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Die Wall Street Parade findet dieses Jahr nicht statt

Herbert ist soeben zurückgekehrt.

Zurückgekehrt aus der Zukunft.

Zurückgekehrt ins Jahr 1920; das Jahr des großen Börsenkrachs an der Wall Street. Die Lord Motor Werke in Detroit stecken in einer üblen Krise, und aus dem Gründer und einstigen Demokraten Henry Lord ist ein Despot geworden. Ein Gefangener seiner Dollar Milliarde. Die Fließbandarbeit ist längst erfunden und diese sollte noch lange Zeit den unmenschlichen Rhythmus von Millionen von Arbeitern bestimmen; erbarmungslos gesteuert von Maschinen, an deren Hebeln und Schaltern wiederum die Schergen der alles beherrschenden Oligarchen sitzen.

Nun, auch Herbert besitzt eine Maschine, und ER selbst hat sie erfunden, vor etwa fünfundzwanzig Jahren. Am Steuer seiner Zeitmaschine sitzend pflegt er stets in die Vergangenheit sowie in die Zukunft zu reisen. In der Mitte des Steuerrads prangt das Lord-Emblem. Das Vehikel hat jedoch sonst nichts gemein mit dem besagten Konzern. Es sieht einfach schmuck aus.

Die zwölf illustren Gäste, welche zugleich zu den engsten Freunden Herberts zählen und alle anlässlich der Ankunft des Zeitreisenden eingeladen sind, warten bis zum Zerreißen gespannt in dem geräumigen und pompös eingerichteten Salon dieser Villa, die sich irgendwo in London befindet (wo genau, nun, Diskretion muss unter allen Umständen gewahrt werden. Dafür haben Sie, liebe Leserinnen und Leser sicher Verständnis!)

Der Gastgeber beginnt sogleich zu berichten von seiner Odyssee durch zeitliche Sphären.

Dabei schildert er auch die schrecklichen Szenarien hier in London, das in ungefähr achtzig Jahren von mehreren Bombenattentaten heimgesucht werden soll (dass im Jahre 2030 der Buckingham Palast in Schutt und Asche verwandelt werden soll, erwähnt er aus pietätvollen Motiven nicht).

Weiter erzählt er von seiner erst kürzlichen und sehr bizarren Stippvisite ins Jahr 2020. Eine futuristische Apokalypse:

"... als nicht weniger erschreckend nimmt sich leider auch die morgige Arbeitswelt aus. Die Fließbänder gibt es immer noch, wenn auch weniger in mechanischer dafür umso mehr in einer veränderten Form, die aus modernen Rechnern, sogenannten 'Computern' bestehen. Letztere haben praktisch die ganze Menschheit abhängig gemacht. Und die Spezies Henry Lord ist nicht ausgestorben. Es existieren mehr als genug Lords, Knockefellers & Co. Sie heißen zum Teil einfach anders, das der einzige Unterschied. Ansonsten: Die Imperien sind voll von ausbeuterischen Machthabern und deren Schergen. Die Knechte hingegen malochen für einen unterbezahlten Lohn. Die Arbeitswelt wird zunehmend immer mehr von Technokraten bestimmt. Die Weltpolitik ist so korrupt wie eh und je. Die Kriegshetzer usw. Also, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft: Weder im Westen noch im Osten, nichts Neues ... Leider kann ich euch kaum etwas Positives berichten, aus einer wahrhaft düsteren Zukunft."

Einen Augenblick lang erfüllt betroffenes Schweigen den Raum, dann meldet sich George, ein älterer Gentleman und eingefleischter Börsianer mit Monokel und Rauschebart zu Wort:

"Mensch, Herbie ...'Schöne, neue Welt'. Moderne Zeiten, oder MODERNDE Zeiten wäre wohl treffender. Eine wahrhaft albtraumhafte Vision, die leider Realität werden wird. Der Vorteil deines Zeitvehikels allerdings ist die äußerst verlockende Möglichkeit, sich nach zukünftigen oder eben auch, nach vergangenen Börsenkursen zu orientieren. Ich möchte gerne mit dir zusammen an die Wall Street reisen, VOR dem großen Börsencrash wohlbemerkt, um meine Positionen mit wesentlichen Gewinnen abzuziehen ... rückwirkend eine bullishe Parade in der 4. Dimension sozusagen, hähähä ... Herrgott, wenn ich daran denke, dass man anhand deiner genialen Erfindung sogar für die Zukunft einen 'Aktien-Almanach' erstellen kann. Dann bin ich immer auf dem RICHTIGEN Kurs, hähähäh!"

Herbert räuspert sich, überlegt ein Weilchen und meint schließlich: "Ja, Georgie. Eine wahrlich brillante Idee, auf die ich vielleicht später zurückkommen werde."

Beim gemeinsamen Cocktail fragt der begeisterte George den Zeitreisenden: "Herbie, WANN reisen wir denn endlich zusammen an die Wall Street, an meine Bullen-Parade?"

Herbert nimmt einen kräftigen Schluck, schüttelt den Kopf.

"Mmmh, das muss ich mir zuerst noch genau überlegen. Derartige Manipulationen können eventuell verheerende Folgen nach sich ziehen ..."

"... was denn für verheerende Folgen?", fragt George voller Neugierde.

"... ein Zeitparadoxon zum Beispiel. Es könnte den Verlauf der Geschichte der Menschheit verschlimmern: also noch mehr Chaos, Epidemien, Krieg usw. Außerdem habe ich meine Zeitmaschine nicht konstruiert, um irgendwelchen finanziellen Nutzen daraus zu ziehen."

"Wofür denn sonst?"

"Mein Zeitvehikel steht im Dienst der Forschung, Wissenschaft und dient nicht dem Mammon. Nun denn, die Wall Street Parade wird in diesem Jahr jedenfalls nicht stattfinden."

"Wie kann ich denn meine riesigen Verluste an der Börse wieder wettmachen, wenn du mir nicht hilfst? Mein Gott, was habe ich nicht schon alles verloren, wegen dem verdammten Debakel! Was für eine bearishe Parade!"

"Kauf doch jetzt noch mehr billig Lord-Aktien, die sind, wie du ja als Betroffener weißt, total im Keller. In etwa zehn Jahren legen diese sicher wieder tüchtig zu ...oder, vergiss erst mal deine Spekulationen und versuche es zur Abwechslung wieder mal mit ARBEIT!" meint Herbert, wobei er hämisch grinsend mit seinem linken Auge zwinkert.

KLANG!

Das Monokel von George ist in sein eigenes Cocktailglas gefallen.

 

Epilog

Die von George herbeigesehnte Wall Street Parade fand im Jahr 1920 also nicht statt.

Aber ... Wie heißt es doch so schön: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!

Anfangs September, im Jahre 2001 sind viele Anleger bereit; Gewehr bei Fuß sozusagen, um an der Aktien- und Rohstoffbörse ihre Positionen auf fallende Preise zu setzen. Freilich sind das nur welche mit Insider Wissen!

Einer von ihnen ist natürlich Herbert ...

... und am 11. des Monats sitzt er in seiner Zeitmaschine - ohne George - auf einem Dach von einem der beiden World Trade Center Türme.

Unmittelbar, nachdem das erste Flugzeug in den einen Turm eingeschlagen hat, setzt er jetzt mittels seiner Trading Plattform mit seinen Positionen auf fallende Preise.

Jetzt blüht sein Weizen!  (Allein von der Forschung und der Wissenschaft kann man ja nicht leben).

 

Dann dreht Herbert an seinem Rad der Zeit, entmaterialisiert sich, und verschwindet in andere Dimensionen.

Das Grounding in New York kann nun beginnen ...

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.12.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Text Copyright by Carl Isangard

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