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o1 ~ Zwischen den Welten




Ich schlage die Augen auf.
Die Konturen der Welt verschwimmen.
Ich sehe Blut.

Oder nein, es ist nur roter Stoff.
Das Shirt meiner Mutter liegt am Boden.
Die Konturen des Kleidungsstücks verschwimmen, erscheinen als ein endloser See von Blut.

Ich schüttle den Kopf.
Meine Phantasie spielt mir wohl wieder einmal einen Streich.
Doch obwohl ich das weiß, scheint sich der See auszudehnen, mein ganzes Denken zu vereinnahmen, in Wellen über mir zusammenzuschlagen.

Panisch schnappe ich nach Luft, rudere hektisch mit den Armen, doch schmecke ich in meinem Mund nur Metall, Luft erhalte ich keine.

Plötzlich ist alles vorbei.

Ich sitze zitternd und keuchend am Boden, fülle meine Lungen immer wieder gierig, bis ich mich wieder beruhigt habe.

Verzweifelt berge ich mein Gesicht in den Händen.
Ich weiß nicht, zum wievielten Mal etwas Derartiges nicht schon passiert ist.
Die Ärzte sagen, es sei das Symptom einer Krankheit, die mein Gehirn zerfrisst.


Plötzlich bemerke ich etwas.
Ich weine nicht, doch… meine Hände sind feucht…

Langsam nehme ich sie von meinem Gesicht.
Mein Blick ruht ungläubig auf meiner Haut, von der noch immer Blut tropft.
Ich blicke in den Spiegel.
Meine Kleidung und mein Haar… vollgesogen mit Blut.
Mein Gesicht voller Blutspuren.

Bilde ich mir auch das nur ein?

Verwirrt wanke ich aus dem Zimmer.
Im Gang steht meine Mutter.
Entsetzt starrt sie mich an, packt mich und bringt mich in ein Krankenhaus.
Doch… nein… kein Krankenhaus…

Die Arme von einer weißen Jacke an meinen Körper gepresst sitze ich in einer kleinen Kammer, deren Wände gepolstert sind.

Was habe ich getan?
Was haben SIE getan?
Sie haben doch das Blut gesehen! Es war ECHT!


Mir… wird plötzlich so… kalt…

Der Boden gibt unter mir nach und ich sinke ein.
Meine Kleidung wird nass.

Langsam realisiere ich es: Schnee…

Im hintersten Winkel meiner Wahrnehmung höre ich die entsetzten Worte meiner Mutter, dass ich meinen Schließmuskel offenbar nicht mehr unter Kontrolle hätte.

Nein.
Es reicht.
Ich halte es nicht mehr aus.


Mühevoll schaffe ich es, mich auf die Füße zu erheben.
Die Wände verschwinden.

“Lauf… lauf…”, scheint der Wind zu flüstern, der mich umspielt.

“Was ist das?! Himmel, was ist das??? Der Raum hat keine Fenster, wie können ihre Haare wehen???”

Ich kann die hysterische Stimme nicht zuordnen. Und es ist mir auch egal.

Ein unkontrolliertes Lachen verlässt meine Kehle.

Ruhig setze ich einen Fuß vor den anderen.

Und dann bin ich angekommen.

Über der Schwelle…


o2 ~ Wald




Der Friedhof steht in Flammen…
Er schüttelt den Kopf. Sein Hirn gibt ihm seltsame Gedanken ein.
Doch tatsächlich besitzt diese Szenerie etwas von einer brennenden Todesstätte.

Die Äste erscheinen wie Skeletthände, die verzweifelt nach der Freiheit des Himmels greifen.
Die wenigen noch hängenden Blätter in rotbraun, feuerrot, gelb und orange sind die kleinen Flammennester zwischen den Knochen, die am Boden liegende ehemalige Laubpracht bereitet der Phantasie den Weg zu einem Feuermeer.

Er schüttelt erneut den Kopf.
So etwas gehört nicht in seinen Kopf, in diese Welt, in diese Zeit.
Es ist ein Wald. Ein Laubwald in einem späten Herbst, der nur noch darauf wartet, in den Winter überzugehen.
Es ist ein vollkommen normaler Ort.
Ein normaler Ort.
Ein Ort wie jeder andere.

Unbewusst, als wehre er sich selbst gegen seine Überzeugung, sucht sein Blick die Gesichter, die man manchmal in alten Stämmen erkennen kann.
Es ist ein Spiel. Ein Spiel für Kinder…
In seiner Kindheit hat er es gern gespielt, bis ihm klar geworden ist, dass in dieser Welt kein Platz ist für Ausflüge auf Winddrachen, singende Quellen und Gesichter in Bäumen.

Er erblickt eines.
Zögernd berührt er den verknotet wirkenden Brauenwulst des offensichtlichsten Rindengesichts, das er je gesehen hat.

Ihm wird schwindlig.
Durch seine von schwarzen Schlieren durchzogene Wahrnehmung glaubt er zu erkennen, dass sich Augen und Mund geöffnet haben. Und er glaubt, durch den Nebel einer beginnenden Ohnmacht eine Stimme zu hören, doch kann er die Worte nicht verstehen.

Es wird schwarz um ihn.


Als er wieder erwacht, fühlt er sich hilflos.
Er weiß nicht mehr, wohin er sich wenden soll.
Er hat sich verirrt in diesem Wald.
Zwischen diesen Bäumen, an denen überall die Knospen des beginnenden Frühlings zu sehen sind…


o3 ~ Augen




Ich liege in meinem Bett - schlafend.
Unruhig werfe ich mich herum, doch bleibt mir nicht viel Bewegungsfreiheit, denn die Fesseln, die meine Handgelenke mit dem Bettpfosten verbinden, sind stark.

Ich winde mich, mein Körper beginnt zu zittern vor Panik.

Er weiß wohl nicht, dass er schläft.

Ich schlage die Augen auf und sehe sie.

Über meinem Bett schwebt ein Paar mandelförmige, dunkelgraue Augen, kalt, starr, ohne erkennbaren Ausdruck außer unendlicher Grausamkeit und Wahnsinn.

Ich versuche zu schreien, doch der Knebel erstickt jedes Geräusch.

Ich schreie, brülle, winde mich.

Die Augen kommen näher, doch im selben Maße verstärkt sich auch mein Wehren.
Meine Füße sind frei und ich trete nach dem Besitzer der Augen, doch ich treffe nur Luft.
Meine Handgelenke sind längst wund und bluten von den Torturen jeder einzelnen Nacht, doch meine Finger graben sich in das Holz des Bettrahmens.

Ein übelkeiterregendes Geräusch erklingt, als ein ganzer Nagel vom Nagelbett gerissen wird.
Ich bemerke es kaum in meiner Raserei.
Mein Mund ist trocken wie die Wüste, doch ich schreie weiter, auch wenn es durch den Knebel nicht vernommen werden kann.

Ich will weg, nur weg hier.
Ich will aufwachen…!


Ich reiße die Augen erneut auf, doch diesmal bin ich wach, das spüre ich.
Vorsichtig robbe ich mich so zu meinen Händen, dass ich den Knebel aus meinem Mund entfernen kann.
Der Geschmack ist grauenhaft.
Dann erst öffne ich mit einiger Mühe die Fesseln und verbinde vorsichtig meine Gelenke.

Es ist notwendig, meine Eltern würden sich sonst nur Sorgen machen.
Und dazu haben sie keinen Grund.
Er ist fort.
Er wird nicht mehr wiederkommen, einfach in meinem Zimmer auftauchen und meine Mutter niederschlagen, er wird mich nicht mehr einsperren, mich schlagen und…





Er ist nicht mehr da.
Er ist tot, hat sein Vater gesagt, hat sich selbst gerichtet.


Ich atme tief durch.
Die Angst vor seinen kalten Augen wird wohl nie weichen.

Ich trinke einige Schlucke Wasser, befestige Fessel und Knebel wieder am angestammten Platz und wende mich der Wand zu.


Ich will diese Augen nicht mehr sehen.
Nie wieder.
Er ist tot.


Langsam schlafe ich ein.

Dabei bemerke ich nicht das Gesicht, das sich vorsichtig vor mein Fenster schiebt.

Asiatisch.
Eindeutig schön zu nennen.
Schulterlanges, schwarzes Haar.
Weiße Strähnen reichen bis zur Hüfte.

Und…

Mandelförmige Augen.
Dunkelgrau.
Kalt.
Starr, wie tot.
Und doch besitzen sie Ausdruck.
Grausamkeit.
Wahnsinn.



Und nun, kaum mehr verborgen: ein unauslöschliches Funkeln der Gier…


o4 ~ Verlierer




Mein Körper liegt reglos im Schlamm.
Mein Geist schreit nach Erlösung.
Mein Herz erscheint wie ein Nadelkissen, so durchlöchert hast du es.

Ich merke, wie der Schlamm meine Kleidung durchnässt.
Ich spüre… die Kälte…

Es ist nicht so, dass du meinen Körper misshandelt hättest.
Was du geschlagen und getreten hast, ist meine Seele.

Es gibt nicht vieles, das mehr schmerzen kann als unbedachte Worte.
Oder in deinem Fall… wohl bedachte.

Meine Lider wollen blinzeln.
Ich gestatte es ihnen nicht.

Du sagtest, du liebtest mich.
Jeden Tag hast du es mir ins Ohr geflüstert, jedes Mal, um meine Abwehr zu durchbrechen.
Du sagtest, ich sei das Schönste, das du in deinem Leben je besessen hättest.
Jeden Abend hast du es mir zugeraunt, um mich davon abzuhalten, meine Blöße zu bedecken.
Du sagtest, ich sei alles für dich, du würdest dein Leben aufgeben. Du würdest sterben und töten. Für mich.
Immer wieder hast du es mir gesagt, bis es in mich eingesickert ist und mein Herz dir glaubte.
Du sprachst von einer gemeinsamen Wohnung. Einer Zukunft. Einer Familie.
Dingen, von denen ich nie geglaubt hatte, sie erreichen zu können, doch die ich mir mit jeder Faser meines Seins gewünscht habe.

Du warst sanft, zärtlich. Mit einem liebevollen Lächeln strichst du mir immer wieder über die Wange.
Du hast mein durch viele Verletzungen bedingtes Misstrauen überwunden und langsam mein Vertrauen gewonnen.

Und nun…?

Vor zwei Stunden standest du vor mir. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Einem netten Lächeln, einem verzeihungsheischenden Lächeln, einem mitleidigen Lächeln.

“Es tut mir leid”, hast du gesagt. “Es tut mir so leid…”

Ja, mir tut es auch leid.
Und wie leid es mir tut.

Du hieltst ihre Hand.
Mein Spiegelbild stand an deiner Seite.
Ich habe immer alles mit ihr geteilt. Alles.
Zimmer, Kleidung, Essen, Besitz, Wissen… Selbst mein Gesicht.

Schwester…


Du schlugst die Augen nieder.
“Ich wollte immer nur sie… Doch habe ich geglaubt, sie wollte mich nicht. Und… du sahst ihr so ähnlich…”

Du rammtest einen metaphorischen Dolch in meinen Leib.
Diese Worte hättest du auch für dich behalten können.

Meine Schwester lächelte glücklich, sie strahlte dich an.
Sieh mich an, Schwesterchen… Sieh mich an!
Meine Schwester blickte nicht ein einziges Mal in meine Richtung.


Ich weiß nicht, wie sie mir das antun kann.
Ohne mich auch nur ein Mal anzusehen, ging sie mit dir fort.
Auch dich interessierte nicht, dass ich, kaum, dass ihr mir den Rücken zugewandt hattet, zusammenbrach.
Und mich bis jetzt nicht bewegt habe.

Ich habe euch beiden alles von mir gegeben.
Und nun bin ich allein zurückgeblieben.
Allein…
Nicht einmal mein Spiegelbild ist mehr bei mir. Wenn ich jetzt auf eine reflektierende Oberfläche blicken würde, würde ich dort nichts sehen.
Gar nichts.

Ich habe alles verloren, was mir in meinem Leben wichtig war, außer meinem Leben selbst.
Doch will ich ein solches Leben überhaupt?

Ich werde wohl auf immer und ewig der Verlierer sein.
Und meine Schwester wird meine Träume leben.


Meine Augen brennen.
Meine Lunge schmerzt.

Oh… ich muss blinzeln… ich muss atmen…

Langsam setze ich mich auf.
Mein Blick streift ausdruckslos die Gegend.
Wie heißt es doch so schön?
Ach ja.
Der Gewinner nimmt alles, der Verlierer muss fallen.

Und so geschieht es auch mit mir.

Meine Schwester als die Gewinnerin nimmt alles.
Meine Träume, meine Liebe, meine Vergangenheit, mein Spiegelbild, meinen Halt… dich.

Auch du bist ein Gewinner.
Auch du nimmst alles, was sonst noch von mir übrig ist.
Mein Herz, meinen Glauben, mein Vertrauen, meine Selbstsicherheit, meine Zukunft, meine Rückzugsmöglichkeit von der Welt.


Zeit.
Ich brauche Zeit.
Zeit, bis ich verstehe.
Zeit, bis ich überwinde.
Zeit, bis der Nebel in meinem Kopf sich lichtet.

Vielleicht bin ich dann in der Lage dazu, aus der Riege der Verlierer emporzusteigen und die Gewinner hinabzutreten in den Abgrund des Verlusts.
Sollen sie doch dasselbe erleben und fühlen müssen, wie ich es gerade tun muss.

Ich will kein Verlierer mehr sein.
Ich will stark sein, stärker als die anderen, stärker als ihr.

Wartet nur ein wenig.
Gebt mir einfach nur ein wenig Zeit.
Dann werde ich euch finden, dann werde ich euch zerstören.



Dann werde ich der Gewinner sein…


o5 ~ Gift




Blutschnee.
So wird das rötliche Pulver genannt, das sich unter anderem in dem Hohlraum ihres Rings befindet.
Es ist ihr Liebling, denn sie hat es selbst entwickelt.
Ihre Augen rollen ruhelos in den Höhlen, die Lippen werden verzerrt von einem irren Grinsen.
Hysterisches Gelächter erklingt, wann immer ein Name von der Liste gestrichen werden kann.
Sabber rinnt ihr Kinn hinab, doch sie scheint es nicht zu bemerken. Ihre zu Krallen gefeilten Nägel zerkratzen ihr vernarbtes Gesicht und ihr ist es wohl egal, dass Blaue Rose, ein in Verbindung mit Feuchtigkeit säureartig wirkendes Pulver in die Wunden gerät und ihre Haut verätzt.

Ihre Zunge ist gespalten und hängt aus ihrem Mund, wenn sie lacht.
Sie muss es genießen, wenn sie frei ist, denn es ist nie für lange.
Sie ist zu gefährlich, sowohl für Unwissende, als auch für ihre Meister.

Mit den Augen ihrem nächsten Opfer folgend kratzt sie sich Reste von Abgrund unter den Fingernägeln hervor, das sie verwendet hat, um den letzten umzubringen.

Er hat so schön geschrien… Er hat geschrien, sich am Boden gewunden, sich in seiner eigenen Kotze gewälzt und sich in die Hose gepisst.
Es war ein Schauspiel, wie sie es nicht oft zu sehen bekommt.

Sie liebt den Schmerz, den ihre Schätzchen ihren Opfern bereiten, sie liebt das Winseln und Flehen, das Spucken und Keuchen, das Betteln und Heulen, wenn sie bemerken, dass es zu spät ist.
Deswegen töten ihre Mittelchen auch nicht gleich.
Sie lassen leiden…

Die verkrüppelten Finger ihrer linken Hand formen eine Klaue, die sie ihrem nächsten Opfer entgegenstreckt.

Er sieht gut aus, das nimmt selbst ihr von Wahnsinn vernebelter Verstand wahr.
Sie entscheidet sich für eine ganz besondere Methode.

Sich dabei selbst verletzend streicht sie eine grünliche Flüssigkeit auf ihre Lippen.
Smaragdwald nennt sich das Mittel.

Ihr Opfer kommt näher.
Langsam tritt sie aus dem Schatten. Er erblickt sie und erstarrt.
Sie glaubt, er wüsste, was auf ihn zukommt.
In Wirklichkeit ist er nur angeekelt von ihrer Hässlichkeit.

Sie grinst und zeigt die schwarzen Stümpfe ihrer Zähne.

Sie versucht zu sprechen, doch ihrem zerstörten Mund entkommen nur tierähnliche Laute.

Aber er hat auch wirklich Angst, sie kann es riechen.
Ihre schiefe halbe Nase kann jede Gefühlsnuance wahrnehmen.

Sie geht auf ihn zu, kratzt sich am Kopf und reißt sich dabei ein Stück bloßer Kopfhaut vom Schädel, die bleich durch die wenigen Haarbüschel zu sehen ist.


Er ist wie erstarrt.
Einerseits fürchtet er die Albtraumgestalt vor sich, doch andererseits kann er auch nicht wegsehen.

Sie tritt vor ihn hin, packt seinen Kopf und zieht ihn gewaltsam zu sich.
In ihrem ausgemergelten, verkrüppelten Körper steckt mehr Kraft, als man glauben würde.

Er wehrt sich, will zurückweichen, seine Augen sind weit aufgerissen.
Nun weiß er, wen er vor sich hat.

Das wandelnde Gift.

Ihre Fratze verzerrt sich erneut zu der Karikatur eines Grinsens, bevor sie seine Lippen auf die ihren presst.

Er schmeckt wohl das tannenartige Aroma, das typisch ist für Smaragdwald, denn in seinen Augen ist erneut Erkennen zu lesen.


Sie lässt ihn los.
Er taumelt.
Seine Hände fahren zu seinem Hals.
Er ringt nach Luft, stolpert und stürzt zu Boden.
Er zuckt und windet sich in Krämpfen, doch kein Laut dringt aus seiner Kehle.

Ihre Augen leuchten irr, wahnsinniges Lachen tönt durch die leeren Gassen.

Er stirbt.

Nun ist sie aber doch etwas enttäuscht.
Das war ja nicht gerade aufregend.
Smaragdwald wird sie wohl in nächster Zeit nicht mehr verwenden.

Nun hat sie jedoch noch etwas anderes zu tun.

Sie springt an eine Hauswand und klettert wie eine Fliege an ihr auf das Dach, von wo aus sie in einen anderen Stadtteil wandert.
Durch ein Fenster sieht sie, dass Blutschnee wohl gewirkt hat, denn der Präsident liegt in seinem eigenen Blut auf dem Boden.

Zufrieden holt sie ihre Liste hervor und streicht die beiden Namen durch.

Dann stockt sie.
Es ist niemand mehr übrig.

Ein gequälter animalischer Schrei entfährt ihr, als Hände nach ihr packen und ihre Arme in eine weiße Jacke zwängen, deren Ärmel hinter ihrem Rücken verknotet werden.

Sie schreit, brüllt und wimmert, wehrt sich, kratzt, beißt und nimmt nicht wenige der Angreifer mit hinab in die giftigen Tiefen eines von ihr verursachten Todes.


Sie sitzt in einer kleinen, ausgepolsterten Zelle und donnert ihren Kopf immer und immer wieder gegen die Gitterstäbe, die das einzig Harte in dem Raum darstellen.

Hat sie nicht immer das getan, was man von ihr erwartet hat?
Hat sie nicht schon, seit sie sich erinnern kann, immer kleine Dosen verschiedener Gifte geschluckt, um eine Immunität aufzubauen?
Hat sie nicht ihre körperliche und geistige Gesundheit geopfert, um ihren Meistern immer zu Diensten sein zu können?

Die Nebelschwaden, die ihren Geist umwölken, lichten sich ein Stück.
Was hat sie getan?
Sie hat ihren Körper verstümmelt, ihren Geist abgestumpft.
Unzählige Tode sind von ihrer Hand begangen worden.
Das Blut Tausender klebt an ihren Händen… und sie hat es genossen.
Sie hat es genossen…

Verzweifelt kreischt sie auf, doch das Schreien geht bald in ein Schluchzen über.

Und ihr Verstand umwölkt sich erneut.


So sitzt sie nun also mit einem irren Grinsen auf den Lippen in der kleinen Zelle und wartet darauf, wieder für kurze Zeit frei sein zu dürfen.

Dann, wenn ihre Meister ihr eine neue Liste zukommen lassen…


o6 ~ Garten Eden




Dunkelheit.
Finsternis.
Nur durchbrochen von Schatten.

Es ist ein Garten.
SEIN Garten.
Der Zaun besteht aus blutbefleckten Lanzen und Schwertern.
Bleiche Knochen pflastern den Weg.
Die auf verwesenden Fleischbrocken wachsenden Pflanzen sind missgestaltet, verkrüppelt, eine Karikatur ihrer irdischen Pendants.
Die Menschen sind nackt, versuchen, ihre Blöße zu bedecken, doch gibt es hier kaum anderes, als die Haut derjenigen, die zu fliehen versuchten, um sich zu kleiden.

Der Garten ist kreisförmig angelegt.
Alle Wege führen zu seinem Zentrum.
Einem Baum.
Wenn man dieses skelettartige Etwas überhaupt “Baum” nennen kann.
Seine Früchte sind verboten.
Doch auch wenn sie es nicht wären - die Bewohner des Gartens laben sich lieber an dem rohen Fleisch ihrer Mitmenschen, als einen der blutigen Augäpfel zu pflücken.

Neuankömmlinge sind entsetzt.
Dies soll es sein - das versprochene Paradies?
Doch sie können nicht mehr zurück.
Das einzige Tor öffnet sich nur in eine Richtung.
Wer den Garten betritt, bleibt hier.
Für immer.


Doch einmal im Jahr…
Einmal im Jahr verstummt das Schlachten, verstummt der Kampf, schweigen die verzweifelten Schreie.
Man versammelt sich um den Baum der Erkenntnis, um dessen Zweige sich eine haut- und augenlose Schlange windet.

Und immer um dieselbe Zeit erklingt ein Lied, süßer als die süßeste Melodie, schöner, als alles, was himmlische Chöre jemals hätten verkünden können.

Die Klänge tanzen durch die Reihen, heilen Verletzungen, stillen Hunger und Durst, erwecken die Toten wieder zum Leben…

Sie wecken Hoffnung…

Doch irgendwann verstummt die Musik und Schweigen legt sich über den Garten.
Tränen schimmern auf den Gesichtern.
Und dann erhebt sich das Klagen, das Wimmern.
Man verflucht Gott und seinen Verrat. Man verflucht seine Versprechungen und die eigene Blindheit.

Und dann beginnt der Überlebenskampf von Neuem, überwacht von der augenlosen Schlange, deren Maul ein Grinsen bildet.

Niemals mehr wird der Garten Eden nach dem Blut dürsten, das er zum Überleben braucht.

Die Menschen haben sich selbst in die Hölle geschickt…


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.10.2010

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