Cover

Titel

Helga Jursch

 

 

Die fünfbeinige Kuh

 

Eine Reise durch Nordindien

 

Buchvorstellung

 

Über das Buch:

Ist das Taj Mahal wirklich der Höhepunkt jeder Indienreise? Warum sind Kühe heilig? Wieso werden Ratten verehrt? Erfahren Sie, wie die Autorin Nordindien im November 2014 erlebte. Ein farbenprächtiges Mosaik aus finsteren und strahlenden Begebenheiten, gespickt mit Hintergrundinformationen und Tipps, wird vor dem Leser ausgebreitet. Wenn Sie nicht schmunzeln, werden Sie die Luft anhalten, empört, entsetzt und entzückt sein. Diese Reisebeschreibung lässt niemanden kalt.

 

Über die Autorin:

Helga Jursch wurde 1960 in Hamburg geboren und lebte schon als Kind im Ausland. Dies führte zu einem bislang unstillbaren Drang in die Ferne, der in regelmäßigen Abständen ausbricht. Wenn sie nicht auf Reisen ist, lebt sie mit ihrer Familie und einer Katze in der Nähe von Stuttgart.

Kontakt:
info@helga-jursch.de
www.helga-jursch.de

 

Inhaltsverzeichnis

 

Inhalt

Die fünfbeinige Kuh

Eine Reise durch Nordindien

Tag 1 – Fahrerflucht in New Delhi

Tag 2 – Ohne Hupe geht’s nicht

Tag 3 – Glanz und Elend unauflöslich miteinander verstrickt

Tag 4 – Reinigung mit zweifelhaftem Wasser

Tag 5 – Es wird richtig heilig

Tag 6 – Eine Kleinstadt wird gestürmt

Tag 7 – Es wird noch grenzwertiger

Tag 8 – Go West

Tag 9 – Reale Märchenwelt

Tag 10 – Pilze auf Rädern

Tag 11 – Göttliche Pracht und irdischer Sound

Tag 12 – Extremer Lebensschutz

Tag 13 – Verdauungsbeschwerden

Tag 14 – Mowglis Heimat

Tag 15 – Verborgene Aussichten

Tag 16 – Besuch in der Hölle

Tag 17 - Zu Tode genervt, dann himmelhochjauchzend

Tag 18 – Wassermangel

Tag 19 – Höhe- und Tiefpunkt

Tag 20 – Endspurt

 

Eine Reise durch Nordindien

Das Taj Mahal gehört zu den Dingen, die ich schon immer sehen wollte, bevor ich sterbe. Genau genommen ist der zweite Halbsatz überflüssig. Schließlich ist die Ungewissheit, die sich um den Tod rankt, allumfassend und ich weiß gar nicht, ob ich auch nach dem Tod Gelegenheit haben werde, diesen Prachtbau zu sehen. Vor meinem Tod ist jetzt. Da man also erstens nie weiß, was kommt und zweitens der Zahn der Zeit auch an mir mit zunehmendem Eifer nagt, beschloss ich, unverzüglich an die Umsetzung dieses Traumes zu gehen.

Ich entschied mich für eine Rotel-Reise, weil deren Nordindien-Programm mich am meisten ansprach und auch in mein Budget passte. Rotel heißt „rollendes Hotel“. Es besteht aus einem Bus, der über ebenso viele Sitzplätze wie enge Schlafkojen verfügt. Der Volksmund bezeichnet das gern als „Schlafen im Sarg“, aber Hand aufs Herz: Haben Sie schon mal einen Sarg gesehen, der 70 Zentimeter hoch ist? So hoch ist nämlich die Koje. Ebenfalls 70 Zentimeter breit und zwei Meter lang. An der Stirnseite ist ein Fensterchen angebracht, an der Rückseite ein Vorhang. Es befinden sich jeweils drei Kabinen übereinander. Ich habe das schon einmal mitgemacht und weiß, dass ich schmerzfrei genug bin, um mit lauter unbekannten Menschen, ihren diversen Körpergeräuschen und möglicherweise sich steigernden Körpergerüchen drei Wochen lang zurechtzukommen. Betreut wird die Gruppe jeweils von einem Busfahrer und einem Reiseleiter. Generell hat dieses Personal in der Branche einen sehr guten Ruf, aber es gibt auch bedauerliche Ausnahmen, wie den uns diesmal zugewiesenen Reiseleiter. Deswegen wird fortan von ihm nicht mehr die Rede sein.

Der Herbstvollmond Kartik Purmina, der sich im Oktober oder November zeigt, hat für Rajasthan, den Bundesstaat im Nordwesten Indiens, eine herausragende religiöse Bedeutung. Unter anderem findet dann das Pushkar-Fest statt. Auch das will ich in diesem Leben gesehen haben. Somit steht auch der Zeitpunkt der Reise fest und ich beschließe, im November 2014 nach Indien zu reisen.

Da ich glücklicherweise mit einer robusten Gesundheit gesegnet bin, überprüfe ich nur meinen Basis-Impfschutz und nehme Kopfwehtabletten mit. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gegen örtlich entstandene Leiden am besten örtliche Medikamente helfen, sodass meine Reiseapotheke trotz mahnender Stimmen ziemlich leer bleibt.

Über Dubai geht es nach New Delhi. Als der Flieger in Dubai landet und ich mir ein paar Stunden um die Ohren schlagen muss, ist es gerade tiefste Nacht, sowohl in Deutschland als auch vor Ort. Da ich aus meinem aufregenden Berufsalltag geradewegs in den Urlaub gestürzt bin, muss ich aufpassen, dass ich vor lauter abfallendem Stress nicht einschlafe. Also laufe ich umher. Die ganze Zeit. So kann ich den glitzernden, futuristischen Flughafen durchmessen. Für Araber mag die Shoppingmeile dieses bombastischen Flughafens exotisch sein, aber für unsereins nicht. Tausende Geschäfte mit den üblichen Marken, die auch sämtlichen deutschen Fußgängerzonen einen erschreckenden Einheitslook verpasst haben. Hin und wieder gibt es ein arabisches Geschäft. Soll ich vielleicht Kamelmilch-Schokolade kaufen? Besser nicht. Ich gehe in die Wüste und habe erstens keinen Kühlschrank und zweitens keinen Platz, an dem nicht die Gefahr bestünde, die warmgewordene Schokolade zu zerdrücken. Wie wäre es mit einem Buch? Eigentlich brauch ich keins, denn ich habe ein voll bepacktes Lesegerät dabei. Aber vielleicht begegnet mir hier etwas, das ich unbedingt haben muss? Regale über Regale mit Büchern auf Englisch. Die arabischen Bücher finden auf einem Meter Platz.

Endlich wird mein Flug nach Delhi aufgerufen. Ich kann bis zur Landung am frühen Morgen einigermaßen schlafen. Wegen der Ebola-Epidemie in Afrika wird am Flughafen die Temperatur aller Einreisenden mit einem pistolenähnlichen Gerät aus der Ferne gemessen. Menschen mit Mundschutz und Handschuhen blättern unsere Pässe durch. Wer aus einem von Ebola betroffenen Land ankommt, muss gleich an einen anderen Schalter. Jeder muss auf einem Fragebogen seine Reisen und Aufenthalte der letzten Zeit angeben. Der indische Grenzer hält mich für sauber. Ich darf einreisen und bekomme ein Ebola-Merkblatt in die Hand gedrückt. Es informiert, wo ich mich beim Auftreten von einschlägigen Symptomen melden soll.

In Delhi ist es heiß! Das Rotel-Reisegrüppchen findet sich in der Ankunftshalle langsam zusammen, denn die großen, roten Rotel-Aufkleber auf den Koffern sind kaum zu übersehen. Ein paar Frauen sind mir auf Anhieb sympathisch. Auf den ersten Blick macht die Gruppe einen guten Eindruck. Gleichgesinnte fühlen sich zueinander hingezogen, zu den anderen hält man freundlichen Abstand. Es ist niemand dabei, bei dem man spontan mit den Augen rollt. Was für ein Glück!

Tag 1 – Fahrerflucht in New Delhi

Zwei Koffer sind kaputt, ein Teilnehmer fehlt und so geht es etwas hektisch zu, bevor wir nunmehr neunzehn Teilnehmer in einen örtlichen Bus steigen und zur Stadtrundfahrt starten. Ein kurzer Moment der Besinnung tritt ein, als jeder von uns zur Begrüßung eine Kette aus frischen Blumen als Willkommensgruß umgelegt bekommt. Unter meiner dicken Jacke bin ich dünn angezogen und meine Schlappen habe ich im Handgepäck. Das war eine sehr weise Entscheidung, da wir den ganzen Tag keine Gelegenheit haben werden, an unser Gepäck zu kommen.

Und los geht es durch einen Verkehr, der mir schon durch eine frühere Reise als albtraumhaft in Erinnerung ist. Mittlerweile ist er noch schlimmer geworden. Auf den Straßen herrscht ein rücksichtsloses und ungeordnetes Gedränge, unterstützt durch heftigsten Einsatz der Hupe. Dort drängt sich alles, was irgendwie vorwärts kommen möchte: Laster, Busse, Autos, Kühe, Ziegen, Tuktuks, Motorräder, Kutschen, fliegende Händler, Fußgänger. Ich bin froh, als wir endlich am ersten Zielort sind. Glücklicherweise luftig gekleidet entsteige ich am Humayun-Mausoleum dem Bus. Zu meiner größten Freude sehe ich einen Kokosnuss-Verkäufer und schlage bei einer Trinkkokosnuss zu. Jetzt bin ich auf die kommenden Abenteuer positiv eingestimmt.

Der alte Humayun war ein Maharaja, auf Deutsch: ein großer Herrscher. Diesem Herrscher eilt allerdings der Ruf voraus, freundlich, aber unfähig gewesen zu sein. Das Mausoleum hingegen ist atemberaubend und das im doppelten Sinn. Die Luft in Delhi ist so, dass man das Atmen gern einstellen würde, so es denn möglich wäre. Die Sichtweite ist so ähnlich wie bei uns im Novembernebel, nur dass das hier kein Novembernebel, sondern stets vorhandener Smog ist. Im Großraum Delhi leben etwa zwanzig Millionen Menschen. Gleichzeitig arbeiten die zahlreichen Fabriken ohne Filter. Katalysatoren für Fahrzeuge gelten als verzichtbarer Luxus. In Delhi wurden schon vor Jahren täglich drei Milliarden Liter Schmutz in den Fluss Jamuna eingeleitet. Maximal die Hälfte der Abwässer streift eine Kläranlage und diese arbeiten meist nicht richtig. Der Smog in New Delhi ist schlimmer als in Peking. Das sieht man. Das riecht man. Das vernebelt den Blick, ätzt die Lungen und zersetzt das Gestein. Noch stehen die Steine und wenn man nah genug herangeht, kann man sie auch scharf und deutlich sehen. Das Humayun-Mausoleum aus rotem Sandstein und weißem Marmor ist sehr beliebt. Ein prachtvoller Bau inmitten einer weitläufigen, grünen Oase. Jede Menge Familien und Schulklassen stürmen das Gelände. Wir erregen Aufsehen und viele Leute möchten sich mit uns fotografieren lassen.

Wir fahren weiter zum Raj Ghat, der Verbrennungsstelle Mahatma Gandhis. Ich bin enttäuscht. Der Ort liegt mitten auf einer Kreuzung von großen Straßen. Es ist laut, der Ort ist weit entfernt vom Fluss, von schönen Bäumen oder von irgend etwas, das eine meditative oder besinnliche Stimmung hervorrufen könnte. Ein steriler, moderner Bau ohne Zierde, und zu allem Überfluss ist an zahlreichen Stellen Kunstrasen aus Plastik ausgelegt. Der Zustrom an Besuchern ist enorm, aber dieses nüchterne Ding hat sorgfältig jeden Anklang an Indiens manchmal widersprüchlichen Zauber vermieden.

Die meisten von uns sind für das Wetter unpassend gekleidet, denn wir hatten ja noch keine Gelegenheit, die im kühlen Deutschland angezogenen Klamotten zu wechseln. Wir sind müde, denn uns allen fehlt ja eine Nacht. Nicht nur ist es in Delhi schon fünfeinhalb Stunden später als in Deutschland, wir sind ja mit einer langen Unterbrechung über Nacht geflogen, ohne richtig schlafen zu können. Aber das Programm ist gnadenlos. Es ist fast wie Fahrerflucht: wir streifen eine Sehenswürdigkeit und entfernen uns wieder so schnell wie möglich. Das Tempo setzt mir zu.

Endlich Mittagspause mit anschließendem Besuch des tibetischen Basars. Das Mittagessen findet allen Ernstes bei McDonald’s statt. Ich frage mich, ob ich wegen Aufregung, Schlafmangel und anderen psychischen Befindlichkeiten an Halluzinationen leide, aber ich stehe tatsächlich in einem McDonald’s und bestelle mir einen Veggieburger und etwas zu trinken. Meine erste indische Mahlzeit hätte ich mir irgendwie typischer vorgestellt. Aber immerhin ist das ein Vorgeschmack auf das was kommt, denn McDonald‘s hat so viel mit Indien zu tun wie der tibetische Markt mit Tibet. Es gibt dort hauptsächlich indisches Kunsthandwerk zu kaufen. Standbesitzer fordern die Besucher mit lautstarkem Stakkato auf, ihre Stände zu besuchen. Fliegende Händler heften sich an mich, halten mir die eigenen Waren direkt vor die Augen, engen meinen Bewegungsspielraum und mein Gesichtsfeld ein und weichen nicht einen Millimeter, selbst bei offensichtlichem totalem Desinteresse. Bettler zupfen und zerren an mir. Es hilft nichts, dass ich mich wehre, verneine oder sie barsch verscheuche. Wie ein aufgeblähter Schatten bleiben diese Gestalten an jedem von uns dran. Ich bin erleichtert, als wir endlich wieder in den Bus einsteigen können.

Es geht weiter, über den Connaught Place, der Machtzentrale der größten Demokratie der Erde, von wo aus mehr als eine Milliarde Menschen regiert werden. Hier wurde die 2013 gestartete Marsmission beschlossen. Hier werden die Prozesse zur Auslösung der Atomraketen gesteuert. Richtig echte Machtfülle also. Doch irgendwie sieht dieser Ort kleinkariert-bürokratisch aus, die Schaltzentralen der Macht verschwinden hinter Beliebigkeit und Unauffälligkeit. Kastenförmige, nüchterne Zweckbauten ohne Flair füllen die Lücken zwischen einzelnen, etwas imposanteren Kolonialgebäuden aus.

Nun werden wir den Sikhtempel Bangla Sahib Gurdwara streifen. Mit seiner weißglänzenden, porzellanartigen Fassade im Zuckerbäckerstil und seiner goldenen Kuppel sticht er deutlich aus der umgebenden Architektur hervor, die aus nüchternen und nicht immer gepflegten Geschäfts- und Wohnhäusern besteht. Glücklicherweise möchte ein Sikh uns sein Gotteshaus erklären und so wird aus dieser Fahrerflucht zeitlich gesehen eine langwierige Unfallaufnahme, die ich sehr genieße.

Eine beiläufige Bemerkung unseres Guides erregt meine maximale Aufmerksamkeit: Bei den Sikhs sind Mann und Frau gleichberechtigt, auch Frauen dürfen die höchsten sakralen Ämter bekleiden. Die Männer tragen alle einen Turban und ein Eisenarmband. Das sind die zwei ihrer fünf Attribute, die für uns sichtbar sind. Weiterhin sollten sie einen Kamm tragen, der sich unter dem Turban befindet, einen Dolch, der in der Hose steckt und eine knielange Unterhose, die sexuell mäßigend wirken soll. Ein Sikh sollte niemals seine Haare schneiden, deshalb werden diese unter einem Turban versteckt. Auch der Bart soll immer weiterwachsen, weshalb viele Sikhs ein Haarnetz unterm Kinn tragen, in dem sie ihren Bart verstauen. Alle männlichen Sikhs tragen den Nachnamen Singh (Löwe), alle weiblichen heißen Gaur (Löwin). Allgemein gelten Sikhs als sehr gepflegt, diszipliniert und ordentlich. Zumindest galt das so lange, bis Indira Gandhi von ihren Sikh-Leibwächtern erschossen wurde. Seitdem halten viele in Indien die Sikhs für Terroristen. Diese Betrachtungsweise greift jedoch etwas zu kurz. Die Männer sind stolz und wehrhaft und arbeiten häufig als Soldaten, Polizisten oder LKW-Fahrer. Letzteres passt, denn LKW-Fahrer müssen bei den hier herrschenden Verkehrsverhältnissen wehrhaft und durchsetzungsfähig sein.

Der Gott der Sikhs ist ein gestaltloser Schöpfergott, weder Mann noch Frau. Dieser Gott hat sich im Buch Guru Grant Sahib offenbart, das von den Sikhs sehr verehrt wird. Höchstes spirituelles Ziel ist es, religiöse Weisheit im Alltag nutzbar zu machen. Religiösen Dogmatismus und soziale Hierarchien lehnen sie ab, obwohl das Kastenwesen Indiens Gesellschaft immer noch so stark durchdringt, dass letzterer Punkt in der Praxis gar nicht umsetzbar ist, selbst wenn man selber das Kastenwesen ablehnt, welches übrigens offiziell schon lange abgeschafft ist. In der Volksseele ist es aber immer noch höchst lebendig.

Der Tempel steht, wie alle Sikh-Tempel, Besuchern aller Religionen offen. Zudem finden mehrmals täglich Armenspeisungen statt, zu denen jeder ohne Ansehen der Person kommen kann. Wir haben Glück. Eine Frau möchte uns unbedingt die Küche zeigen. In einer riesigen, gefliesten Halle sitzen Heerscharen von Freiwilligen. Sie schnippeln Gemüse, rollen die allgegenwärtigen Fladenbrote namens Chapati aus, backen sie, rühren in Töpfen mit Industrieausmaßen die Linsenpaste Dal. Überall kokeln Feuerchen, es dampft und zischt. Die Töpfe sind groß genug, um einem Menschen Platz zu bieten. Obwohl das hier das Gegenteil davon ist, muss ich an die Hölle denken.

Vor dem Speisesaal sammeln sich Menschenmassen. Gegessen wird auf dem Boden. Dort wurden mehrere Reihen Teppichläufer ausgelegt, die Freiwilligen verteilen nun darauf Blechnäpfe mit Dal und Chapati, der indischen Basisnahrung. Besteck gibt es nicht, denn gegessen wird mit den Händen. Vom Fladen werden Stücke abgerissen, die in die Paste getunkt und dann zum Mund geführt werden. Sobald die Läufer alle bestückt sind, werden die Türen geöffnet. Die Massen stürmen herein, jeder kauert sich vor einen Napf. Sobald vor jedem Napf jemand sitzt, wird der Saal geschlossen. Die Hungrigen verschlingen ihr Essen und verschwinden wieder. Der Raum wird aufgeräumt, dann beginnt der nächste Durchgang.

Obwohl wir nun bereits viele Eindrücke gewonnen haben, gibt es für uns keine Entspannung. Wir müssen noch zum Laxmi Mayaran, einem Hindutempel. Dieser ist vor knapp hundert Jahren vom Industriellen Birla gebaut worden. Die damalige Firma des Herrn Birla ist mittlerweile ein riesiger Mischkonzern. Wenn dieser der Gesellschaft etwas Gutes tun möchte, baut er einen Tempel, und so gibt es in mehreren Städten Birla-Tempel.

Eine Unzahl von Kuppeln und Kuppelchen bedecken die zahlreichen Tempel. Der Komplex ist dunkelbraun gestrichen, die Verzierungen sind beige abgesetzt. In der Mitte befindet sich ein kleiner Park mit altem Baumbestand. Hier wird der Gott Vishnu mit seiner Gattin Laxmi verehrt.

In Indien herrscht große Angst vor religiös motivierten Anschlägen. Deshalb müssen wir alle elektronischen Gegenstände am Tempel abgeben und wir werden wie am Flughafen kontrolliert, bevor wir das Innere des Tempels betreten dürfen.



Endlich kommen wir zum Hotel, wo wir die erste Nacht verbringen sollen. Es liegt an einer großen Straße, in der der Verkehr tobt und der Lärm jedes tolerable Maß übersteigt. Hier taucht auch unser fehlender Reisegenosse auf. Er ist in Dubai eingeschlafen und hat somit den Weiterflug nach Indien verpasst. Und das Humayun-Mausoleum. Und McDonald’s und noch einiges mehr. Doch so richtig schade ist’s nur um den Sikh-Tempel.

Jetzt gibt es Abendessen. Nein, glücklicherweise keinen Veggieburger, sondern echtes indisches Essen: Chapati und Dal, ergänzt durch Reis und diverse hervorragende Currys. Currys sind hier Soßengerichte. Die bei uns als Curry bekannte Gewürzmischung heißt in Indien Garam Masala. Jede Hausfrau hat ihr eigenes Rezept, zu dem auch Blätter des Currystrauches gehören können, um die Verwirrung perfekt zu machen. Dieser Currystrauch wiederum hat weder etwas mit dem bei uns bekannten Gewürz noch mit den Soßengerichten zu tun.

Nach dem Essen gehe ich noch kurz mit meiner Reisegenossin Antonia auf die Straße. Der Lärm ist unbeschreiblich. Hupen, Klingeln, Lautsprecher, Geschrei. Der Verkehr überfordert mich. Ehe ich mich überfahren lasse und in meiner Todesanzeige „sie starb aus Dummheit am ersten Tag ihrer Reise“ steht, gehe ich lieber ins Bett. Meine sehr weise Entscheidung, eine Schlafmaske und den bestmöglichen Gehörschutz mitzunehmen, garantieren mir die nötige Nachtruhe.

Tag 2 – Ohne Hupe geht’s nicht

Nach dem Frühstück bringen uns Taxis zu dem Hof, wo der deutsche Rotel-Bus bereit steht. Zunächst werden die Kabinen verteilt. Jeder kann auf Wunsch eine Einzelkabine haben. Dafür wird einfach eine Trennwand in eine Doppelkabine geschoben, die sie in zwei einzelne Kojen teilt. Weil es kein Gepäckabteil gibt, müssen wir unser Gepäck tagsüber in unsere Schlafkoje wuchten. Wohl dem, der sparsam gepackt hat. Übel für den, der mit großem Gepäck reist und nun eine Koje ganz oben hat. Ich bin mit meiner praktischen Reisetasche und der mittleren Koje sehr zufrieden.

Während der Fahrt wird das Schlafabteil zugeklappt. Es wird erst wieder geöffnet, wenn wir abends unseren Standplatz erreicht haben. Im vorderen Busteil befinden sich die Sitzplätze, die schon bei der Buchung fest zugewiesen worden sind. Karin, meine Sitznachbarin für die Dauer der Reise, ist mir auf Anhieb sympathisch. Das ist das Quäntchen Glück, das man braucht.

Der deutsche Bus hat das Steuer links und in Indien herrscht Linksverkehr, was für maximale Unübersichtlichkeit sorgt. Ein paar zusätzliche Spiegel sollen dem Fahrer helfen, aber ich stelle mir seine Aufgabe sehr schwierig vor. Max, unser Fahrer, ist jedoch altgedient und sehr cool. Den bringt nichts aus der Ruhe.

Zunächst fahren wir zum Qutb-Minar-Komplex. Im 12. Jahrhundert befand sich hier ein hinduistischer Bau, möglicherweise ein Observatorium. Im Zuge eines Religionskrieges wurde dieser jedoch von den Moslems erobert und zur Moschee umgestaltet. Das Minarett ist sehr hoch und verjüngt sich nach oben. Aufgrund dieser unüblichen Bauweise wird spekuliert, ob der Turm nicht auch zum früher existierenden Observatorium gehört hat. Von der Moschee sind nur noch Ruinen übrig und so recken sich einzelne, mit fein ziselierten Koransuren versehene Mauern in den trüben Himmel. Die Moschee steht in einem weitläufigen Park. Im Gegensatz zur restlichen Stadt ist es hier grün und ruhig. Eine Oase der Behaglichkeit. In der Mitte der Moschee steht eine eiserne Säule, die seit Jahrhunderten nicht rostet. Wie die Menschen das damals hingekriegt haben, ist Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Unter anderem wird diese Säule als Gabe Außerirdischer betrachtet, obwohl es auch weltliche Erklärungen für die Rostfestigkeit gibt.

Nun geht es auf große Fahrt. Vor uns liegt eine Strecke von etwa 280 Kilometern nach Jaipur. 280 Kilometer Hupkonzert, Psychokrieg, Achterbahn und Schleichgang bei etwa 40 Stundenkilometern. Das ist nämlich das Tempolimit für die üblicherweise völlig überladenen LKW. Auf der Autobahn ist außer diesen fast kein Fahrzeug zu finden, weil die Mautgebühr so hoch ist, dass andere Fahrzeuge sie sich im Allgemeinen nicht leisten können. Wer das Geld nicht hat, muss sich mit den völlig überfüllten Landstraßen begnügen. Links und rechts der Autobahn tobt aber das Leben weiter. So laufen immer wieder Kühe und Menschen über die Fahrbahn. Während die Menschen hurtig eilen, promenieren die Kühe gemächlich und bleiben auch mal gern mitten auf der Autobahn stehen. Macht nichts, dann fährt man eben um sie herum. Soviel Zeit muss für ein heiliges Tier sein. Es ist gut, dass die Kühe das Tempo zusätzlich drosseln, denn so kommt es nicht zu Kollisionen mit den gelegentlich auftauchenden Geisterfahrern.

Das Gehupe nervt uns alle kolossal. Ich hupe, also bin ich. Gehupt wird immer, egal ob es ein Hindernis gibt oder nicht. Anne behauptet steif und fest: „Die Hupe geht los, wenn man das Gaspedal betätigt.“ Gefühlt könnte es wirklich so sein. Gefahren wird auf Stoß. Abstand zu lassen, nicht in die kleinste Lücke vorzudringen, ist geradezu ehrenrührig. Es strapaziert mich nervlich, als Passagierin im Bus zu sitzen. Wie muss es da erst dem Fahrer gehen? Fahrer

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 01.01.2016
ISBN: 978-3-7396-2995-7

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