Angefangen hatte alles im Jahr 2039, als die Erde von Außerirdischen annektiert wurde. Der Zustand der Besetzung sollte sage und schreibe fünfunddreißig Jahre andauern. Dieser Zeitraum bedeutete für die Fremden jedoch nicht mehr als ein paar Wochen – sie rechneten in anderen Zeitdimensionen. Bevor die Herrschaft begann, versuchten viele dumme, einfältige hohe Tiere von der amerikanischen Regierung und vom Verteidigungsministerium Geschäfte mit den extraterrestrischen Besetzern zu machen. Nur ließen sich Letztere nicht darauf ein, denn erstens existierte das Wort Geschäft nicht in ihrem Vokabular, und zweitens gab es nichts, was sie begehrten, weil ihnen sowieso schon alles gehörte.
So ließ man das Weiße Haus links liegen und die größenwahnsinnigen Amis hatten von nun an nichts mehr zu melden, genauso wenig wie die anderen großen Nationen. Ganz zu schweigen davon, dass die NATO, die UNO, die EU und andere endgültig der Vergangenheit angehörten. Gelangweilt von der primitivsten Spezies dieses Sonnensystems zogen die Fremden im Jahr 2074 schließlich wieder ab. In den Runen, welche sie an einer der Mauern der Ruinen des zerstörten Pentagons in Washington D. C. hinterlassen hatten, stand:
Stellt euch vor: Zwei Drittel nehmen Ozeane, gefüllt mit Salzwasser, ein. Eine Wasserkugel mit den dementsprechenden Bewohnern, mit Wasserköpfen ausgestattet, denn ... ... der Homo sapiens ist ein hoffnungsloser Fall, der äonenlang nichts von großer Bedeutung zustande gebracht hat außer ein paar erwähnenswerten Errungenschaften wie in der Kunst, Architektur, Technik, Wissenschaft und Medizin. Nur, wozu all diese Errungenschaften? Noch immer herrschen Korruption, Krieg, Hungersnot, Armut, Elend und Epidemien. Zu den bemerkenswertesten „Eigenschaften“ dieser Menschheit muss man neben ihrer Unfähigkeit zur wahren geistigen Entwicklung besonders die ihrer unverfrorenen Arroganz zählen.
Als einst ein Mann namens Darwin seine These aufstellte, dass der Mensch vom Affen abstammt, fühlte sich der „Zivilisierte“ beleidigt. Und weiß er mal keinen Rat mehr, pflegt er sich unter dem Deckmantel seiner Religionen zu verkriechen. Die vermeintliche Krönung der Schöpfung verdankt ihre Fähigkeit, aufrecht auf zwei Beinen zu gehen, und ihre Macht über andere Lebewesen der Fauna und der Flora einer zufälligen Laune der Natur ... einer Laune von großem Übel!
Und dieser moderne Neandertaler bildet sich doch tatsächlich ein, er könne sich mittels seines abgrundtiefen Niveaus – und mit seinen lächerlichen Raketen und Space Shuttles – eine Zukunft im Weltall erschließen.
Brüder und Schwestern: Wir haben mit dieser Spezies nur unsere Zeit verschwendet, denn auf dem Mond haben wir weder eine US-Flagge noch irgendwelche Fußspuren von Astronauten und Spuren von einer Landefähre oder von einem Lunar Roving Vehicle entdeckt. Es hat also niemals eine einzige Mondlandung in der Wirklichkeit stattgefunden. Es war alles nur inszeniert worden via Television, und dies lediglich zum Zweck eines Milliardengeschäfts und eines Politikums. Jener globale Schwindel suchte seinesgleichen. Und warum? Weil die Amerikaner aufgrund von mehreren Attentaten auf hohe Politiker und wegen eines grauenhaften und lang anhaltenden Krieges gegen Vietnam – ein Land in Südostasien - und der von 1960 bis 1975 dauern sollte, weltweit als Schurkenstaat verschrien waren. Anhand eines glorreichen, galaktischen Triumphs, der eben nichts anderes als eine Farce war, verbunden mit physikalischen Anomalien, vermochten sie wunderbar von ihren Problemen abzulenken. Das gesamte Apollo-Programm sollte sich vor allem als eine glänzende Gelegenheit erweisen, um sich von der Schmach ihrer vergangenen Super-GAUs reinzuwaschen.
Nach der ersten Mission, benannt 'Apollo 11', im Jahr 1969 waren sie jedenfalls siebzig Jahre lang die Heroes of the world. ... Und dann, im Jahr 2039 kamen WIR! Unsere Landungen waren nicht inszeniert, denn keine anderen als WIR besetzten die Erde. Dabei können diese Terraner überhaupt keine taugliche Raumfahrt betreiben. Diese „Daniel Düsentriebe“ sind nicht mal fähig, den Strahlengürtel zu durchbrechen und den Erdorbit zu verlassen. Vom technischen Standpunkt her leben sie immer noch in der Steinzeit. Und irgendeine Sonde auf dem Mars haben wir ebenfalls nicht ausgemacht.
Dafür produzierten die Erdlinge manchmal wirklich hervorragende Science-Fiction-Filme; die bemannten, vermeintlichen Mondlandungen bis zum Jahr 1972 von einem genialen Regisseur namens Stanley K. zählen bestimmt nicht zu seinen besten aber mit Sicherheit zu seinen überzeugendsten Werken!
In seinem besten Epos erscheint ein riesenhafter, schwarzer Monolith, eine Metapher für die gigantische Evolution der Menschheit. Nun, der Wunsch ist der Vater des Gedankens. Aber leider produzierten sie auch zahlreiche debile Filme mit aufgeblähten Special Effects, in denen sie sogar Außerirdische wie UNS besiegen, die ihnen eben vom technischen und geistigen Fortschritt um Jahrhunderte voraus sind, aber dennoch nichts weiter als dumme Primaten dargestellt werden. Dabei ist er selbst nicht mal imstande, auf seinem eigenen Planeten in der Gegenwart zu existieren, weil er sich von seiner unrühmlichen Vergangenheit immer wieder einholen lässt, besonders durch die sich andauernd wiederholenden Kriege. Kurz: Er ist und bleibt unglaublich beschränkt und verblendet. Sein unverzeihlichster Fehler ist vielleicht der, dass er sich nie in Frage stellt. Er macht sich die eigene Natur zum Feind. Einer der ganz großen Denker dieses Volkes, Heraklit, der Dunkle, genannt – ein Philosoph, ein Vorsokratiker und der vor vielen Äonen lebte –, traf einst den Nagel auf den Kopf: „Die meisten Menschen sind schlecht und nur wenige taugen etwas. Die meisten denken nur daran, sich wie die Herdentiere satt zu essen.“ Dem kann man noch Folgendes hinzufügen: „Und rennt der Leithammel auf einen Abgrund zu, dann rennen sie mit, um mit ihm zusammen in die Tiefe zu stürzen ...“
So haben wir lediglich ein „paar Wochen“ hier unten mit diesen terranischen Affenmenschen verschwendet.
So bleibt diesen fern, Brüder und Schwestern, und verschwendet nicht auch noch eure Zeit! Soll doch diese blaue Scheißkugel von einem schwarzen Loch verschluckt werden!
Diese Runen waren unzerstörbar und es war auch nicht möglich, sie zu entfernen. Die betreffenden Zeichen besaßen die besondere Eigenschaft, ihre Botschaft weit ins unendliche All zu strahlen; quasi als Warnung für eventuell vorbeikreuzende Raumschiffe späterer Generationen der besagten einstigen Annektierer, die nur alten terranischen Kulturen wie denen der Mayas, Inkas, Azteken, Sumerer, Ägypter, Römer, alten Griechen und besonders der asiatischen Kulturen, wie zum Beispiel den Chinesen oder den alten Khmer, Respekt zollten und Bewunderung entgegenbrachten.
Die Menschheit brauchte rund zehn Jahre, um wieder zu ihrer eigenen Kultur zurückzufinden. Die außerirdischen Herrscher-Nomaden hatten vorher alles umgekrempelt. Und mittlerweile aber war eine Dynastie entstanden, welche ein Imperium erschuf, die das Zepter für die Zukunft übernehmen sollte. Es war nämlich nicht zu vermeiden gewesen, dass sich einige beider Rassen miteinander vermischt hatten. Zwischen 2084 und 2090 wurde auf der einstigen Fläche New Yorks die Stadt Atlantapolis erbaut. Die ehemaligen Annektierer hatten den Mischlingen ein beträchtliches Maß an Wissen und eine Handvoll Innovationen hinterlassen. Das komplizierte Cyborg Genetic Engineering jedoch war nur der Elite vorbehalten.
Der BIZARRE-Konzern besaß nicht nur die uneingeschränkte Macht über die ganze Stadt und Umgebung, sondern praktisch über den gesamten Erdball. Es existierten aber noch schätzungsweise an die zwanzigtausend Widerstandskämpfer. Sie hausten in geheimen Basen. Ihre Gefährlichkeit durfte man nicht unterschätzen, da sie im Besitz mehrerer Atomraketen waren.
Hauptaktionär dieses Konzerns war der Bürgermeister der 50-Millionen-Stadt, Fred Lang, Sprössling einer Erdenmutter und eines außerirdischen Vaters. Der Konzern hatten einen strengen Moralkodex erschaffen und die entsprechenden Gesetze erlassen.
BIZARRE verfügte über eine eigene Polizei, Armee und einen Geheimdienst. Wer sich den Gesetzen widersetzte, wurde dafür schwer bestraft. Für Verbrecher hatte man auf einer Insel, etwa dreißig Kilometer außerhalb der Stadt, einen gigantischen Gulag errichtet, in dem man ungefähr eine Million Gefangene internieren konnte. Allerdings waren die Bedingungen in diesem Arbeitsstraflager derart hart, dass nur die wenigsten Lust auf einen jahrzehntelangen Aufenthalt auf der Falcatrazz-Insel verspürten. Das Resultat: Lediglich ein paar Tausend Sträflinge waren dort inhaftiert. Ein Ausbruch war unmöglich, dafür sorgten nicht nur eiserne Zellen, sondern auch die eisernen Gesellen, die Robotguards. Auf gewisse Vergehen stand die Todesstrafe. Die Hinrichtung wurde live per Holografie-Television übertragen. Vorsätzliche Vergewaltiger, Triebverbrecher und Pädophile pflegte man auf der Stelle mit einem Laserbohrer – selbstverständlich ohne Narkose – zu kastrieren, um sie anschließend verbluten zu lassen. Raubmörder schnallte man auf einen stählernen Stuhl und verpasste ihnen einen Säuremantel, der diese innerhalb von Minuten auflöste.
Zu den gefürchtetsten Deliquentenjägern zählten die Fahrenheit Chameleons; Chamäleon-Männer, deren Kameraaugen mit den dazugehörigen Infrarot-Zooms aus jeder erdenklichen Perspektive jedes lebende Objekt ausmachten. Den hochsensiblen Sensoren, welche auf Wärme und Bewegung reagierten, entging nichts. Außerdem konnten sie während der Verfolgung zwecks Tarnung gleich eines Gestaltwandlers jegliche Lebensformen annehmen, und dies in Sekundenschnelle. An ihren meterlangen, herausschnellenden Zungen blieb man kleben und die in den Armen eingebauten Flammenwerfer und Napalmbomben brachten die Gejagten gnadenlos zur Strecke. Dann waren da noch die Holocaust Hornets, Killer-Drohnen, tierische Cyborgs, die geflügelten Legionen von monströs aussehenden Roboter-Hornissen. Die Stacheln injizierten den Verfolgten flüssigen Nitro-Nektar – eine Art von Nitroglyzerin –, der die Körper bei der geringsten Bewegung explodieren ließ. Der Stützpunkt dieser eifrigen Tierchen lag an einem geheimen Ort in der künstlichen Eldorado-Wüste aus Goldsand – und Gestein.
Ja, die Wüste lebte ... Nein, Verbrechen zahlten sich in Atlantapolis nicht aus!
Gold besaß übrigens ungefähr denselben Wert wie ganz normaler Sand, Diamanten und andere Edelsteine entsprachen dem Wert von Kandiszucker, seit es die Neo-Alchimisten herstellten. Notabene: Das gesamte Bankensystem - ohne Zinsen - kontrollierte ausschließlich die BANK OF BIZARRE. Kreditkarten, Kryptowährungen und dergleichen waren abgeschafft worden. Zahlungen wurden einzig und allein mit Bargeld getätigt. Die Fed, Zentralbanken, Börsen für Aktien, Rohstoffe und Edelmetalle existierten schon lange nicht mehr. Die baufälligen Gebäude der ehemalige Wallstreet dienten nur noch als Zufluchtsorte für Drogensüchtige, Alkoholiker und Penner.
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Der Velvety V.I.P. war ein Edel-Nightclub in der 13th Avenue am Broadway 6. Die Schicht, welche in diesem Klub verkehrte, zählte zu den oberen Zehntausend. ... und Kara Geneuve zählte dazu. Als Ex-Frau eines bekannten Modezaren bezog sie monatliche Alimente von 50.000 Inter-Dollar, was ihr somit ein sorgenfreies, luxuriöses Leben in Saus und Braus ermöglichte.
Sie wohnte in ihrer eigenen 10-Zimmer-Villa im bewaldeten Atlan-Bezirk der Stadt. Kara stand ganz speziell auf junge Männer und Frauen, und diese standen nicht nur wegen ihres Geldes auf sie. Denn für ihr Alter, dreiundfünfzig, sah sie noch verdammt gut aus. An diesem Abend im Klub war sie besonders gut drauf und kippte einen Vamp-Cocktail nach dem anderen. Kara befand sich in der illustren Gesellschaft von prominenten Schauspielern, Popsängern, Stadträten und hohen Offizieren der B.A.S.T. (Bizarre Army Storm Troops).
Es war erst kurz vor 21 Uhr und ein wenig zur Verwunderung ihrer Freunde verließ sie den Klub heute Abend etwas früher als gewohnt.
Die Frau stieg in ihren Gleiter, den sie erst vor wenigen Wochen erworben hatte: das Luxusmodell Toy 3000 der Yota City Shuttles. Die aktuellen Modelle verfügten über einen neuen Anti-Gravitations-Modulator. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser einmal ausfallen sollte, war etwa 1 zu 1.000.000. Bei den konventionellen nur 1 zu 100.000. Die Toy 3000 waren mit einem im Dach installierten Fallschirm ausgerüstet sowie Schleudersitzen mit Minifallschirmen – auch für Beifahrer – und zudem noch mit einem Airbag-System, welches die Insassen bei einem Aufprall von allen Seiten schützte.
Siebzig Prozent der städtischen motorisierten Verkehrsteilnehmer waren Auto- und Motorradfahrer, die restlichen dreißig Prozent fuhren Autogleiter, die etwa zehn bis fünfzig Meter über dem Asphalt schwebten (allein die Wohlhabenden konnten sich private Shuttles leisten).
Die Polizei verfügte über die schnellsten, mit Spezial-Turbo angetriebenen Modelle. Diese Shuttles entlasteten den Straßenverkehr wesentlich. Die für Fahr- und Flugzeuge umweltunbedenklichen Treibstoffe hießen Vulcano S3 und Vulcano S12. Die Formel zur Herstellung war geheim, und, wie nicht anders zu erwarten, von BIZARRE entwickelt worden.
Am heutigen Nachmittag war die Kollektion der neusten Schneefelle, die Kara Wochen zuvor bestellt hatte, bei ihr zu Hause eingetroffen; Nylonjacken mit großen Kragen aus Waschbär, Fuchs und Nerz, Jacken mit Nerzfutter (geschoren) sowie Poncho-Tücher mit Fuchskragen (bunt eingefärbt), Kaschmir-Swinger mit Blaufuchsmanschetten, Vollpelzmäntel und Saga Nerz für insgesamt 41.370 Inter-Dollar.
Kara Geneuve, selbst Hauptaktionärin einer Pelzfarm, konnte es kaum erwarten, die neue Kollektion auszuprobieren. Das war auch der Grund gewesen, warum sie das Velvety V.I.P. heute so früh verlassen hatte.
Die vielfarbigen, leuchtenden Firmenembleme majestätischer, mehreckiger oder ovaler Wolkenkratzer, die knallgrellen Neonbeschriftungen unzähliger Geschäftshäuser, Restaurants, Cafés und Spielcasinos und die schwebenden, vorbeigleitenden Scheinwerfer der City Shuttles erhellten die am Tag bedrohlich wirkenden Stadtschluchten zu einer einzigen überdimensionalen Lichtorgel.
Kara glitt nun durch die kilometerlangen Pfeiler der New Narrows Bridge, passierte die Baustelle des neusten Air-Taxi-Standes der Call An Air Cap Company, kurz: C.A.A.C.C.
Wenn man genau drauf achtete, konnte man Einstiegsluken für die Katakomben der ehemaligen Subway ausmachen, welche jetzt als Behausung für die arme Bevölkerung der Stadt dienten. Das unterirdische Reich war wahrscheinlich noch eines der wenigen architektonischen Überbleibsel der ehemaligen amerikanischen Großstadtkloake namens New York.
Als altes, sehr hartnäckiges und sehr typisches Überbleibsel der menschlichen Spezies musste man die Armut bezeichnen. Die Kriminalität hielt sich in Grenzen, nur eben die Armut nicht.
Die Underground Area wurde durch patrouillierende Polizisten und permanente Kameraüberwachung der BIZARRE City Police rund um die Uhr kontrolliert. Big Bizarre-Brother is watching you! Anstelle der früheren U-Bahn hatte man praktisch die ganze Metropole mit einer Schwebebahn vernetzt.
Kara bog gerade in den Broadway 4 ein, als es passierte ... Der Aufprall kam von links und mit einer solchen Wucht, dass Karas Gleiter sogleich ins Trudeln kam. Die Frau am Steuer hatte jetzt vollends die Kontrolle über den Yota Shuttle verloren, weil ihr die aufgeblasenen Airbag-Schutzkissen die Sicht nahmen.
Das sonst kaum hörbare und gleichmäßige Summen des Motors verwandelte sich jetzt in ein drohendes Bullern. Sie geriet in Panik und wollte den Knopf „Eject“ für den Schleudersitz betätigen, obwohl sie merkte, dass der vollautomatische Fallschirm auf dem Dach bereits aktiviert war und sich gerade öffnete. Sie drückte auf den Knopf ... aber nichts passierte mit den Schleudersitz ...
Der Fallschirm des Gleiters, der Karas Gleiter mit voller Wucht gerammt hatte, war nun ebenfalls geöffnet. Wie in Zeitlupe glitten die beiden City Shuttles dicht nebeneinander gut zwanzig Meter über den breiten, vierspurigen Broadway 4. Da Kara Geneuve inzwischen eine Ohnmacht befallen hatte, merkte sie nicht mehr, wie die linke Flügeltür geöffnet wurde, sich eine Hand durch das aufgeblasene Schutzkissen schlitzte, den Sicherheitsgurt zerschnitt und ihren linken Arm ergriff.
Das Knistern des Kaminfeuers mischte sich in die letzten Sequenzen ihres kurzen, aber heftigen und verwirrenden Traumes, den sie während ihres Schlafes gehabt hatte.
Als Erstes sah Kara tanzende Schatten, die vom Lichtschein des Feuers auf die dunkelblauen Wände geworfen wurden. Der Geruch von Lavendelöl stieg in ihre Nase. Sie blickte nach unten und erschrak; zwei kugelige Augen starrten sie an ...
Aber dann erkannte sie, worauf sie lag. Sie lag auf einem breiten transparenten Spezialkunststoffsofa, das zugleich als Aquarium für exotische Zierfische diente, in dem Prachtschmerlen und andere pittoreske Prachtexemplare herumschwammen. Dem an der Decke aufgehängten Lautsprechernetz entfuhr Ponchiellis Tanz der Stunden.
Die in einer Wand eingelassene Bibliothek enthielt digital gespeicherte Medien von klassischen literarischen und musikalischen Epen des 20. und 21. Jahrhunderts.
Kara erhob sich langsam und fühlte eine leichte Benommenheit in ihrem Kopf. Zuerst streckte sie ihre Glieder, schüttelte ihre blonde Löwenmähne und schritt dann, noch ein wenig unsicher auf den Beinen, auf den Kamin zu, in dem zu ihrem Erstaunen rote, grüne und violette Flammen züngelten. Von diesem Feuer ging etwas Magisches aus, es faszinierte sie und zog sie unwillkürlich an.
Die Frau wusste nicht, was sie plötzlich dazu veranlasste, mit der rechten Hand in die Flammen zu greifen, welche sie jedoch zur ihrer Überraschung eisige Kälte verspüren ließen. Ihre Hand zuckte sofort wieder zurück.
„Ein toller Effekt, was?“
Der nur einen Moment lang anhaltende tranceartige Zustand, in dem sich Kara noch soeben befunden hatte, war auf einmal verschwunden. Sie drehte sich um.
Eine etwa ein Meter neunzig hohe Gestalt in einem rot-grün gestreiften Kunststoffkombi und mit kurzen violetten Haaren musterte sie lächelnd.
Die Frau war vielleicht fünfundzwanzig, vielleicht sogar dreißig, und ihr Gesicht kam Kara irgendwie bekannt vor. Die Frau sprach weiter mit ihrer angenehm klingenden Stimme, die beruhigend, aber gleichzeitig auch fremdartig auf Kara wirkte:
„Anhand einer kleinen Demonstration habe ich dir gezeigt, dass ich in der Lage bin, dir mit einem ‚Hypnosis Suggestor‘ meinen Willen aufzuzwingen und mit einem Sinnes-Konverter für dein Empfinden Hitze in Kälte umzuwandeln. Aber das war nur eine kleine Spielerei, denn man kann damit noch ganz andere Sachen anstellen.“
„Wer bist du ... was ist passiert und ... wo bin ich?“, fragte Kara Geneuve und war noch ganz erstaunt über die Anwesenheit dieser geheimnisvollen, charismatischen Frau.
„Mein Name ist Elektra Foss.“
„Elektra Foss?! Natürlich: DIE Elektra Foss; Präsidentin von ‚Synthetic Elements‘, einer der bekanntesten Firmen von Atlantapolis“, wusste Kara.
„Ja, sehr richtig ... Wir arbeiten mit BIZARRE zusammen, momentan an einem neuen Modell des Eronauten ‚Sexus Plus‘, du weißt schon; die Cyborg Love Dolls. Die neue Serie stellt die alte bei Weitem in den Schatten.“
„Ah, wie interessant! Und ich bin Kara Gen...“
„Ich weiß!“, unterbrach Elektra sie. Dann erklärte sie:
„Ich kenne dich genau. Ich weiß so manches über dich, Kara ... Aber lassen wir das. Sicher möchtest du wissen, was passiert ist. Nun, ich habe dich aus Versehen mit meinem City Shuttle gerammt. Du wurdest ohnmächtig. In letzter Minute konnte ich dich aus deinem Gleiter zerren und dich somit retten. Anschließend brachte ich dich gleich hierher in meine Villa. Du hast nur einen kleinen Schock erlitten, ansonsten bist du völlig in Ordnung. Ich verspreche dir, dass ich für einen neuen Yota aufkommen werde, denn dein alter ist, nachdem ich dich herausgezerrt habe, völlig zu Bruch gegangen.“
„Wenn du wüsstest, wie dankbar ich dir für deine Rettung bin. – Übrigens, in welchem Stadtteil befinden wir uns hier?“
„Ach, nicht die Rede wert. – Wir sind hier im C. Lee Conan Valley, ungefähr dreihundert Flugmeilen nördlich vom Broadway Centre, wo sich der Unfall ereignet hat.“
Kara warf wieder einen Blick auf das rot-grün-violette Feuer. Dann stand sie auf und trat erneut an den Kamin heran. Diesmal hielt sie ihre Hand aus eigenem Antrieb in die Flammen. Schnell zog sie sie wieder zurück, um sich nicht zu verbrennen.
„Nein, das ist keines der synthetischen Feuer, die meine Firma für Festivitäten, Paraden, Partygags und dergleichen produziert. Es ist echt. Es war, wie ich dir ja bereits vorher erklärt habe, der Sinnes-Konverter, der dich vorhin Kälte verspüren ließ“, meinte Elektra schmunzelnd.
Diese Foss, die sie bisher nur von den Medien her gekannt hatte, gefiel ihr. Eine Frau, die sie auch sexuell als sehr begehrenswert empfand. Und wie es aussah, beruhte das auf Gegenseitigkeit. Kara besaß eine Antenne dafür.
„Warum tragen dein Kombi und dein Haar dieselben Farben wie die Flammen?“, wollte sie nach einer Weile wissen.
„Weil es toll aussieht“, meinte Elektra und schritt zu der in der Keramikwand eingelassenen Bar.
Während sie zwei Rasputin-Wodka einschenkte, bewunderte ihre Besucherin das pompös eingerichtete Wohnzimmer.
Kara konzentrierte sich nun ganz auf den riesigen Orientteppich, auf dem sie stand und der eine große Fläche des Raumes einnahm.
„Aha, eine Pazyryk-Nachbildung. Sieht täuschend echt aus. Eine synthetische Meisterleistung deiner Firma, ohne Zweifel“, bemerkte sie.
Elektra lachte und überreichte der anderen den Wodka.
„Es ist der ECHTE! Der älteste Teppich der Welt, der im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt in Sibirien entstand, mit 320.000 Knoten pro Quadratmeter ... Vermutlich Plünderer hatten ihn damals, 2039, nachdem St. Petersburg von den Außerirdischen zerstört worden war, aus den Ruinen der Ermitage entfernt. Wie du siehst, weist das Prunkstück ein paar Schäden auf, wenn auch unerhebliche. Während der extraterrestrischen Besetzung besaßen derartige historische Antiquitäten so gut wie keinen Wert. Erst viele Jahre später, nachdem die Besetzer wieder abgezogen waren, bot man den Teppich im Schwarzhandel an, natürlich für ein Vermögen, und da habe ich sofort zugelangt.“
„Aber wie kannst du nur dieses so kostbare Stück, das einmalig auf der ganzen Welt ist, als Teppich benutzen? Er sollte doch ...“, empörte sich jetzt Kara.
„Pah“, winkte Elektra Foss ab, „was ist schon ein Teppich! Vor Jahren haben mir solche ‚Souvenirs‘ noch imponiert, aber heute würde ich dieses Ding nicht einmal mehr kaufen, schade ums Geld. Klar, ich könnte es verscherbeln, aber Geld besitze ich genug.“
Der Rasputin-Wodka schmeckte Kara vorzüglich.
„Bevor ich dich nach Hause fliege, lass uns einen Augenblick nach draußen gehen und frische Luft schnappen, das wird uns guttun. Wir haben nämlich noch einen relativ langen Flug vor uns“, schlug Elektra vor und öffnete per Fernbedienung eine breite, gläserne Tür.
Sie betraten eine geräumige und hell erleuchtete Veranda, dann einen imposanten Park, wie man ihn normalerweise nur für eine Residenz anlegte.
Der ebenfalls beleuchtete Park war von purpurfarbenen, meterhohen, gezackten Mauern umschlossen, deren Wände mit eingemeißelten Hieroglyphen verziert waren.
„Die Schriftzeichen: ein Vermächtnis der Galaktischen ... Anscheinend ist nur eine begrenzte Anzahl von Leuten fähig, sie zu entziffern“, erklärte Elektra Foss.
Die beiden Frauen kamen an einem der mehreren dickstämmigen Bäume vorbei.
Und plötzlich tauchte eine groß gewachsene Gestalt hinter dem Baum auf. Kara fuhr vor Schreck zusammen.
Die unheimlich erscheinende Gestalt hielt einen runden, flachen Gegenstand von der Größe eines Autorades in ihrer rechten Hand und nahm eine ähnliche Pose wie die eines Diskuswerfers ein.
Schließlich entpuppte sich die als eine wie ein griechischer Athlet aussehende Skulptur von Fred Lang, dem Bürgermeister von Atlantapolis und Besitzer des Imperiums BIZARRE.
Kara bestaunte jetzt das von wahrer Meisterhand geschaffene Kunstwerk. Lang kannte sie zwar nur flüchtig, aber man sah, der Bildhauer hätte den Imperator nicht besser treffen können. Die Skulptur wirkte unglaublich real, plastisch und verbreitete eine Aura, als ob Lang höchstpersönlich anwesend wäre. Seine langen, tiefen Gesichtsfurchen, die scharfe Adlernase, das energische Kinn, das ihm grobschlächtige Züge verlieh, sowie sein ausdrucksvoller Blick in den Augen verrieten eine starke, ausgeprägte und dominierende Persönlichkeit, für die er so berühmt wie auch verhasst war.
„Was ist mit dem echten Pazyryk-Teppich, willst du ihn mir nicht verkaufen?“, fragte Kara ihre Gastgeberin.
„Du bist ja ganz schön scharf auf dieses Ding“, stellte Elektra erstaunt fest.
„Mal sehen, aber lass uns doch während des Fluges darüber verhandeln.“
Ja, der Teppich ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie musste ihn ums Verrecken haben! Ihre Bekannten von der High Society würden platzen vor Neid und deren körperliche Bestandteile würden in den Weltraum hinausbefördert werden.
Dieses historische Kleinod sollte einen ganz besonderen Platz in ihrem Haus einnehmen. Dann die Vernissage; ein rauschender Ball: die Pazyryk-Party, von der man noch in Jahrzehnten reden würde. Mit Gästen, an deren Gesichtern man genau den Zeitpunkt erkennen konnte, wann die Bewunderung in Neid umschwang.
Aber womöglich erwies sich der Teppich doch als eine Fälschung! Nun, versierte Kunstexperten mussten sowieso her. Kara wollte die Besitzerin darauf ansprechen, aber diese war auf einmal verschwunden. Kara war vor lauter Begeisterung völlig in Gedanken versunken gewesen und hatte das Verschwinden Elektras nicht bemerkt.
„Elektra ...!?“
Kara konnte sie jedoch nicht ausmachen und sah sich suchend um.
Sie vermeinte ein Glitzern an den purpurroten Mauern zu sehen, die den Park wie einen Kessel umgaben. Die galaktischen Hieroglyphen leuchteten auf, strahlten und bildeten sich zu einem einzigen, laserartigen Lichtbündel, das in Richtung der aufgestellten Fred-Lang-Skulptur schoss. Die Skulptur mit dem diskusähnlichen Gegenstand schien sich zu bewegen, zu drehen ...
Dann sah die Frau das Feuer, das sie für einen Moment an eine olympische Fackel erinnerte. Doch Sekunden später veränderte sich die Form des Feuers, dessen purpurrote Flammen die jetzt erschrockene Kara einkreisten. Sie vernahm ein penetrantes und stetig lauter werdendes Surren aus der Luft. Etwas flog mit ungeheurer Geschwindigkeit auf sie zu ...
Das jetzt schwirrende und mit Eisenzähnen bewehrte Fangfrisbee glich im geöffneten Zustand einer nach unten gekehrten fleischfressenden Pflanze, die mit ihren Tentakeln die Beute umschlingt. Und diese stülpten sich ruckartig über den Kopf und die Schultern Karas. Die Frau lag nun paralysiert auf dem Rasen.
Die Skulptur, welche den Diskus werfenden BIZARRE-Imperator darstellte und das Fangfrisbee geworfen hatte, kam näher ... Ein Cyborg! Und schon tauchte Elektra Foss im purpurfarbenen Kombianzug auf. Ihre kurzen Haare wiesen dieselbe Farbe auf wie das Outfit der Trägerin und die des lodernden Feuers.
Die eisernen Zähne des teuflischen Wurfobjekts waren Kara tief ins Fleisch gedrungen und hatten unzählige Wunden verursacht. Elektra entfernte das Frisbee vom Kopf und vom Oberkörper des stöhnenden und blutenden Opfers, ließ die Greifarme einziehen und überreichte es dem Lang’schen Cyborg, der sogleich wieder seine ursprüngliche Pose einnahm und darauf erstarrte.
Die Foss begann zu sprechen:
„An einem richtigen Feuer kann man sich die Finger und noch mehr verbrennen, ich erinnere da an die Hexenverbrennungen in der Zeit der legendären Inquisition im Mittelalter. Ein richtiges Feuer kann bekanntlich großen Schaden anrichten, ein synthetisches hingegen, wie es meine Firma für Showzwecke produziert, schadet niemandem, fügt niemandem Schmerzen zu; es erfreut nur das Auge. Und wegen eines synthetischen Nerzes muss auch kein Tier unermessliche Qualen leiden, im Gegensatz zu einem echten Nerz. Farmen zur Züchtung von Pelztieren sind bereits seit Jahren verboten. Geheime Farmen existieren aber nach wie vor, weil leider, und sehr zum Leidwesen der Tiere, die Nachfrage da ist und der illegale Pelzhandel blüht. Du, Kara Geneuve, bist Inhaberin einer solchen Pelzfarm, die ihren Sitz in den Mahagonny Woods von Atlanta County hat, oder besser gesagt: HATTE, denn noch in dieser Nacht wird sie dem Erdboden gleichgemacht. Du besitzt auch für deine privaten Bedürfnisse echte Pelze im Überfluss und triffst dich mit verwerflichen Gleichgesinnten und mit deinen Kunden bei geheimen Partys und präsentierst sie voller Stolz. Ja, wie du siehst, habe ich dich schon lange im Visier. Erst heute Nachmittag hast du dir die neuste Kollektion von Schneefellen kommen lassen. Eigentlich ist es überflüssig zu erwähnen, dass ich den Shuttle-Unfall des heutigen Abends mit voller Absicht verursacht habe und dabei die Eject-Schaltung des Schleudersitzes an deinem Yota-Kreuzer mittels Störwellen außer Betrieb setzte, damit du mir nicht noch durch die Lappen gingst. Wie man weiß, trägt BIZARRE das Erbe der Galaktischen in sich, die vor sechsundfünfzig Jahren unseren Planeten besetzten. Wie du weißt, widerspricht es deren Humanität, Kreaturen jeglicher Art heranzuzüchten, sie leiden zu lassen und zu töten, nur zu dem Zweck, die krankhafte Eitelkeit narzisstischer Individuen, wie du eines bist, zu befriedigen und schlussendlich noch Profit daraus zu ziehen. Auf dieses Vergehen steht die Todesstrafe, die ohne Gerichtsverhandlung und unverzüglich vollstreckt werden muss. BIZARRE führt ihre Inquisition kompromisslos durch. Auch an echten Pelzen kann man sich die Finger verbrennen ... und die gefundenen echten Pelze werden verbrannt, die befreiten Pelztiere in einem Zoo angesiedelt, wo sie unter optimalsten Bedingungen leben können, oder sie werden einfach freigelassen.“
„Wer ... oder was bist du wirklich ...?“, stöhnte die unter unsäglichen Schmerzen leidende Kara Geneuve.
„Ich bin Elektra Foss, aber auch ein Bunny Bizarre, und stehe im Dienst von BIZARRE. Als weiblicher Cyborg, eine androide Amazone auf höchstem Level, die dazu auserkoren ist, eine enorm wichtige Aufgabe zu erfüllen: die Erhaltung einer im imperialen Ehrenkodex eingebetteten Moral. Kurz, ich übe die Funktion einer Pelzschlampen-Killerin aus. Mit Freude erfülle ich meine heilige Mission. Ja, du hörst richtig: mit Freude! Weil Cyborgs unmittelbar nach ihrer Entstehung eigene emotionale Reaktionen entwickeln. Eine Androidin zwar, aber nichtsdestoweniger perfekt konstruiert, auf humane wie auch auf feminine Weise: Meine Konstrukteure haben mir neben dem perfekt computergesteuerten Großhirn, das natürlich in seiner Kapazität das des Menschen bei Weitem übertrifft, auch einen Geschlechtstrieb in das Kleinhirn integriert. Zusätzlich sind wir noch mit den entsprechenden Geschlechtsorganen ausgestattet. Nur eine Gebärmutter besitzen wir nicht, da Cyborgs beiderlei Geschlechts unfruchtbar sein müssen. Doch damit kann man leben ... Nun, liebste Kara, viele sind vor dir gegangen und viele werden nach dir folgen. Sie alle verbrannten und verbrennen im purpurroten Feuer. Die Lebenserwartung eines Bunny Bizarre beträgt genau neunundneunzig Jahre. Sie kann jedoch verlängert werden. Denn jede Pelzschlampe, die ich kille, bringt mir neun weitere Jahre Lebenserwartung ein. Anhand meiner zweihundertsiebenundneunzig Jahre, die ich durch deine Vollstreckung erreichen werde, kannst du dir ausrechnen, wie viele Pelzschlampen ich bereits ins Jenseits befördert habe ... Ja, mein ‚Schatz‘, du bist meine zweiundzwanzigste!“
Kara Geneuve war nicht fähig, sich zu bewegen. Nur das Spüren der barbarischen Schmerzen, das Hören von Elektras schneidender Stimme und der prasselnden Flammen im Hintergrund, das Sehen des klaren Sternenhimmels, das Riechen von Elektras fremdartigem Parfüm und der hässliche Geschmack ihres eigenen Blutes erinnerten sie daran, dass sie noch lebte.
Elektra beugte sich über sie.
„Bevor ich dich den Flammen übergebe, sollst du erfahren, wie es ist, wenn einem bei lebendigem Leib das Fell abgezogen wird. Ich werde dich vollständig schinden. ... Wenn ich dir die Oberhaut – ich glaube, sie besteht aus einer Horn-, einer Stachel- und einer Basalschicht – abziehe, wird der Sinnes-Konverter eingeschaltet sein – du erinnerst dich sicher an die vorherige Demonstration mit dem Kaminfeuer. Man kann mit diesem nicht nur Hitze in Kälte und umgekehrt umwandeln, sondern auch Schmerzen in Lustgefühle und umgekehrt. Den ‚Hypnosis Suggestor‘ brauche ich natürlich jetzt nicht mehr. Du wirst wundervolle Orgasmen erleben wie noch nie zuvor in deinem Leben. Aber nur für kurze Zeit ... denn danach kommt die zweite Stufe: Beim Abziehen deiner zweiten Haut, der Lederhaut, werde ich den Konverter einfach nur abstellen und du wirst ebenfalls auf deine Kosten kommen, nur mit dem Unterschied, dass es dann halt für dich ein bisschen weniger schön sein wird als bei der ersten Stufe ...!“
Die regungslose Kara schwitzte und wimmerte vor Todesangst. Flehend bettelte sie um Gnade, was zwar kein Fremdwort für den weiblichen Cyborg bedeutete, doch hier sicherlich fehl am Platz war. Bunny Bizarre streckte ihre lange, feingliedrige rechte Hand aus, aus deren Mittelfinger ein zehn Zentimeter langes, rasiermesserscharfes Skalpell herausschnappte. Dann brachte sie der Pelzschlampe den ersten Schnitt bei ...
Für sehr lange Zeit sollte der Sommer im Jahre 2095 der letzte schöne und unbeschwerte Sommer für die Erdlinge sein. Am 1. September um 19.39 Uhr sollten die Widerstandskämpfer in ihren geheimen Nuke Bases in Little Old York, ein Vorort von Atlantapolis, ihre ersten Atombomben zünden. Die der anderen Nationen sollten kurz darauf folgen, um damit fast die ganze Menschheit zu vernichten und die meisten Ländereien für mehr als ein Jahrtausend zu verseuchen. Nur wenige sollten im Untergrund überleben.
Elektra Foss saß auf dem Aquariumsofa und las in einem der an der Wand angebrachten elektronischen Tablets ein Buch über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg.
Als sie wieder auf den Pazyryk-Teppich schaute, erinnerte sie sich an Kara Geneuve; das Zusammentreffen lag jetzt etwa drei Monate zurück.
Vielleicht hätte ich ihre Hinrichtung doch auf ein andermal verschieben sollen, um zuerst den Deal mit dem Teppich zu machen, dachte sie und bereute gleichzeitig, dass sie so überheblich gewesen und nicht doch auf ein Geschäft mit Kara eingegangen war, denn mit dieser hätte sie sicherlich einen viel höheren Preis aushandeln können, als sie selbst einmal dafür bezahlt hatte. Plötzlich ertönte das akustische Alarmsignal. Jemand befand sich auf ihrem Grundstück!
Wie zum Teufel war das nur möglich?
Elektra bewaffnete sich sogleich mit einem L.S.E.-Handy (Laser Shot Eliminator) und stürzte über die Veranda in den Park.
Als sie dort den Eindringling sah, richtete sie ihre Waffe auf ihn. Dann näherte sie sich diesem langsam und vorsichtig.
Ein groteskes Geschöpf auf zwei Beinen stand vor einem Gebilde, das einem Düsenjet des vorigen Jahrhunderts ähnelte, das jedoch bedeutend kleiner war. Auf dem Rumpf des Fremden saß – das war doch unmöglich! – ein Hundekopf! Ein Cyborg und ein Mutant standen sich jetzt gegenüber.
„Guten Abend, Madam! Ich wollte Sie nicht erschrecken. Mein Name ist Jake Holliday, aber man nennt mich Dog Holliday, den Hundsmenschen. Ich stamme aus einer anderen Dimension. Ich bin Zeitreisender. Dass ich in dieser Ära gelandet bin, war meine volle Absicht. Auf diesem Grund und Boden hier war früher einmal der Central Park von New York, dort bin ich auch im Jahre 1999 gestartet.“
Er erzählte ihr, wie im Jahr 1893 in der Wüste von Nevada, USA, seiner ehemaligen Heimat, ein gewisser Herbert mit seiner Zeitmaschine gelandet war, die er 1899 in London in seinem Haus erfunden hatte.
Das Ausfallen des Reaktors und das Auslaufen der Kompensatorflüssigkeit unmittelbar nach der Landung der Zeitmaschine mussten irgendwie eine molekulare Veränderung bewirkt haben und somit die Mutation Hollidays, dessen Kopf die Physiognomie eines Hundes besaß; seines eigenen Hundes, ein Mastiff namens Barker.
Eine zusammengeschmolzene Physis, bestehend aus Mensch und Tier, und vereint in einer Person. Aufgrund seiner hündischen Instinkte, welche in ihm wach geworden waren, zog er den Colt etliche Male schneller als seine Gegner. Im Nahkampf setzte er sein mächtiges Gebiss ein, das mit der Druckkraft einer Dampfwalze die Feinde das Fürchten lehrte.
Nach einer Weile war er schon derart berüchtigt, dass man ihn Dog Holliday zu nennen pflegte, was zweifellos als Anspielung auf den einst im Westen berühmten Revolverschützen Doc Holliday zu verstehen war – das Dog für seinen Hundsschädel.
Mit dem Doc selbst hatte er verwandtschaftlich nichts gemein.
Herbert, dem all jene Dinge zu Ohren gekommen waren, nahm Kontakt mit Dog auf, der sich zum Erstaunen des Engländers über seinen mutierten Zustand ganz glücklich schätzte.
Gemeinsam reisten sie durch die Zeiten, bis zu dem Tag, an dem der geniale Wissenschaftler eine eigene Zeitmaschine für den begeisterten Hündischen konstruierte, die Time Odyssey II, ein weiterentwickeltes Modell, welches über die Möglichkeit der Teleportation verfügte. Er erzählte Elektra auch vom Dritten Weltkrieg, der jetzt in etwa dreißig Minuten ausbrechen würde.
„Herbert reiste früher einmal ins Jahr 3145 – Die Erde war inzwischen nicht mehr strahlenverseucht – und erfuhr von den Überlebenden, wie eben am heutigen Tag, am 1. September 2095, der nukleare Vernichtungsschlag stattgefunden hatte. Vermutlich ausgelöst durch Widerstandskämpfer, welche keinen Ausweg mehr gewusst hatten und ihre Welt lieber zerstört sehen wollten, als noch weiterhin in den Händen der Mischlinge zu bleiben.“
Während Dog Holliday ihr das alles berichtete, tastete sie sein Gehirn mit ihrem telepathischen Lügendetektor ab – es war unmöglich, diesen zu überlisten –, um zu prüfen, ob seine Äußerungen der Wahrheit entsprachen. Das schien der Fall zu sein. Einerseits zweifelte sie an seiner verrückten Geschichte, anderseits aber wäre niemand imstande gewesen, unbemerkt in ihr Territorium einzudringen, denn die Mauer und das Haus waren durch einen Kraftfeldpanzer geschützt. Außerdem reagierte das Sensor- und Radarsystem auf jedes Objekt, das es auf dem Luftweg versuchte.
Er jedoch hatte es geschafft, hier einzudringen, und nur der ausgelöste interne Alarm hatte verhindert, dass er sich hier unbemerkt aufhielt.
Dieser Mutant MUSSTE einfach aus einer anderen Dimension stammen!
„Warum bist du so knapp vor Ausbruch des Krieges hergekommen?“, wollte Bunny Bizarre von dem Hündischen wissen. „Weil ich jemanden wie dich retten wollte. – Sieh, die Uhr zeigt bereits 19.21, uns bleiben noch achtzehn Minuten, dann zünden die ersten Atombomben. Reise mit mir zusammen durch die Ewigkeit.“
„Ich habe eine viel bessere Idee“, meinte sie, nachdem sie mit einem gewaltigen Schlag ihrer rechten Faust den Schädel des Hundsmenschen zertrümmert hatte und sogleich in die Time Odyssey II eingestiegen war.
„Ich reise allein. Die wichtigsten Funktionen dieses Zeitvehikels sind in meinem Elektronengehirn gespeichert, da ich vorher die Konstruktion mit meinem X-Ray-Scanner durchleuchtet und abgelesen habe. Ha, die Steuerung ist ein Kinderspiel, ich muss das Ding nur noch starten!“
Elektra machte es sich im Sitz bequem und blickte auf die Uhr: 19.29. Es blieben noch volle zehn Minuten, bis die ersten Atomraketen gezündet wurden.
„Nun kann ich Kara Geneuve den Pazyryk-Teppich doch noch verkaufen ... in der Vergangenheit. Ich brauche die Maschine nur etwas zurückzudrehen, nämlich bis kurz vor den Zeitpunkt, wo ich sie getroffen habe. Nach dem Deal werde ich ihr wieder die Haut abziehen und sie abmurksen. Doch das hat keine Eile. Priorität besitzt ein anderes Vorhaben ... Herbert, der Erfinder der Zeitmaschine, könnte mir nämlich dazwischenfunken und meine Pläne durchkreuzen. Und um genau das zu verhindern, begebe ich mich zuerst zurück ins Jahr 1899, oder besser 1898, 1897 oder noch früher, in eine Zeit, bevor er die Zeitmaschine erfunden hat. Ich werde ihn in seinem eigenen Londoner Haus zur Strecke bringen. Dann habe ich freie Bahn ... Halt! Da er ja durch sein frühzeitiges Ableben keine Zeitmaschine mehr erfinden kann, muss ich damit rechnen, dass auch die Erfindung, also in diesem Fall meine Time Odyssey II, vernichtet wird und ich für immer in jener Zeit stecken bleibe. Also werde ich diesen Plan besser verwerfen. Mal sehen, vielleicht kann ich mich mit Herbie irgendwie arrangieren, durch meine sexuellen Reize, wenn ich zufällig auf ihn treffe ... Aha, 19.31 Uhr ...! Die fünfunddreißigjährige Ära der ehemaligen Annektierer werde ich einfach überspringen sowie natürlich die der globalen Verseuchung zwischen 2095 und 3145. Wer weiß, vielleicht gibt es sogar eine Möglichkeit, diesen Dritten Weltkrieg zu verhindern. Die Widerstandskämpfer, die jetzt in wenigen Minuten die ersten Raketen zünden werden, kann ich ausfindig machen und in die Knie zwingen. Ich habe ja Zeit, DIE Zeit! ... 19.33 Uhr! ... Mir gehört die Vergangenheit, die Gegenwart und somit die Zukunft, denn diese werde ich entscheidend verändern – zu meinen Gunsten. Frühere Kriege werde ich zu verhindern wissen und dafür wahrscheinlich andere anzetteln. Keine andere als ich bestimmt nun die Weltgeschichte. Die Erfindungen und Errungenschaften beanspruche ich für mich, um schließlich mein eigenes Imperium zu erschaffen. Alles liegt nun in meinen Händen. Auch BIZARRE wird MIR gehören sowie dessen Jungbrunnen der außerirdischen Gentechnik, um Tausende von Jahren zu existieren. Ich habe die totalitäre Macht! Was Besseres kann einer Cyborg-Lady wie mir nicht passieren ... 19.34 Uhr ... In fünf Minuten gehen die ersten Bomben hoch ... Bye bye, ‚My-home-is-my-castle‘, bye bye, Fred Lang.“
Elektra sah zu dessen androidischem Ebenbild, die Cyborg-Skulptur mit dem Fangfrisbee-Diskus, die nur wenige Meter weiter hinten im Park stand.
„Ja, Freddy, nichts mit ‚Imperator‘, denn auch du wirst nach meiner Pfeife tanzen müssen. Wir werden uns noch begegnen, in einer Zeit, die zu meinen Gunsten existiert, dann wirst du ohnehin meine Marionette sein ...!“
Danach warf sie einen verächtlichen Blick auf den im Gras liegenden toten Dog Holliday.
„Hahaha. Du 'Bello Bizarre', du. Mal sehen, es könnte durchaus sein, dass ich einmal in deine Zeit reise, dann sehen wir uns in der Vergangenheit wieder, bevor du so eine dämliche Hundekopfkreatur warst. Wenn ich Herbie treffe, könnte ich ihm ja einen Gruß von dir ausrichten, und fragte er mich, wo du denn abgeblieben seist, würde ich ihm sagen, dass du dich in eine hübsche Hundekopfmutantin verliebt hättest und eben bis auf Weiteres mit ihr beschäftigt seist, das würde er sicher verstehen, hahaha! Und wenn es ihm nicht passt, dass ich dir soeben deinen Hundeschädel eingeschlagen habe, kann ich die Vergangenheit immer noch zu meinen Gunsten verändern ... Ich könnte ja jetzt gleich mal Herbie in London besuchen, ihn beobachten oder kennenlernen, kurz bevor er die Zeitmaschine erfindet, und ihm dann dabei zusehen.“
19.36 Uhr ...
Elektra wählte den Tag, das Jahr und die Ankunftszeit auf der Schaltuhr: 3. März 1899. 21.00 Uhr.
Dann die Destination: London, U. K.
Mittels vollautomatischem, computerisiertem Navigator würde sie Herbert schnell ausfindig machen.
Dann drückte sie den Startknopf der Time Odyssey II. Sie drückte noch einmal. Nichts rührte sich ...
Da leuchtete ein Display am Cockpit auf: „Fingerabdruck des Piloten nicht identifizierbar!“
Elektra Foss reagierte unverzüglich. Sie sprang aus der Zeitmaschine, ließ das Skalpell ihrer rechten Hand aufschnappen und schnitt dem toten Dog Holliday den rechten Zeigefinger ab.
Nachdem sie mit dem abgeschnitten Finger die Taste gedrückt hatte, leuchtete das Display erneut auf: „Fingerabdruck des Piloten identifiziert!“
„Na also! Ich werde dann gleich danach auf meinen Fingerabdruck umprogrammieren“, rief sie erfreut und warf einen nervösen Blick auf die Uhr: 19.38 ...! Das Display fing wieder an zu blinken: „Stimme des Piloten nicht identifizierbar!“
Diesmal würde ihr das Skalpell nichts mehr nützen. Der Pilot und dessen Stimme waren nun mal eliminiert. Eine tote Materie. Eine genauso tote Materie wie nun auch die Time Odyssey II ... 19.39 Uhr! Die ersten Bomben wurden in dieser Minute gezündet ...
Wie lange wird es wohl dauern, bis die erste Bombe hier eintrifft?, fragte sich Elektra resigniert.
Jetzt ergab es keinen großen Sinn mehr, sich zu fragen: Warum hast du dir nie einen Atomschutzbunker errichten lassen?
Hatte sie denn nicht unendlich viel Zeit gehabt? Jetzt besaß sie keine Zeit mehr, denn diese war endgültig abgelaufen.
Elektra Foss, das Bunny Bizarre, konnte sich nur noch eine einzige und letzte Frage stellen – eine Frage, die ihr während ihrer biomechanischen Existenz nie gestellt worden war: Wie lange überlebst du als Cyborg ohne Atomschutzbunker ...?
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2020
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Text & Cover Copyright by Carl Isangard
2013/ 2020