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Nennt mich Ray. Nur Ray, kein Nachname.
Als ich ungefähr vierzehn war, kam ein Mann aus unserem Viertel, den ich vom Sehen kannte, drückte mir eine Knarre in die Hand und fragte, ob ich Lust hätte, einen Job zu erledigen. „Na klar“, sagte ich, „worum geht’s denn?“
Der Typ war ein Makkaroni – groß, dünn, grauhaarig. Sah ein bisschen aus wie dieser Schauspieler. Ich glaube, der Name ist Joseph Calleia. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug mit Fischgrätenmuster, blank polierte zweifarbige Schuhe und einen grauen Filzhut, der weich und teuer aussah. Er nahm meinen Arm und zog mich von der Straße weg in eine Nische.
„Was denkst du, worum’s geht?“
„Ich soll einen umlegen“, antwortete ich.
Der Mann nickte und ein dünnes Lächeln erschien. „Gut, Junge, du bist smart. Das ist wichtig. Kannst du mit ’ner Knarre umgehen?“
Klar konnte ich. Mein Vater hatte mir das gezeigt, noch bevor ich lernte, die Schnürsenkel zu binden. Er sagte, dies ist Amerika, mein Sohn, und hier haben wir das Recht, uns selbst und unser Heim zu verteidigen. Ein paar Jahre später torkelte er sternhagelvoll aus einem Speakeasy und entschloss sich, auf den nahe gelegenen Bahngeleisen ein Nickerchen zu machen. Das, was von ihm noch übrig war, schickten die Bullen in einer Tüte. Die Pistole hat er mir hinterlassen. Viel mehr war auch nicht da.
An dem Tag, an dem der Makkaroni mir die Knarre in die Hand drückte, war ich auf Arbeitssuche. Ich hatte in meinen jungen Jahren schon eine Menge ausprobiert: Leichenwäscher, Chorknabe, Ladendieb, Packer, Drücker, Pusher, Rausschmeißer in einem Strip-Lokal und Friseur. Leben heißt Lernen, sagt man. Umgelegt hatte ich allerdings noch niemand.
„Kennst du das gelbe Haus in der MacDougall-Street? Ich meine das neben der Wäscherei von Lu Jun.“
Ich nickte.
„Du gehst in das Haus. Der Eingang ist nicht verriegelt, weil das Schloss kaputt ist. Du steigst die Treppen hoch bis in den zweiten Stock. Linkerhand befindet sich eine blaue Tür. Die Farbe ist schon ziemlich abgeblättert. Es steht kein Name dran. Du klingelst und hebst die Waffe in Augenhöhe. Mit beiden Händen – das ist wichtig, verstehst du? Und denk dran vorher zu entsichern. Ansonsten könntest du da mit ’ner Banane stehen. Das hätte die gleiche Wirkung.“
Ich nickte.
„Sobald die Tür aufgemacht wird, drückst du ab. Nichts sagen, nichts fragen – Peng! Einmal schießen und erledigt. Bleib ganz ruhig. Mach dir keine Sorgen um die Nachbarn. Die werden es nicht wagen, dich aufzuhalten. Sobald du aus der Haustür bist, wirf die Knarre in den Gully. Dann gehst du weiter. Ganz entspannt. So, als wäre überhaupt nichts passiert. Kapiert, Junge?“
Ich nickte. „Was ist, wenn der Falsche aufmacht?“
Der Makkaroni sah mich an und pfiff durch die Zähne. „Schlaues Bürschchen. Du stellst die richtigen Fragen. – Völlig egal, ob der Falsche aufmacht. Du schießt in jedem Fall. Und wenn’s deine eigene Mutter wäre. Aber mach dir keine Sorgen. Es wird nicht der Falsche aufmachen. Bestimmt nicht.“
Ich nickte. „Was bekomm ich dafür?“
Der Makkaroni grinste so breit, als ob ich ’ne Blondine auf Bowlingtour wäre. Er strich mir über den Scheitel und zwickte mich ins Ohr. „Hab ich doch recht gehabt. Du hast was aufm Kasten. Der Boss war nicht überzeugt, aber ich hab gesagt, geb’ dem Jungen `ne Chance. Der hat so was in den Augen, so was Eiskaltes. Da täusche ich mich nicht.“
Er fasste in die Hosentasche und zauberte ein dickes Bündel Banknoten hervor. Er zückte einen Schein, er zückte zwei Scheine, er hielt inne, er dachte nach, er sprach ein Gebet für seine ledige Mutter, er zückte drei Scheine und hielt sie mir aufmunternd vor die Nase. „Hier, nimm.“
Ich nahm sie nicht. „Vier“, sagte ich. “Vier, und wir kommen ins Geschäft.“
Der Makkaroni lachte sich rund. „Na du“, prustete er, „na du bist mir einer. Du bist mir einer von den Richtigen. Vier Scheine? Dann kann ich den Job ja selber machen.“
Ich schüttelte den Kopf. „Wenn Sie das könnten, Mister, dann täten Sie mich nicht brauchen. Vier Scheine. Ich hab ´ne verwitwete Mutter und drei minderjärje Schwestern!“
Er nickte, als ob das ausschlaggebend wäre, und zückte einen weiteren Schein. „Wenn du Scheiße baust, verpass ich dir ´ne Kugel.“ Er schien zu glauben, dass mich das beeindrucken würde.
„Ich bau keinen Scheiß“, sagte ich, verstaute die Kohle in der Jackentasche und die Knarre im Hosenbund, so dass sie von meinem Hemd bedeckt wurde. „Bekomm ich in Zukunft mehr Aufträge?“
Der Makkaroni musterte mich, als ob ich ein Rennpferd wäre, von dem er nicht wusste, ob es sich lohnte, darauf zu setzen. „Abwarten. Vielleicht ja, vielleicht nein. Hängt davon ab, wie gut du das hin bekommst.“ Er fummelte einen Zettel aus der Jackentasche und kritzelte eine Telefonnummer.
„Hier. Ruf mich an, wenn alles erledigt ist.“
„Okay“, sagte ich, dreht mich um und ging fort.

Es war alles so, wie er gesagt hatte. Gelbes Haus in der MacDougall-Street, Schloss kaputt, Treppe hoch, linkerhand blaue Tür, Farbe abgeblättert, kein Name dran. Ich stand einen Moment reglos und versuchte, meine Atmung zu beruhigen. Dann zog ich mit der Rechten die Knarre aus dem Hosenbund, drückte mit der Linken auf den Klingelknopf, entsicherte, packte den Kolben mit beiden Händen, zielte etwas über Augenhöhe und wartete darauf, dass jemand erschien. Zwei, drei Minuten tat sich gar nichts. Dann hörte ich schwerfällige Schritte, trockenen Husten und Schniefen. Jemand klimperte mit einem Schlüsselbund. Die Tür wurde geöffnet.
„Hallo“, sagte der Mann und blickte in den Lauf der Knarre als wär’s ein Eis am Stiel. „Ich hab dich erwartet.“
„Was?“, krächzte ich– und das war ein Fehler. Die Goldene Regel lautet nämlich: Niemals, unter keinen Umständen, mit dem Scheiß-Ziel reden! Streng verboten! Aber der alte Knabe brachte mich so aus dem Konzept, dass ich glatt vergaß, den Abzug zu betätigen.
Ich persönlich fand ja nicht, dass er aussah, wie jemand, der den Tod verdiente. Andererseits wurde ich nicht dafür bezahlt, das zu beurteilen. Er war mittelgroß, ein Mann um die Sechzig mit grau-blonden Haaren, die oben rum schon ziemlich licht waren. Er trug ausgelatschte Filzpantoffel, eine graue Cordhose, ein verwaschenes blaues Jeanshemd und eine zu kurz gebundene Krawatte aus roter Wolle. Sein Gesicht mit der dünnen, sichelförmig gebogenen Nase und den lebhaften grünen Augen erinnerte an einen Raubvogel - einen sympathischen Raubvogel.
„Komm rein“, forderte er mich auf und trat zur Seite. „Oder willst du warten, bis jemand die Bullen holt?“
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Hätte ich im richtigen Moment abgedrückt, wäre die Sache erledigt gewesen. Jetzt saß ich in der Klemme. Ich war erst vierzehn. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Also tat ich das Naheliegende. Ich folgte seiner Aufforderung und trat mit ausgestreckter Waffe in die Wohnung. Er schloss die Tür und stellte sich so, dass ich ihn im Auge hatte.
„Bleib ruhig, Jungchen“, sagte er, dabei selbst völlig unaufgeregt. „Es gibt keinen Grund, nervös zu werden. Hier, siehst du? Ich hebe die Hände. Keine Knarre, kein Messer, keine Handgranaten. Alles sauber.“
Ich nickte, um zu signalisieren, dass ich das auch so sah. Meine Hände schwitzten und ich begann zu zittern. Wir standen uns gegenüber wie zwei komplette Deppen: der Mann, dessen Tod bestellt war, und der Junge, den man damit beauftragt hatte, ihn zu liefern. Es war eigentlich nichts Komisches daran, trotzdem musste ich grinsen. Der Alte sah es und grinste ebenfalls.
„Scheint so, als steckten wir beide in der Klemme“, sagte er.
„Scheint so“, bestätigte ich.
Der alte Mann – sein Name war James, wie ich später erfuhr -, machte eine halbe Drehung mit dem Oberkörper und deutete mit dem Daumen in das hinter ihm liegende Zimmer. „Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich könnte einen Schluck vertragen.“
Ich stand da und versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Abdrücken, nicht abdrücken? Einfach gehen und so tun, als sei nichts geschehen? Ich dachte an den Makkaroni, der bestimmt keinen Sinn für Humor hatte.
„Vielleicht trinkst du ja noch nicht? Siehst mir ganz schön jung aus.“
Ich schnaubte verächtlich und wedelte mit der Knarre in seine Richtung. „Klar trink ich. Geh’n Sie vor – und keine Fisimatenten, ja?“
James nickte, drehte sich um und trat vor mir in ein kleines, mit Büchern und Papieren vollgestopftes Arbeitszimmer, dessen Zentrum von einem klapprigen Schreibtisch beherrscht wurde. Er trat an die mobile Hausbar neben dem Fenster, öffnete sie, nahm eine Flasche und zwei Gläser und setzte sich auf ein durchgewetztes Sofa, direkt unter die gerahmten Photographie eines Mannes mit wirren Haaren und Vollbart, der mich höhnisch anzugrinsen schien. James bemerkte meinen Blick, drehte sich um, als müsse er sich vergewissern, was es dort interessantes zu sehen gäbe und bedeutete mir dann, ihm gegenüber auf einem wurmstichigen Drehstuhl Platz zu nehmen.
„Karl Marx“, sagte er. „Ein deutscher Philosoph und Ökonom. – Ist Scotch ok?“
Ich nickte, bewegte mich aber nicht von der Stelle.
Der alte Mann goss zwei Fingerbreit in jedes Glas und stellte meins auf die Schreibtischkante. Dann lehnte er sich zurück und schüttelte mäßig amüsiert den Kopf. „Dich also haben sie geschickt“, murmelte er, als wäre ich sein Sohn Brutus oder so. „Ein halbes Kind…“
Ich nahm mein Glas und kippte die Flüssigkeit runter. Meine Kehle brannte höllisch, aber ich ließ mir nichts anmerken. Eine Weile schwiegen wir. Ich stand einfach da, die Knarre locker im Anschlag, und sah mich im Zimmer um; er saß da, das Glas in der Hand auf dem Knie, und schien angestrengt nachzudenken.
„Was machen wir jetzt? Willst du mir gleich ’ne Kugel verpassen, oder möchtest du reden?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Weißt du, wer dich geschickt hat?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Weißt du, wer ich bin und warum ich sterben soll?“
Ich schwieg.
„Meinst du nicht, dass du kein Recht hast, wahllos zu töten? Interessiert dich nicht der Grund?“
Ich zückte mit der freien Hand die Geldscheine und hielt sie so, dass er sie bestaunen konnte. „Vier gute Gründe!“
Er blickte auf die Kohle, er blickte auf mich, er schüttelte den Kopf und ein Ausdruck grenzenloser Verblüffung trat auf sein Gesicht. „Eine Handvoll Silberlinge, und ein Judas, dem noch nicht mal ein richtiger Bart wächst. Mit mir geht’s bergab.“
Die Waffe, die ich die ganze Zeit auf ihn gerichtet hielt, wurde immer schwerer, also legte ich sie in die andere Hand.
„Pack deine Pistole ruhig da auf den Schreibtisch. Ich bin ein alter Mann. Selbst, wenn ich so dumm wäre, nach ihr zu greifen, hätte ich doch keine Chance gegen dich. Gegen deine Jugend, mein ich.“
Das klang logisch, also tat ich es, ließ meine Fingerspitzen aber direkt neben dem Griff ruhen.
„Mein Name ist Brown. James Brown. Manche nennen mich ,die Feder’. Andere geben mir andere Namen. Ich bin ein Mann des Wortes. Weißt du, was das ist?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ein alter Zeilenschinder. Hab dreißig Jahre gegen die Mächtigen da oben angeschrieben, letztlich ohne Erfolg. Auf den Teufel. Möge der liebe Gott ihm seine Gesundheit erhalten.“ Er hob das Glas und trank.
„Ich gehe nicht davon aus, dass du etwas von Politik verstehst, Junge.“
Ich wusste nicht, ob das eine Frage war, und wenn, dann hatte ich keine Antwort darauf. Also hielt ich den Mund.
„Schon mal von Buck Kane gehört? Nein? Er ist der Boss der Transportarbeitergewerkschaft. Ein Mann, gebaut wie eine Dampflokomotive und mindestens genauso hart. Wenn hier jemand ein Problem hat, dann geht er zu Buck, denn Buck, darauf legt er Wert, ist der wahre Rächer der Enterbten. Ein Sohn des einfachen Volkes. Nicht, dass er diesen Zustand, ich meine den mit dem einfachen Volk, nicht schon lange hinter sich gelassen hätte. Er residiert in einem Haus mit zwei Dutzend Zimmern oben auf dem Hügel. Er hat vier Automobile, einen Chauffeur, einen Gärtner, ein Zimmermädchen, eine Köchin und ein halbes Dutzend Schläger, die jedem die Grütze aus dem Leib prügeln, der Buck in die Quere kommt. Doch das spielt keine Rolle. Buck kämpft für die Sache der Arbeiter, und seine Botschaft lautet: Seht her, wenn ich es für mich geschafft habe, dann schaffe ich das für jeden einzelnen von euch auch. Und die Leute glauben ihm. Denn Buck ist ehrlich. So authentisch wie ein ungedeckter Scheck.“
An dieser Stelle überkam ihn ein Hustenanfall. Er fischte eine Selbstgedrehte aus der Brusttasche des Hemdes, steckte sie zwischen die Lippen und gab sich mit einem Streichholz Feuer. Dann lehnte er den Kopf an die Wand, schloss die Augen halb und ließ den Rauch durch die Nasenlöcher strömen.
„Natürlich ist das nur die halbe Wahrheit. Im Wirtschaftskreislauf ist der schnelle Umschlag einer Ware von existentieller Bedeutung. Stell dir vor, du bist Besitzer einer Fabrik, die, sagen wir mal, Butter herstellt. Butter ist nicht ewig haltbar. Sie ist sogar nur relativ kurze Zeit frisch. Dein oberstes Prinzip muss lauten, die Butter so schnell wie möglich von deiner Fabrik in die Geschäfte zu transportieren, wo sie verkauft wird. Klingt logisch, nicht wahr. Doch vielleicht hast du bei deiner Kalkulation einen Posten außer Acht gelassen. Ich meine Buck. Er ist Chef der Transportarbeitergewerkschaft. Er kann geben und er kann nehmen. Und das eine darf ich dir verraten: Seiner Natur entspricht es, erst zu nehmen und dann zu geben.“
„Warum erzählen Sie mir das?“
„Warum? Na, damit du ein bisschen Verstand in deinen irischen Backstein-Schädel bekommst. Du lässt dich für eine Bande von Halsabschneidern zum Mörder machen und hast noch nicht einmal versucht, mit deinem Leben anzufangen. – Willst du jetzt die Geschichte hören, oder nicht?“
„Von mir aus.“
„Gut, dann halt die Klappe und hör zu. Buck Kane ist nicht der leibhaftige Teufel, aber er kommt dem, was man sich darunter vorstellen muss, doch ziemlich nah. Er war sechzehn als er einem Bullen bei einem wilden Streik sein Messer in die Nieren rammte. Der Bulle hat überlebt, aber die Sache hätte Buck mindestens dreißig Jahre gekostet. Wie es der Zufall so wollte, gab es da einen ziemlich mächtigen italienischen Geschäftsmann, der auf den Jungen aufmerksam wurde. Ich nenne den Namen nicht, aber ich glaube, du weißt, von wem ich spreche. Dieser Gentlemen dachte sich, der kleine Kläffer hat was. Den kann ich mir so erziehen, dass er später einmal nützlich für mich sein wird. Also besorgte er Buck den besten Rechtsverdreher, den man für Geld am Straßenrand kaufen kann, schmierte hier ein paar Geschworene, ließ dort einen anderen zum Krüppel schlagen und machte dem Richter ein Angebot, das der beim besten Willen nicht ablehnen konnte. Kurz und gut: Buck, genannt ,Bucky der Haifisch’, wurde mangels Beweisen freigesprochen. Nicht mal der gepiekte Bulle konnte sich bei der Verhandlung an das Gesicht des Täters erinnern. Danach allerdings knackte er das große Los und verschwand auf Nimmerwiedersehen hinter dem Regenbogen.“
Er hielt inne und sah mich an, als erwarte er eine Reaktion. Ich zuckte mit den Schultern.
„Buck hatte einen Freund mit dem er Tür an Tür aufgewachsen war. Nennen wir ihn Brownie. Gemeinsam hatten die Beiden in der Gewerkschaft angefangen. Sie waren jung, sie waren voller Ideale, sie wollten die Welt zu einem besseren Ort für die einfachen Leute machen. Überall in diesem wunderschönen Land gibt es Heere von Lohnsklaven, die nicht mal genug verdienen, um ihre Familien über die Runden zu bringen. Sie haben zwei, drei Jobs, sie arbeiten Tag und Nacht, sie glauben an die Lügen, die ihnen die Wallstreet-Lords und die Politiker in Washington auftischen. Trotzdem reicht es hinten und vorne nicht. Brownie war ein ziemlich belesener Typ. Karl Marx, Hegel, Kant – die ganze Bibliothek rauf und runter. Buck war eher der Mann mit den Fäusten. Die graue Theorie war nicht sein Ding. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, ergänzten sich die Beiden. Dann kam die Sache mit dem Streik. Buck konnten sie nichts ans Leder, aber damit es dazu kam, musste er einen Pakt schließen. Und das wollte Brownie nicht akzeptieren.“
„Brownie, das sind Sie, oder?“
„Genau, Junge. Brownie, das bin ich und Buck Kane, das war mein bester Freund, mein Genosse. Ich habe erleben müssen, wie er seine Seele verkauft hat. Sehr schnell stieg er in der Hierarchie der Gewerkschaft auf. Altgediente Kollegen, Männer, die zwanzig, dreißig Jahre Basisarbeit auf dem Buckel hatten, wurden von ihm verdrängt und ins Abseits gestellt. Ein paar verschwanden. Niemand fragte, wo sie geblieben waren. Zumindest nicht laut. Buck war der neue Star am Himmel. Er sagte zu mir: Komm mit, Brownie, wir beide erobern die Welt. Ich sagte: Nein! Ich wollte ihn überzeugen, von dem Zug, auf dem er fuhr, abzuspringen, aber er lachte nur und sagte, mit legalen Mitteln sei die Sache nicht zu gewinnen. So habe ich mich entschlossen, die Organisation zu verlassen. Ich heuerte bei einer kleinen Zeitung an. Ich begann zu schreiben. Ich war jung und voller Ideale. Ich wollte gegen die Bonzen kämpfen, gegen die korrupten Schweine auf Seiten des Staates und gegen die Saubermänner, die ihre Geschäfte im Dunkeln betreiben. Sehr bald musste ich erkennen, dass das ein aussichtsloser Kampf ist. Nicht zu gewinnen.“
Das Telefon klingelte. Brownie schreckte hoch und sah aus, als wäre ihm eine Laus über die Leber gelaufen.
„Woll’n Sie nich’ rangeh’n, Mister?“
Er lächelte böse. „Das sind deine Auftraggeber. Die wollen wissen, ob du deinen Job erledigt hast. Wenn ich jetzt rangehe, bist du genauso tot wie ich.“
Das Telefon verstummte.
„Gut. Nach meiner Schätzung haben wir zwanzig Minuten, bevor das Rollkommando auftaucht. Zeit genug, die Geschichte mit einem Ende zu versehen. Zeit genug, einen kleinen Straßenköter vor einer großen Dummheit zu bewahren.“
„Ich hoffe, Sie sprechen nich’ von mir, Mister.“
„Doch, genau, von dir spreche ich!“
Wie durch Magie war die Knarre wieder in meiner Hand und ihre todbringende Öffnung zielte auf Brownies altes Kommunistenherz.
„Das is’ kein Spielzeug, und ich kann damit umgehen. Also sollt’n Sie besser aufhör’n, mich zu beleidig’n.“
Der Alte grinste. „Lass gut sein, Junge. Andere, bessere Männer haben im Laufe der Jahre auf mich gezielt. Irgendwann hat man die Angst satt. Man spuckt sie aus und geht weiter. Wenn man Glück hat, ist man sie los. – Ich steh jetzt mal auf, um was zu holen, also behalt deine Nerven im Zaum. Ermordet zu werden ist eine Sache, aber durch ein Missverständnis zu sterben, eine ganz andere.“
„Ich weiß nich’, ob ich das will.“
„Tja, dann wirst du mich jetzt wohl erschießen müssen, denn ich hab keine Lust, mich in meinen eigenen vier Wänden von einem Rotzjungen herumkommandieren zu lassen.“
Brownie erhob sich, trotz seiner großen Klappe mit gebotener Vorsicht, ging zu dem Schreibtisch, wühlte leise fluchend in dem Chaos aus Büchern, Zeitschriften und Manuskripten herum und zog ein Schlüsselbund hervor, das er wie das Kaninchen aus dem Zylinderhut präsentierte.
„Hier“, sagte er, „hier haben wir im wahrsten Sinne des Wortes den Schlüssel zum Untergang des Genossen Buck Kane.“ Er ging zu dem Bild von Karl Marx, nahm es ab und gab so den Blick auf einen kleinen Safe frei, der in die Wand dahinter eingelassen war. Es dauerte ein Weilchen, bis er den richtigen Schlüssel gefunden und die stählerne Tür geöffnet hatte. Dann entnahm er dem Inneren ein Päckchen Papier, das sorgfältig mit einer roten Kordel verschnürt war.
„Darum geht‘s, Junge. Das suchen diese geldgierigen Kretins und deshalb haben sie dich geschickt, mich zu töten.“
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, und es interessierte mich auch immer weniger. Ich langweile mich schnell, und dann tue ich manchmal Dinge, die ich besser nicht tun sollte. Der alte Brownie jedenfalls wurde so aufgeregt wie die Braut, die sich nicht traut vor der Hochzeitsnacht, als er die Kordel löste und die Papiere vor sich auf dem Schreibtisch verteilte.
„Hier“, rief er und tippte immer wieder mit dem Zeigefinger auf seine kostbaren Dokumente, „hier steht alles drin. Haarklein. Ich kann’s beweisen. All die Schmiergelder, die Buck von den Firmen kassiert. All die Leute in der Stadtverwaltung, denen er seine Wohltaten zukommen lässt. Die Kohle aus dem Unterstützungsfond, die er in die eigene Tasche wirtschaftet. Alles steht hier. Ich kann’s beweisen. Hat mich Jahre meines Lebens gekostet, das zusammen zu tragen. Aber jetzt wird abgerechnet. Jawohl Abgerechnet.“
Sein Gesicht war puterrot und beim Reden überschlugen sich die Worte dermaßen, dass kleine Spuckefontänen von den rissigen Lippen spritzten.
„Na“, sagte ich, „das is’ ja schön und gut, Mister Brownie. Aber, mal im Ernst: Wen interessiert das?“
Er starrte mich an, als hätte ich die Unbefleckte Empfängnis in Frage gestellt. „Was ist mit euch jungen Leuten? Habt ihr keinen Sinn mehr für Anstand und Moral?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Die ganze Welt is’ doch korrupt. Soll man gegen die ganze Welt kämpfen?“
Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. „Jawohl! Genau das soll man. Wenn es in der Geschichte der Menschheit nicht immer Einzelne gegeben hätte, die bereit waren, gegen das Unrecht zu kämpfen, egal, ob sie dabei ihr Leben aufs Spiel setzten oder wie hoch der Preis auch immer gewesen sein mag, was glaubst du, wo wir heute ständen?“
Ich gab keine Antwort, und er schien auch keine zu erwarten.
„Glaubst du etwa, ich mache das für mich? Nein! Für dich, für deine Generation tue ich das, damit ihr ohne die Buck Kanes dieser Welt aufwachsen könnt. Meine Zeit ist abgelaufen. Ich bin nur ein alter Schreiberling, der auf den Tod wartet. Für mich spielt das keine Rolle mehr. Aber für dich. Für euch!“
Er ging um den Schreibtisch und trat einen Schritt auf mich zu. Automatisch hob ich die Knarre. „Hilf mir, Junge. Ich kenne einen Mann in New York, der bereit ist, das zu drucken. Wir können das ganze verdammte Schlangennest ausräuchern. Ist es das nicht wert? Ist es nicht unsere heilige Pflicht, die Wahrheit ans Licht zu bringen?“
„Bleim Sie bessa steh’n, Mister“, sagte ich.
Er tat es nicht. Er kam langsam auf mich zu, so, als wollte er mich segnen oder mir den Hals umdrehen.
„Denk nach. Du wirst ein Held sein, wenn du hilfst. Und glaub mir, da sind auch ein paar Scheinchen drin. Du sollst das ja nicht umsonst machen, das verlange ich gar nicht. Alles was ich sage, ist, sei ein Kerl. Lass dich nicht von Buck und seinen Spießgesellen zum Killer machen. Wenn du einmal abgedrückt hast, wird dein Leben besudelt sein. Du wirst das Kainsmal nicht mehr los. Willst du das? Ist es das, was du willst? Das kann ich mir nicht vorstellen. Denk an deine Mutter, deinen Vater. Denk daran, wie sie sich fühlen würden, wenn sie erfahren müssten, dass der Junge, auf den sie stolz sind, ein gottverdammter Killer ist.“
Er stand so dicht vor mir, dass der Geruch nach Alter, billigem Whiskey und gekochten Bohnen meine Nase beleidigte. Ich sah in diese verwaschenen gelben Augen, um eine Antwort zu finden. Hatte er recht mit dem, was er sagte? Andererseits: Was ging mich das an? Während ich darüber nachdachte und versuchte, mir eine Meinung zu bilden, zwinkerte er plötzlich. Ganz kurz nur. So, als sei ihm ein Sandkorn ins Auge geflogen. Ich kapierte sofort. Seine Hand ruckte wie der Kopf einer verdammten Klapperschlange nach vorn und packte den Lauf der Waffe. Er zerrte wie ein Besessener daran, doch ich gab nicht nach. Ein paar Minuten war nur unser Stöhnen und Ächzen und Keuchen zu hören – dann krachte ein Schuss. Pulverdampf verteilte sich und in meinen Ohren klingelten die Kirchenglocken. Ich taumelte zurück, gegen die Wand, und eine leere Blumenvase fiel zu Boden. Die Scherben verteilten sich im ganzen Raum. Ich starrte auf Brownie, der auf mich starrte. Sein Gesichtsausruck zeigte – Fassungslosigkeit. Ganz langsam senkte er den Kopf und blickte an sich hinab. Auf seinem Hemd bildete sich rasend schnell ein dunkler, feuchter Fleck. Er gab ein Geräusch von sich, das wie ein Gurgeln oder Schmatzen klang und fiel auf die Knie.
„Du gottverdammter...gottverdammter...gottverdammter…“, fing er an. Doch noch bevor er damit zum Ende kam, hob ich die Waffe und drückte ein zweites Mal ab. Der Knall schien noch ein bisschen lauter, und da Brownie diesmal nicht den Lauf fixierte, riss mir der Rückstoß den Arm nach oben. Der Alte kippte um wie ein Sack Kartoffeln und landete mit dem Gesicht nach unten. Ich stand da und wartete. Keine Ahnung, auf was. In meinem Kopf tickte eine Uhr und ich versuchte die Sekunden zu zählen, aber es gelang mir nicht. Irgendwann, Stunden oder Minuten später, ging ich zum Telefon, fischte den Zettel meines Auftraggebers aus der Hosentasche und wählte die Nummer.
„Hallo?“
„Wer ist da?“ Es war der Makkaroni.
„Ich bin’s.“
„Gut. Alles erledigt?“
Ich blickte auf den Körper zu meinen Füßen, der keinen Mucks mehr von sich gab. „Alles erledigt. Brownie ist hinüber.“
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Brownie? Welcher Brownie?“
„Na, James Brown, der Mann, den ich umpusten sollte.“
„In welcher Wohnung bist du, Schwachkopf?“
„Treppe hoch, links.“
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Ich hab gesagt, zweier Stock.“
„Ham Sie nicht.“
„O doch.“
Wir schwiegen beide und dachten darüber nach, was schief gelaufen war.
„Soll ich...?“
„Nein, auf keinen Fall. Mach alles so, wie ich’s dir gesagt hab. Raus aus der Wohnung, Waffe weg und dann verdrück dich.“
„Sie ham gesagt, eine Treppe.“
Er seufzte.
„Ist egal. Beim ersten Mal ist man immer ein bisschen nervös. Mach dir keine Gedanken. Du hattest den Mut, es zu tun, nur darauf kommt es an.“
Er legte auf. Ich stand da, hielt den Hörer ans Ohr gepresst und lauschte dem Besetztzeichen. Plötzlich fühlte ich mich allein. Nur der Mann, der gar nicht sterben sollte und der nun trotzdem tot war, leistete mir Gesellschaft. In meiner Kehle steckte ein Kloß. Verdammt. Armer, alter Brownie. Warum hast du nur soviel Scheiße erzählt. Die waren gar nicht scharf auf deine Ammenmärchen. Die wussten, dass ein armseliger Zeilenschinder wie du ihnen nicht gefährlich werden kann. Dein ganzes Leben lang warst du nur ein Narr. Nicht mal zu einem anständigen Mordauftrag hat’s gereicht. Geschweige denn zum Pulitzerpreis.
Doch in dem Alter, in dem ich damals war, hält man sich nicht lange mit Selbstvorwürfen auf. Ich steckte die Knarre zurück in den Hosenbund und blickte mich um. Auf dem Schreibtisch lagen Brownies wertvolle Papiere. Ich schnappte sie und steckte sie ebenfalls in den Hosenbund. Wer wusste, wozu sie gut sein würden. Ich blieb neben der Leiche stehen und dachte nach. Irgendwie hatte ich das Gefühl eine Grabrede halten zu müssen. Also sagte ich: „Tut mir leid, Alter. War ein beschissenes Versehen. Wenn ich’s wieder gutmachen könnte, würd’ ich’s tun.“
Dann ging ich zur Tür, öffnete sie, verließ die Wohnung, schloss die Tür und blickte die Treppe hoch. Oben stand ein dünner, hochgewachsener Mann, der eine Pfeife rauchte, vor dem Appartement auf der linken Seite. Ich tippte grüßend an die Stirn und murmelte: „Bis bald“. Dann ging ich nach unten. Hab keine Ahnung, wer der Typ war und ob ihn später ein anderer erledigt hat. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass er seine Rente genießen konnte, ist relativ gering. Unten auf der Straße, vor dem Haus, blieb ich stehen. Ich pumpte meine Lungen voll Sauerstoff. Niemand schien Notiz von mir zu nehmen. In dieser Gegend wurde ständig rumgeballert. Das kannten die Leute. Wo es keine Arbeit und nichts zu fressen gibt, ist der Tod ein alltäglicher Anblick,
Nach fünf Minuten oder so schlenderte ich weiter. Die Knarre hab ich nicht weggeworfen. Die hat mir noch gute Dienste erwiesen. Ach, übrigens: den Makkaroni musste ich ein paar Jahre später ausknipsen. Befehl von oben. Weiß nicht, was bei ihm schief gelaufen war. Hat mich, ehrlich gesagt, auch nicht interessiert.

ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.01.2011

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