Ich war mit Mina nach Hause geritten, war dann sofort in mein Arbeitszimmer gerannt und hatte mich eingeschlossen. Was mit Mina und Selfont war, wusste ich nicht, Selfont hatte versucht uns einzuholen, doch Glawar, mein weißer Hengst, war einfach schneller gewesen. Ich hatte Mina angeordnet, Glawar zu versorgen und war alleine herauf gegangen.
Ich musste nachdenken, ich hatte in Bezug auf Mutters Brief und der Sache mit Gilgaraf gar keine Antwort bekommen. Nur die Antwort wie man das Buch öffnete. Schön, was stand schon in diesem Buch. Seufzend und holte das Buch aus der Schublade hervor. Ich legte es auf den Schreibtisch und legte meine rechte Hand darauf.
Zuerst begannen die Umrisse meiner Hand zu leuchten, dann fing ein Buchstabe nach dem anderen an zu leuchten. Schließlich bildete sich ein Riss im Leder, bis sich das Leder so weit zurückgezogen hatte, dass man das Buch ganz normal öffnen konnte. Vorsichtig zog ich meine Hand zurück. Ich spürte die Magie, die in dem Buch steckte. Als ich es aufschlug roch es alt, sehr alt. Ohne Magie wären die Seiten schon längst zerfallen. Der Text war in Runen geschrieben, die ich zwar lesen konnte, doch die Wörter kannte ich nicht. Ich blätterte weiter; irgendwann veränderte sich die Handschrift, doch noch immer war der Text in der alten Sprache geschrieben. Ich blätterte immer weiter und weiter, das Buch schien unendlich viele Seiten zu haben und immer wieder änderte sich die Handschrift, doch alles war in der alten Sprache geschrieben und noch immer hatte ich nicht den Sinn des Buches erfasst. Auf manchen Seiten waren Zeichnungen vorhanden, die ich genauer betrachtete. Mal war es ein Schwert, mal eine Kampfstrategie, ich entdeckte auch Zeichnungen von meiner Krone, den Zepter und dem Schwert das ich bekommen hatte. Nach einer Weile traf ich auf die erste Handschrift, die nicht die alte Sprache verwendete. In der Ecke stand der Name meines Ururgroßvaters in Runen, darunter seine Geschichte, die ihn geprägt hatte.
Er berichtete von den ersten Kriegen gegen die Schatten. Es war wie eine Biografie, die ich überflog. Daraufhin fand ich die Biografie meines Urgroßvaters und allmählich verstand ich, dieses Buch enthielt die Geschichte der Könige und Königinnen von Amrûn. Es musste seit Urzeiten in unserem Besitz sein. Schnell blätterte ich weiter, bis ich die Handschrift meiner Mutter fand. Ich sog ihre geschriebenen Worte auf, wie ein Schwamm Wasser aufnimmt. Sie schrieb davon, wie sie meinen Vater kennen gelernt hatte, als sie als Königin durch das Land zog und wie wütend Gilgaraf gewesen war, als er spürte, dass ihr Geschwisterband riss. Sie schrieb, dass sie ihren Bruder immer geliebt hatte und immer lieben würde, egal was er tat. Sie schrieb davon, wie sie meinen Vater heiratete und ihre Trauer, als Gilgaraf plötzlich spurlos verschwand. Drei Jahre lang blieb er fort und kam völlig verändert zurück. Auch mein Vater hatte nach der Hochzeit in das Buch geschrieben. Er erzählte von der Stille, die nach der Rückkehr seines Schwagers zwischen Gilgaraf und Arad, meiner Mutter, geherrscht hatte. Von der Schwangerschaft mit mir, ihrer großen Freude über mich und schließlich Tinus Geburt. Sie schrieben, wie die Schatten sich langsam rüsteten und von ihren eigenen Plänen, die Schatten zu besiegen. Sie berichteten von jeden Tag im Krieg, wie gut es um sie stand und wie merkwürdig Gilgaraf sich, in den Tagen die nun fast schon vergessen waren, verhalten hatte, was auf einer der letzten, beschriebenen Seiten stand:
Elanor, ich weiß nicht, ob du diesen folgenden Brief schon je bekommen hast. Dieses Buch, das wissen wir, wird einen Weg zu dir finden. Was wir in den letzen Tagen herausgefunden haben ist wichtig, du musst es wissen! Deshalb schrieben wir noch einmal den Brief, den wir dir schickten:
Unser liebes Sonnenkind Elanor,
wir hoffen, du fühlst dich wohl!
Wir kämpfen hier schon seit einer Woche an der Front. Die Schattenkrieger sind sehr stark, doch können wir sie besiegen, bestimmt sind wir in ein paar Tagen wieder daheim. Bis zu deinem Geburtstag sind wir spätestens wieder zurück (…) Das kannte ich schon.
Doch nun zur wichtigsten Sache, lese das gut: Wir haben schon seit vielen Monaten vermutet, dass Gilgaraf nicht mehr auf unserer Seite steht. Vor einer Stunde hatte ein Späher ihn mit den Schatten gesehen, es besteht nun kein Zweifel mehr, dein Onkel steht auf der Seite der Schatten, auch wenn er selbst noch Keiner ist. Nana will Gilgaraf noch nicht töten, sondern will vorher versuchen, ihn zu überreden aufzuhören. Bald wird er also hier sein und dann sehen wir, was geschieht. Doch habe keine Angst, alles wird gut. (…)
Selfont hatte also Recht, Gilgaraf stand auf der Seite der Schatten und nun war er direkt zu ihnen gerannt. Man musste ihn töten, er war gefährlich. Warum hatte ich ihn ziehen lassen? Es war eine so ernüchternde Nachricht, dass Gilgaraf zu den Schatten gehörte, die mir dennoch jegliches Gefühl nahm. Sieben Jahre lang hatte ich mit diesem Scheusal gelebt. Gilgaraf war gestorben, bevor ich ihn gekannt hatte.
Auf der nächsten Seite stand in Krakelschrift und mit Blut verschmiert:
Gilgaraf führt uns in den Hinterhalt, wir werden sterben! Es gibt kein Entkommen für uns, es tut uns Leid, Elanor. Gilgaraf ist unser Mörder.
Diese letzten Worte meiner Eltern, als sie dem Tod ins Auge blickten, ließen alle meine Gefühle zurückkehren. Trauer und Wut mischte sich in einem riesigen Drang, der nur eines verlangte, um gestillt zu werden: Rache, Gilgarafs Blut und sein Tod.
NEIN, was wollte ich da, ich wäre dasselbe Ungeheuer wie Gilgaraf! Also schluckte ich all den Ärger wieder herunter und fing einfach an zu weinen.
Da hörte ich jemanden klopfen, doch ich wollte nicht, dass jemand kam, also blieb ich einfach still und weinte. Ich hörte, wie sich die Tür leise öffnete, doch ich blieb wie ich war. Mir war egal, wer dort stand, in diesem Moment war mir einfach alles egal.
„Elanor, was ist geschehen?“, hörte ich die erschrockene Stimme Minas. Leise schloss sie die Türe hinter sich und kam zu mir. Sie legte eine Hand auf meine Schulter und streichelte meinen Rücken. Ich ließ es einfach geschehen, einfach geschehen. Ich weiß nicht, wie lange ich so da saß, doch schließlich fragte Mina noch einmal: „El, was ist passiert?“
El, so hatte sie mich in Kindertagen genannt, als meine Eltern noch lebten, als die Sache des Standes noch egal war. Als Kind, wo wir noch ohne Sorgen, Nöte und Ängste gelebt hatten, als wir noch wie Schwestern gewesen waren. Mit dem Tod meiner Eltern hatte sich einfach alles geändert. So sagte ich statt einer Antwort nur:
„So hast du mich seit sieben Jahren nicht mehr genannt“
„Ich weiß, du wolltest es doch nicht, ich bin nun mal nicht dein Stand“
„Ich wollte es nicht!?! Du hast mich von einem auf den andern Tag plötzlich nicht mehr wie eine Schwester behandelt. Ich war nur zu feige und zu traurig, um zu fragen warum. Ich frage mich bis heute, was ich verbrochen hatte“
„Verbrochen? Du hattest nichts verbrochen! Gilgaraf kam zu mir, bevor er die die Nachricht, vom Tod deiner Eltern, überbracht hatte. Er erzählte mir, was geschehen war und ließ mich versprechen, dich in Ruhe zu lassen, dich wie eine Königin und nicht wie eine Schwester zu behandeln. Er hat mir verboten zu fühlen, dass ich genau so viel Wert wäre wie du!“
„Ich hasse diesen Menschen! Ich will nicht länger mit ihm verwand sein!“
„Aber El, ich mag Gilgaraf nicht, aber ich bin mir sicher, dass er es gut gemeint hat. Du darfst ihn deshalb nicht verurteilen, er war doch selbst noch vom Tod seiner Schwester betäubt“
„So ein Unsinn, lies selbst!“. Ich wusste, dass das Buch nur für mich bestimmt war, doch Mina hatte sowieso alles gehört und einer musste es wissen. Ich nahm das Buch und bedeutete ihr, dass sie den Brief und die Seiten danach lesen sollte. Es dauerte einige Minuten, bis sie aufsah.
„El, das ist… das kann nicht…“
„Ist es aber, Gilgaraf hat sie getötet“
„All die Jahre haben wir mit diesem Mörder gelebt, ohne es zu bemerken! Oh Elanor, er tut mir so Leid!“ Sie umarmte mich. Es war gut zu wissen, dass ich mit ihr reden konnte, dass sie nach so langer Zeit wieder für mich da war.
„Danke!“, flüsterte ich, „Hätte ich Gilgaraf doch nur nicht fort geschickt, dann könnte ich ihn jetzt festnehmen…“
„Glaubst du?“, fragte Mina: „Du hast schließlich keine Beweise und um ehrlich zu sein bin ich froh, den Mörder nicht hier zu haben. Wer weiß, was er sonst noch getan hätte“
„Vielleicht, aber er ist mein Onkel und jetzt geht er zu den Schatten. Er wird einer von ihnen“. Diese Erkenntnis durchflutete mich, doch ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Ich hatte noch nie einen Schatten gesehen. Ich wusste nur, dass sie im Sonnenlicht starben, ihr Körper war der eines Menschen, doch sie hatten rote Augen. Wenn ein Mensch es wollte, konnte er freiwillig ein Schatten werden. Guruthos, der König der Finsternis, konnte ein Ritual durchführen, durch das man freiwillig, oder unfreiwillig ein Schatten wurde. Gegen ihn führten die Könige der Sonne seit langem Krieg. Es gab eine Prophezeiung die besagte, wann der Krieg vorbei seien sollte, aber seit 1000 Jahren war sie nicht in Erfüllung gegangen und die Menschen verloren die Hoffnung darauf. Es hieß:
Wenn die Königin der Sonne
und der König der Schatten
einen heiligen Bund schließen,
wird alles wieder gut werden,
denn zur Sonne gehört Schatten,
sowie Schatten zur Sonne gehört.
Mina riss mich aus meinen Gedanken: „El, was willst du nun tun?“
„Bald bist du meine Beraterin, was rätst du mir?“
„Lass ihn suchen und bring ihn um, aber so, dass niemand etwas merkt!“
„Das ist ein guter Rat, doch warum sollte das niemand wissen?“
„Na, du hast noch immer keine Beweise. Obwohl…du hast ja dieses Buch…“
„Mina, niemand darf von dem Buch etwas erfahren, du hast Recht, mein Onkel muss still sterben. Wir brauchen Borri!“
Mina starrte mich an: „Borri???“.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Bildmaterialien: (c) Cover: Alison Morgan (http://www.elfwood.com/~jenmorgan/Niphredil-and-Elanor.2845471.html)
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2012
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