löwe, damit du dem Drachen niemals etwas antun kannst! Deine Herrschaft in Alangium ist ein für alle Mal besiegelt!"

"Fang mich doch! Im Fliehen bin ich von allen der beste, wie jeder weiß!" Der Löwe lachte und rannte davon. Der Soldat setzte zur Verfolgung an.

Val starrte ihnen hinterher. Da war plötzlich ein merkwürdig leeres Gefühl in seinem Inneren. Blauregen sah ihn kurz an, öffnete den Mund, als im selben Moment ein Falke von oben zu ihnen herabstieß. Val riss schützend die Arme vors Gesicht. Blauregen dagegen machte sich lang und packte den am Fuß des Falken befestigten Brief. Ohne eine Belohnung abzuwarten, erhob sich das Tier wieder in die Lüfte.

"Sind wir heute ein wenig schreckhaft, hm?", grinste Blauregen. Dann vertiefte er sich in die Lektüre des Briefes und sein Grinsen verblasste.

"Was ist?", fragte Val. Fast rechnete er damit, keine Antwort zu bekommen.

Blauregen sah auf, den Blick nachdenklich in die Ferne gerichtet. "Penn", sagte er. "Er möchte, dass wir ihn im Lustigen Schaukelpferd treffen. Jetzt sofort. Ich frage mich …"

Was genau er sich fragte, führte er nicht genauer aus. Er seufzte, schob den Brief unter seinen Umhang und drängte Val in die gegenüberliegende Gasse. Er wollte das Treffen wahrnehmen.

Val folgte bereitwillig. Ihn interessierte alles, was vom Untergrund ausging und mit der Revolution zu tun hatte. Seitdem sie seinetwegen das Lager verloren hatten, war er umso entschlossener, ihnen zu helfen. Sein Schwächegefühl verflog allmählich.

Das Lustige Schaukelpferd trug seinen Namen zu Unrecht; nichts deutete auf gute Laune hin, als sie die Schänke betraten. Es herrschte fast kein Betrieb, der Tresen war von einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt und die Tische schmutzig und mit Brandlöchern übersät. Val schaute sich um, konnte Penn aber nirgends entdecken. Der Wirt hinter der Bar musterte sie mit mürrischem Blick.

Blauregen stellte sich an den Tresen. Als der Wirt ihn ansprach, schickte er ihn nur mit einer ungeduldigen Handbewegung weiter. Der Blick des Wirtes wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch ein wenig finsterer. Val musterte die anderen Gäste. Plötzlich sah er Schwarzkralle, der sah ihn auch und winkte ihn aufgeregt zu sich.

"Der ganze Untergrund ist hier!", sagte Val erstaunt. Tatsächlich, da waren auch noch Zob, die Fürstin, Nox und noch ein paar andere.

"Wir bleiben hier." Blauregen hielt ihn am Kragen zurück. Er gab mit keinem Zeichen zu verstehen, dass er sie erkannte. Val starrte ihn an. Hatte es Streit gegeben?

Blauregen wich seinem Blick aus. Er hatte eine Hand um seinen Schwertgriff gelegt.

Plötzlich fiel ein Schatten von der Decke. Val wirbelte herum, Blauregen zog mit einem zischenden Geräusch das Schwert aus der Scheide. Penn stand auf dem Tresen und grinste sie an. Val schaute an ihm vorbei zur Decke. Dort prangte ein winziges quadratisches Loch, gerade mal so groß wie eine Küchenfliese, durch das man offenbar in eine Dachkammer gelangte oder wo auch immer Penn sich gerade aufgehalten haben mochte.

Blauregen beeilte sich, sein Schwert wegzustecken. Misstrauische Blicke ruhten auf ihm.

"Mein Gott, musst du dich so anschleichen!", fuhr er Penn an.

Wer ist hier schreckhaft?, dachte Val ironisch.

Der Anführer der Rebellen strahlte. "Das ging ja schnell", begrüßte er sie. "Val, hast du dich von deinem kleinen Abstecher erholt?"

Val nickte nur. Hatte sein jüngstes Abenteuer also bereits die Runde gemacht.

"Sehr schön, dann kann es ja gleich weitergehen!" Gut gelaunt schaute Penn sich in der Schänke um. Dass sie nicht gerade zahlreich besucht war, schien ihn nicht zu stören.

"Was hast du vor, Penn?", knurrte Blauregen.

"Sieh zu und lerne", gab Penn zurück. Er drehte sich zu den anderen Gästen um. Noch bevor er den Mund aufmachen konnte, trat der Wirt an ihn heran.

"Ja?", fragte Penn. Der Blick seiner violetten Augen traf den Mann. Val konnte sich noch gut erinnern, wie es war, zum ersten Mal ihrem Blick ausgesetzt zu sein. Daher wunderte es ihn nicht, dass der Wirt den Mund schloss und einen Schritt zurück machte. Schließlich entschied er sich dafür, leere Flaschen einzusammeln und in sein Hinterzimmer zu transportieren. Dann wäre er zumindest nicht zugegen, wenn irgendetwas Gesetzwidriges seinen Lauf nähme.

Penn tat, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Er stolzierte den Tresen bis an sein anderes Ende entlang, wobei die Absätze seiner roten Stiefel bei jedem Schritt laut klackerten. Er erhob die Stimme und das leise Murmeln im Gastraum erstarb augenblicklich. "Meine Mitstreiter, ihr seid herzlich willkommen! Ich freue mich, dass ihr so zahlreich meiner Einladung gefolgt seid!"

Val war skeptisch. Diese Versammlung war nichts im Vergleich mit der Masse an Soldaten, die in Adairs Gefolgschaft stand. Was hatte Penn nur vor?

"Wie laufen die Vorbereitungen in der Stadt? Habt ihr auch alle grüne und schwarze Girlanden aufgehängt zu Ehren unserer werten Regierung?"

Verhaltenes Knurren antwortete ihm. Mehr als einmal wurden Hände in den Taschen zu Fäusten geballt. Penn quittierte es mit einem zufriedenen Lächeln. Er drehte sich schwunghaft herum und sein Umhang peitschte einem der Gäste ins Gesicht. Bevor der sich darüber aufregen konnte, sprach Penn weiter: "Seid unbesorgt, liebe Freunde, die Herrschaft des Drachen neigt sich dem Ende zu. Noch vor Ablauf des Sommers wird die Stadt wieder in unserer Hand sein!"

Allgemeines Luftanhalten. Val mit eingeschlossen. Der Wirt, der leere Flaschen in eine Kiste stellte, hielt mitten in der Bewegung inne; er merkte nicht, wie ihm altes Bier auf die Schuhe tropfte.

"Was redest du denn da, Penn?", fragte jemand.

Val schaute Blauregen an. Der guckte weniger wütend drein als vielmehr belustigt. Er strich sich mit dem Zeigefinger übers Kinn und wartete.

Penn hatte noch ein Ass im Ärmel. "Noch am morgigen Tag werden wir den jungen Drachen entführen und damit Fauces' Macht über die Stadt brechen!"

Dröhnende Stille folgte. Jemand ließ sein Glas fallen. Blauregen lachte sich leise ins Fäustchen.

"Was soll das?", fragte einer der Männer. Es war Schwarzkralle. Unruhig rückte er auf seinem Stuhl herum und blickte Richtung Ausgang, wo gerade ein Trupp Soldaten vorbei patrouillierte. Schwarzkralle zog sich seinen Hut tiefer ins Gesicht. "Was redest du da? Wie sollten wir den Drachen entführen können?"

"Warum sollten wir das tun?", mischte sich jemand anders ein. Nox. Er war - wie immer eigentlich - wütend.

Vals Zorn auf ihn wuchs. Seinen Provokationsversuch vor ein paar Tagen hatte er nicht vergessen. Wer hatte den Kerl überhaupt eingeladen?

Penn schien unter den feindseligen Blicken nur zu wachsen. Seine Augen blitzten wie lilafarbene Diamanten. "Wir brauchen ihn. Besser gesagt, meine Freunde Val und Blauregen brauchen ihn." Er wies mit einer Handbewegung in ihre Richtung. Val schrak zusammen. Blauregen, der bisher immer höllisch darauf geachtet hatte, dass ihnen ja keine Aufmerksamkeit zu Teil wurde, störte sich nicht im Geringsten daran. Lässig aalte er sich in den Blicken.

Nox stand auf. Seine Schultern bebten. "Wir kennen deine Freunde nicht! Nichts als Ärger haben sie uns gebracht! Was nützen sie uns?"

"Ja, raus mit der Sprache!"

Die Fürstin sprach. Zum ersten Mal in Vals Gegenwart. "Penn, ich habe keine Lust auf eine weitere Narbe." Ihre Stimme hinterließ einen Geschmack von Honig und Schießpulver in der Luft.

Val wand sich unter den feindseligen Blicken und wusste nicht, wo er hinsehen sollte.

"Wie willst du den Drachen entführen?", fragte stattdessen Blauregen, so lässig, als erkundigte er sich nach dem Wetter von morgen.

Penn lächelte ihm kurz zu. "Danke für das Stichwort, Blauregen. Nun, hört gut zu und regt euch nicht auf. Die Entführung wird ein Kinderspiel. Den gefährlichen Teil, nämlich die Entführung an sich, werde ich selbst übernehmen. Die Talente einiger von euch werde ich individuell beanspruchen. Aber darauf komme ich noch zurück. Und vom Rest von euch erbitte ich nur eine kleine Sache: Ihr müsst Val schützen, nachdem er sein Ablenkungsmanöver gestartet hat."

Val verschluckte sich. Sein Ablenkungsmanöver? Wovon redete der Kerl überhaupt?

"Gar nichts werde ich tun!", polterte ein Rebell.

"Warum sollte ich mein Leben für diesen Knirps riskieren?"

"Verschwinden soll er aus unserer Stadt, so wie er hätte verschwinden sollen, gleich nachdem er einen Fuß herein gesetzt hat!", rief Nox. Er ergatterte Zustimmung unter den Rebellen.

Selbst Untergrundler wie Schwarzkralle, Zob und die Fürstin, die normalerweise alles, was Penn verschlug, unterstützten, schüttelten die Köpfe.

"Warum du dein Leben für ihn riskieren solltest, Trevor?", fragte Penn ruhig. "Ich werde dir zeigen, warum. Val, komm bitte mit mir nach draußen. Und wer folgen will, soll folgen!"

Beinahe die ganze Gesellschaft erhob sich, wenn auch widerwillig. Stühle rückten und Schuhsohlen kratzten über den Boden. Selbst der Wirt kam aus seinem Hinterzimmer geschlichen und folgte bis an die Türschwelle seines Lokals. Blauregen kaute nachdenklich an seiner Unterlippe. Val hatte aufgegeben, irgendetwas verstehen zu wollen.

"Du verschwendest unsere Zeit, Penn." Schwarzkralle nahm seinen Freund an der Schulter. "Lieber sollten wir den weiteren Ausbau des Lagers vornehmen."

Penn achtete nicht auf ihn. Er führte die Gruppe quer über den ganzen Platz. Es war der Platz der Tausend Tauben. Etwa in der Mitte blieb er stehen und deutete mit dem Zeigefinger senkrecht nach oben. Alle folgten seinem Blick, Val mit eingeschlossen. Über ihren Köpfen in einigen Metern Höhe waren große metallene Käfige angebracht, die eisernen Gitterstäbe schwarz angemalt. Val blickte weiter die Straße entlang. An beinahe jedem Häuserblock, im Abstand von ein paar Metern, an Seilen in der Luft aufgehängt, war ein weiterer dieser Käfige. Val hatte sie noch nie bewusst wahrgenommen, seit er in Alangium angekommen war und fragte sich, welchem Zweck sie wohl dienten.

Penn wandte sich an ihn. "Weißt du, was das ist, Val?", fragte er freundlich.

Der schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf. Nox ein paar Reihen hinter ihm schnaubte verächtlich, als wäre es Beweis unermesslich großer Dummheit, das nicht zu wissen. Vals Nacken wurde heiß.

"Das sind Lichtkäfige", erklärte Penn. "Früher konnte jeder Bürger seinen Lichtkäfig bei Einbruch der Nacht mit seinen eigenen Händen entzünden. Auch wenn er keine Magie beherrschte. Auch also wenn er ein Mensch war. Es ist nämlich das Licht des Löwen, ein Geschenk Ashers. Ein Funke seiner Kraft wohnt in einem jeden Bewohner Alangiums bis heute inne."

Val sah ihn an. Er verstand nicht, was er ihm damit sagen wollte.

"Warum erzählst du diese Legenden?", schnappte Trevor. "Sie haben keine Bedeutung mehr, Penn, nicht mehr heute, die Lichtkäfige sind seit hundertfünfzig Jahren schwarz!"

"Adair hat die Käfige mit einem Bann belegt", übertönte Penn seine Stimme. "Niemand kann sie mehr entfachen, er hat uns die Magie geraubt. Sieh."

Er führte eine schlängelnde Bewegung mit den Händen aus und rote Funken stoben zwischen seinen Handflächen hervor, sodass Val schon dachte, es hätte geklappt - aber nichts weiter passierte. Die Magie hatte nicht funktioniert, die Käfige über ihren Köpfen blieben schwarz und dunkel. Die Rebellen, die seinen Worten mit Spannung gefolgt waren, schlugen bitter die Augen nieder. Ihr Unmut wuchs; Val war sich sicher, lange würden sie nicht mehr bleiben.

"Probier du es, Val", sagte Penn.

"Aber warum?" Vals Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

"Weil du der Rote Löwe bist."

Eine Bewegung ging durch die Menge. Blauregen zuckte kurz mit der Hand, dann war er wieder ganz der Alte. Die Blicke aller richteten sich auf Val. Die Stimme der Fürstin durchschnitt die Stille: "Was soll das?"

Die anderen tuschelten verwirrt miteinander, machten ihrem Unmut auf ähnliche Weise Luft.

"Er ist doch nur ein kleiner Junge, Penn", sagte eine Frau. "Er hat die Soldaten nicht einmal bekämpft."

Vals Wangen brannten. Er wünschte sich, ein Loch im Boden würde sich auftun und ihn diesen bösen Blicken entziehen. Warum tat Penn ihm das an? Warum machte er ihn so gnadenlos zum Gespött des Untergrunds?

Einen Moment lang dachte er darüber nach, sich zu weigern. Er wollte sich die Blamage ersparen, wenn Penn herausfand, dass er keine Magie beherrschte. Das hatte er offenbar vergessen oder niemand hatte es ihm gesagt. Aber dann gab er sich einen Ruck. Es war das mindeste, was er für diese Leute und für Penn tun konnte. Außerdem hatte er einen Eid geschworen.

Val seufzte und hob seinen Blick zum Lampion über ihm, wohl wissend, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren.

"Das bringt doch nichts", sagte jemand.

"Reine Zeitverschwendung."

Aber trotzdem es nichts brachte und sie ihre Zeit verschwendeten, blieben sie.

Val bat Penn nicht, die Bewegung zu wiederholen, sie hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er hob die Hand - Blauregens Körper neben ihm war mit einem Mal gespannt wie eine gezogene Bogensehne. Val atmete tief durch, dann fuhr er mit den Fingern die schlangenförmige Linie nach unten. Er rechnete fest damit, dass nichts passierte.

Aber schon im ersten Sekundenbruchteil spürte er, dass etwas anders war. Anstatt dem süßen Nichts, das er sonst immer spürte, wenn er eine von Leons Bewegungen nachahmte, in der Hoffnung, endlich einmal nicht vorhandene Magie in sich zu wecken, spürte er diesmal ein Kribbeln.

Seine Finger wurden heiß, wo sie durch die Luft glitten und ein Feuer durchfuhr seinen Körper vom Kopf bis in die Zehenspitzen. Bevor er wusste, was ihm geschah, bevor das entsetzte Keuchen der Rebellen und Penns leises Lachen an seine Ohren drang, brach eine gewaltige Flamme zwischen seinen Händen hervor, fand ihren Weg die Hausmauer entlang in die Höhe und steckte den Käfig über ihm in Flammen. Wie ein Leuchtfeuer erhellte es die stockfinstere Nacht, tauchte die Straße und Vals verblüfftes Gesicht in hellrotes Licht.

Val sah, wie andere Leute auf den Straßen ihre Köpfe wandten, stehen blieben und ehrfürchtig zum Himmel starrten. Fenster öffneten sich, Menschen streckten die Köpfe aus ihren Häusern. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen. Val selbst war wie erstarrt. Sein Blick blieb an dem Feuer hängen, das er gerade erzeugt hatte und er konnte sich nicht rühren, so verblüfft war er. Er hatte Magie gewirkt. Durch seine eigenen Hände hatte er Magie gewirkt. Entsetzt starrte er auf seine Finger, die nicht anders wirkten als sonst auch. Klein, schmächtig, sonnengebräunt und nun zitterten sie auch noch. War er vielleicht doch nicht so nutzlos, wie alle gesagt hatten? Die Hoffnung war so groß, es war unerträglich.

Noch bevor er sich von diesem ersten Schock erholt hatte, passierte erneut etwas. Die Flamme in ihrem Käfig zischte plötzlich wie von kaltem Wasser getroffen, stob noch einmal in die Höhe und teilte sich in der Mitte entzwei. Der kleinere, hellere Teil trennte sich von der ursprünglichen Flamme. Er sprang geradewegs durch die Luft, mehrere Meter auf einmal nehmend die Straße entlang. Dort traf er den nächsten Käfig, steckte auch ihn in Flammen, wie sie es schon bei dem ersten getan hatte. Einen Moment lang flackerte er dort auf der Stelle, dann passierte dasselbe noch einmal. Ein Teil des Feuers spaltete sich ab, stob in die Höhe und sprang dann weiter zum nächsten Käfig. Dies geschah ein drittes, ein viertes und ein fünftes Mal, so oft, bis die gesamte Straße erleuchtet war. Val wusste, dass sie nicht aufhören würde, bis die ganze Stadt in Flammen stand.

Der Junge drehte sich zu Penn um, sprachlos.

Penn schaute ihn an und die Freude, die er fühlte, brachte seine Gesichtszüge noch heller zum Leuchten als das Feuer über ihnen. "Das ist es, was sie brauchen, Val", wisperte er. "Gib ihnen Hoffnung!"

 

In einem Zustand, der sehr an übertriebenen Alkoholgenuss erinnerte, stolperte Val zurück zum Lager. Es war unglaublich, was ihm in den letzten vierundzwanzig Stunden widerfahren war. Er hatte den Palast gestürmt, das grüne Feuer gesehen, war Adair begegnet und hatte ihn sogar bekämpft. Gut, besiegt hatte ihn dann Blauregen. Er war verletzt und wieder geheilt worden. Und nun hatte er ein Feuer entfacht, Löwenfeuer, Ashers Magie, die vor allem eins bewirkte: sie ließ die unterdrückten Bewohner der Stadt Hoffnung schöpfen.

Plötzlich fiel sein Blick auf etwas, das seiner Aufregung einen mächtigen Dämpfer verpasste. Auf einem Pfosten, der für gewöhnlich zum Anbinden von Eseln gedacht war, thronte ein Falke und starrte ihn an. Nicht irgendein Falke. Er hatte ihn schon mal gesehen, an dem Tag, als die Kirmes in der Stadt Einzug gehalten hatte.

"Der schon wieder!", rief Val ungläubig.

"Hm?"

Eine Traube Menschen zog vorbei; als sie das Blickfeld wieder frei gab, war der Pfosten leer.

"Das gibt's doch nicht!"

"Was ist denn los, Val?" Blauregen schaute ihn beunruhigt an.

"Der … der Falke! Ich hab ihn schon mal gesehen! Er verfolgt mich-"

"Was redest du denn da? Wir haben heute schon einmal einen Falken gesehen, erinnerst du dich? Er hat mir Penns Brief überbracht, da hast du dich doch auch nicht so aufgeregt."

"Das war ja auch nicht der Falke!"

Aber Blauregens Befremden hielt ihn davon ab, Näheres zu erläutern. Wer weiß, vielleicht bildete er sich das wirklich alles ein. Ein paar Mal noch blickte er über die Schulter, aber er sah weder Falke, noch Taube, oder sonst irgendeinen Vogel.

Er schüttelte den Kopf, als könnte er den Verfolgungswahn auf diese Weise abschütteln. Leonhard und Blauregen hatten recht: Alangium wimmelte von Falken, da war es nur natürlich, dass man hin und wieder einem Exemplar begegnete. Wahrscheinlich war es nicht mal dasselbe Tier gewesen, das er gesehen hatte.

"Warum hast du das alles geschehen lassen?", fragte er Blauregen, als sie sicher in ihrem Dachfirst saßen. Er wollte sich auf andere Gedanken bringen. "Dass Penn allen sagt, wer ich bin. Vor ein paar Tagen hättest du das niemals erlaubt."

Accasia , die inzwischen wieder aufgewacht war, auf dem Weg der Besserung, würdigte sie keines Blickes. Blauregens zärtliche Krankenpflege hatte nichts an ihrer Abneigung ihm gegenüber geändert. Val gab es auf, ihre Beziehung verstehen zu wollen.

Blauregen lehnte sich neben ihn auf den Strohsack und schmunzelte. "Aus dem einen Grund, den Penn ganz genau vorhergesehen hat. Adair hat uns beide kennengelernt. Er weiß, dass einer von uns beiden der Löwe ist, wenn er auch fälschlicherweise mich dafür hält. Es dauert vielleicht noch ein, zwei Wochen, dann hat er uns erwischt."

"Glaubst du wirklich?", fragte Val erschrocken.

"Du siehst doch, was mit dem Lager passiert ist. Dazu hat er noch die Steckbriefe … und verdammt er ist Adair! Und deshalb müssen wir nun Initiative ergreifen. In spätestens drei Wochen steht ohnehin Fauces vor der Tür. Alles andere wäre es mir lieber, aber es gilt nun, alle Vorsicht abzulegen und möglichst schnell den Drachen einzufangen. Ich weiß nur eins: Wenn überhaupt, dann schaffen wir es nur mit Penns Hilfe."

Val versank in Schweigen.

Die anderen Untergrundler kamen im Lager an, stürzten sich auf ihn und feierten ihn wie einen Helden.

"Du bist ihm davongelaufen? Du bist Adair davongelaufen?", brüllte Schwarzkralle freudig und schlug ihm so heftig auf den Rücken, dass er in die Knie ging.

"Du bist der Rote Löwe, Val!"

"Du bist ein Held!"

"Blauregen hat mich gerettet", keuchte Val. "Er hat gegen ihn gekämpft."

Die Aufmerksamkeit richtete sich auf Blauregen, der genervt das Gesicht verzog. "Warum weiß schon wieder jeder davon? Ich hab das nicht herumerzählt."

"Ich hab's gewusst, Val", flüsterte Zob und strahlte ihn an. "Ich hab's von Anfang an gewusst, dass du es bist."

"Was hab ich nun schon wieder verpasst?", ärgerte sich Leonhard, der gerade erst aufgestanden war. Ärgerlich rieb er sich die Augen.

"Wenn ich nicht wüsste, dass die Reden schon vor deinem Auftauchen begonnen haben, würde ich ja behaupten, du wärst der Rächer", sagte Penn leise zu Blauregen.

Val drehte sich um. "Der Rächer? Wer ist denn das?"

"Du kennst ihn nicht?" Penn schaute ihn an, die Arme verschränkt. "Nun, zumindest nennt er sich so. Ein verkleideter Typ mit Maske, der die Leute aufhetzt und sie zu einem Aufstand bewegen will. Er bestiehlt die Reichen dieser Stadt und gibt den Armen. Bei Adair soll er einmal ins Zimmer eingebrochen sein und ein Heidenchaos veranstaltet haben. Ich habe gehört, papierfressende Maden sollen im Spiel gewesen sein."

"Ein Rächer", sagte Val nachdenklich. Er richtete seinen forschenden Blick auf Penn. "Das klingt ganz nach dir!"

Aber er schüttelte den Kopf. "Verkleidung, das ist nicht mein Stil, Val. Er hat sich schon vorgestellt bei mir." Nachdenklich zog er mit den Fingern Kreise. Die Luft flirrte und wirbelte, immer schneller, bis ein Strudel entstand. In seinen Tiefen sah Val Bilder. Interessiert beugte er sich vor. Da war ein schwarzgekleideter Mann mit Maske, ein Umhang flatterte von seinen Schultern, an seinen Fingern blitzten Ringe. Er war zu groß für Penn; Blauregen dagegen hatte dieselbe Statur.

"Er wollte, dass wir uns verbünden. Untergrund und Rächer. Ich habe nein gesagt."

"Warum?"

"Ich traue ihm nicht. Vielleicht ist er ja ein Doppelagent, von Adair geschickt, um uns auszuspionieren. Ich weiß nur eins: Ich verbünde mich niemals mit einem Mann, dessen Gesicht ich nicht sehen kann."

Val fand das einleuchtend.

Penn sah sich um. Die Untergrundler waren in Feierlaune, bejubelten die Ankunft des Löwen und freuten sich auf die für morgen geplante Entführung. Er zog Val ein Stück zur Seite, wo niemand sie hören konnte. "Ich wollte ohnehin noch mit dir sprechen, Val. Ich habe etwas, das ich dir geben möchte."

"Was denn?"

"Rosenfeld möchte auch, dass du es bekommst. Er hat es mir geschickt."

"Rosenfeld?"

Plötzlich sank Penn auf die Knie. Er holte einen in Tuch eingeschlagenen Gegenstand aus seiner Manteltasche.

"Was ist das?", fragte Val und beugte sich ein wenig nach vorn.

Penn schlug das Tuch zurück. Ein kleiner Dolch mit schmaler Klinge kam zum Vorschein. Sein Griff war leuchtend tiefblau wie der Nachthimmel über ihnen.

"Ein Dolch", sagte Val überrascht.

"Er gehörte Asher, dem Roten Löwen vor dir", sagte Penn. "Er ist dir seit langem bestimmt. Du musst lernen, gut damit umzugehen."

"Woher hatte-?"

"Das tut nichts zur Sache."

"Was soll ich damit-?"

"Später, Val."

Der Junge fuhr mit den Fingern vorsichtig über die Schneide - sie fühlte sich kalt an, kälter als normales Eisen - und umschloss dann den Griff der Waffe. Sie lag ihm gut in der Hand, hatte genau das richtige Gewicht. Val schluckte. Wenn er ihn annahm, hieß das, er wäre bereit zu kämpfen.

"Ich werde gut darauf aufpassen", sagte er und besiegelte damit den Pakt.

 

 

*

 

"Herr, das Feuer … es hat sich über die ganze Stadt ausgebreitet …"

"DAS WEISS ICH!" Adair sprang auf und Blitze stoben aus seinen Fingerspitzen. Der Bote warf sich mit einem Schrei zur Seite und rollte die Steintreppen herab, die zum Thron führten. Unten angekommen kämpfte er sich eiligst auf die Füße und ergriff die Flucht. Adair ließ ihn ziehen.

"Ich nehme es nicht hin! Ich nehme das Feuer nicht hin!" Adair stand vor der spiegelnden Glasfront des Palastes. Egal, wohin er blickte, jeder Winkel seiner wunderschönen Stadt stand in einem Meer aus Flammen. Und seine Herrschaft nur mehr auf tönernen Füßen.

Seine Brust hob und senkte sich sehr schnell. Sein Sinn, der schon so viel Übles und Böses auf der Welt erschaffen hatte, arbeitete auf Hochtouren. Schließlich hatte er eine Idee; er beruhigte sich wieder.

"Der Löwe hat einen Fehler gemacht", sagte er leise. "Etwas hat er nicht bedacht. Und dafür wird er bezahlen."

Er wandte sich an die Wachen zu beiden Seiten der Torflügel. Wenn sie Angst vor seinem Zorn hatten, ließen sie es sich hinter ihren eisernen Masken nicht anerkennen.

"Holt mir den Drachen", befahl Adair.

Es dauerte nicht lang, bis sie seinen Auftrag erfüllt hatten. Adair saß gebieterisch in seinem Thron, beide Ellbogen auf den Armlehnen abgestützt, als sich die Tür öffnete. Ein sehr kleiner, sehr blasser Junge trat herein. Adair selbst hielt ihn für so unwichtig wie eine Ratte. Unglaublich, dass Zierkies einen solchen Narren an ihm gefressen hatte.

"Ihr habt gerufen, Herr." Eins musste man ihm lassen: obwohl er klein, nichtig und nicht vollblütig war, zitterte seine Stimme nicht. Der Drache hatte niemals Angst, vor niemandem.

"Ja, Drache", schnarrte Adair. "Weißt du, was das hier ist?" In der Luft, vor dem blassen kleinen Gesicht des Jungen drehte sich eine sanft geschwungene rote Feder um die eigene Achse.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.03.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Lukas Wagner, der mein kaltes Herz zuallererst mit Liebe füllte und Flo Feldmeier, weil er mich ansieht, als wäre ich Magie

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