Dorothee Bittscheidt und Michael Lindenberg (Hrsg.)
Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit:
Jugendpolitisches Versprechen und die Routinen der Organisationen
IMPULSE REIHE
BAND 19
ISBN 3-937461-93-0
EAN 978-3-937461-93-9
USP Publishing Kleine Verlag 2013
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Inhalt
Dorothee Bittscheidt, Michael Lindenberg
Einführung: Sozialraumorientierung in den Hilfenzur Erziehung:
Politisches Versprechen und die Routinen der Organisationen
Michael Lindenberg
Ressourcen statt Macht: Die pädagogisierende Wende in der Sozialraumorientierung
Manuel Essberger, Joachim Gerbig, Tilman Lutz
Sozialräumliche Angebote in Hamburg – Stationen einer „Entwicklung“
Martin Wessels, Anna Zschau
Das sozialräumliche Versprechen in den Hilfen zur Erziehung in Hamburg
Christina Kentmann
Sozialraumorientierung abhängig von der Intensitätder Problemlage?
Zu den Entscheidungsgründen beiden Hilfen zur Erziehung
Jenilee Chung
Was ist der Fall? Multiprofessionelle Zusammenarbeit in der Schule
Tina Röper, Anna-Lena Witte
Kooperation oder Delegation? Schule und Jugendhilfe auf der Suche nach einem gemeinsamen Weg. Das Projekt „Integration durch Bildung“ in einem Hamburger Stadtteil
Dorothee Bittscheidt
Steuerung der Hilfen zur Erziehung durch sozialräumlich orientierte Programme? Forschungsergebnisse – Einschätzungen – Prognosen
Dorothee Bittscheidt und Michael Lindenberg
Einführung: Sozialraumorientierung in den Hilfen zur Erziehung: Politisches Versprechen und die Routinen der Organisationen
Die Diskussion in den Hilfen zur Erziehung ist seit vielen Jahren von dem Versprechen bestimmt, die erzieherische Jugendhilfe durch eine stärkere Orientierung auf den sozialen Raum ihrer Adressat_innen wirkmächtiger zu gestalten. Dabei wird weniger die Frage behandelt, welche Bedeutung dem sozialen Raum im jeweiligen Einzelfall zukommt. Der Schwerpunkt wird eher auf die Kooperation und Vernetzung der Organisationen gelegt, mit denen die Adressat_innen in ihrem täglichen Leben in Kontakt sind, treten könnten oder treten sollten. Das sind vor allem die Schulen, die Kindertagesheime, die offenen Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, Beratungsstellen oder Kinder- und Familienzentren, um nur einige zu nennen. Die Rede ist daher zumeist von staatlichen oder staatlich finanzierten Angeboten. Die Hilfen für Familien mit diesen Angeboten zu verknüpfen verspricht, besser, schneller und kostengünstiger zum Erfolg im Einzelfall zu kommen.
So ist die Sozialraumorientierung der Jugendhilfe der Versuch, ein dreifaches Versprechen einzulösen: Die erzieherische Jugendhilfe soll durch eine Orientierung auf den sozialen Raum erstens für die Menschen, die das etwas angeht und die darauf angewiesen sind, hilfreicher gestaltet werden. Zweitens sollen sich diese Effekte auch wirtschaftlich auswirken. Drittens sollen die Organisationen selbst davon profitieren und einen Professionalisierungs- und Legitimationsschub erhalten.
Entsprechend wird mit diesem sozialräumlichen Ansatz den Organisationen der erzieherischen Jugendhilfe und bedingt der Schule und der sie umgebenden politischen Umwelt die allergrößte Bedeutung zugemessen. In der Sozialen Arbeit finden wir dabei ein Raumverständnis mit dem breiten Begriff des „Sozialraums“ vor. Es wird davon ausgegangen, dass Handeln in sozialen Beziehungen in wechselseitiger Interaktion mit dem Raum steht, dem Sozialraum. Im Sozialraum verwirklichen Menschen ihr Handeln. Die Soziale Arbeit soll dieses wechselseitige Verhältnis von Raum und sozialem Handeln mit ihrer Sozialraumorientierung unterstützten und befördern.
Das in dieser Verknüpfung von Sozialraum und erzieherischen Hilfen liegende Versprechen ist mittlerweile als politische Vorgabe verordnet. Ihre fachliche Legitimation nimmt die Soziale Arbeit dagegen aus ihrer Geschichte selbst, wie zum Beispiel der Lebensweltorientierung, der Hilfe zur Selbsthilfe und der Entsäulung der Jugendhilfe.
Doch alle wissen: der Weg dieser Umsteuerung ist mühselig. Weder sinken – über alle Hilfearten betrachtet – die Fallzahlen und die Kosten der erzieherischen Jugendhilfe, noch gibt es bisher überzeugende Nachweise, dass die Probleme von Familien angemessener aufgegriffen und erfolgreicher bearbeitet werden. Nach den in diesem Sammelband gezeigten Befunden liegt das vor allem an den rechtlichen und durch Verfahrensregeln gestützten Routinen der Organisationen. Gemeint ist die Einzelfallorientierung im Allgemeinen Sozialen Dienst und bei den Trägern der erzieherischen Hilfen, gemeint ist die gewachsene Arbeitsteilung zwischen Schule und Jugendhilfe, gemeint sind die unterschiedlichen Zuständigkeiten von Ämtern, Bezirken und Landesbehörden mit dem Resultat eingeschränkter Steuerung der erzieherischen Hilfen, um nur die wichtigsten Faktoren zu benennen
In der theoretischen Debatte über den Sozialraum, die in allen folgenden Beiträgen aufgegriffen wird, wird dagegen diskutiert, dass die Wirkmächtigkeit der Sozialraumorientierung sich erst einstellen kann, wenn die Organisationen ihre jeweiligen Systemgrenzen überschreiten und nicht nur mit ihrer je eigenen Logik und ihren eigenen Vorstellungen an andere Organisationen anschließen. Aber: wenn die Jugendhilfe in der Schule wirkmächtig werden soll, dann ändert das die Schule; und wenn die Schule mit ihren Organisationszielen auf die Jugendhilfe einwirkt, dann entsteht eine andere Jugendhilfe. Und über das Hierarchieproblem zwischen Schule und Jugendhilfe haben wir dabei noch nicht einmal gesprochen.
Daher gehen die beteiligten Schulen und Träger lediglich Zwischenschritte, mit denen sie ihre jeweilige Systemautonomie einerseits erhalten wollen und sich zugleich auf den Sozialraum orientieren können: Ausgewählte Organisationen (Jugendhilfe und Schule) werden durch von staatlichen Organisationen gegebene finanzielle und organisatorische Anreize in ihren Kooperationen unterstützt. Diese Kernkooperationen sollen ausgeweitet werden, andere Organisationen sollen hinzukommen (etwa: Kinder- und Familienzentren, Angebote der offenen Kinder- und Jugendhilfe, Sportvereine). Kooperieren eine ausreichende Anzahl von Organisationen auf den „Sozialraum“ hin, wird von „Vernetzung“ gesprochen. Vernetzung wird definiert als eine Vielzahl von Kooperationen (mehr als zwei, nach oben offen) von staatlichen und nicht- staatlichen Organisationen in einem räumlich bestimmten sozialen Feld.
Aus den Ergebnissen der hier vorgestellten Forschungsarbeiten lassen sich wichtige Indizien dafür ableiten, dass die Organisationen weiterhin in ihren Routinen und den spezifischen Regeln und fraglos auch legitimatorischen Zwängen ihres Handelns befangen bleiben. Dieser Befund war zu erwarten. Doch noch viel weiter gehend lassen die in diesem Band zusammengetragenen Forschungsarbeiten aus einem Hamburger Sozialraum erkennen, dass angesichts der neuen Anforderungen, sich in den Sozialraum hinein zu erstrecken, die Organisationsgrenzen neu abgesteckt werden, anstatt sie zu öffnen. So führt der Weg der neuen Öffnung in den Sozialraum in neue Schließungen der beteiligten Organisationen. So jedenfalls lässt sich der Generalbefund aus allen hier vorgelegten Forschungsarbeiten zusammenfassen.
Dieses Buch greift einige der damit verbundenen praktischen Aspekte auf. Den empirischen Kern dieses Bandes bilden dabei Forschungsarbeiten von Studierenden des Masterstudiengangs „Soziale Arbeit – Planen und Leiten“ der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie, Hamburg. Es handelt sich bei diesen Beiträgen jeweils um Ergebnisberichte von Forschungsarbeiten. Im Rahmen dieser Veröffentlichung mussten wir uns notwendig Einschränkungen bezüglich der empirischen Nachweise unterwerfen, weil einige der untersuchten Einrichtungen, völlig nachvollziehbar, besonderen Wert darauf legen mussten, dass Handelnde und Organisation bei einer Veröffentlichung anonym bleiben. Darauf war selbstverständlich Rücksicht zu nehmen.
Die Forschungen orientieren sich in Methodologie und Methode an einem qualitativen Grundverständnis. Sie zielen darauf, Routinen und Grundmuster des Alltagsverständnisses der Akteure zu verstehen und nachzuzeichnen; sie treten nicht mit dem Anspruch auf, die Wirklichkeit zu erklären.
Trotz dieses notwendig eingeschränkten Geltungsanspruchs beschäftigen sich die Autor_innen auch mit der Frage, wie eine Praxis aussehen könnte, die dem sozialräumlichen Versprechen in den untersuchten Praxisbereichen eher gerecht wird bzw. welche Bedingungen dazu hergestellt werden müssten. Diese zweifellos immer wieder versuchten Wege, die die Beiträge ebenfalls zeigen, mag vielleicht die Enttäuschung der Vertreter_innen der angesprochenen Praxisbereiche über allzu harsche Kritik der Forschungsergebnisse an ihrer Praxis mildern.
Die vier forschungsorientierten Beiträge der Studierenden werden durch Michael Lindenberg eingeleitet. Er entwickelt den heutigen Begriff des Sozialraumes aus einer historischen Perspektive und weist dabei auf die „sozialpädagogische Wende“ hin, mit der sich die Soziale Arbeit den eigentlich politisch gemeinten Begriff des Sozialraums zu Eigen gemacht hat und auf diesem Weg in ihre am Individuum orientierte Denkwelt umsetzen konnte.
Manuel Essberger, Jochim Gerbing und Tilman Lutz zeichnen in ihrem Beitrag in einem zweiten Schritt die Entwicklung der Sozialraumorientierung in Hamburg seit den 1990er Jahren nach und markieren dabei das Spannungsfeld zwischen ökonomischen und inhaltlich-konzeptionellen Interessen. Abschließend beleuchten sie beispielhaft zwei aktuelle Kontroversen im Kontext der sozialräumlichen Weiterentwicklung der Jugendhilfe in Hamburg.
Damit ist der Boden bereitet, um in die Wirklichkeit der Praxis einzuführen mit vier forschungsorientierten Beiträgen, die im Rahmen einer viersemestrigen Forschungswerkstatt an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg (Rauhes Haus) erarbeitet wurden. Sie behandeln in dieser Reihenfolge folgende Fragen:
Orientiert sich der Allgemeine Soziale Dienst und orientieren sich die (freien) Träger der erzieherischen Hilfen in ihren Entscheidungen über die Hilfe und deren Durchführung tatsächlich, wie es der Gesetzgeber vorsieht, am Willen der Adressaten, an ihren Potentialen und den Ressourcen ihres persönlichen und sozialen Umfelds? (Anna Zschau und Martin Wessels)
Wird die sozialräumlich orientierte Arbeitsweise im Allgemeinen Sozialen Dienst bei Fällen mit drohender Kindeswohlgefährdung als wenig geeignete Arbeitsweise eingeschätzt? Ist die Orientierung am Willen des Adressaten und seinen Potenzialen eher den Fällen mit geringerer Problemdichte vorbehalten? (Christina Kentmann)
Wie hat sich das Verhältnis von Jugendhilfe und Schule entwickelt? Was soll eine engere Kooperation leisten? Welche professionsspezifischen Unterschiede prägen diese Kooperation im Ort Schule? (Jenilee Chung)
Welche Entwicklungen ist für die Jugendhilfe absehbar, wenn Projekte im Zuge der Ausweitung sozialräumlicher Hilfen und Angebote mit dem Ziel etabliert werden, sie mit dem Regelangebot vor allem der Schule zu verknüpfen? (Tina Röper und Anna-Lena Witte)
Dorothee Bittscheidt bezieht sich im abschließenden Kapitel auf die empirisch gewonnenen Einschätzungen aus den Forschungsarbeiten der Studierenden. Sie prüft Ergebnisse aus bundesweiten Forschungen zum Allgemeinen Sozialen Dienst, Konzepte und Vorgaben der Landesregierung in Hamburg, Berichte der Hamburger Verwaltung und Debatten des Landesparlaments unter der Perspektive, ob es mit Hilfe der Sozialraumorientierung gelingen kann, die erzieherischen Hilfen wirksamer zu gestalten und zugleich die Zuwachsraten der Fälle und der Kosten im Bereich erzieherischer Hilfen zu mindern.
Unsere Danksagung gilt in erster Linie den Kollegen und Kollegen des Jugendamtes in Hamburg- Bergedorf und einer Reihe von Schulvertretern und Schulvertreterinnen, die sich den Fragen unserer Studierenden bereitwillig gestellt haben. Vor allem aber gilt unser Dank dem Leiter des Jugendamtes Bergedorf, Herrn Helmut Lerch, der uns alle notwendigen Wege geöffnet und sogar geebnet hat, wohl wissend, dass Forschungsbefunde nicht vorhersehbar sind und vielleicht aus Sicht eines Jugendamtes auch unerfreulich ausfallen können. Trotzdem hatte er den Mut, sich unseren Ergebnissen zu stellen.
Michael Lindenberg
Ressourcen statt Macht: Die pädagogisierende Wende in der Sozialraumorientierung
Zur Einführung
In dem folgenden Beitrag beschäftige ich mich mit der Entwicklungslinie vom ersten Aufgreifen des Gemeinschaftsbegriffs durch die Sozialpädagogik im 19.Jahrhundert bis zu der heutigen Sozialraumorientierung. Ich zeichne diese historische Entwicklungslinie nach, weil mich ein besonderer Aspekt dieser Entwicklung beschäftigt; ein Aspekt, der in der Regel nicht im Vordergrund der Diskussion steht: Ich meine, dass diese Entwicklung stets von einer sehr emphatischen Betonung der Gemeinschaft als einem idealen Ort getragen wurde. Diesen Ort mit besonderer Wirkung wollte sich die Sozialpädagogik [1] seit ihren Anfängen zunutze machen. Dabei zeigt ihr Bild von der Gemeinschaft zwei ineinander übergehende Motive: Einmal wird das politische Gemeinwesen wahrgenommen, das Menschen als mit Macht und Einfluss ausgestattet sieht, die sie sich im gemeinsamen Handeln erkämpfen müssen. Das ist etwa die deutsche Gemeinwesenarbeit als radikaler Zweig der Sozialen Arbeit sowie Community Organizing. Zum anderen wird ein pädagogisch inszeniertes Gemeinwesen in den Blick genommen, das Menschen als mit Ressourcen ausgestattet betrachtet, zu deren Nutzung ihnen die Soziale Arbeit, vermittelt über die Gemeinschaft, verhilft. Das ist die Sicht der geisteswissenschaftlich fundierten deutschen Sozialpädagogik mit ihrer Zentrierung auf das Individuum. Diese beiden Wurzeln interessieren mich hier in ihrer Differenz, weshalb ich Zwischentöne weitgehend vernachlässige, um diese Unterschiede klarer herausarbeiten zu können.
Mit der geisteswissenschaftlich gegründeten Sozialpädagogik meine ich jene sozialpädagogische Einstellung, die die schöpferischen menschlichen Fähigkeiten auf die „Eigenwirklichkeit des Seelischen“ (Nohl 1935, zit. nach Niemeyer 2005, S. 148) bezieht und das menschliche Seelenleben in das Zentrum der pädagogischen Bemühungen stellt. Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die sich im Begriff des „Verstehens“ und nicht des „Erklärens“ bündelt. Nur über Verstehen ist dem Pädagogen die „Entfaltung des Seelenlebens“ (Dilthey) möglich, genauer: durch sinnverstehende Einfühlung: „Es gibt kein Verständnis anderer, das nicht aus dem eigenen Erleben gespeist würde.“ (Nohl 1927, S. 72) Diese geisteswissenschaftliche Sozialpädagogik ist einem sinnverstehenden Zugang verpflichtet, der seinen Ausgang von dem Einzelnen nimmt und diesen Einzelnen dann in den Gemeinschaftszusammenhang einbettet. Dieser Zugang passt nur sehr unvollkommen zu dem Bild vom Sozialraum, den wir uns über administrative Zugänge und soziologische Analysen zwar gut erklären können, ohne dabei jedoch notwendig die ihn bevölkernden und prägenden Menschen sowie die Wechselwirkungen zwischen Raum und Menschen verstehen zu müssen, die im Raumbegriff der Sozialraumorientierung analysiert werden (vgl. dazu einführend Kessl & Reutlinger 2007). Diese verstehende Haltung ist jedoch unter Sozialpädagogen sehr verbreitet und prägt ihre Sicht auf den Sozialraum als einen Ort, der von Menschen bevölkert wird, die sie aus beruflichen Gründen verstehen müssen. In ihrer alltäglichen, nach wie vor am Einzelnen orientierten Fallarbeit sind Sozialpädagogen tendenziell dem geisteswissenschaftlichen Verstehen verpflichtet, und weniger dem sozialwissenschaftlichen Erklären.
Mein Beitrag versucht, die in diesem Band versammelten Aufsätze von Studierenden der Sozialen Arbeit anhand dieser Deutung zu rahmen: Der täglichen Fallarbeit liegt eben dieses Motiv des pädagogisch inszenierten Gemeinwesens zugrunde, das von einzelnen Menschen bewohnt wird, die den Fachkräften gegenübertreten, und die sie verstehen müssen.
Der Begriff der Sozialraumorientierung ist aus dieser Verstehenssicht eine Chiffre für einen pädagogisch hergestellten und inszenierten Raum, der nur deshalb glaubhaft und sozialpädagogisch nutzbar gemacht werden kann, weil ihm der viel ältere Begriff der Gemeinschaft zugrunde liegt. Mit dieser Gemeinschaft ist die Hoffnung auf eine besondere Heilkraft der nahen vielen Menschen für den bedrängten einzelnen Menschen verbunden, der dem Sozialpädagogen und der Sozialpädagogin gegenüber steht. Dieser Gemeinschaft sprechen die in den nachfolgenden Aufsätzen untersuchten Sozialen Dienste, die freien Träger und zunehmend die Schule, aber auch die ministerielle Steuerungsebene (vgl. Bittscheidt in diesem Band) eine besonders heilsame Kraft zu, die es zu nutzen gilt: sowohl für die einzelnen Menschen, also die Schüler, Eltern, die Adressaten, aber auch für die Arbeitsorganisation dieser staatlichen Organisationen selbst, die sich durch die Nutzung dieser Heilsamkeit besondere Effekte für ihre eigenen Arbeitsabläufe versprechen.
So befassen sich meine Überlegungen mit einem Phänomen, das in seiner äußeren Erscheinung schnell beschrieben werden kann, dessen Wesen jedoch nicht leicht zu fassen ist: Zwar wird der Sozialraum durch die Soziale Arbeit als zentrale Größe aufgefasst, jedoch kann seine Bedeutung für die Einzelnen von den Praktikern in den Sozialen Diensten selbst nicht hinreichend erfasst werden. Denn die Sozialen Dienste sind gehalten, sich mit den sozialen Problemen einzelner Menschen zu befassen, und sie nehmen deren Probleme daher als Probleme Einzelner in den Blick. Deren Probleme gilt es zu verstehen, auf deren Fragen richtet sich ihre sinnverstehende Einfühlung. Sie müssen Adressaten sehen, so ihr Arbeitsauftrag, und keine Menschen im Gemeinwesen oder gar das Gemeinwesen selbst. In Kürze gesagt: Das erste müssen sie sehen. Das zweite sollen sie beachten.
Dieses Auseinanderfallen von Müssen und Sollen zeigt sich in der Alltagspraxis der Sozialen Arbeit immer wieder darin, dass der Sozialraum zwar benannt („Ich arbeite im Sozialraum“), aber in der Regel nicht beschrieben wird und aus dieser Sicht auch nicht beschrieben werden kann. Die vorherrschenden Betrachtungen bleiben allgemein und beziehen sich auf eine Zusammenschau von Sozialen Diensten als staatlichen Ressourcen in einem definierten geographischen Raum. Für diese Zusammenschau werden häufig unklare Begriffe benutzt, etwa „Vernetzung“, „Kooperation“ oder „Synergieeffekte“. Diese Begriffe drücken unbestimmte Relationen aus: Wer mit wem vernetzt ist, kann nicht genau bestimmt werden, weil in einem Netz Alle mit Allem zusammenhängen. Dass dieser allseitige Zusammenhang zu einer gegenseitigen Förderung führt, wie der Begriff der Synergie nahe legt, bleibt Behauptung und pädagogische Hoffnung.
Die nachfolgend in diesem Band versammelten Aufsätze zeigen das erneut und eindrücklich. Gleichzeitig machen diese Forschungsbeiträge deutlich, dass der soziale Zusammenhang zwischen den einzelnen Klienten und ihren Familien und dem Gemeinwesen in der Praxis durchaus gewusst wird. Es handelt sich jedoch eher um implizites Wissen; dieses Wissen zu explizieren, also zu benennen und in den Berufsalltag einzuarbeiten, fällt wegen der vorherrschenden Haltung, Einzelne zu verstehen und nicht den gesamten Sozialraum als Erklärung zu nutzen, sehr schwer. So bleibt das Gemeinwesen für den sozialpädagogischen Blick eine vage Ressource, eine mal mehr, mal weniger ergiebige Hilfsquelle unklaren Ursprungs. Und weil sie so vage, so unbestimmt bleibt, soll diese Gemeinwesenhilfsquelle Vieles richten.
Für dieses Phänomen habe ich den Ausdruck des „unbegriffenen Sozialraumes“ gewählt, und ich versuche diesen unbegriffenen Sozialraum von dem Begriff der „Gemeinschaft“ her zu deuten. Denn bei aller Unbestimmtheit dieser Hilfsquelle ist die Praxis der Sozialen Arbeit offensichtlich von dem Bewusstsein getragen, dass die Gemeinschaft etwas bietet, das aufgeschlossen und mit ihrer Hilfe genutzt werden kann. Ich wähle den Zugang über den Begriff der Gemeinschaft, weil in der Sozialen Arbeit seit dem 19.Jahrhundert in verschiedenen Ausprägungen allgemein davon ausgegangen wird, dass vorzugsweise lokale Gemeinschaften den Kitt bilden, mit dem der Zusammenhalt in der Gesellschaft hergestellt werden kann. Alle einschlägigen Begriffsbildungen gehen auf diesen allgemeinen gedanklichen Ursprung zurück. „All politics is local“: Interessen können stets auf ihren lokalen Alltagsbezug zurückgeführt werden; die Interessen, Problemlagen und Ausdrucksformen des Alltags bilden sich vor Ort ab. (vgl. Hinte 2005, S. 668)
Der Gemeinschaftsbegriff des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich allerdings von dem des 20. Jahrhunderts und wird heute eher gemieden, nicht zuletzt wegen seiner Nutzung durch den Nationalsozialismus. Die Gemeinwesenarbeit der 70er Jahre des 20.Jahrhunderts musste wegen ihrer US- amerikanischen Herkunft an dieser Wurzel auch nicht ansetzen und nahm ihren Mut, nicht mit dem Individuum zu beginnen, sondern die Gemeinschaft in den Mittelpunkt zu stellen, unter anderem auch aus jener unverdächtigeren überseeischen Herkunft. Die darauf folgende Sozialraumorientierung vermeidet den Begriff der Gemeinschaft ebenfalls. Sozialraumorientierung wird entweder, soweit es die kritische Diskussion betrifft, als Herrschaftsregulation gesehen, die die Gemeinschaft für die „mikrosoziale Regulierung“ (Röttger & Wissen 2005) oder das „Regieren über soziale Nahräume“ (Kessl & Krasmann 2005) nutzt. Die diesem Begriff dagegen zugewandte Diskussion betont die Möglichkeit der Aneignung von sozialen Räumen (Deinet & Reutlinger 2005) und sieht darin ein „Fachkonzept ‚Sozialraumorientierung‘“, mit dem die Soziale Arbeit in nichtpädagogischer Absicht gestaltet und kreiert (Hinte 2010). Dabei wird immer von dem Willen der Menschen ausgegangen. Für die Umsetzung ihres Willens werden ihre Stärken aus ihrer Verbindung mit der Umwelt gewonnen. So entstehen Gelegenheiten, die diese Menschen integrieren können. (vgl. Budde & Früchtel 2005a, 2005b)
Mein allgemeiner Zugang setzt die Idee der Gemeinschaft über alle diese Orientierungen und befasst sich kritisch mit der idealistischen Auffassung der Gemeinschaft – und im Weiteren mit der idealistischen Auffassung vom Sozialraum als „unbegriffenem Sozialraum“.
Vor diesen Überlegungen sollen die drei von mir zentral gestellten Begriffe „Gemeinschaft“, „Gemeinwesenarbeit“ und „Sozialraum“ definiert und ihr Verhältnis zur Sozialpädagogik und zur Sozialen Arbeit bestimmt werden:
Unter „Gemeinschaft“ verstehe ich alle auf sozialer Nähe beruhenden persönlichen Bindungen, die Menschen einander nahe hält, gleichviel worauf diese soziale Nähe beruht. Die Sozialpädagogik hat sich die Gemeinschaft als zentrale Vermittlungsstelle zwischen Individuum und Gesellschaft angeeignet und sich dabei in ihrem methodischen Handeln das Individuum als Ausgangspunkt gesucht. Ihr Handeln ist auf das Verstehen des Einzelnen und – etwa mit Nohl gesprochen - auf seine Seele gerichtet.
Unter „Gemeinwesenarbeit“ verstehe ich einen methodischen Zugang der Sozialen Arbeit, der Gemeinschaft auf die im lokalen Zusammenhang entstandenen sozialen und wirtschaftlichen Bindungen bezieht und diese Bindungen als zentrale Kraft deutet. Gemeinwesenarbeit ist der Versuch, politisches, lokal orientiertes Handeln mit pädagogischen Anstrengungen zu verbinden. In erster Linie jedoch sieht die Gemeinwesenarbeit Menschen als politische, handlungsmächtige und zur politischen Selbstwirksamkeit fähige Subjekte. Daher gehört es zur Gemeinwesenarbeit, die methodischen Anstrengungen über das Individuum hinaus direkt auf die Gemeinschaft selbst zu richten.
„Sozialraumorientierung“ verstehe ich, zugegeben enger als die herrschende Diskussion, als ein Konzept staatlicher Verwaltung. In einem von der Administration definierten sozialen Raum werden die vorhandenen Kräfte sowohl der einzelnen Menschen als auch der sozialen Organisationen als Ressourcen aufgefasst, die durch die staatlichen Instanzen gebündelt werden sollen. Die Sozialraumorientierung hat die Sicht vom Menschen als politisch Handelnden in ihre Randbezirke verlegt und durch eine pädagogisierende Wende zu einer Abkehr vom Menschen als politisches Wesen hin zu einer Orientierung an den Ressourcen der Menschen geführt. Wenn Praktiker und Praktikerinnen heute an die Ressourcen ihrer Klienten denken - und das machen die nachfolgenden Beträge ebenfalls sehr deutlich - dann denken sie an persönliche Unterstützungs- und Hilfsquellen und nicht an politische Ressourcen oder Machtverhältnisse: Menschen im Gemeinwesen verfügen danach über Ressourcen, aber sie haben keine politische Macht. Das allerdings ist die durch die staatliche Verwaltung vorgenommene politische Konstruktion des Sozialraumes, die sich an den personalen Ressourcen isolierter Personen orientiert, die sie mit Hilfe staatlicher Organisationen zu Gemeinschaften zusammenzufügen beabsichtigt: eben den Sozialraum.
Diese drei Begriffe diskutiere ich nun in ihrer historischen Abfolge vom Gemeinschaftsbegriff zur Gemeinwesenarbeit und schließlich zur Sozialraumorientierung.
I Gemeinschaft
Höchstes Wertgefühl und eine ausgesprochen emphatische Bedeutung durchziehen das Wort von der Gemeinschaft (König 1955, S. 388). Wir wenden diesen Begriff vorzugsweise auf intime Gruppen an und sprechen von Liebes-, Ehe- und Freundschaftsgemeinschaften, auch von der Gemeinschaft der Altersgruppen, der Berufskollegen, Lehrer-Schüler-Gemeinschaften und der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Instinktives Gefallen, gewohnheitsmäßige Anpassung und ein ideenbezogenes gemeinsames Gedächtnis der in der Gemeinschaft zusammengekommenen Personen sind typische Merkmale (vgl. Fuchs-Heinritz et al. 1994, S. 228). So neigen wir dazu, den Gemeinschaftsbegriff emphatisch gegen eine ichbezogene, an reinen Individualinteressen orientierte Denkweise zu stellen. Dies ist zumindest die von Tönnies herausgearbeitete Dichotomie, der für die an Individualinteressen orientierte Denkweise den (Gegen-) Begriff Gesellschaft wählte. Diese Gesellschaft ist aus der Gemeinschaft im Laufe des Geschichtsprozesses hervorgegangen und hat die auf Blut, Verwandtschaft oder Freundschaft gegründeten Gemeinschaften in eine Gesellschaft des Vertrags umgewandelt. Die auf den Vertrag gegründete Gesellschaft orientiert ihre Gemeinsamkeiten ausschließlich an übereinstimmenden zweckrationalen Zielen.
Das weckt Unbehangen, und so konnten nur wenige Begriffe wie der der Gemeinschaft als Gegenbegriff zur zweckrationalen Gesellschaft der Konkurrenten eine derartige uneingeschränkte, bejahende Zustimmung entfalten. Denn zweifellos leben Menschen nicht nur zusammen, um zweckrational zu handeln, sondern auch, um jenseits von Zweck und Ziel Gemeinsamkeiten herzustellen. Dieses gemeinsame Handeln setzt Gewöhnung voraus, will einander gefallen, entwickelt gemeinsame Ideen vor oder jenseits aller zweckbezogener Rationalität. Dieses gemeinsame Handeln ist im Begriff der Gemeinschaft aufgehoben und hat ihn zu einem Sehnsuchtsbegriff geformt. Das Streben nach Gemeinschaft (Nisbet 1990) ist ein zentrales Hoffnungsmotiv moderner Gesellschaften. Zugleich ist auch deutlich, dass dieses Streben einer endlosen Suche nach dem verlorenen Schatz gleicht; ein Schatz, den wir nur vom Hörensagen kennen und den wir mehr ahnen als wissen. Die Suche nach Gemeinschaft bleibt daher eine unerfüllte Suche. Hier erweist sich der Begriff der Gemeinschaft als Kind des Geistes der Romantik, als eine ideale Vorstellung, deren Materialisierung umso weiter fortrückt, je näher wir seiner Verwirklichung kommen.
II. Sozialpädagogik und ihre inszenierten Gemeinschaften
Die Sozialpädagogik hat die Idee der individuellen Selbstverwirklichung aufgegriffen und die Gemeinschaft als den Ort aufgefasst, an dem das individuelle Aufschließen menschlicher Möglichkeiten zu verwirklichen ist. Von der Wohnstube Pestalozzis oder dem Familienprinzip Wicherns über die Erlebnispädagogik mit ihrer Betonung des gemeinschaftlichen Handelns bis zur heutigen Jugendhilfe – die Gemeinschaft ist das Medium des pädagogischen Aufschließens. Die Gemeinschaft ermöglicht die Entfaltung des Individuums, ja nur in Gemeinschaft kann individuelle Entfaltung geschehen.
Dazu kann die Sozialpädagogik sich jedoch nur begrenzt, und am liebsten überhaupt nicht, an gesellschaftliche Organisationen binden, wie Schule, Jugendhilfe oder Kindergärten, kurz: an „Aufzuchtorganisationen“ (Mollenhauer 1966, S. 134). Sie kann es vor allem deshalb nicht, weil diese Organisationen in erster Linie auf den Leistungsanspruch abheben, den die Gesellschaft an die Einzelnen stellt und ihnen zuweist. Den erhöhten Anforderungen an die sozialen Fähigkeiten von Menschen werden diese Organisationen in den Augen der Sozialpädagogik jedoch nicht hinreichend gerecht. Auf diese erhöhten Ansprüche will die Sozialpädagogik eine Antwort finden. Warum? Weil ihre sozialpädagogische Kompetenz sich eben nicht auf die objektive Leistungsanforderung konzentriert, sondern auf den Konflikt. Weiter, weil sie sich nicht für erwartbares Wissen interessiert, sondern für subjektive Erfahrungen und Schicksale. Schließlich, weil sie keine kanonisierte Lehre verfolgt, sondern immer unterschiedliche Formen der Beratung annimmt (Mollenhauer 1966, S. 132). Sie reagiert damit darauf, dass Menschen zwar freigesetzt, jedoch nicht an soziale Orte vermittelt, zwar autoritären Lebensformen entzogen, jedoch nicht an sichere Arbeitsformen gebunden, zwar als eigensinnige Personen anerkannt, jedoch weiter der Zweckrationalität moderner Arbeitsteilung unterworfen sind. Dies schafft besondere Bewältigungsprobleme, denen sich die Sozialpädagogik widmet, denn „da die Dauerkrise aufgrund ihrer strukturellen Bedingtheit gesellschaftlich nicht aufhebbar ist, muss sie in ihren Folgen für den und am Einzelnen behandelt, also pädagogisch transformiert werden“ (Böhnisch 2010, S. 219).
Auf diesen Dauerkonflikt reagiert die Sozialpädagogik seit jeher mit „inszenierten Gemeinschaften.“ Inszenierte Gemeinschaften sind in der Regel Gruppenangebote (Puch 1991, zit. nach Böllert 2001, S. 645), weisen jedoch mit dem Begriff des Sozialraumes als einer umfassenden Form einer sozialpädagogisch inszenierten Gemeinschaft über die Gruppe hinaus. Die Sozialpädagogik will das Verschwinden mechanischer Solidaritätsstrukturen durch die Inszenierung künstlicher Gemeinschaften wenigstens ausgleichen oder abmildern. Sie will Menschwerdung in Gemeinschaft dort stiften, wo dies durch Familie und Schule nicht oder nur unzureichend besorgt wird: Sozialpädagogik ist, einem bekannten Wort zufolge, alles außer Schule und Familie. Sie ist materielle und erzieherische Unterstützungspraxis für Benachteiligte. In materieller Hinsicht ist sie öffentliche Integrationsinstanz, die in den gesellschaftlichen Raum weist, in erzieherischer Hinsicht ist sie ein pädagogisches Handlungsfeld, das auf die Person zeigt.
III. Gemeinschaft als politisches Gemeinwesen
Dass die Gemeinschaft auch als ein politisches Gemeinwesen gefasst werden kann, ist in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen (vgl. etwa Richter 1998, 2000) keine in der Sozialen Arbeit besonders verbreitete Auffassung. Aus dieser kommunalpolitischen Sicht bietet eine lokale Orientierung die Chance, die zivilisatorischen Kräfte in einem demokratischen Gemeinwesen durch „die Herstellung von Öffentlichkeit in den freiwilligen Vereinigungen des Gemeinwesens“ (Richter 2004, S. 84) zu fördern. Damit soll die bürokratische und klientifizierende Fokussierung auf individuelle Mängel und Verfehlungen Einzelner zugunsten einer Betonung der lebensweltlichen Zusammenhänge und der dezentralen Konfliktlösung in einer kommunalen Öffentlichkeit überwunden werden (Lindenberg & Ziegler 2005, S. 622).
Ist das zu erreichen? Nach Marx (1956) zeigt der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft zwei Gesichter. Einerseits ist er als das einzelne Glied einer umfassenden Souveränität auf die Kette einer abstrakten, unwirklichen Allgemeinheit aufgefädelt. Er ist in eine politische Löwenhaut gesteckt, die ihn als staatsbürgerliches Gattungswesen der Gesellschaft ausweist. In scharfer Trennung davon verläuft seine Existenz als wirkliches, als lebendiges Individuum. Wirklich, weil er sich als dieses profane Wesen selbst erst als wirklich erscheint. Die Trennung in seine unwirkliche, abstrakte Allgemeinheit als Staatsbürger und seine unwahre, aber konkrete Erscheinung als Privatmensch ist das endgültige, letzte zu erreichende Resultat der bloß politischen Emanzipation im bürgerlichen Staat. Marx hat dies als einen Fortschritt, jedoch keineswegs als die letzte mögliche Form der Emanzipation bezeichnet. Diese bestehe nicht in der bloßen politischen Emanzipation als Staatsbürger, sondern in der menschlichen Emanzipation als lebendiges, einzigartiges Individuum. Erst die menschliche Emanzipation ermögliche es, ein wirkliches, widerspruchsloses Gattungsleben zu leben. Daher stehe die politische und die menschliche Emanzipation in einem scharfen Gegensatz, weil die menschliche im Gegensatz zur politischen Emanzipation nicht die Zersetzung und Reduktion des Menschen in eine moralische Person und Staatsbürger einerseits und ein egoistisches, unabhängiges, monadisches Individuum anderseits zur Voraussetzung und zum Ziel habe. Menschliche Emanzipation missbrauche das politische Leben nicht als Mittel, so wie es die bürgerliche Gesellschaft für ihre Zwecke missbrauche. Erst die menschliche Emanzipation schaffe Verhältnisse, die den Menschen im anderen Menschen die Verwirklichung, und nicht, wie für das bloß politisch emanzipierte Individuum, die Schranke seiner Freiheit sehen lässt. „Alle Emanzipation“, so Marx (ebd., S. 370), „ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.“
Diesem Gedanken zufolge stellt der bürgerliche Staat nicht das Wesen der Gemeinschaft, sondern das Wesen des Unterschiedes heraus - und somit die „Trennung des Menschen von seinem Gemeinwesen, von sich und den anderen Menschen.“ (ebd., S. 356) Bei Marx steht die Gemeinschaft im grundlegenden Gegensatz zur Gesellschaft des bürgerlichen Staates (Raulet 1993, S. 80). Die von Marx angestrebte menschliche Emanzipation entspringt nur dem Gemeinwesen, sie ist notwendig darauf angewiesen.
Den Gegensatz dazu formuliert Rousseau. Er überspringt das Gemeinwesen als Ort der menschlichen Emanzipation und bestimmt den „Gemeinwillen“ als Medium der Freiheit, allerdings als eine Freiheit, zu der gezwungen werden darf: „Wer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, soll durch den ganzen Körper dazu gezwungen werden. Das heißt nichts anderes, als das man ihn zwingt, frei zu sein.“ (Rousseau 1981, S. 283) Daher verbindet sich bei ihm ein autoritärer mit einem individualistischen Strang zu einem Hauptstrom, der in einen Freiheitsbegriff mündet, der nicht die Freiheit vom staatlichen Eingriff zur Voraussetzung hat, sondern den staatlichen Eingriff als Voraussetzung von Freiheit bestimmt (vgl. Nisbet 1990, S. 127).
Was Rousseau als Freiheit behauptet, hat aber bloß der Staat als Freiheit dekretiert und gegeben. Damit sind die gefährlichen Klippen des Gemeinwesens umschifft. Denn gefährlich ist das Gemeinwesen als Ort der Öffentlichkeit jener Personen, die sich freiwillig und an ihren Interessen orientiert zusammenschließen. Diese Menschen handeln gemeinsam mit unabsehbarem und daher nicht zu kontrollierenden Ausgang. Damit der Staat nun die notwendige Wirksamkeit entfalten kann, darf es keine Abweichung von dieser staatlich dekretierten Freiheit geben. Es gilt, eine disparate Gesellschaft mit konkurrierenden Interessen zu verhindern. Für die einzig mögliche Entfaltung der „volonte generale“ darf es daher keine Entwicklung der Bürger innerhalb von Teil-Gemeinschaften geben, sondern ein jeder Citoyen hat seine eigenen, individuellen Gedanken zu leben und diese ohne Vermittlung oder Brechung unmittelbar an den Staat zu binden. Wahre Freiheit ist willige Unterwerfung des Einzelnen unter das Ganze des Staates. „It was Rousseau's subtle achievment to clothe the being of the absolute state in the garments of the terminology of freedom.” (Nisbet 1990, S. 134).
IV. Macht im politischen Gemeinwesen
Der lokale Raum darf jedoch nicht übersprungen werden, die Emanzipation muss von Unten nach Oben verlaufen, und nicht umgekehrt, wenn sie ihren Namen verdienen will: „All politics is local.“ So sieht das auch Saul Alinsky, der in besonderer Weise den Gegenpol zu der geisteswissenschaftlichen Sozialpädagogik bildet, die die pädagogisch inszenierte Gemeinschaft frühzeitig als eine zu nutzende Kraft für ihren erzieherischen Einflusswillen auf einzelne Menschen entdeckt hat. „Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen eigenen Willen. Zweifellos darf er tun, was er will, aber er darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass er es tut“, zitieren Hinte und Treeß (2007, S. 35 – 36) Rousseau, um diesen erzieherischen Einflusswillen auf einen polemischen Punkt zu bringen: „Der Wille eines Kindes zählt nicht – es sei denn, er ist bereits erzieherisch geadelt“ (Hinte & Treeß 2007, S. 35). Das Kind soll jetzt selbst wollen, was andere bereits vorher für es gewollt haben. Das ist die oben beschriebene dekretierte Freiheit von Rousseau. Ihr Ziel ist nicht die von Marx angesprochene menschliche Emanzipation.
Auf eben diese menschliche Emanzipation zielt Alinsky. Der ungezähmte Wille zählt bei ihm vor allem anderen. Dabei sieht er sich dem demokratischen Prinzip verpflichtet: einer Bewegung von Unten nach Oben, die niemals fertig wird. Dazu muss Macht erkämpft werden (vgl. Weber 2009). Alinsky bejaht Macht: „Jede Gemeinde, jede Stadt besitzt eine etablierte Machtstruktur, die sich Änderungen in Form von Verbesserungen der Masse der mittellosen Bevölkerung widersetzt. Um dennoch solche Verbesserungen der Masse durchsetzen zu können, muss eine Gegen-Macht gebildet werden. Macht aber tritt in Gestalt von viel Geld oder vielen Menschen auf. Menschen, die kein Geld haben, müssen diesen Mangel durch ihre große Zahl kompensieren. Wenn sie sich einig sind und gemeinsam handeln, können sie ihre politischen Gegner zu Zugeständnissen zwingen, sofern sie entschlossen sind, den öffentlichen Konflikt in einer Sache und an einer Stelle zu wagen, wo ihr Hauptgegner verwundbar ist.“ (Müller 1992, S. 116)
Alinsky setzt sein Verständnis von direkter, unmittelbarer Demokratie von Unten nach Oben notwendig und umfassend unmittelbar bei dem Gemeinwesen an, das er als Quelle allen sozialen Lebens fasst. Schließlich interessieren sich die Leute nicht dafür, was anderswo passiert, aber sie interessieren sich für alles, was sie unmittelbar umgibt: Ihre Straße, ihre Schule, ihr Einkaufszentrum, ihre lokalen und städtischen Politiker. Dieses unmittelbare Eigeninteresse ist Alinskys Ausgangspunkt. Das Eigeninteresse ist eine stetig und zuverlässig sprudelnde Quelle und steht daher in scharfem Gegensatz zu der eingangs genannten vagen sozialpädagogischen Gemeinschaftshilfsquelle. Doch müssen Alle - auch im Eigeninteresse – Konflikte eingehen, an deren Ende ein Kompromiss zu stehen hat. Entsprechend verläuft Alinskys politisches Programm: Erstens, Macht wird benötigt und muss erkämpft werden. Zweitens, das Eigeninteresse ist der Ausgangspunkt und gibt in diesem Kampf die Kraft. Drittens, im Konflikt stoßen die Eigeninteressen aufeinander. Viertens, im Kompromiss verwirklichen sich die Interessen im Gemeinwesen.
So sind seine Schriften Anleitungen zum Ungehorsam-Sein und zur Entwicklung von Gegenmacht, denn „wenn man das demokratische Leben als musikalische Partitur abbildete, wäre ihr Hauptthema die Harmonie der Dissonanz.“ (Alinsky 1985, S. 44) Diese Auffassung steht in deutlichem Gegensatz zu der sozialpädagogischen Position, die Menschen als mit „Ressourcen“ ausgestattet sieht, über die sie entweder als Individuum bereits verfügen oder die sie über das Medium der Gemeinschaft und unter professioneller Handreichung erwerben können. Bei Alinsky sind Menschen dagegen politische Wesen, die keiner pädagogischen Handreichung bedürfen. Macht liegt im Gemeinwesen auf einer politischen Ebene, die mit dem Begriff „Ressource“ verfehlt wird. Alinsky verweist klar auf die Gefahr, die mit solchen Ersatzbegriffen verbunden ist: „Ein anderes Wort als ‚Macht‘ zu gebrauchen, heißt die Bedeutung von allem, worüber wir reden, zu ändern.“ (Alinsky 1984, S. 37)
V. Aus Community Organizing wird Gemeinwesenarbeit
Über die Eindeutschung dieser Variante der Gemeinwesenarbeit ist viel geschrieben worden. Daher in Kürze: Der Einzug der Gemeinwesenarbeit in die deutsche Soziale Arbeit war eine willkommene Ergänzung zur segmentierenden Einzelorientierung. Diese Orientierung kam im Gefolge der Studentenbewegung stark unter Druck, weil die im Grundsatz bejahte Individualisierung auch immer einer zunehmend abgelehnten individualisierenden Zuschreibung verpflichtet war, nach der Probleme den Einzelnen zuzurechnen sind und im Rahmen eines diagnostischen Schemas zu einer amtlichen Zuschreibung werden.
Hier konnte die Gemeinwesenarbeit mit ihrer Rückbesinnung auf das von Alinsky hochgehaltene demokratische Prinzip helfen. Demokratie ist der ständige Kompromiss in der Zusammenschau von einzigartigen Menschen, die über Fähigkeiten verfügen und nicht Schwächen unterworfen sind und daher miteinander kompetent handeln. Der besondere Gewinn der Gemeinwesenarbeit war ein zweifacher: Erstens, das auf die isolierte einzelne Person orientiere Case-Work Prinzip konnte überwunden werden; zweitens konnte damit von einer psychologischen und sozialmedizinischen Perspektive auf eine soziologische und gesellschaftliche Sicht umgestellt werden. In der Gemeinwesenarbeit waren Sozialarbeiter nicht länger Ausgrenzende, Fürsorger und Erziehende, sondern handelten selbst, zusammen mit anderen, im politischen Gemeinwesen. Für viele war Soziale Arbeit in diesem Gemeinwesenzusammenhang kein Beruf mehr, kein bloßer Lebensunterhalt, sondern eine lebenslange politische Aufgabe. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen waren stolz darauf, zu dieser auserwählten Gruppe der Gemeinwesenarbeiter zu gehören. Von besonderem Stolz war man ergriffen, wenn man auch in dem Gemeinwesen lebte, wirklich und tatsächlich dazugehörte. Das war die Befreiung: keine Klienten oder Problemgruppenarbeit mehr, sondern Gemeinwesenarbeit.
VI. Aus der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2015
ISBN: 978-3-7368-8980-4
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