Es hatte nur ein normaler Job sein sollen.
Ein Kinderspiel.
“Hier… hier, nimm… das!”
Namia starrte entsetzt auf das blutbefleckte Pergament, das ihr der offensichtlich tödlich Verwundete in die Hand drückte.
Es hatte ein absolut einfacher Job sein sollen.
Leicht verdientes Geld.
“Er… darf es… nicht bekommen!”
Der Verwundete packte sie mit erstaunlicher Kraft am Handgelenk und starrte ihr in die Augen. In den erstaunlich dunkelblauen Seen stand eine Verzweiflung und Dringlichkeit, wie Namia sie noch nie erlebt hatte.
Und dann hatte sie einen Mord erlebt.
“Wer? Wer darf es nicht bekommen?!”, fragte sie eindringlich und bohrte die Finger in die Schulter des Fremden, als wollte sie ihn damit zu schnellerem Sprechen animieren, doch erntete sie nur ein gequältes Stöhnen und ließ schnell wieder los.
“Garnulf… bring es… Garnulf. Nur Garnulf.”
Der Sterbende war eindeutig einer der Sucher.
Ein Heiliger.
“MEISTER Garnulf?”, versicherte sie sich leicht panisch, denn zum einen brachen die Augen des Fremden bereits und zum anderen kannte sie diesen Meister…
“Ja… hilf… ihm…”
Welch Frevel.
Einen Sucher zu töten war die größte Sünde, zu der ein Mensch fähig war.
Mit diesen Worten verschied er.
Nachdenklich saß Namia nach einer für sie kaum ernstzunehmenden Hetzjagd in einem der halb verfallenen, von der Obrigkeit für unbewohnbar befundenen Häusern im Außenbereich der Stadt vor dem ausgerollten Pergament, das keinerlei Sinn für sie ergab.
Es war leer.
Aufstöhnend zog sie die Knie an und umklammerte ihren Kopf. Sollte tatsächlich der absolut unwahrscheinliche Fall eintreten und sie bis zu Meister Garnulf vorgelassen werden, würde er sie spätestens, wenn er dieses Pergament ansah, in eine Ratte verwandeln.
…
Spätestens dann.
Und sie hatte zum einen noch das Problem, bis zum Tor des Magierturms zu gelangen.
…
Und das, dort durchzukommen.
…
Und das, zu Meister Garnulf überhaupt vorgelassen zu werden.
Unmöglich.
Und weshalb sollte sie das überhaupt tun?!
Sie war eine Diebin, verdammt, also niemand, der auf der ehrlichen Seite des Lebens wandelte!
Sie sollte diesen Fetzen einfach verbrennen und nie wieder einen Gedanken daran verschwenden!
…
Doch wenn sie so dachte, kamen ihr wieder die Augen des Suchers in den Sinn.
Es war wichtig, dass Garnulf dieses leere Pergament erhielt, warum auch immer.
Und sie hatte die Aufgabe übernommen, es zu ihm zu bringen, also würde sie das nun auch zu Ende bringen!
Aber sie konnte nicht einfach zum Magierturm spazieren, allerspätestens beim Tor würden die Wächter sie erkennen.
Und dann war’s das mit ihrer selbstgewählten Aufgabe.
Sie musste also ihren Kopf anstrengen.
Wem war es möglich, in Garnulfs Nähe zu kommen, ohne Aufsehen zu erregen, und dem sie vertrauen konnte…?
“Du bist wahnsinnig.”
Das penetrante Schlagen von Stein auf glühenden Stahl zehrte an Namias Nerven und sie hätte Khar am liebsten angeschrieen, dass jetzt nicht die Zeit zum Schmieden wäre.
War es ja auch nicht.
“Kannst du ihn nicht einfach fragen? Es ist wirklich wichtig!”
Khar seufzte auf, betrachtete die fertige, noch rotglühende Klinge mit kundigem Auge, bevor sie sich eine verirrte Haarlocke hinters Ohr strich und den Stahl dann in ein bereitstehendes Wasserbecken tauchte, dass es nur so zischte und brodelte.
“Namia, ist dir klar, dass du Juskan damit in Lebensgefahr bringst?!”
Die junge Diebin nickte kleinlaut und zupfte an ihren Zehen herum, nur um ihrer Freundin nicht ins Gesicht schauen zu müssen.
“Es ist aber wichtig…”
Und das war es wirklich.
Über den Mord an dem Sucher war nichts bekannt geworden.
Man vermisste zwar einen, aber man sprach nicht über einen Toten.
Das ganze musste weitere Kreise ziehen, als sie angenommen hatte.
Khar nickte seufzend und erhob sich.
“Ich hole ihn.”
Juskan saß nachdenklich auf einem Schemel, die Rüstung nur zur Hälfte angelegt, das Schwert lässig über den Knien, doch ließ er keinen Zweifel daran, dass er im Zweifelsfall innerhalb eines Lidschlages kampfbereit sein konnte.
“Ich werde in der Nähe des Tores sein. Vielleicht schaffe ich es sogar in den Turmkreis. Dennoch, du musst mir ein Seil herunterwerfen, aus dem Fenster des Raumes, in dem Meister Garnulf sich aufhält, die Turmmauer ist zu glatt zum Klettern.”
Juskan nickte nur.
Allgemein hatte er in der Zeit, in der Namia ihm ihren Plan erläutert hatte, kein einziges Wort gesagt.
“Sollte der recht unwahrscheinliche Fall eintreten, dass die Wachen mich nicht bemerken, habe ich danach etwa 25 Herzschläge, an dem Seil nach oben zu klettern und es dann wieder einzuholen, wenn du den richtigen Zeitpunkt erwischst.”
Wieder nickte Juskan nur, bevor er eine Hand aufhielt.
Namia starrte darauf.
“Ich bin Söldner, Namia. Und auch wenn Khar mich darum gebeten hat, dir zu helfen, so bist du doch ein Auftraggeber.”
Leise vor sich hin fluchend kramte die junge Diebin zwei ganze Wochenverdienste heraus (ihr ganzes Gespartes, da sie damit schon gerechnet hatte) und schnippte einen Großteil davon in die offene Hand, doch Juskan zog sie nicht zurück.
“Alles. Dann lasse ich mit mir reden.”
Mit einem weitaus lauteren und derberen Fluch warf sie auch den Rest dazu. Würde sie eben einige Zeit lang den Gürtel etwas enger schnallen müssen, bis sie das wieder auf der Seite hatte.
Der Söldner nickte zufrieden und steckte das Geld ein.
“Morgen hast du eine Verabredung mit Meister Garnulf.”
Schweratmend saß Namia in ihrem zugegebenermaßen nicht besonders guten Versteck, aber die Auswahl war nun mal nicht besonders groß. So tat es eben auch ein Dornbusch, auch wenn es dann doch nicht unbedingt bequem war. Aber hier würde niemand genauer nachsehen.
Da sah sie es - ein Blinken an einem Fenster im… siebten Stock?! War Juskan von allen guten Geistern verlassen???
Aber gut, wenn er meinte… es vergingen einige Augenblicke, bis ein dünnes Seil die Mauer hinabfiel.
Ohne einen weiteren Blick an ihre Umgebung zu verschwenden, schoss Namia aus ihrem Versteck, unterdrückte einen Fluch, als die Dornen an ihr zerrten und mehr als nur ein Stückchen Haut aus ihr herausrissen, hastete zum Seil und hangelte sich geschickt und durch viele Jahre Erfahrung geschult so schnell sie konnte hinauf.
Sie schaffte es tatsächlich und landete in einem offenen Raum.
Umgeben war sie von fünfzehn Bewaffneten, die sie mit gezückten Waffen umringten.
Scheiße.
Unter Gezeter, Geschrei, Getrete, Gekratze und um-sich-Geschlage wurde die junge Diebin in den Kerker geworfen, wo sie schon erwartet wurde.
“Oh, wie schön, dich zu sehen, Namia.”
Oh oh…
Juskan war eindeutig ein wenig… missgestimmt…
Dennoch erzählte er ihr, was geschehen war. Er war gar nicht erst in Meister Garnulfs Nähe gekommen, hatte man ihn bereits festgenommen.
Kaum hatte sie das gehört, verfinsterte sich Namias Gesicht, doch Juskan winkte schnell ab.
“Ich habe dich nicht verraten!”, fauchte er und funkelte sie entrüstet an, was sie nur genervt mit den Schultern zucken ließ.
Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand sie verriet. Das war normal auf den Straßen, sie hatte längst gelernt, damit umzugehen, weswegen sie nicht sonderlich schnell vertraute.
Da ertönten Schritte von außerhalb der Zelle und die beiden schwiegen beinahe sofort. Tatsächlich kamen die Schritte in ihre Richtung und bald wurde ihre Zelle geöffnet. Herein traten einige Bewaffnete und ein Magier, der sein Gesicht hinter einer silbernen Maske verbarg.
Juskan erhob sich, setzte ein entschuldigendes Lächeln auf und trat auf den Magier zu.
“Es tut uns wirklich leid, Meister, aber diese junge Frau wollte einfach nur dringend Meister Garnulf sprechen. Es ist ihr wirklich außerordentlich wichtig. Wir wissen, dass die Art unseres Eindringens gegen das Gesetz war, doch unsere Absichten waren vollkommen ehr-…”
Er stockte.
Verwirrt starrte Namia von der erhobenen Hand des Meisters auf das Schwert, das sich in Juskans Bauch gegraben hatte.
Es dauerte einige Augenblicke, bis ihr Gehirn geschaltet hatte, doch dann reagierte ihr Körper automatisch.
Sie schnellte auf die Bewaffneten zu, riss dem Erstbesten seinen Dolch aus dem Gürtel und rammte ihm ihr Knie zwischen die Beine, trat dem nächsten, der sich ihr in den Weg stellte, ins Knie, tänzelte um einen dritten herum, stach einem vierten mit dem Dolch in den Oberarm und einem fünften in die Seite, bevor sie unter den Armen eines weiteren wegtauchte und den nun offen vor ihr liegenden Gang entlang hastete.
Ihre Flucht war nicht weiter aufregend, nichts, was sie nicht täglich würde durchmachen müssen. Es machte ihr sogar Spaß.
Juskans Tod jedoch war nicht alltäglich und legte ihren Kopf lahm.
Ihr Körper reagierte durch jahrelangen Drill wie von selbst, wich aus, schlug zu, rannte und sprang, verbarg sich, rannte weiter.
Irgendwann war sie jedoch eingekreist.
Ihre Gegner wussten es zwar nicht, da sie nicht wussten, wo sie war, doch ihr blieben nur noch zwei Möglichkeiten.
Möglichkeit Nummer eins: Fenster.
Elfter Stock?! Wohl lieber nicht.
Möglichkeit Nummer zwei: Tür.
Verschlossen.
Gut, dann Nummer zwei.
Mit zitternden Fingern zog sie ein kleines, flaches Ledertäschchen aus dem Stiefel, zog daraus zwei schmale, seltsam geformte Stäbchen heraus, und begann, damit im Schloss herumzufahren, während sie konzentriert lauschte.
Schon öffnete sich die Tür mit einem leisen Klick und sie huschte schnellstens hinein, bevor sie die Tür hinter sich wieder zuzog und mit denselben Dietrichen von innen verschloss.
Tief durchatmend blickte sie sich um.
Das Zimmer war zwar leer, aber voll von seltsamen Gerätschaften.
Trotz der Situation war Namia fasziniert. Zwar hatte man ihr gesagt, sie habe keinerlei magische Grundbegabung, doch hatte jegliche Zauberei sie schon immer in ihren Bann gezogen.
Das Trappeln von Schritten auf dem Gang ignorierend schritt die junge Diebin die Kuriositäten ab. Einiges war beschriftet, wie der Ball, der niemals zu hüpfen aufhörte, oder der Zauberstab des Altehrwürdigen Borb, von dem Namia noch nie gehört hatte, die Wirkungsweisen anderer Dinge wie zum Beispiel die eines kleinen, schleifenförmigen Steins jedoch, blieben ihrer Phantasie überlassen.
Ohne nachzudenken steckte sie einen Handschuh ein, mit dessen Hilfe man jede Tür öffnen konnte (was sie zwar eigentlich nicht brauchte, aber das schadete ja nie), eine Tasche, in der alles winzigklein wurde (sehr praktisch bei größeren Raubzügen), einen etwa faustgroßen knotigen Holzbrocken, dessen Späne angeblich Vergiftungen heilen konnten, ein ledernes Band und sieben Würfel, deren Wirkungsweisen ihr unbekannt waren, und einen Mantel, den wohl ein vorheriger Besucher hier hatte liegen lassen.
Möglicherweise würde er ihr etwas Tarnung in diesem Turm verschaffen.
Vorsichtig, da sie mit dieser Art Kleidung nicht vertraut war, legte sie sich den Umhang um und verschloss die verschnörkelte Fidel in Form eines stilisierten Wolfes, bevor sie sich die Kapuze über den Kopf zog, zur Tür ging und lauschte.
Es war still. Beängstigend still.
Im Bestreben ihre neuen Errungenschaften auszuprobieren zog Namia den Handschuh an und berührte den Türknauf, woraufhin sofort ein Klicken ertönte. Mit anerkennend gehobener Augenbraue öffnete sie die Tür einen winzigen Spalt, durch den sie hinausspähen konnte und huschte, nachdem nichts zu sehen war, lautlos in den Gang.
Es war niemand mehr in den Gängen. Alles wirkte wie ausgestorben.
Perplex wanderte die junge Diebin durch den Turm, doch da war niemand mehr. Die einzigen Geräusche kamen von draußen, wenn der Wind in die Blätter der Bäume fuhr. Selbst bei einem Blick aus dem Fenster konnte sie keine Menschenseele erblicken.
Nun noch mehr auf der Hut als zuvor schlich sie weiter, bis sie die Gemächer der sieben Meister erreichte, doch auch hier schien alles wie ausgestorben.
Nacheinander betrat sie die luxuriös ausgestatteten Räume, bis sie sicher war, welche Meister Garnulf gehörten, und ließ sich dort auf einen Sessel nieder.
Sie könnte das Pergament einfach hier ablegen und wieder verschwinden, doch etwas in ihr widerstrebte ein solches Verhalten.
Was also sollte sie tun?
Nach einigen Minuten des Überlegens verkroch sie sich in den riesigen Schrank, der neben dem gewaltigen Schreibtisch das Zimmer dominierte, und rollte sich in dem stickigen Möbelstück zusammen.
Sie konnte sich absolut keinen Reim auf ihre momentane Situation machen.
Nachdenklich löste sie die Fidel und ließ den Mantel von ihren Schultern gleiten.
Plötzlich vernahm sie ein Geräusch. Pergament raschelte. Ein Räuspern. Stiefeltritte von außerhalb des Raumes, gedämpft durch Türen und Wände.
Ein Pochen, nach einem “Tretet ein!” das Öffnen einer Tür.
“Die Mörderin ist nicht auffindbar. Wahrscheinlich hat sie den Turm längst wieder verlassen. Soll die Suche auf die ganze Stadt ausgedehnt werden, Meister?”
Ein Schnauben erklang.
“Weshalb kommt Ihr damit zu mir, Hauptmann? Sie war Faraks Gefangene, nicht die meinige.”
Die Stimme klang gereizt.
“Nun…”, sprach wieder der zuvor Eingetretene, dessen Unbehagen gut herauszuhören war, “der ehrenwerte Meister Farak hat sich außer Haus begeben…”
Erneut ertönte ein Schnauben.
“Dann tut es. Und richtet Farak aus, dass ich ihn um eine Unterredung bitte, sobald er wieder zurückkehrt.”
Geräusche, wie wenn Metall über Leder kratzt, waren zu vernehmen, bevor erneut das Türknarzen ertönte.
Ein Stöhnen, dann wieder Pergamentgeraschel.
Offenbar musste sich der Meister, von dem Namia hoffte, dass es sich um Garnulf handelte, schon im Raum befunden haben, als sie ihn durchquert hatte.
Aber wie war das möglich?!
In der Dunkelheit weiteten sich plötzlich ihre Augen.
Der Mantel! Kaum hatte sie ihn getragen, waren alle Menschen verschwunden gewesen, doch kaum hatte sie ihn abgelegt, waren sie wieder aufgetaucht!
Sie schluckte.
Doch darüber musste sie später nachdenken.
Hastig packte sie den Umhang in ihre neue Tasche, bevor sie vorsichtig die Schranktür öffnete.
Aus dem leisen Heraushuschen wurde jedoch nichts, da ihr Knöchel sich irgendwo verhakte, sodass sie kopfüber aus dem Möbelungetüm purzelte und dem Meister vor die Füße fiel.
Es herrschte Stille.
Vorsichtig hob die junge Diebin den Kopf.
Meister Garnulf, eindeutig.
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2011
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