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1. Kapitel: Von Nutten & Freiern

Berlin

Hohe Absätze schlugen in einem kurzen und gleichmäßigen Rhythmus auf das Kopfsteinpflaster einer schwach beleuchteten Gasse, durch die Nebelschwaden zogen.

Dieses Geräusch war dem dicklichen Freier an der Ecke bereits vertraut. Es erweckte Assoziationen in ihm und erinnerte ihn an penetrantes, billiges Parfüm oder an den ekelhaften Präservativ-Gummi-Geruch, an den er sich einfach nie gewöhnen konnte. Nun, jetzt wollte er es ohnehin ohne machen. Ob AIDS-Risiko hin oder her...

Das Klappern der Absätze kam näher und verlangsamte sich. Dem Wohlbeleibten trieb es den Schweiß aus den Poren, obwohl bittere Kälte herrschte, und er wusste, was jetzt bald kommen würde. Der Ablauf blieb stets der gleiche: Das obligate `Na, wie wär's mit uns beiden ...?`Aber es war immer wieder aufs Neue erregend!

Achthundert würde er ihr offerieren, wenn sie's ohne mit ihm trieb.

Natürlich wusste er um die Drogenstrich Szene, aber da regelmäßige Freier wie er nicht selten die größten Moralisten sind, hielt er sich von jener Art von Szene fern. Wie er erst kürzlich von einem Bekannten vernommen hatte, rammelten Schweizer Puffgänger neuerdings in richtigen Schweineboxen, an denen die Stadt Zürich einen saftigen Reibach verdiente. Aber was interessierten ihn schon die grunzenden Zwinglianer und ihre quietschenden Randsteingurken!

Die Nutte war mittlerweile stehen geblieben und hatte sich soeben eine Zigarette angezündet. Der Rauch umnebelte das dunkle, füllige Haar, das ein grell geschminktes Gesicht einrahmte.

"Diese Stute hat vielleicht Kurven, bei denen es einem so richtig schwindlig werden kann", schoss es ihm in seiner Lüsternheit durch den Kopf. Schließlich machte er ihr das Angebot.

"Achthundert? ...Nein ... für das Risiko, das ich vielleicht auf mich nehme? Woher soll ich wissen, ob du nicht HIV-Positiv bist?"

"Okay, ich erhöhe auf Tausend."

"Na gut, tausend ... dreihundert ... dafür die ganze Nacht."

Der Mann pfiff sich durch die Lippen und begann zu überlegen, während auch er sich einen Glimmstängel ansteckte.

"Na, was ist, ja oder nein?", drängte sie ihn.

Seine Geilheit hatte jetzt den Point of No Return erreicht, und sich den fetten Hintern bei diesem ungenießbaren, nasskalten Klima abfrieren zu lassen, dazu verspürte er auch nicht die geringste Lust. Also stimmte er zu.

Nachdem man sich einig war, bestiegen die Nutte und ihr Freier Minuten später eine Taxe, die die beiden in ein Stundenhotel brachte, ganz in der Nähe vom Alexanderplatz.

Der Mann wollte es sich schon bequem auf dem breiten Bett des Hotelzimmers machen, als die Prostituierte ihn an etwas erinnerte:

"Hast du nicht etwas vergessen, mein Schatz?"

Natürlich, wie konnte er dies nur vergessen! Er, als alter Freier-Fuchs.

Die Vorkasse bedeutete jeweils die Eintrittskarte ins Paradies.

... oder auch in die Hölle! Besonders dann, wenn man ihn unter Zeitdruck setzte und das Geschäft eben nicht nach seinen Vorstellungen verlief. Zum Beispiel, wenn Roboter (innen) dieselben mechanischen Abläufe, die sie beherrschten, von ihm verlangten. Noch von einer gewissen Distanz aus betrachtet, erweckten sie den Eindruck von lebendigem Fleisch, das sich aber bereits bei der ersten Berührung in tote Materie verwandelte. Menschliche Slot Maschinen, gefühlskalte Wesen. Doch etwas anderes durfte man auch nicht von ihnen erwarten. Käufliche waren ja auch Menschen, dann hätte man somit eigentlich etwas Menschlichkeit und Wärme voraussetzen können. Aber sie boten sich als Ware an, und die meisten Kunden behandelten sie als solche. Die Dirnen erwiesen sich als die Dominierenden, und er spürte, wie er ihnen als Freier ausgeliefert war mittels seines Triebes. In jenen erbärmlichen Momenten, wo ihm diese Tatsache bewusst geworden war, hatte er es verflucht, ein Mann zu sein.

Er übergab ihr das Geld. Sie nahm die dreizehnhundert Euro entgegen und fragte ihn: "Willst du noch eine Quittung für das Geld, mein Schatz?"

"Ja natürlich, damit ich diese Nummer von meinen Steuern abziehen kann, hahaha!...Das soll wohl ein Witz sein, was, haha!", lachte er, während sie die Handtasche öffnete. Doch als er das Rasiermesser in ihrer Hand erblickte, verging ihm das Lachen, und es war schon zu spät ...

Die Klinge hatte ihm bereits die Kehle aufgeschlitzt, als er sein eigenes Blut aufspritzen sah. Er gab keinen Laut mehr von sich, nur seine Augen starrten die Frau an, weiteten sich und erstarben.

Der nun tote Freier sank auf das schneeweiße Kissen, das Sekunden später blutdurchtränkt war.

Das Blut drang aus der Kehle des Berliner Freiers wie die Konfitüre aus einem angebissenen Krapfen. Ich war ein Börliner, heheh!, lachte die Mörderin.

 

Die Nutte wartete eine Weile, trank in Ruhe ihren Whiskey aus, wobei sie dem Toten noch das restliche Geld abknöpfte. Insgesamt zweitausendfünfhundert Euro hatte sie diesmal erbeutet. Danach bestellte sie ein Taxi.

 

***

 

Dampfend sprudelte das heiße Wasser in die Wanne, auf deren Rand der sitzende nackte Mann eine Zeitung in den Händen hielt und folgende Schlagzeilen las:

FREIER MIT AUFGESCHLITZTER KEHLE IN EINEM BERLINER STUNDENHOTEL AUFGEFUNDEN ...!

Nach einer Weile legte er das Blatt beiseite; auf eine dunkelhaarige Perücke. Er klappte das Rasiermesser auf, um sich die Bartstoppeln aus dem Gesicht zu schaben, da bemerkte er ein paar Blutflecken auf der Klinge. Angeekelt warf er das Instrument in die nun volle Wanne.

 

Würzburg

 

Eventuell verräterische Stellen am Hals waren fein, säuberlich ausrasiert worden, mit dem Instrument, das jetzt zugeklappt auf dem Waschbecken lag, und das noch einem anderen, sehr wichtigen Zweck diente. Der todbringende Schnitt mit der Rasierklinge war jeweils eine einzige, blitzschnelle und routinemäßige Bewegung, die dem Mörder mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen war. Das blutige Rot eines Lippenstiftes wurde über Lippen gezogen. ... über Lippen eines männlichen (und manchmal vermeintlich weiblichen) Gesichts.

Fred Wall stand vor dem Spiegel im Bad eines Zimmers in einem Mittelklasse Hotel, das am Dominikanerplatz lag. Die Natur hatte sein Gesicht mit femininen Zügen und spärlichem Bartwuchs ausgestattet, und ihn darüber hinaus mit einer hohen Stimme. Diese Stimme wies einen angenehmen und kultivierten Klang auf. Mit seiner weiblich anmutenden Gestik, die er seit den letzten fünf Jahren oder seit den neunzehn Morden, welche er auf dem Gewissen hatte, einsetzte, erwies sich seine Tarnung als perfekt. Doch möglicherweise musste er sich bald einmal ein neues Schnittmuster zurechtlegen, denn die Nummer mit der verkleideten Prostituierten wurde auf die Dauer zu heiß.

Ein paar Riesen fehlten ihm noch, dann besäße der dreißigjährige Amerikaner genug Kohle, um sich für immer nach Brasilien abzusetzen. Dort war sein Bruder bereits vor vielen Jahren ausgewandert. Beide Brüder, Alfred und Richard Wall, waren in Cody, Wyoming geboren worden. Wie der Name schon verrät, ist das Nest der Geburtsort von William F. Cody alias Buffalo Bill. Das gleichnamige Museum darf man dort als die einzige Attraktion bezeichnen. Die Schulzeit sowie die Jugendjahre verbrachten die beiden Söhne mit ihren Eltern in Red Lodge. Das Provinzstädtchen mit seinen über zweitausend Einwohnern liegt ungefähr eine Autostunde von Billings entfernt, der größten Stadt vom Bundesstaat Montana, auch bekannt als 'The Big Sky Country'. Ritchie, der ältere Bruder wollte seinen Horizont in südamerikanischen Gefilden erweitern, was er dann auch tat. Fred hingegen blieb bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr in Red Lodge, bis er sich eines Tages nach Europa aufmachte, um seine blutigen und mörderischen Pilgerfahrten anzutreten.

Fred Wall war aber nicht nur ein Naturtalent in Sachen Meuchelmord, auch als ein geborenes Sprachgenie musste man ihn bezeichnen: Innerhalb von nur neun Monaten erlernte er die deutsche Sprache. Er sprach Hochdeutsch mit einem sehr dezenten Akzent.

Sein bester und vor allem lukrativster Freier bis jetzt war ein prominenter Schauspieler in Frankfurt gewesen. Es hatte lange gebraucht und viel Geduld erfordert, um an diesen heranzukommen. Doch Wall zog am richtigen Ort und zum richtigen Zeitpunkt eine überzeugende Performance als diskrete Edelnutte ab. Diskret, weil, wenn's ums Vögeln ging, musste es bei dem verheirateten Mann so diskret wie nur möglich zu- und hergehen. Negative Publicity; das konnte dieser nicht gebrauchen. Also stieg man irgendwo in einem Motel nahe einer Autobahn ab. Wall erinnerte sich immer wieder mit Genuss an die weißen, weit aufgerissenen und ungläubig dreinblickenden Augen des Beinahe-Toten, und an dessen aufgeschlitzte Kehle, aus der der rote Saft nur so herausquoll; zwei geschälte Zwiebeln und darunter eine sprudelnde Weinquelle, war das nicht ein toller Kontrast und ein ergötzlicher Anblick? Seine letzte Rolle musste der Schauspieler nicht mehr spielen, denn sie war echt als zappelnder Zombie. Fünfzehntausend Euro in bar, eine goldene Cartier Uhr und einen Achtzehn Karat Gold Siegelring. Es hatte sich wahrlich gelohnt! Ansonsten, wenn Wall nicht gerade in Hotels logierte - dabei benutzte er immer einen seiner hervorragend gefälschten Pässe - um zu arbeiten, lebte er äußerst bescheiden. Wahrscheinlich kam man ihm bald einmal auf die Spur, die er bis jetzt jedes Mal gekonnt verwischt hatte. Zeit also, langsam damit Schluss zu machen.

 

Vor knapp einer Woche war er hier in der wunderschönen Universitätsstadt am Main eingetroffen. Würzburg mit seinem althistorischen Charme, ganz besonders in der Altstadt, behagte ihm weit mehr als das hektische Berlin. Da ihn kulturelle Sehenswürdigkeiten interessierten, hatte er gleich in den ersten zwei Tagen in der imposanten Festung Marienberg die weltberühmten Plastiken von Tilman Riemenschneider und in der Residenz die Fresken von Tiepolo bestaunt. Auch Leute - und Mörder - wie Fred Wall besaßen viel Sinn für Kunst und Kultur. Somit konnte man auch das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Auch in lukullischer Hinsicht genoss er seinen Aufenthalt: Bodenständige deutsche Küche; Sauerbraten mit Knödel, Zwiebelfleisch, Zigeunereintopf u.a. die meistens in den rustikal eingerichteten Restaurants angeboten wurden. Die original italienischen Eis Salons schätzte er besonders. Nur mit dem Wein, dem hiesigen Bocksbeutel, hatte er seine Mühe: Zu sauer. Dann viel lieber ein feines, frisch gezapftes Weizenbier vom Fass. Die ersten drei Abende verbrachte er privat im Tanzcafé Ludwig. Das Clublokal war absoluter Kult und dies bereits seit über sechzig Jahren.

 

***

 

Tage später, gegen zehn Uhr abends. Er saß an der Bar irgendeines Hotels am Barbarossa Platz. Das Barmixer Schwuchtelchen hinter den blanken Tresen taxierte ihn geringschätzig. "Ja ja, wenn du nur wüsstest, dass ich ein Mann bin. Aber das würde dir auch nicht viel nützen, denn ich steh' auf Frauen", dachte der Kehlenschlitzer in der Edelnutten Montur, diesmal mit blonder Perücke.

Minuten später quatschte ihn schon der zukünftige Freier an. Ein betucht aussehender Mittvierziger in hellblauem Anzug. Als dieser mit der linken Hand den Bar Tender heranwinkte, wurde seine goldene Cartier mit schwarzem Zifferblatt sichtbar. "Die fehlt mir noch in meiner Sammlung!", stellte Wall fest.

Nach ein paar Drinks und ein bisschen Shakern war man sich einig. Bevor der neue Freier sich zurückzog, flüsterte er der Edelnutte ins Ohr: "Folge mir in etwa zehn Minuten. Zimmer 321, dritter Stock ... übrigens, ich mag's gern auf die harte Tour."

"Ich ebenfalls", dachte Wall zynisch lächelnd.

"Zweitausend Euro für die ganze Nacht ... aber die Nacht wird kürzer werden, als du denkst, genauso kurz wie dein Hals. Und mit absoluter Sicherheit springen noch mehr als zwo Mille heraus", versprach er sich, als er nach zehn Minuten hochhackig auf die betreffende Zimmertür zu stöckelte.

Der Mann saß auf dem Rand des Bettes, mit nur einem Frotteemantel bekleidet, der den darunter befindlichen Steifen nur schwer verbergen konnte. Rechts von ihm, auf dem Nachttischchen lagen die luxuriöse Uhr und die zweitausend Piepen, die Wall sofort an sich nahm.

"Dafür verlange ich auch etwas!", bemerkte der Mann herrisch und stand nun auf.

"Nur keine Angst, du wirst schon auf deine Kosten kommen", grinste die Nutte verführerisch, öffnete die Handtasche und platzierte darin die Moneten. Die nächste Bewegung bestand aus dem Aufklappen des tödlichen Rasiermessers ...Just in diesem Moment stieß ihn der Freier auf das Bett.

"So, jetzt zur Sache, Schätzchen! ...Ich sagte dir doch vorhin, dass ich es gern auf die harte Tour will, hehehe!"

Wall wollte blitzschnell sein Mordinstrument aus der Tasche herausziehen, als der stürmische Freier bereits auf ihm lag. Dessen ganzes Körpergewicht presste sich nun auf die Handtasche, in der die scharfe Klinge des Rasiermessers den Daumen von Walls rechter Hand durchtrennte. Ein widerliches Geräusch ...Eine schnell auftretende Nässe ...Der Schock ...

Von bestialischen Schmerzen begleitet kam Walls lauter und langer Schrei, der in die Ohren des immer noch auf ihm liegenden Mannes peitschte. Der Freier stieß sich überrascht ab und sah die sich vor Schmerzen krümmende, schreiende Nutte auf dem Bett, während ihre rechte, blutige Hand zum Vorschein kam. Der Mann erblickte neben dem abgetrennten Daumen auch das Rasiermesser, das jetzt aus der Handtasche glitt.

"Du verdammtes Miststück!"... dann die blonde Perücke Walls, die inzwischen verrutscht war.

"Du ...du Drecksack!"

Die auf seiner rechten Schläfe auftreffende Faust des Freiers erlöste ihn vorerst von seiner grauenvollen Pein.

 

***

 

Als er erwachte, lag Wall in einem fahrenden Krankenwagen. Seine Rechte war verbunden und fühlte sich taub an. Man hatte ihm mittels Spritze eine Narkose verpasst. Den Daumen würden sie ihm im Hospital wieder annähen. Er hätte jedoch gern auf diesen verzichtet, wenn er dafür frei gewesen wäre! Denn: Zwei uniformierte Bullen, welche ihm gegenüber der Bahre saßen, grinsten ihn hämisch an.

Die Scheiben des Krankenwagens waren milchig, aber durch die durchsichtigen Ränder des großen Sanitätskreuzes erblickte er jetzt die Festung Marienberg von Würzburg, und diese erhob sich leuchtend in ihrer vollen Pracht majestätisch über die nächtliche Stadt.

 

 

 

 

2. Kapitel: Der beste Deal

Stadt Zürich. Samstag, der 3. Mai. Zeit: 22.25 Uhr

Die 125er fuhr zuerst auf der Talstraße, erreichte danach den Bürkliplatz und schließlich die Quaibrücke, und dort sah man schon von Weitem, dass am Bellevue der Teufel los war: Grau uniformierte und mit Gummiknüppeln bewaffnete Polizisten, die mit ihren Helmen und runden Schutzschildern wie Gladiatoren aussahen, und chaotische, schreiende Demonstranten, teils vermummt, droschen erbarmungslos aufeinander ein und lieferten sich eine erbitternde Straßenschlacht, in der auch Gummigeschosse und Tränengas zum Einsatz kamen. Eine Straßenschlacht, wie sie die Stadt Zürich bereits seit vielen Jahren erlebte. Die großen Fontänen der Wasserwerfer blitzten wie Stahl in den sich abwechslungsweise kreuzenden Lichtkegeln der Scheinwerfer. Der Lärm war ohrenbetäubend.

Der Motorradfahrer bog die Niederdorfstraße ein, dann zwischen die engen Gassen in Richtung Rindermarkt. Das Echo des Motors brach sich an den Häuserwänden. Er verlangsamte jetzt das Tempo der Maschine. Zwischen den Häusern konnte er das martialische Szenario sehen, welches sich weiter unten am Limmatquai abspielte.

Aber auch hier in der Froschaugasse eskalierte die Gewalt: Ein gutes Dutzend Jugendlicher schlug die Scheiben mehrerer Geschäfte ein, deren Besitzer es versäumt hatten, vorher ihre Schaufenster und Türen mit Holzbrettern zu verbarrikadieren. Der offene Baucontainer neben dem Gebäude des kleinen Studio Kinos brannte lichterloh. Ein Freudenfeuer für ganz spezielle Cineasten, für die die Action der heutigen Nacht mal nicht auf der Leinwand stattfand.

Man hörte das Klirren von Glas einer Eingangstür, die jetzt eingeschlagen wurde, und der akustische Alarm des Juwelierladens setzte unmittelbar ein. Doch der Mann, der seine 125er inzwischen ganz in der Nähe und etwas versteckt abgestellt hatte und zu Fuß weitergegangen war, würde nicht lange brauchen ... Außerdem war die Polizei zum jetzigen Zeitpunkt mit ihrem Großeinsatz viel zu beschäftigt, als diesem Alarm Beachtung zu schenken.

Der Mann in der schwarzen Motorrad Lederjacke und mit der dunklen Brille hatte es längst erkannt: Es war schon kurz vor ihm jemand eingebrochen, und das Geräusch von berstendem Vitrinenglas aus dem Ladeninneren drang in seine Ohren. Leise und vorsichtig zwängte er sich durch die mit gefährlichen zackenförmigen Scherben bewehrte Eingangstür des Ladens. Dann entdeckte er den Einbrecher mit dem dunklen Kapuzenpullover, der schon am Einräumen war. Erschrocken blickte dieser auf, als er den zweiten Eindringling auftauchen sah. Doch Letzterer fackelte nicht lange, zog blitzschnell seine Pistole und schoss. Die Waffe bellte auf. Blei bohrte sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit aus dem Lauf. Der andere brachte keinen Laut mehr zustande, weil die Kugel seinen Hals bereits durchschlagen hatte. Er krachte mit seinem Oberkörper auf die bereits blutbesudelte Vitrine und rutschte anschließend auf den Boden, wo er tot liegen blieb.

Der professionelle Plünderer und Mörder beeilte sich, öffnete die mitgebrachte Ledermappe, zog sich geschwind Spezialhandschuhe an und begann alles, was er an goldenen, mit brillantenbesetzten Ringen, Colliers und Uhren in die Hände bekam, hineinzustopfen.

 

Motel Pick Inn, Adliswil, nahe der Stadt Zürich. Zeit: 22.55 Uhr

 

... die Stadt Zürich erlebt wiederholt schwere Ausschreitungen in dieser Nacht. 140 bis 170 Demonstranten hatten sich bereits am Abend am Bellevue versammelt. Diese chaotischen und gewalttätigen Zustände dauern nun schon seit Stunden an. Mittlerweile 200 linksradikale Demonstranten und 170 Polizisten bekriegen sich mit Molotowcocktails, Pflastersteinen, Gummigeschossen und Wasserwerfern. Es kam auch schon zu den ersten Plünderungen ...

"Diese Krawalle können manchmal auch sehr nützlich sein", knurrte Adrian Sprenger, der Nachtportier und schaltete das Radio seines iPhone aus. Genug jetzt mit Radio DRS 1.

Die Nacht vom Samstag auf den Sonntag war heute, wie eigentlich immer, sehr ruhig, mal ganz abgesehen von den Zürcher Krawallen. Diese bekam er jedoch nur via Radio mit und später in der Presse. Nur pflegte er höchst selten Zeitungen zu lesen.

Die Snack Bar im Adliswiler Motel Pick Inn war über das Wochenende geschlossen, die sonst jeweils von sechs bis dreiundzwanzig Uhr geöffnet hatte. Die häufigsten Gäste, Monteure, Vertreter und Fernfahrer stiegen zwischen Montag und Freitag hier ab, während an den Samstagen meist nur die Short Timers kamen, um nach ihrem Programm gleich wieder auszuchecken. Dauergäste waren zum größten Teil die Einzigen, welche an den Wochenenden in diesem Motel übernachteten.

Neben dem Check-in und dem Check-out der Gäste, dem Telefon- und Weckdienst an der Rezeption, gehörte auch noch das Staubsaugen und das Aufdecken des Frühstücksservices in der Snack Bar sowie das Entfernen der Titel von alten Zeitungen und Sortieren von Magazinen am Kiosk zu seinen Aufgaben als Nachtportier. Diesen Job verrichtete er jeweils von einundzwanzig Uhr bis halb sieben an fünf Nächten in der Woche.

Sprenger blätterte eine Weile in einem Hochglanz Magazin herum.

"Sieh mal einer an: Die Cervelat Promis geben sich wieder mal die Ehre. Und die Miss Schweiz Wahlen sind auch wieder angesagt. Wieder diese, meistens blonden, blöden Models, die sich anschicken, eine Karriere mit ihren künstlichen Kurven anzustreben. Ja, brüsten sich mit ihren Silikon ausgestopften Eutern und mit ihrem angeblichen hohem IQ, damit man sie nicht als dumm bezeichnen kann: 'Ich bin Studentin!'. Dann ihre ewigen dümmlichen Sprüche in den Medien, wie: 'Schönheit kommt von innen', legen aber dabei selber so viel Wert auf ihr Äußeres, machen eben damit Karriere. Dann ihre Gspusis, oder 'Lebenspartner', wie sie das so nennen, in Wirklichkeit ihre Sponsoren, die sie präsentieren; meist alles hässliche, bärtige Kerle, mindestens um zehn oder fünfzehn Jahre älter. Aber das Geld kann eben die Hässlichkeit von diesen reichen Pinkeln aufwiegen. Und wie sie alle stets ihr Sauberfrau-Vorzeige-Image aufpolieren. Dabei sind sie in Wirklichkeit nichts weiter als durchtriebene Drecksschlampen, die eine, wie die andere, wackeln jeweils mit ihren tätowierten Titten und gelifteten Ärschen an der affenartigen Streetparade herum, ständig darauf bedacht, von irgendwelchen geilen Kameramännern eines Lokal TV Senders gefilmt zu werden. In Wahrheit aber sind sie ziemlich prüde. Doch wenn es ihrer Karriere förderlich ist, lutschen sie jeden Schwanz und machen die Beine breit. Und klingelt irgendwo die Kasse, kommen sie angeschwirrt wie die Schmeißfliegen auf dem Misthaufen. Von einer normalen Hure hat man mehr Respekt. Dann diese ausgeleierten Silikon- und Botox geschwängerten Ex-Missen. Die gehen dann nach Hollywood. Letzteres hat ja gerade auf die gewartet. Dort spielen sie in irgendwelchen US-Fernsehserien Leichen oder drehen mit George Clooney einen Werbespot. Mit etwas Glück angeln sie sich dann vielleicht eines Tages einen reichen Pinkel, sofern sie eben nicht schon einen an der Angel haben. Ex-Miss Schweiz und die große Hollywood Karriere; was dann in der hiesigen Presse noch groß aufgebauscht wird. Ich könnte mich bepissen vor Lachen", meinte er und schleuderte verächtlich das Magazin weg. Da fiel ihm der äußerst amüsante Vorfall ein, der sich vor wenigen Monaten, während der Wintersaison hier im Motel ereignet hatte:

 Neben den üblichen digitalen Sendern verfügten die Fernseher in den Motel Zimmern auch über spezielle Videokanäle, die der Gast gegen eine tägliche Gebühr von zwanzig Franken empfangen konnte. Aus dem Repertoire wählte man dann jeweils verschiedene Spielfilme aus, sowie auch im Pornokanal. Das ganze Programm lief und wiederholte sich automatisch vierundzwanzig Stunden lang. Den Pornokanal hatte Sprenger an jenem betreffenden Morgen auch am Fernsehapparat der Snackbar eingestellt während er die Tische für den Frühstücksservice aufdeckte, wobei er sich einen Rammel Streifen ansah. Nach getaner Arbeit vergaß er den Fernseher wieder auf die normalen Kanäle umzustellen. Als er dann am Abend desselbigen Tages seinen Dienst antrat, teilte ihm die Rezeptionistin mit, dass sich die Gäste während des Frühstücks in der Snackbar ein Skirennen anschauen wollten. Nachdem der Kellner das Fernsehgerät eingeschaltet hatte, kamen die Zuschauer sogleich in den Genuss von Rocco Siffredis saftigen Abspritzer auf dem Gesicht seiner Partnerin. Sprenger bekam eine schriftliche Rüge von der Direktorin des Motels. Aber das hatte er gern in Kauf genommen und sich anschließend gekugelt vor Lachen. Nur schade, dass er die empörten Gesichter und Reaktionen der Gäste verpasst hatte. Rühreier mit Speck und Würstchen auf dem Teller und dazu frische Sahne auf der inwändigen feuchten Mattscheibe. Was für eine Gaudi wäre das wohl gewesen!

Er begann, sich mit seinem Laptop zu beschäftigen, der auf dem Tisch hinter der Rezeption stand. Aber nach fünf Minuten klappte er das Ding gelangweilt wieder zu.

 Der Blondhaarige, einsdreiundneunzig große und fast zwei zentnerschwere Mann rekelte sich in seinem Drehstuhl und zündete sich mit einem Streichholz eine Marlboro an. Auf dem schwarzen Streichholzbriefchen stand mit goldenen Lettern: 'Mabuhay Mabini'. Ein Animierlokal an der Zürcher Langstraße, das er öfters aufsuchte. Aber es war jedes Mal dasselbe, denn die philippinischen Puppen dort nahmen einen nur aus. Vor zwei Wochen hatten sie ihm innert einer Stunde vierhundert Franken abgeknöpft, und das lediglich für ein bisschen Schunkeln mit Schampusschlucken, Tittenkraulen und ein paar leere Versprechungen! Immer und immer wieder sagte sich Sprenger, was für ein dummes, geiles Arschloch er sei.

Rauchend und nachdenklich starrte der Einundvierzigjährige durch die Fensterscheibe der Motel Lobby nach draußen in die Dunkelheit, dabei überkam ihn die typische, schwere Müdigkeit, die ihn jeweils zu dieser Zeit befiel und während den nächtlichen und frühmorgendlichen Stunden nie ganz verflog. Mit dem Schlaf während des Tages in seiner Zweierzimmer Wohnung, die im Dorfzentrum von Adliswil lag, hatte er so seine Mühe. Und besonders mit dem jungen, egoistischen Mistkerl, der gleich nebenan wohnte und seinen Sound dauernd auf volle Lautstärke drehte. Ja ja, große und laute Töne spucken! Der große DJ, der nur vorprogrammierte, disharmonische, konservierte Klänge erzeugen konnte. Dieser besaß sogar noch die Frechheit, sich Musiker zu nennen. Dabei war dieser nicht einmal imstande einen Dur- von einem Moll-Akkord zu unterscheiden. Und weil dieser arbeitsscheue Möchtegernmusiker der junge Sohn des Steuersekretärs war, scherte sich der im Dorf ansässige Hausvermieter und -verwalter einen Dreck darum. Wenn es irgend sonst ein Penner gewesen wäre, dann hätte man nicht beide Augen zugedrückt. Ach lassen sie ihn doch. Sie waren ja auch mal jung, oder etwa nicht?

... ja, auch Adrian Sprenger war einmal jung. Doch was war nur geworden aus dem ehemaligen Hoteldirektor? Vor zwanzig Jahren hatte alles so gut und vielversprechend angefangen, als der Bauernsohn zwei Jahre nach der Beendigung seiner Kochlehre eine Zürcher Hotelierstochter kennenlernte. Äußerst widerwillig rückten Adrians Alten die nötige Stange Geld für die Absolvierung der Belvoir Hotelfachschule heraus, denn sie hätten es zu gern gesehen, wenn ihr einziger Sohn das elterliche Gut im Emmental übernommen hätte. Nur war dieser nie ernsthaft daran interessiert gewesen. Als Bauer schuftete man sich doch ein Leben lang nur sein Kreuz schief; für ein paar lumpige Kröten, die hinten und vorne nicht reichten. Dann kaum Freizeit, keine Ferien. Ein Dasein, bestehend nur aus Verpflichtungen und Verantwortung. Er schätzte zwar die hochstehende Literatur von Jeremias Gotthelf und deren alte, kongenialen Verfilmungen von Franz Schnyder, aber in Zukunft selbst der ewige Knecht zu sein, das war nicht sein Ding. Nein, er wollte hoch hinaus und er rackerte sich ab, dies mit beträchtlichem Erfolg: Fünf Jahre nach der Heirat wurde er Direktor im Hotel seines Schwiegervaters. Ja, er hatte es weit gebracht. Dem Emmentaler Bauernsohn roch man schon lange nicht mehr den Kuhstall an. Er trug jetzt Maßanzüge und seidene Hemden. Zu Hause jedoch nahm sehr bald einmal seine Frau die Rolle des Direktors ein, und die zwei Söhne, die sie ihm geschenkt hatte, erzog sie pädagogisch. Anstatt ihn im Betrieb zu unterstützen, engagierte sie sich intensiv für eine Frauenbewegung. Außerdem nahm sie immer häufiger an diversen Häuserbesetzungen und Demonstrationen teil, die nicht selten in Krawalle ausarteten. Als ob es nicht schon genug interne, häusliche Krawalle in Sprengers trautem Heim gegeben hätte! So schwamm er in Alkoholika oder flüchtete sich unter das Servierschösschen von so mancher hübschen Kellnerin, welche gleich zu Anfang die Schenkel für ihn spreizten. Die antiautoritären Erziehungsmethoden seiner Frau trugen faule und vor allem freche Früchte, und ihr permanentes, penetrantes Emanzengeheul glich den Sirenen in Homers Odyssee. Mit alkoholgetränkter Watte stopfte er sich in seiner Verzweiflung die Ohren zu, aber es war zwecklos, denn es drang trotzdem zu ihm durch und wurde immer unerträglicher. Eines Tages hielt er es nicht mehr aus und er reichte die Scheidung ein. Sein Schwiegervater ließ ihn fallen wie eine heiße und mit Scheiße beschmierte Kartoffel. Hoteldirektor war er die längste Zeit gewesen. Nach der Scheidung verspürte er keine Lust mehr auf eine hohe Anstellung in der Gastronomie. Für was auch, um noch mehr Alimente für seine Ex-Frau und Söhne zu zahlen? Eine Weile lang schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis er vor circa fünf Jahren die Stelle als Nachtportier hier im Pick Inn in Adliswil angetreten hatte. Ja, Adrian Sprenger war wahrlich tief gesunken!

Sprenger verspürte plötzlich großen Hunger und ging in die kleine Küche, hinter der der Personalessraum lag. Im Tiefkühler befanden sich außer den Packungen mit Kentucky Fried Chicken und Hamburgern nur noch tiefgefrorene Sushi. Die Leute hierzulande waren neuerdings ganz verrückt nach diesem Zeug, was er einfach nicht in seinen Kopf und noch weniger in seinen Magen reinkriegen konnte, aber auch noch andere Dinge: Er sah aus dem Fenster der kleinen Küche und erblickte den bereits geschlossenen Kebab Stand, der sich gleich vis-à-vis des Motels, auf der anderen Straßenseite befand.

"Pfui Teufel!", meinte er angewidert, öffnete den Kühlschrank und entnahm daraus saftigen Vorderschinken sowie Emmentaler Käse. Der Käse erinnerte ihn zwangsläufig an seine vergangene Heimat:

Hätte ich nur damals den Hof von meinen Alten übernommen und wäre Bauer geworden. Er hatte seinen Entschluss, in die Gastronomie einzusteigen, schon lange bereut. Doch der Hof war vor vielen Jahren versteigert worden, zu einem Spottpreis. Nachdem seine tief verschuldeten Eltern verstorben waren, musste Sprenger die Erbschaft ausschlagen. Nichts war geblieben. Und er wusste es nur zu gut: Allein mit seinem Nachtportier Job würde er nie mehr auf einen grünen Zweig kommen.

 

***

 

Der Motorradfahrer stellte seine Maschine auf dem großflächigen Parkplatz hinter dem Gebäude ab und lief mit schnellen Schritten auf den Eingang zu. Dabei schwenkte er demonstrativ die schwarze Ledermappe, die er in der rechten Hand hielt. Er klingelte an der dicken Eingangstür. Es dauerte keine Minute und ein hochgewachsener, breitschultriger und korpulenter Mann öffnete ihm. "Hey Mann, wird Zeit, dass du kommst, hat ja 'ne Ewigkeit gedauert, Mensch!"

Der Große schloss die Tür wieder ab und ging vor. Man passierte den Empfang, danach die Snack Bar und gelangte über die kleine Küche in das Personalesszimmer.

Sprenger nahm auf seinem Stuhl Platz und biss herzhaft in sein riesiges mit Schinken und Käse belegtes Sandwich. Der Besucher öffnete seine Ledermappe, zerstreute den Inhalt auf den Tisch und setzte sich auf einen der roten Plastikstühle.

Der Nachtportier des Pick Inn starrte auf den Schmuck, dann brummte er kauend: "Da is' mmmpf...ganz schön was zusammen gekomm'n." Er prüfte kurz die Ware, schluckte, spülte mit Mineralwasser und zog aus seiner Jacke, die über der Stuhllehne hing, ein dickes Bündel Geld heraus, das er seinem Gegenüber hinwarf, worauf dieser es sofort nachzuzählen begann.

Nachdem er mit dem Zählen fertig war, blickte er Sprenger scharf an und meinte: "Zehn Mille, das ist leider nicht genug."

"Zehntausend ...das ist doch wirklich genug, oder etwa nicht?"

"Drüben war ganz schwer was los, heute Nacht. Ich musste jemanden, der mir in die Quere kam, und mir fast zuvor gekommen war, aus dem Weg räumen. Wenn du es mir nicht glaubst, kannst du es ja frühestens in den kommenden Nachrichten hören, oder spätestens in ein paar Stunden den neuen Zeitungen entnehmen, die hier abgeliefert werden. Ich verlange weitere Fünf Mille als Gefahrenzulage."

"Du hast'se wohl nicht mehr alle, was! 'Gefahrenzulage', häh, so war das nicht abgemacht ...Das war DEIN Risiko, und außerdem bist du ja mit heilen Knochen davongekommen", brauste Sprenger auf.

Wortlos stand der Plünderer und Mörder auf und verstaute das Bündel Geld in seine schwarze Mappe.

"Du brauchst mir den Zaster nicht sofort zu geben, aber später werde ich ihn einfordern. Aber versuch ja nicht, mich anzuscheißen. Watch out, Sprenger", warnte er den Nachtportier.

"Ich habe die Fünf Riesen momentan nicht flüssig. Aber die wirst du schon noch bekommen ...Übrigens hatte es eine Kamera im Juwelierladen?".

"Keine Ahnung, hab' nicht darauf geachtet, aber ...I don't care, ich trag' ja immer die dunkle Brille", sagte der Besucher, zog den Reißverschluss der Lederjacke zu und ging in Richtung Ausgang. Der Nachtportier ließ ihn raus und schloss wieder die Tür. Vom Fenster des Personalesszimmers aus sah er, wie der Mann die 125er ankickte. Das Knattern der Maschine war gut zu hören.

Die Zehntausend, die Sprenger diesem gegeben hatte, stammten noch von seinem letzten Deal mit seinem Hehler. Und es war heute natürlich nicht das erste Mal, dass sein Partner, der Plünderer, und jetzt vermeintliche Mörder für ihn auf Raubzüge gegangen war. Bisher hatte sich die Beute nie als sehr wertvoller Schmuck erwiesen. Ganz im Gegensatz zu heute: Für die Klunkern, mehrere Hochkaräter mit Saphiren und Rubinen darunter, würde man ihm sicher an die Fünfzigtausend oder sogar noch mehr bezahlen. Sein Partner schnappte jeweils, was er kriegen konnte, und verlangte dann einfach einen angemessenen Preis. Aber jetzt wurde dieser unbequem, verlangte GEFAHRENZULAGE. Vermutlich hatte dieser die Geschichte mit dem Mord nur erfunden, um mehr Geld aus ihm herauszupressen. Nur war der Kerl mit seiner Masche an die falsche Adresse geraten. Einen Sprenger setzte man nämlich nicht so leicht unter Druck.

Als Nachtporter verdiente er hier im Monat knapp viertausend Franken. Davon gingen allein fast zweitausend für die Alimente an seine zwei Söhne und nicht zuletzt für seine Ex Frau drauf. Obwohl Letztere in äußerst wohlhabenden Verhältnissen lebte und einmal ein beträchtliches Vermögen von ihren Eltern erben würde, musste Sprenger ihr trotzdem einen Teil ihres Lebensunterhalts finanzieren. Mit seinen Kindern pflegte so gut wie keinen Kontakt mehr. Von seinem Lohn konnte er also mehr schlecht als recht leben. Dafür zahlte sich sein anderer Verdienst mehr als genug aus. Nicht nur die Figur Sprengers wurde zusehends korpulenter, auch sein Sparschwein; in Form eines Schwarzgeld Kontos in Lichtenstein. An die Fünfzigtausend Franken lagen dort. Noch ein- oder zwei solche Coups, dann besaß er genügend Moos, um endlich auszuwandern, und wenn es nur für ein paar Jahre sein würde. Entweder nach Thailand oder in die Philippinen.

 

***

 

Fred Wall drehte mit seiner gestarteten Maschine eine elegante Kurve und ließ sich auf die Hauptstraße rollen. Es bereitete ihm immer noch erhebliche Schmerzen, nicht nur in seinem rechten Daumen, sondern im ganzen Handgelenk, wenn er Gas gab.

Nachdem der geplante Mord an seinem letzten Freier in Würzburg misslungen war, steckte man ihn nach der ambulanten Operation, an der man ihm den abgetrennten Daumen wieder angenäht hatte, in U-Haft. Der Prozess dauerte sieben Monate. Danach verurteilte man ihn zu zwanzig Jahren Zuchthaus wegen siebenfachen Mordes. Die anderen zwölf konnte man ihm nicht nachweisen, die er zuvor auch in anderen Ländern begangen hatte. Bereits nach einem Jahr Aufenthalt in einem großen Münchner Gefängnis steckte man ihn dank seines überzeugenden schauspielerischen Talents in eine Therapie. Mit der Hilfe seines Psychiaters und nicht zuletzt dessen entsprechenden und unerlässlichen Gutachten kam Wall sogar in den Genuss eines Hafturlaubs, den er sogleich in seine Flucht umwandelte. Was Wall überaus begrüßte, ist die Tatsache, dass sich die europäischen Strafgesetze immer wieder als sehr human erweisen für Schwerverbrecher, ganz im Gegensatz zu denen in seiner amerikanischen Heimat. Nun war er wieder auf freiem Fuß und er schätzte sich ungemein glücklich, seine zuvor unterbrochene, mörderische Pilgerfahrt fortzusetzen. Aus dem ehemaligen Rasiermessermörder verkleidet als Prostituierte und Ex-Sträfling war nun ein Gelegenheitseinbrecher, Plünderer sowie Räuber geworden. Und seine jetzigen Morde verübte er meistens mit einer Schusswaffe. Die Interpol war ihm zwar nach wie vor auf den Fersen, doch der gerissene Wall benutzte seine Tarnung perfekt wie ein Chamäleon. Außerdem verfügte er inzwischen über ein ganz ansehnliches Bar Vermögen, das aus seinen früheren Raubzügen resultierte. Seit geraumen nahm er Aufträge von diesem Sprenger an. Da dieser mit einem sehr verlässlichen Hehler zusammenarbeitete, stellte das Verhökern der geraubten Wertgegenstände kein Problem dar. Leider wurde ihm dieser bärenhafte Nachtportier langsam aber sicher zu unbequem.

Nur beabsichtigte Wall sowieso nicht mehr allzu lange in der Schweiz zu weilen. Sein nächstes Ziel hieß: Brasilien. Ritchie, sein Bruder, der dort schon seit vielen Jahren lebte, kannte einen sehr berühmten und versierten Geistheiler. Wahrscheinlich würde sich die baldige Pilgerreise nach Brasilien als die wichtigste in seinem ganzen Leben erweisen, denn die permanenten, starken Schmerzen in seinem rechten Daumen, welche sich auf das ganze Handgelenk verteilten, behinderten qualvoll seine Aktivitäten (besonders dann, wenn er, wie jetzt, Motorrad fuhr oder eine Schusswaffe benutzte). Die unzähligen Konsultationen bei diversen Ärzten hatten sich als sinnlos erwiesen, ebenso wie die ihm auferlegten, wirkungslosen Therapien und Medikamente. Ein übles Überbleibsel von der damaligen Kurpfuscherei, die ihn auf schmerzlichste Weise an die grauenhaften Würzburger Momente erinnerte.

 

***

 

Spenger begann die Titel von den Schnee-von-gestern-Blättern zu entfernen.

Nach vier trudelte der Kurier ein und brachte die Sonntags Ausgabe einer Boulevard Zeitung. "Hallo Ady!", begrüßte dieser den Nachtportier, knallte das Bündel auf die Rezeption und setzte sich an die Theke der Snack Bar. Sprenger ließ zwei Espresso aus der Kolben Kaffeemaschine laufen.

"Mann, das war vielleicht eine heiße Nacht in der Stadt ... Schau dir nur mal die Schlagzeile im 'Sonntags Blick' an: SIE PLÜNDERTEN UND PRÜGELTEN!", sagte der Zeitungsverträger, bevor er die Tasse zum Trinken ansetzte.

"Morgen ist diese Schlagzeile bereits eine gestrige, und die pflege ich stets zu 'köpfen'", grinste Sprenger.

"In einem Niederdorfer Juwelierladen ist ein Plünderer erschossen worden", meinte der Zeitungskurier.

"Aha, entspricht die Geschichte von meinem amerikanischen Partner also doch der Wahrheit. Der Kerl hat wohl Nerven wie Drahtseile. Ein kaltblütiger Typ. Das sieht man ihm gar nicht an, mit seinem fraulichen Gesicht", dachte Sprenger eine Weile später, während die Sonne sich bereits hinter den Wolken hervordrückte und ihre ersten Strahlen durch die verschmierte Fensterscheibe warf. Ein Bilderbuchsommer schlug seine ersten Seiten auf. Er schaute auf die Uhr; nur noch eine knappe Stunde, und dann kam die Rezeptionistin, um ihn endlich abzulösen.

Nach 15.00 Uhr stand er auf an diesem Sonntag, duschte, rasierte sich und nahm anschließend eine Mahlzeit zu sich, die aus Toast, Speck, Spiegeleiern und Kaffee bestand; eben das nachmittägliche Frühstück eines Nachtportiers. Der debile DJ von nebenan hobelte sich wie üblich disharmonisch auf seinem Keyboard und Mischpult einen runter. Dieser verdammte Wichser! Aber wozu sich darüber noch aufregen? Es würde nicht mehr allzu lange dauern, und Sprenger befand sich in ruhigeren und vor allem, wärmeren Gefilden.

Gegen Abend fuhr Sprenger mit seinem blauen, zweitürigen Peugeot in die Stadt, an den Limmatquai, um in seinem Stammcafé wie gewohnt seine drei Espressos zu trinken. Die Straßen hatte man wieder auf Hochglanz poliert und die eingeschlagenen Schaufenster der umliegenden Geschäfte waren so ziemlich das Einzige, was noch vom Chaos der letzten Nacht zeugte. Im November würde er seinen lange erwarteten dreiwöchigen Urlaub antreten, und so dachte er an einem Fenstertisch des Cafés über das geplante Ferienziel nach: Philippinen. Warum nicht? Urs, ein guter, alter Freund, war mit einer Philippina verheiratet. Marisol. Ein junges, hübsches Ding, DIE hatte Klasse, so vom Typ Amy Austria, die aus dem früheren philippinischen Film 'Jaguar' mit Philip Salvador.

Sprenger erinnerte sich genau, wie Urs vor einem Jahr, noch als Junggeselle, geschwärmt hatte: "Was sitzt du immer mit deinem fetten Arsch auf deinen geilen Eiern im 'Mabuhay Mabini' und lässt dich von diesen Hühnern ausbeuten, spar dir die Kohle, und dann ab nach Manila, in die 'Mabini Street', ja, das Original ..."

Halb sieben verließ er die Caféteria und fuhr zur nächsten Telefonzelle. Bestimmte Anrufe durften vorsichtshalber nie vom eigenen Handy aus, sondern immer in einer öffentlichen Telefonzelle getätigt werden. Dann wählte er die Nummer von Urs. Jemand hob ab, aber es war nicht sein Freund Urs ...Nur eine weibliche Stimme meldete sich in niedergeschlagenem Ton. Marisol, Urs' Frau ...

Außer sich vor Zorn traktierte Sprenger zwei Minuten später mit dem Hörer mehrere Male die stählerne, silberne Telefonbox.

 

Motel Pick Inn. Adliswil. Donnerstag. 5. Juni. Zeit: 1.10 Uhr

 

Adrian Sprenger saß am Tisch im Personalraum. Er machte einen resignierten Eindruck und trank Hennessy Cognac aus der Flasche, die er sich mitgebracht hatte. Die `Mabini Street` und all ihre braungebrannten, mandeläugigen Knusper Feen...alles im Eimer!

Da vernahm er das Knattern eines Motorrades und Sekunden später sah er den Fahrer. Dieser verdammte Ami!

"Du hast mir g'rade noch gefehlt! Du bist ja die reinste Zecke. Heute bin ich aber gar nicht in der Stimmung für dich", brummte er gereizt und lief mit schnellen, energischen Schritten zur Hoteleingangstür.

Wall begehrte Einlass, aber Sprenger öffnete die Tür nur einen Spalt. "Ich weiß, du bist hier wegen deinen fünftausend, doch die kannste dir an den Hut stecken ...So, und nun verschwinde!", drohte der hünenhafte Nachtconciérge des Motel Pick Inn, und ballte seine rechte Hand von der Größe eines Pfannendeckels zur Faust. Er rammte die Tür wieder zu und ließ den anderen draußen stehen. Dann lief er zurück in den Personalessraum und nahm erst mal einen weiteren kräftigen Schluck Cognac.

Er sah und hörte, wie der ungebetene Besucher seine 125er wieder startete, dann gab dieser Gas und weg war er. "Heheheh! Dem hab' ich aber gezeigt, wo der Bartli den Most holt", freute er sich händereibend.

Die halbe Flasche hatte Sprenger bereits geleert, nur, der Alkohol konnte seine unbeschreibliche Frustration nicht wegschwemmen: Ausgerechnet jetzt, wo er so viel Schmuck hätte absetzen können. ...DAS wäre bis jetzt mit Abstand der beste Deal gewesen ... mit Urs, dem guten Freund und Hehler. Aber irgendjemand hatte ihn verpfiffen und hochgehen lassen. Ja ja, und nun saß Urs im Knast, und dort würde er noch eine ganze Weile sitzen bleiben. Sein armes, philippinisches Frauchen war nun alleine. Sie würde wohl kaum so lange warten, bis er wieder rauskam. Wie zum Teufel konnte er nur die Beute vom letzten Raub aus dem Niederdorfer Juwelierladen in Bargeld umwandeln? Außer Urs kannte er niemanden, dem er die heiße Ware hätte verhökern können. Sprenger kam sich nun vor wie eine Henne, die auf Eiern hockt, welche sie nicht auszubrüten vermag.

"So eine verdammte Schifferscheiße!", fluchte Sprenger und spürte den Drang etwas hineinzustopfen, etwas in sich hineinzuschaufeln. Konnte man den Frust nicht wegtrinken, dann musste man ihn eben wegessen. Er lief in die Küche und belegte ein Sandwich wie gewohnt mit Emmentaler Käse und Vorderschinken. Sprenger schaute aus dem Fenster des Essraums und biss in sein Sandwich. Es sollte der letzte Biss in seinem ganzen Leben gewesen sein: Die Kugel, die der Killer von draußen aus seiner Pistole abgefeuert hatte, durchschlug mit voller Wucht die Fensterscheibe und die Schädeldecke des Nachtportiers. Sein bereits toter Körper knallte mit einem lauten Poltern auf einen der roten Plastikstühle und glitt auf den Fußboden.

Der Killer steckte seine Knarre wieder ein, hielt ein paar Sekunden inne infolge seiner Schmerzen im rechten Handgelenk. Dann huschte Wall über die Böschung, die den Motelparkplatz abgrenzte, rannte anschließend die zweihundert Meter zu seiner Maschine und kickte sie an.

"Ich hatte dich noch gewarnt. Stupid Asshole! Mich scheißt man nicht mehr an. Nun denn, Mr. Sprenger, so war das denn auch dein letzter Nachtdienst", sagte er, bevor er Gas gab und ihn die Nacht verschluckte.

 

3. Kapitel: Walls Wallfahrt in Brasilien

Goiânia, im Bundesstaat Goiàs. Brasilien

 

Fred Wall war mit einer Maschine der Varig von Zürich nach São Paulo geflogen, dort auf dem Flughafen Guarùlhos zwischengelandet und nach einem weiteren vierstündigen Flug schließlich hier in Goiânia eingetroffen.Es war kurz vor zehn Uhr vormittags. Sein Bruder Ritchie hatte ihm drei Tage vor dem Abflug noch eine SMS geschickt:

Olà Freddy! Tudo bem?

Hier meine genaue Adresse. Aber ich werde dich am 3. August sowieso vom Flughafen in Goiânia abholen, zusammen mit meiner Freundin Raquel.

Até mais tarde, Lembranças

Ritchie

Richard Wall & Raquel Carneiro

Av. T-2, no 1670, Qd-35 Lt-03 Setor Bueno 74610 Goiânia - GO BRASIL

 

Es herrschten fünfunddreißig Grad Celsius, und er schwitzte wie ein in einer Box eingepferchtes Schwein. Doch an die Gluthitze sollte er sich schnell gewöhnen und schon bald feststellen, dass das Klima hier in Goiânia angenehm trocken war.

Ritchie, seinen Bruder, der ihn auf dem Flughafen in Goiânia abholte, hatte er seit seiner Auswanderung nicht mehr gesehen. Das lag mittlerweile acht Jahre her. Dieser hatte sich auch sehr verändert und war kaum wieder zu erkennen: Braun gebrannt, mit Oberlippen- und Ziegenbärtchen und kurz geschorenen Haaren. Über seinem wohlgenährten Bauch spannte sich ein T-Shirt, auf dem eine originelle Karikatur eines Tukans mit leuchtend gelbem Schnabel den Betrachter frech angrinste. Die beiden Wall Brüder wiesen weder von ihrem Aussehen noch von ihrem Charakter her gewisse Ähnlichkeiten auf.

"Hallo Ritchie, du altes Rübenschwein!"

"Bom dia, como vai, Freddy!?", begrüßte ihn die etwa dreißigjährige, schwarzhaarige Frau vom Typ einer Sonja Braga, der hiesig bekannten Schauspielerin in jungen Jahren, die im Rücksitz des Alfa Romeos gewartet hatte. "Bem, obrigado, e você!?"

Und damit erschöpften sich bereits Walls Portugiesischkenntnisse.

"Das ist Raquel", stellte Ritchie seine Freundin vor und setzte sich hinter das Steuer. Aus dem CD Player erklang eine alte Nummer von Sandra de Sà.

Während der Fahrt durch die City sprach man kaum miteinander und Fred Wall konzentrierte sich auf die städtische Umgebung. Heute war es das erste Mal in seinem Leben, dass er brasilianischen Boden betreten hatte.

Reklamebeschriftete Backsteinhäuser, palmenähnliche Bäume, unzählige Verkaufsstände und die riesigen Warenhaus Komplexe, welche im Kontrast dazu standen, dann Menschentrauben und im Schleichtempo fahrende Lastwagen, die berstend voll mit Früchten beladen waren, zogen an ihnen vorbei. Sein Bruder fuhr wie ein Henker, und eine braune, knochige Katze, die gerade die Straße überquerte, brachte sich noch schleunigst in Sicherheit. Die unebenmäßig geteerten Straßen vermittelten ein intensives Fahrgefühl, das sich durch die mit Wasserpfützen gefüllten Schlaglöcher noch verstärkte. Sie überholten einen überfüllten Stadtbus, an dessen Rückseite sich ein farbiger Radfahrer mit der rechten Hand an das Fenstergitter drangehängt hatte und sich somit mitschleppen ließ.

Für Fred fremde, exotische Düfte und auch unangenehme Gerüche, sowie Staub und Autoabgase stiegen durch die geöffneten Autofenster in seine Nase, während Geräusche wie rasselnde Kompressoren von verschiedenen Baustellen und gleichzeitig Tonfetzen aus Samba-Rhythmen und westlicher Popmusik, die aus den anderen Fahrzeugen dröhnten, in seine Ohren drangen.

All diese schnellen, sinnlichen Wahrnehmungen erweckten in ihm den Eindruck von Chaos, aber nicht den der Hektik. Eine vermischte und für ihn neue Kultur unter südamerikanischer Hemisphäre.

Nach der halbstündigen Fahrt erreichten sie das Haus an der Setor Bueno.

"Warte einen Moment im Auto, ich muss erst Cassio und Fabio anketten." Es handelte sich dabei um zwei Filho Brasilieros. Ritchie legte die beiden riesigen Hunde an die Kette.

Man musste zuerst den paradiesischen und vierzigquadratmetergroßen Garten durchqueren und anschließend die geräumige Veranda, um das Fünfzimmerhaus betreten zu können. Der Boden im Wohnzimmer bestand aus Marmorfliesen und erzielten damit einen kühlenden Effekt.

Ritchie öffnete zwei Flaschen Antarctica Bier. "Eigentlich müssten noch Eisklumpen in der Flasche sein, denn auf diese Art trinkt man hierzulande das Cerveja; eisgekühlt eben", erklärte er und schenkte zwei Gläser ein. Die beiden ungleichen Brüder stießen auf ihr Wiedersehen an: "Saùde! Freut mich, dass du endlich mal gekommen bist. Das war wohl schon lange überfällig", freute sich Ritchie, nahm wieder einen kräftigen Schluck und wischte sich mit der rechten Hand den Schaum des Bieres von seinem Schnurrbart.

Beim Fejoada, dem scharf gewürzten brasilianischen Nationalgericht mit dicken, schwarzen Bohnen und Fleisch, erzählte Freds Bruder, wie es ihm in all den Jahren ergangen war:

Um dem langweiligen Provinznest Red Lodge endgültig den Rücken zu kehren, flog er zuerst nach Rio de Janeiro, um bei einem Bekannten, ebenfalls ein Amerikaner, unterzukommen. Mit Gelegenheitsarbeiten schlug er sich die ersten zwei Jahre mühsam durch. Doch in der Zwischenzeit erlernte er Portugiesisch, die Landessprache. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Fred, beabsichtigte Ritchie niemals eine verbrecherische Laufbahn einzuschlagen. Eines schönen Tages lernte Ritchie Wall ein Rasseweib vom Zuckerhut kennen: Vera. Am Anfang war auch alles sehr süß gewesen, mit der Zuckerpuppe am Copacabana-Strand. Schließlich heirateten sie.

Nach zwei Jahren jedoch mutierte die einst heißblütige Exotin zu einer eisblütigen Hexotin.... die sich tagsüber der Schwarzen Magie, dem Macumba und den Partys mit ihren Freundinnen in der ehelichen Wohnung, die mitten im urbanen Kuchen von Rio lag, widmete. Dass sie den Haushalt und den damals zweijährigen Sohn Antonio vernachlässigte, war so klar wie die Klaren, welche sie an den häuslichen Anlässen auftischte; Cachaça. Dann brach die Zeit an, wo Ritchie nicht mehr all zu viel am Hut hatte mit dem Girl vom Zuckerhut. ... das sich des Nachts jeweils in ein Sägewerk verwandelte, indem es seinen Alkoholrausch ausschnarchte und dem Ehemann so manche schlaflose Nacht bereitete. Als ob es ihm nicht schon sonst genug an den Nerven herumsägte! Vera wurde immer fülliger, schwerer und ungepflegter. So war es nicht verwunderlich, wenn der Gatte seine liebe Gattin nicht mehr begatten wollte. Was am Anfang ihrer Ehe sambaartig und mit viel Rhythmus über die Bettbühne gegangen war, hatte sich zum müden Bettvorleger entwickelt. Und der Gestank von ausgekotztem Cachaça verbreitete sich immer öfters im ehelichen Schlafgemach. Eines Nachts erschien ihm Vera in einem Albtraum; mit großen Ohrringen, die sich in zwei ausgesoffene Cachaçaflaschen verwandelt hatten, und die unentwegt hin und her baumelten. Er wachte auf, weil sein brasilianisches Sägewerk soeben laut schnarchend den ganzen Regenwald abholzte. Und da er nicht darauf warten wollte, bis ihm die Baumstämme auf den Schädel krachten und ihn erschlugen, packte er seine sieben Sachen und verpisste sich nach São Paulo, um dort als Taxifahrer seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Dort hielt er es jedoch nicht all zulange aus und bereiste das Land. In Goiânia blieb er hängen, wo er dann schließlich Raquel kennenlernte; eine Kunstmalerin, die wenige Jahre zuvor vom AAPLP (Künstlerverband der Region São Paulo) für ihre zeichnerische Qualitäten mit einer Goldmedaille ausgezeichnet worden war. Durch ihre regelmäßige Teilnahme am gesamt brasilianischen Verband CCBEU konnte sie ihren Bekanntheitsgrad als Malerin noch erhöhen. Daneben erteilte sie privaten Malunterricht auf der Veranda des Hauses, das Ritchie vor zwei Jahren erworben hatte. Die von ihr illustrierten Kinderbücher waren alle zu Bestsellern geworden. Wall verfügte zwar über keine offizielle Arbeitserlaubnis, doch beherrschte er mittlerweile die unentbehrliche Kunst des Schmierens. Bald übernahm er das Management seiner Freundin. Und so scheffelten sie gemeinsam Geld. Offiziell war er immer noch verheiratet, nur, wen interessierte das schon ...Wenigstens zahlte er seiner Frau Kinderalimente. Antonio, der in Rio bei seiner Mutter lebende Sohn, besuchte er vier bis fünfmal im Jahr.

Beim Cafézinho - der Kaffee war frisch geröstet- und gemahlen - saßen sie alle zusammen in Raquels Atelier, und Fred, der Kunstliebhaber bestaunte ihre surrealistischen Kunstwerke, welche ihn ungemein beeindruckten.

Während sich Raquel im Fernsehen eine Folge aus dem Tele Novela Klassiker Pantanal anschaute, kamen die Gebrüder Wall draußen auf der geräumigen Veranda ins Gespräch.

"Wie ist das mit diesem Geistheiler, von dem du mir berichtet hast?", wollte Fred jetzt von seinem Bruder wissen.

"Clovis Ramallho, so sein Name, ist ein ganz normal praktizierender Arzt, der nebenbei als Geistheiler fungiert. Als spirituelles Medium verfügt er über weissmagische Fähigkeiten, wenn dies auch vielfach umstritten ist. Und du kannst mir glauben, vor einem Jahr, war ich zuerst auch verdammt skeptisch. Schließlich gibt es bekanntlich zu viele Scharlatane auf diesem Gebiet. Aber was hatte ich schon in meiner Situation zu verlieren? Auf jeden Fall hatte sich jener Besuch bei Ramallho gelohnt."

"Warum hattest du damals ein steifes Knie?", wollte Fred wissen.

"Keine Ahnung, ich hatte keinen Unfall, nichts dergleichen."

"Ich bin immer noch davon überzeugt, dass deine offizielle Ehefrau Vera Macumba gegen dich angewandt hatte. Du erinnerst dich doch sicher, wie sehr sie der Schwarzen Magie zugetan war oder ist", meinte Raquel, die nun ebenfalls die Veranda betreten hatte.

Ritchie nickte. "Ja, das ist sehr gut möglich ... früher dachte ich, das sei alles nur fauler Zauber, aber seit ich hier in diesem Land lebe, werde ich nach und nach eines Besseren belehrt. Das Ganze hat natürlich nichts mit dem gemein, was so in Büchern und Filmen im gängigen Grusel-Genre angeboten wird. Nun, morgen, ganz früh, geht es bereits los. In das Dorf Abadiânia, in das Zentrum Dom Inosanto von Clovis Ramallho. In knapp eineinhalb Stunden werden wir mit dem Auto dort eintreffen. Wir werden aber ziemlich lange warten müssen, denn auf dem Gelände wird es wimmeln von Kranken, die auf Heilung hoffen."

"Das nehm' ich gern in Kauf. Wenn das nur mit meinem verdammten Daumen wieder in Ordnung kommt", meinte Fred voller Ungeduld.

"Keine Angst. Ramallhos Behandlung vor einem Jahr hatte auch mein damals versteiftes Knie geheilt. Das war eine gute Empfehlung von Raquel gewesen."

 

Am nächsten Tag. Im Zentrum Dom Inosanto, in Abadiània

 

Fast den ganzen Tag mussten sie warten, im Zentrum Dom Inosanto. Die meisten Anwesenden dort beteten. Viele von ihnen waren Krüppel, Kranke und solche mit total deformierten Gesichtern. Ein junges Mädchen bot mit der großen, ballonartigen Blase, die ihre linke Gesichtshälfte überdeckte, einen sehr mitleiderregenden Anblick. Wäre die Szenerie nicht so traurig und ernst gewesen, hätte man annehmen können, man befindet sich mitten in einem schlechten Science-Fiction- oder Mutanten-Film aus den fünfziger Jahren.

Am frühen Nachmittag demonstrierte Ramallho dann seine wahre, göttliche Gabe. Fred hatte sich zusammen mit seinem Bruder und dessen Freundin extra ganz weit vorne hingestellt, um alles aus nächster Nähe beobachten zu können. Ramallho schätzte man vom Alter her auf Anfang fünfzig. Er war von kleiner Statur, trug dicke Koteletten und dazu eine dunkle Sonnenbrille, die er nie abnahm. Zuerst bohrte der Heiler einer Frau mit einem langen scherenartigen Gegenstand durch die Nasenhöhle fast bis zur Stirn hinauf, und das Blut schoss nur so heraus. Und das alles ohne Narkose! Einer anderen Frau entfernte er mit einem Skalpell unterhalb ihrer Brust einen Knoten. Beide Patientinnen - sie trugen während der Operation Rosenkränze - befanden sich in einem Trancezustand und schienen nicht den geringsten Schmerz zu spüren.

Zwei Stunden später, als Fred Wall endlich an die Reihe kam, saßen im eigentlichen Behandlungszimmer an die zwanzig Medien mit geschlossenen Augen. Einer von ihnen saß ganz nahe am Eingang und gestikulierte wild. All ihre Gebärden begleiteten sie während der Zeremonie mit einem kollektiven und crescendoartigen Murmeln. Raquel erklärte ihm dann später den Grund der anwesenden Medien sowie die Bedeutung der Gebärden und des Murmelns, das sich als Gebet erwies: Sie hatten die Aufgabe Meister Ramallho mit ihren Kräften zu unterstützen und dunkle Einflüsse, vor allem böse Geister, fernzuhalten. Bei Fred machte der Heiler nur ein paar kurze Zeichen mit seiner rechten Hand, dann kritzelte er etwas auf einen Zettel, den er dem Patienten sogleich überreichte. Wall dachte: Was, das war's schon? Den Zettel musste Wall draußen auf dem Areal wieder abgeben und erhielt gegen die Entrichtung von ein paar Real vier Plastikflaschen Passiflora; eine Medizin auf Kräuter Basis. Während der vierwöchigen Kur durfte er keinen Alkohol trinken, kein Schweinefleisch verzehren und weder Bananen noch Pfeffer zu sich nehmen.

 

Impressionen aus São Paulo

 

Zwei Wochen später begaben sich die Gebrüder Wall und Raquel auf die Reise in einem komfortablen, klimatisierten Bus. Die Strecke: Von Goiânia über den Bundesstaat Minas Gerais nach São Paulo.

Auf diesem langen Trip nutzte Fred die Gelegenheit, etwas mehr vom Land zu sehen und zu entdecken: Riesige, zerklüftete Gebirge erstreckten sich über die weite Landschaft. Manche Gegenden waren ziemlich öde, nur mit Gestrüpp überwuchert oder der Boden ganz verdörrt, in anderen wiederum fruchtbar und wo man eine Fazenda nach der anderen ausmachte. Man versäumte jedoch auch eine Menge an Zeit auf dieser interessanten Fahrt: Der Händler, der im Bus zugestiegen war, vertrödelte mehr als eine halbe Stunde mit dem Verkauf von Getränken und Snacks. Später kam eine Militärpolizei Kontrolle und danach eine Malaria Impfung hinzu. Ein weiterer Zwischenhalt betrug volle zwei Stunden, weil Reparaturen an der Vorderachse des Busses vorgenommen werden mussten. Die Toiletten an den Raststätten waren übrigens sehr sauber, was man von den anderen öffentlichen nicht immer behaupten konnte. Dort saß dann jeweils ein Mann an einem Tisch, vor einem Berg aufgestapelter Klopapier Rollen und man zahlte diesem ein paar Real, während ein Bursche die Toiletten reinigte.

Nach sechzehn Stunden hatten sie die Metropole des Staates São Paulo endlich erreicht. São Paulo, dieser wahrhaft titanische Großstadt Krake umschlang und packte die Ankömmlinge, zog sie mit seinen unsichtbaren, gigantischen Tentakeln in das unendliche, smoggeschwängerte Meer aus Beton, Asphalt, Stahl, Gras, Wasser, Holz, Bäumen, Staub, Dreck und riesigen Blechlawinen in Form von kilometerlangen Autoschlangen, welche sich inmitten gewaltiger Häuserschluchten wälzten, und nicht zu vergessen, die hier lebenden circa zwanzig Millionen Menschen. Diese urbane Kulissen ähnelten den Impressionen von ganz bestimmten Sequenzen aus dem Kunst- und Kultfilm Koyaanisqatsi.

Sie nahmen die Metro und fuhren in einen anderen Bezirk. Anschließend gingen sie zu Fuß durch ein verschmutztes Industriequartier, mit einem immensen Wall rundherum, bestehend aus nebeneinander gebauten Fabriken, aus deren Schornsteinen dunkler, dicker Qualm entwich, und mit rußschwarzen Mauern, die teilweise mit grell-farbiger Graffiti besprüht waren, um dieser visuellen Eintönigkeit ein wenig entgegenzuwirken.

Ein paar Kilometer außerhalb des Quartiers, auf einer Anhöhe lag das fünfstöckige Haus, in dem Raquels Bruder Raul mit Regina, seiner Frau ein Appartement mit vier Zimmern bewohnte. Man begrüßte sich herzlich und Fred Wall kam erneut in den Genuss brasilianischer Gastfreundschaft. Die an der Eingangstür zusätzlich angebrachten fünf riesigen Schlösser waren ihm gleich aufgefallen, als sie die Wohnung betreten hatten. Weil Fred das in dieser Form noch nie zuvor gesehen hatte, erinnerte ihn die mit fünf Schlössern bewehrte Tür unwillkürlich an ein Schallplattencover: Tony McAlpines brillantes Rockalbum Maximum Security. ... und Letztere war auch bitter nötig, angesichts der extremen Kriminalität hier in São Paolo.

Die Uhr zeigte kurz nach Sechs und mit der Dunkelheit war der Abend angebrochen. Sie verabschiedeten sich von Raquels Bruder Raul und seiner Frau Regina. In einem grossen Estacao Rodoviària, also Busbahnhof, bestiegen sie eine Stunde später den Bus nach Santos.

 

***

 

Fred Wall lag neben einer rassigen Mulattin an einem der paradiesischen und idyllischen Strände von Guarujà. Doch er besaß nur Augen für ihren knackigen Körper, der allein von einem winzigen Tanga verpackt war. Dieser Strand ist mit dem Bus von der Hafenstadt Santos, wo er sich mit seinem Bruder und dessen Freundin in einem gut situierten Mittelklasse Hotel einquartiert hatte, in eineinhalb Stunden zu erreichen. Selina, eine einundzwanzigjährige Studentin, hatte Fred gleich am ersten Abend ihrer Ankunft in einer Disco in Santos kennengelernt. Mit Zeichen- und Körpersprache machte er seine spärlichen Portugiesischkenntnisse wieder wett. Sie schloss sich den vielen Wochenend-Besuchern an, die aus São Paulo hierher kommen, um Sonne und Meer zu genießen.

Die kurvenreiche, knackige Gazelle hatte es wahrlich faustdick hinter ihren beringten Ohren: Wenn sie jeweils in knallengen Jeans Hotpants, weißem T-Shirt ohne BH und hochhackigen Pumps, ausladend in ihren Hüften wiegend auf dem heißen Straßenpflaster tippelte, wurde es Wall schwindlig. Hippy hippy shake! Ihr Po war eine wahre Götterspeise. Gosto de Samba! Selina bewies, dass sie die beste Sambaschule in Sachen Liebe genossen hatte. Was Wall ebenfalls an ihr überaus schätzte, war ihre körperliche Natürlichkeit; gänzlich unversehrt von unästhetischen, dekadenten Accessoires wie Piercings, grässlichen Tätowierungen und sonstigen Verstümmelungen, an denen sich heutzutage leider sehr viele Frauen ergötzten.

Im Vergleich zu Goiânia war das Klima hier feucht. Das Thermometer kletterte heute bis neununddreißig Grad. Es herrschte gerade keine Hochsaison, wimmelte aber trotzdem von Touristen. Ritchie planschte mit Raquel in den wogenden Meereswellen herum. Mit übergroßer Freude hatte Fred seit gestern registriert, dass die Schmerzen in seinem rechten Daumen nachgelassen hatten.

Zwei Stunden später saßen sie alle zusammen in einer Churrasqeira beim Churrasco; ein Eldorado für fleischfressende Vielfraße, in dem aber nicht nur der Gourmand, sondern auch der Gourmet voll auf seine Kosten kommt. Die zuständigen Kellner wirbelten mit ihren riesigen Fleischspießen herum, schnitten mit langen Messern dicke Tranchen ab und ließen diese in die Teller der Gäste gleiten. Man musste sich zeitweise ganz schön ranhalten mit dem Tempo, sonst stapelte sich das Fleisch auf dem eigenen Teller und dann konnte es passieren, dass die Kellner immer seltener an den Tisch kamen und am Schluss gar nicht mehr auftauchten.

Ritchie kippte bereits seinen dritten Caipirinha, als er zu seinem Bruder meinte:

"Warum Freddy, bleibst du nicht hier in Brasilien und fängst nochmals von vorne an? Dein früheres Leben war doch eine einzige Hölle. Und ich möchte nicht die Hälfte davon wissen, was du in der Vergangenheit alles getrieben hast. Aber lass deine unrühmliche Vergangenheit, Vergangenheit sein."

Fred Wall überlegte. "Du weißt ja so gut wie ich, dass ich aus einem ganz anderen Holz geschnitzt bin als du, Bruderherz. Ich kann nun eben nicht aus meiner Haut raus, sprich: Nicht gegen meine kriminelle Natur ankämpfen. Aber ich plane schon lange, in dieses wunderschöne Land auszuwandern. Nur nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Vorher muss ich noch etwas erledigen: Eine alte Rechnung begleichen. Und dies schon sehr bald."

"Na ja, du musst es ja wissen. Ich will auch nicht wissen, wo und was für eine Rechnung du zu begleichen hast. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Das ist alleine deine Angelegenheit. Aber es würde mich freuen, wenn du wieder nach Brasilien kommst. Wir werden schon etwas für dich finden. Ich pflege inzwischen sehr gute Beziehungen in diesem Land."

Das Dessert nahm Wall mit Selina in einem der typischen Love Motels ein, welche meistens am Rande einer Stadt liegen. Das Taxi fährt direkt an die Rezeption, an der der Gast dem Portier den Zimmerpreis plus Depot zum Voraus entrichtet, worauf man sich dann von diesem den Schlüssel aushändigen lässt. Danach öffnet sich das Eingangstor und man fährt einfach in die entsprechende Garage, worin sich die Eingangstüre zu einer Suite befindet. Eine Suite mit allem Drum und Dran; für das Wohlbefinden, den Gaumen und die Lenden, mit Sauna, Whirlpool, Hausbar, warme Küche, Sex Videos per Bildschirm. Er hatte auch heute wieder viel Spaß mit seinem rassigen, kaffeebraunen Wonneproppen: Selina rasierte sich vor ihm mit weit auseinander gespreizten Schenkeln ihre Scham und danach fing sie an auf der Bar Theke zu strippen und zu masturbieren, bis es ihm zu bunt wurde, und er ihr behilflich werden musste, wobei er darauf zu achten hatte, dass er seinen Cocktail nicht schon vorher verschüttete.

Ganze drei Wochen blieben sie alle noch zusammen in Santos. Dann fuhren sie mit dem Bus wieder zurück nach Goiânia. Die brasilianische Wallfahrt hatte sich wahrlich gelohnt: Die Schmerzen in Fred Walls rechtem Daumen waren vollständig verschwunden. Und er wusste es ganz genau: Den geheilten Daumen würde er noch in Bälde gebrauchen ... auf einer weiteren Pilgerreise, und in weitaus kälteren Gefilden als hier in Brasilien ...

 

***

 

Fred Wall blieb noch bis Mitte November. Länger als geplant. Denn das Klima und das Leben hier in Brasilien ließen ihn förmlich wieder aufblühen. Doch nun war die Zeit reif für den Aufbruch.

Am letzten Tag, beim Abschied auf dem Flughafen von Goiânia nahm ihm sein Bruder das Versprechen ab, dass er unmittelbar nach der Erledigung seiner Mission wieder zurückkommen und für immer bleiben werde. Kurz danach bestieg er die Maschine der Varig, die ihn in seine alte Heimat, in die Vereinigten Staaten fliegen würde.

 

 

 

 

4. Kapitel: Die Ballade von dem Killer und der Lady

Red Lodge, Montana. USA. 3. Dezember. Zeit: 20:47 Uhr

 

Es schneite und stürmte in dieser sibirischen Dezembernacht. Der Mann in der Telefonkabine hob den Hörer ab und gab dem Operator den gewünschten Gesprächsteilnehmer und die Nummer an: "Halbrook's Flash Studio & Giftshop - 446 1940."

Die junge Frau braute sich soeben einen starken Kaffee. Das lange, gerade, haselnussbraune Haar fiel ihr über die Schultern. Ihr Gesicht war auffallend hübsch, und eine gewisse Ähnlichkeit mit der bekannten südafrikanischen Schauspielerin Charlize Theron konnte man nicht verleugnen. Sie trug verwaschene, enge Jeans, die ihre langen, schlanken Beine zur Geltung brachten und im Kontrast zu dem viel zu großen, karierten Männerhemd, das sie anhatte, standen; was ihr somit noch einen zusätzlichen Reiz verlieh.

Als das Telefon klingelte, hob sie im Wohnzimmer den Hörer ab.

"Hello ...hello ...?"

Es knackte. Der Anrufer hatte aufgelegt. Die junge Frau schüttelte den Kopf und ging wieder zurück in die Küche.

Der Mann in der Telefonkabine setzte ein zufriedenes Grinsen auf und trat nach draußen, während er den Mantelkragen hochschlug. Der eisige, kalte Wind blies ihm Schnee ins Gesicht und brachte den in seinem Mundwinkel steckenden Zigarettenstummel zum Erlöschen. Er fuhr mit der rechten Hand in die Tasche seines Mantels und fühlte zuerst etwas Hölzern-Warmes und dann Metallisch-Kaltes, wobei er den erloschenen Stummel in den Schnee spuckte.

Schuberts `Ave Maria` erklang aus den alten, runden und verbeulten Lautsprechern, welche auf den Gehsteigen der Main Road aufgestellt waren. Diese sollten wohl eine vorweihnachtliche Stimmung verbreiten. Der Mann brauchte keine fünf Minuten, um sein Ziel zu erreichen.

Die Frau setzte die Kaffeetasse soeben zum Trinken an, da unterbrach die Klingel die häusliche Ruhe. Sie stieg die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und erschrak ...

Polly Kramer erblickte durch das Fliegengitter Fred Walls grinsendes Antlitz.

"Howdie Sweetheart!", begrüßte dieser die überraschte Frau. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Und schon zauberte Wall den Gegenstand hervor, den er kurz zuvor in der Manteltasche umklammert hatte: Eine Smith & Wesson Magnum 357.

"Nur für den Fall, dass du mir Schwierigkeiten bereiten solltest ...Was ist, willst du mich nun endlich reinlassen, oder soll ich mir hier draußen in der Schweine Kälte den Arsch abfrieren?"

Polly war für einen Moment total perplex, und bevor sie reagieren konnte, öffnete der Besucher bereits das Fliegengitter und trat in den Hauseingang. Doch offensichtlich ließ sie sich von Walls Waffe nicht so beeindrucken, wie er das vielleicht angenommen hatte:

"Steck deine Kanone wieder weg ...Ich kann wohl annehmen, dass der kürzliche Kontrollanruf von dir stammt, oder?"

Der Besucher bejahte und war gleichzeitig überrascht, wie schnell sich die Frau wieder gefangen hatte. Aber er wusste es von früher: Wenn es darauf ankam, konnte Polly sehr beherrscht sein.

Sie gingen die Treppe hinauf, die direkt ins geräumige Wohnzimmer führte.

"Du hast dich ja prächtig entwickelt. Vor ungefähr acht Jahren, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, sahst du aus wie eine typische Landpomeranze. Aber du hattest eben damals schon deine gewissen Reize. Dein lieber Freund Delbert Halbrook, wegen dem du mich ja damals verlassen hast, hat dir nebst dem kleinen Foto- und Souvenirladen im unteren Stock eine luxuriöse Bleibe verschafft", stellte er fest und musterte beeindruckt und zugleich argwöhnisch Pollys Wohnung.

Sie wunderte sich, wie gut ihr Besucher informiert war, und erinnerte sich noch genau an früher, wie sie ihm gleich zu verstehen gab:

"Du warst damals ein junger und verrückter Herumtreiber, aber zugegeben sehr attraktiv. Hahah, einmal hatte ich dich sogar in einem meiner Kleider erwischt. Hast du diese Marotte mit den Frauenkleidern inzwischen aufgegeben?"

Wall erwiderte nichts und erinnerte sich unwillkürlich an seinen Spleen, der sich dann später in Europa als äußerst hilfreich erweisen sollte, in Bezug auf seine zahlreichen Morde in Europa, wo er sich als Prostituierte verkleidet hatte. Aber diese Zeiten waren lange vorbei.

Polly blickte ihn verächtlich an. "Ich erinnere mich auch noch an deinen Bruder, Ritchie. Ja, die Wallbrüder, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Der ist doch dann ins Ausland gegangen; nach Mexiko..."

"Nein, nach Brasilien. Aber das sind olle Kamellen."

Polly bedachte ihn jetzt mit finsterer Miene. "Well, nur wird Delbert bald hier sein ...Ich an deiner Stelle würde ..."

"Pah, ich weiß doch, dass jetzt dein Motherfucker in seinem Betrieb bis zehn Uhr eine geschäftliche Sitzung hat. Von Laurel braucht er mit seinem Auto noch gut fünfzig Minuten bis hierher, bei diesem Scheißwetter sowieso. Du siehst, ich bin gut informiert. Also immer noch Zeit genug, alte Erinnerungen aufzufrischen ...", unterbrach er sie.

Polly erwiderte nichts, öffnete die Hausbar und wollte zwei Bourbon Four Roses einschenken.

"Danke, aber für mich nicht, denn ich muss einen klaren Kopf behalten", raunte Wall und zündete sich mit seinem Zippo lässig eine filterlose Pall Mall an.

Ihr Blick fiel nun auf die mehreren Bankkonto Bücher, welche er aus der Tasche seines langen Wintermantels hervorgezogen hatte. Insgesamt 275'000 Dollar waren auf seinem Namen gutgeschrieben; verteilt auf verschiedene Konti bei diversen Banken in Goiânia, Brasilien. Er zog noch zwei One Way Flugtickets aus der Tasche und wedelte damit vor ihrem hübschen Gesicht herum. Zwei Flüge von Billings über Minneapolis, Chicago und Sâo Paulo nach Goiânia. Diese waren gebucht für den nächsten Tag. Eines der beiden Tickets war auf Polly Kramers Namen ausgestellt. Er genoss es, wie sie in diesem Augenblick nach Worten suchte, um ihrem Erstaunen verbal Ausdruck zu verleihen.

Polly begann fieberhaft zu überlegen. Früher hatte Fred Wall nichts besessen ...Klar, sie liebte ihn einmal. Aber sie hatte immer gewusst, dass er es nie zu etwas bringen würde. Außerdem war er labil, unberechenbar und zu allem fähig. "Ich überfall' 'ne Bank, dann kannst du deinen miesen Job als Kellnerin an den Nagel hängen, und wir hau'n zusammen ab nach Brasilien, zu meinem Bruder" versprach er ihr. Doch er hatte sich anders entschieden und den Entschluss gefasst, seine berufliche Karriere ins Ausland zu verlegen. Nun, sollte er doch Leine ziehen!

Kurz darauf lernte Polly diesen Delbert Halbrook kennen, einen reichen Spekulanten aus Fromberg und Hauptaktionär einer Firma in Laurel für die Produktion von Kopiergeräten. Später erwarb er den Foto- und Souvenirshop in Red Lodge, den sie jetzt führte, der aber noch nie besonders gut gelaufen war, vermutlich wegen dessen abgelegenem Standort. Im selben Haus richtete der verheiratete aber von seiner Frau getrennt lebende Mann ihr dieses schmucke Zweierzimmer Appartement hier ein. Das alles füllte Polly Kramer jedoch nicht genug aus. Etwas fehlte ihr ... Delbert Halbrook war wohl ein Mann mit viel Geld, aber spießig und arrogant, und das Schlimmste: Mit einem Hang zur fortgeschrittenen Impotenz. Vielleicht war er deswegen in letzter Zeit auch immer unausstehlicher geworden. Und doch war sie froh, versorgt zu sein. Ja, eine große Erleichterung, nicht mehr als Kellnerin im 'Natalie's' - ein Coffeeshop in Red Lodge, der einem Schweizer gehörte - ständig unter Stress schuften zu müssen. Kurz bevor Wall nach Europa aufbrach, besuchte er Polly im Haus ihrer Eltern im nahegelegenen Warsaw. Der Besuch war ihr sehr peinlich, und sie fühlte sich hin- und hergerissen. Fred war eben nicht der Mann, den man so leicht vergisst. Kurz darauf kreuzten zwei von Halbrook bezahlte Schläger bei Wall Zuhause auf und machten ihm unmissverständlich klar, dass Abschaum seines Schlages unerwünscht sei, und er, wenn er wieder die Absicht hegte, Polly zu treffen, sein Testament machen müsse. Dann erschien Halbrook, und in dessen Anwesenheit schlug man Wall zusammen. Allerdings wusste Polly nur zu gut, dass Fred das nicht einfach hinnehmen würde, und hatte irgendwie mit seiner Rückkehr gerechnet, ja insgeheim sogar darauf gehofft.

Nur hatte sie diese Hoffnung nach drei oder vier Jahren vollends aufgeben. Dafür war sie jetzt umso mehr über seine, wohl unerwartete Rückkehr überrascht, mit der sie nie und nimmer mehr gerechnet hatte.

Als Polly Walls energischen Blick sah, spürte sie sofort wieder das Feuer der alten Leidenschaft in ihr lodern, das zu lange auf Sparflamme gebrannt hatte. Erst jetzt wurde sie sich darüber bewusst, wie intensiv ihr Verlangen seit den letzten Jahren gewesen war; das Verlangen nach gutem und erfülltem Sex. Selbst ein Haufen Geld vermag schlechten Sex auf die Dauer nicht aufzuwiegen. Mochte Fred Wall auch ein kriminelles und skrupelloses Individuum sein, im Bett verfügte er über Fantasie, Zärtlichkeit sowie Wildheit und Ausdauer. Und dazu besaß er jetzt eine Menge Geld ...

Hatte er möglicherweise eine Bank überfallen? Als sie ihn danach fragte, antwortete er nicht und grinste sie nur breit aber wissend an. Da fiel ihr die Schlagzeile auf der Titelseite ein, letzte Woche in der Billings Gazette:

BIG SKY TRUST BANK in Boyd ausgeraubt! Beute im Wert von über 155'000 $

 

***

 

Zwei eruptierende Vulkane trafen aufeinander, die ihre glühende Lava ausspien, als die beiden Minuten später im Schlafzimmer ihren sexuellen Trieben freien Lauf ließen.

"Du warst ganz schön eruptiv, Baby! ...Aber du musst dich jetzt entscheiden: Entweder für mich oder für den 'Herrn des Hauses', dieser wird sicher bald zurück sein."

Sie hatte entschieden, vorerst rein gefühlsmäßig, denn ihr Verstand musste dies erst noch verarbeiten. Wall erklärte ihr kurz seinen Plan.

Sie hörten jetzt den Motor von Delberts Wagen. Fred blickte auf seine vergoldete Cartier, die zehn nach elf zeigte. Polly vernahm schon das Knirschen des Eises, das sich unter den Rädern des Pontiac Catalina brach.... dann das Zuschlagen der Autotüre.

Die Eingangstür ging auf und der Mann kam die Treppe hinauf, die direkt ins geräumige Wohnzimmer von Pollys Appartement führte. Delbert Halbrook höchstpersönlich. Von äußerst großer Statur, mit Glatze und immensem Bauchumfang. Und dieser würdigte Polly keines Blickes, ging wortlos an die Hausbar, schenkte sich einen Whiskey ein und starrte mit leeren Augen an die Decke.

"Ich bin heute Nachmittag wieder mal über die Bücher gegangen. Der Shop wirft einfach viel zu wenig ab. Ich weiß, dass der Laden nicht gerade den besten Standort hat, aber du musst dich halt anstrengen. Es sollte doch möglich sein, ein wenig mehr Umsatz rauszuholen. Beweg' gefälligst deinen hübschen Hintern, anstatt nur den ganzen Tag in der Wohnung rumzuhängen", bemerkte er kaltschnäuzig.Sie gab keine Antwort darauf. Dazu war sie sowieso zu angespannt, und goss sich einen weiteren Drink ein, den sie dann hastig hinunterstürzte.

Halbrook schlenderte unterdessen ins Badezimmer. Während er heißes Wasser in die Wanne laufen ließ, entledigte er sich seiner Kleider. Er zuckte zusammen wegen des quietschenden Geräusches, das von dem großen Badezimmer Wandschrank herstammte, und drehte sich um. Das Erste, was von Fred Wall zum Vorschein kam, war der Lauf seiner Magnum, deren Hahn gespannt war. Die Augen des Geschäftsmannes standen vor Schreck weit offen. Er erkannte sofort seinen früheren Nebenbuhler wieder, der soeben aus dem Schrank stieg.

Wall ...!

"Da kommst du ganz schön ins Grübeln, was? Los, nimm die Flossen hoch und pflanz dich in die Wanne, du Wampenträger! Und dass du dich ja nicht rührst, sonst kann man dein Blut an den Kacheln abkratzen."

Halbrook stieg, wie ihm geheißen, in die jetzt halb volle Wanne. Das heiße Wasser schien abrupt kalt zu werden. Krampfhaft versuchte er seine Blöße zu verdecken, doch Wall meinte nur spöttisch:

"Gib dir nur keine Mühe, deine winzige Wasserpfeife unter deinem riesigen Bauch kann man sowieso nicht sehen, und die hat dir Polly sowieso zum letzten Mal geraucht."

Vor rund acht Jahren, bei der letzten Begegnung, hatte Delbert Halbrook in Wall noch einen ganz anderen Eindruck hinterlassen. Nur war der Spieß jetzt umgedreht. ER war am Drücker, ganz allein er ...und mit einem geheilten Daumen, mit einer Power Puste im Anschlag! Da waren keine Schläger, um die Drecksarbeit zu erledigen für diese feige und feiste Sau, die jetzt einen sehr erbärmlichen Eindruck auf ihn machte. Diese Sau wollte wohl ein Bad nehmen, um den Dreck abzuwaschen. Doch die Art von Dreck, in dem sie sich sonst suhlte, war mit Wasser nicht abzuwaschen. Eine Sau, die als mieser Spekulant bekannt war. Ein nackter, speckiger Spekulant und jetzt ein sehr ängstlicher noch dazu. Fred Wall genoss seinen Triumph, und er würde ihn auskosten bis aufs letzte.

Halbrook machte Anstalten aus der Badewanne zu steigen. Der Mann mit der Magnum merkte dies jedoch und verpasste dem Nackten einen Bodycheck, der sich im wahrsten Sinne des Wortes gewaschen hatte. Es spritzte dementsprechend, als Halbrooks schwerer Körper in das heiße Wasser klatschte. Er schrie gellend auf.

"Shut up, du elender Cocksucker!...Man ging auch nicht zimperlich mit mir um, als deine Jungs mich vor acht Jahren aufmischten", schnauzte Wall ihn an. Dieser wies die immer noch im Wohnzimmer stehende Polly an, die notwendigsten Sachen zusammenzupacken. Darauf verschwand sie ins Schlafzimmer.

"Wir könnten das doch mit Geld bereinigen, Wall...Ich hab' soviel du willst...", schlug der korpulente Business Man vor, in dessen Augen neben der Todesangst jetzt auch etwas Hoffnung aufflackerte.

"Geld ...?", fragte Wall hämisch grinsend. "...hah, ich habe genug davon, 'ne Menge Bucks. Du hattest dich damals an Polly herangemacht und sie gekauft. Nun denkst du, du kannst dich freikaufen. Wenn ich blank wäre, ließe sich zweifellos darüber reden. Dass du mich hast zusammenschlagen lassen, das war ein Fehler. Aber dein wirkliches Pech ist, dass ich vor Kurzem die Big Sky Trust Bank in Boyd ausgeraubt habe."

Spätestens jetzt war Halbrook restlos überzeugt, dass ihm der Tod blühte.

Polly stand unterdessen im Schlafzimmer und packte. Sie hörte, wie die beiden Männer im Bad miteinander sprachen. Fred würde ihn umlegen. Um den Kerl war es eh nicht schade. Den Schuss würde man wahrscheinlich nicht mal hören, weil das Haus ja relativ weit von der Main Road entfernt lag und sich hier in der Nähe so gut, wie keine Anwohner befanden. Außerdem schluckten der Sturm und der Schnee so manchen verdächtigen Laut (Fred hätte sich jedenfalls keinen idealeren Zeitpunkt aussuchen können). Natürlich konnte man sich nicht unbedingt darauf verlassen. Nun, sie würden anschließend ohnehin gleich verduften. Mit ihrem Wagen auf dem schnellsten Weg nach Billings fahren, die Karre irgendwo auf dem Rimrock Drive abstellen, danach mit dem Taxi zum Billings International Airport, die erste Maschine nach Minneapolis nehmen, und von dort ging's dann über Chicago nach Brasilien. So hatte es Fred mit ihr geplant. Momentan herrschte Stille im Badezimmer. Sally lauschte gespannt und erwartete den Schuss, der eigentlich gleich folgen sollte. Sie hoffte, nachher unterwegs nicht von einer Polizeistreife angehalten zu werden. In letzter Zeit waren die Cops verdammt scharf bei ihren Kontrollen; Alkohol am Steuer und besonders bei Geschwindigkeitsüberschreitungen. Diese Scheißkerle ließen sich nicht mal bestechen, da biss man bei denen erst recht auf Granit. Da hätte man schon ein hohes Tier sein müssen, um bei denen Eindruck zu schinden. Die Provinzbullen in diesem Staat erwiesen sich fast ohne Ausnahme als die schlimmste Sorte von Polizisten. Endlich kam sie raus aus diesem gottverdammten und jetzt verschneiten Dreckskaff, das am Arsch der Welt liegt, und in dem sie bis jetzt nur ein ödes Dasein gefristet hatte. Das elende Nest, in dem im Winter Temperaturen bis zu vierzig Grad unter null herrschen, bietet außer ein paar Skihängen so gut wie keine Attraktionen. Und der weite Himmel von Montana steht ganz im Gegensatz zu dem beschränkten Horizont der hiesigen Einwohner. Das laute Krachen der Magnum ließ sie zusammenzucken, obwohl sie es erwartet hatte. Heute war es das erste Mal, dass sie Fred aufrichtig bewunderte. Bisher hatte er einfach nur Pech gehabt, das war alles.

Jetzt verkörperst du mein ganz persönlicher Hero, Freddy Wall! Jetzt bist du wie Bruce Willis, der eiskalte und erbarmungslose Berufskiller im Film 'Der Schakal'.

Er hatte eben immer schon einer sehr kompromisslosen Natur entsprochen.

Ja, Fred Wall war kompromisslos ...!

Sie zögerte einen kurzen Moment, dann stürzte sie ins Bad. Völlig erstaunt starrte Polly Kramer auf ihren nackten Ex-Liebhaber Halbrook, der auf dem Rücken tot in der nun leeren Badewanne lag. Ein Blutfleck begann sich auf seiner Brust auszubreiten, aus der das riesige Einschussloch klaffte. Der Duschvorhang war mitsamt der Stange heruntergerissen worden.

Wall hockte grinsend auf dem Rand der Badewanne und hielt den schweren und rauchenden Revolver in der Rechten.

"Du hast ihn tatsächlich erschossen, Freddy. Mein Gott, du hast ihn wirklich erschossen! Wie kompromisslos du bist."

"Yeah, Baby. Ich bin WIRKLICH kompromisslos!", bemerkte eine Minute später Wall zynisch und blickte auf die tote Polly Kramer. Die Kugel war ihr genau zwischen die Augen gedrungen. Ihre Leiche lag auf dem Sofa. Pollys tote Augen blickten ihn immer noch ungläubig an, als wollte es sie nicht wahrhaben, dass sie von nun an Delbert Halbrook im Jenseits Gesellschaft leisten musste.

"Hast du geglaubt, ich würde mit dir wieder anbändeln, du mieses, berechnendes Luder? Wenn ich keine Kohle gehabt hätte, wärst du niemals bereit gewesen, mit mir zusammen abzuhauen, und den Mord an Halbrook in Kauf zu nehmen. Unsere Lovestory ist schon längst zu Ende gegangen. Es hat sich für immer und ewig ausgeturtelt. Na, wenigstens habe ich dich noch gevögelt, bevor ich dich abserviert habe. Aber solche Weiber wie dich krieg' in Santos eh an jeder Ecke. Keine brasilianische Dolce Vita für dich. Der Hinflug ist für dich gestrichen."

Er zerriss das auf den Namen von Polly Kramer ausgestellte Ticket, das ohnehin nur einem Bluff gedient hatte. Dann klappte er sein Zippo Feuerzeug auf und verbrannte es. Er spannte und entspannte den Hahn der Magnum spielerisch mit seinem rechten Daumen. Letzterer war seit Monaten genauso wieder in Takt wie früher.

Keine fünf Minuten später saß er in seinem roten Ford Mustang, den er vor wenigen Stunden nur ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt und ganz in der Nähe der Main Road geparkt hatte.

"Das war nun mein allerletzter Besuch in Red Lodge. Elendes Scheißkaff! Die alte Rechnung ist beglichen. Jetzt geht es sehr bald wieder zurück in wärmere Gefilde", freute er sich, als er den Motor startete.

 

***

 

Es schneite zwar immer noch in dieser Winternacht, aber wenigstens hatte sich mittlerweile der Sturm gelegt. Wall hatte soeben Laurel passiert. Bis zum internationalen Airport von Billings dauerte die Fahrt noch ungefähr dreißig Minuten.

Er zog sich eine weitere Pall Mall aus der Packung und drückte mit seinem rechten Daumen auf den Knopf des Zigaretten Anzünders im Armaturenbrett. Da durchzuckte ihn jäh ein höllischer Schmerz. Verdammt!

Verärgert bewegte er den Daumen hin und her, doch der Schmerz war wieder zurückgekehrt, strahlte hinunter bis ins Handgelenk. Sein gnadenloser, teuflischer Begleiter aus seiner Vergangenheit hatte ihn wieder eingeholt. Wall fasste es nicht. Die heilenden Geister von Ramallho hatten ihn vor gut vier Monaten von diesem Schmerz befreit. Was für ein Fluch hat diese Qual wieder zurückgebracht? Und warum, als quasi eine Strafe für meine kürzlich ausgeführten Verbrechen, den Banküberfall auf die Big Sky Trust Bank und den Doppelmord an Polly und Halbrook? Ein riesiger Schatten huschte plötzlich über den Highway... Wall reagierte erschreckt, wollte auf die Bremse, aber es war bereits zu spät: Etwas krachte mit ungeheurer Geschwindigkeit und Wucht auf den Kühler des fahrenden Mustangs und verdeckte dem Lenker die Sicht. Der Wagen geriet ins Schleudern, wobei Wall die Kontrolle verlor und mit seiner Stirn hart auf das Lenkrad aufschlug.

Wall erwachte aus seiner Ohnmacht. Ächzend versuchte er sich aufzurichten und realisierte, dass er mit seinem Mustang in einen Baum gefahren war. Mit eisigem Schrecken entdeckte er das überall auf dem Sitzpolster verspritzte Blut. Voller Panik erkannte er, dass es sein Eigenes war. Zu seiner Verwunderung verspürte er keine Schmerzen, außer in seinem rechten Daumen. Sein Körper war gelähmt, aber seine Arme konnte er noch bewegen. Mit größter Mühe fischte er sein Handy aus dem Wintermantel. Es besaß keinen Empfang.

Manchmal passieren eben Dinge, gewisse Umstände, mit denen man nie vorher gerechnet hat: Vor Jahren passierten jene Umstände in Gestalt eines stürmischen Würzburger Freiers und heute, in Form einer stürmischen Nacht, in der Gestalt eines schweren Tieres; womöglich ein Elch oder ein verirrter Bison, der die schreckliche Kollision verursacht hatte. Koinzidenz oder Schicksal? Er blickte nach draußen, aber er konnte nichts erkennen. Kein Körper eines gewaltigen Tieres. Er hörte nur das Heulen des Windes und er wusste, dass das Geheul für ihn bestimmt war.

Totengesang für Fred Wall ...

Trotz der eisigen Kälte verspürte er jetzt eine unerklärliche Wärme in sich aufsteigen. Nein, er befand sich noch nicht wieder in Brasilien, bei Ritchie. Dafür trat er nun seine allerletzte Pilgerreise an ...

Werde ich an diesem Ort Polly treffen, zusammen mit Halbrook, oder die von mir ermordeten neunzehn Freier in Europa, den aufgeschlitzten Berliner Freier, den erschossenen Plünderer aus Zürich, oder diesen Sprenger, der Nachtportier aus dem Pick Inn in Adliswil?

In seinen letzten Gedanken sah er seinen Bruder, wie dieser zwei Antarctica Bier öffnete. Saùde! Dieses Mal befanden sich Eisklumpen in den Flaschen. Fred Wall war jetzt ebenfalls on the rocks.

Und Polly Kramer schickte ihm bereits die ersten Liebesgrüße aus dem Jenseits ...

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Impressum Text Copyright by Carl Isangard Cover by Mike Kast Vom selben Autor ist auch der Erzählband BRAUEREI BIZARRO im Winterwork Verlag, Borsdorf erschienen (ISBN: 978-3-86468-409-8) http://www.edition-buchshop.de/buchshop-artikel-brauerei_bizarro-1060.htm

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