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Kapitel 1

Zusammengequetscht zwischen mehreren Frauen in akkuraten Hosenanzügen und Männern mit Schlips und Kragen stand Nelly Rhodes im engen Fahrstuhl, der in das 25. Stockwerk des Summerbild-Imperiums führte. Die braune Ledertasche hatte sie fest an die Brust gedrückt und in der weiten, hellblauen Bundfaltenhose wirkte sie derart deplatziert und fehl am Platz, wie ein bunter Clown auf einer Beerdigungsfeier.

Nur ein Knopf und du kannst aus der Tür spazieren und so tun, als hätte es diesen Tag niemals gegeben. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe und löste eine Hand von der Aktentasche, um die breite Kastenbrille höher auf ihren Nasenrücken zu schieben. Auf der anderen Seite, wirst du dein ganzes Leben lang dieser verpassten Chance nachweinen.

Ein gut beleibter Mann mittleren Alters, der Schulter an Schulter eine gerade Linie mit Nelly bildete, nieste derart laut, dass der gesamte Fahrstuhl für einen Moment erschüttert wurde. Doch keiner der Anwesenden zeigte irgendeine Reaktion. Nelly fand dieses Verhalten schlichtweg unmöglich. Die Leute schienen überhaupt keinen Sinn mehr für ihre Umwelt zu haben, je mehr Gehalt monatlich auf ihre Konten geschwemmt wurde. Und sie wollte Teil dieses eiskalten, gefühlslosen Imperiums werden. Von Wollen war dabei jedoch weniger die Rede. Die letzten Wochen und Monate hatte sie hunderte Praktikumsbewerbungen geschrieben, war von Vorstellungsgespräch zu Vorstellungsgespräch gehetzt, nur um nach einem langen Tag, an dem sie den skeptischen Blicken vieler Vorstandsmitglieder und den zynischen Kommentaren ihrer Konkurrenten ausgesetzt gewesen war, wieder mit leeren Händen in ihre Zweizimmerwohnung im Herzen Brooklyns zurückzukehren. Ihr Aushilfsjob als Kellnerin in einem kleinen veganen Restaurant unweit ihrer Wohnung, reichte gerade aus, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.

Was haben wir dir gesagt? Sie hörte die Stimme ihrer Mutter förmlich in ihrem Ohr und kniff energisch die Augen zusammen, um den nervigen Ton abzustellen. Es gelang ihr nicht. Wer glaubt auch, dass er nach einem abgebrochenem Studium Fuß in der Weltstadt New York fassen kann und dabei auch noch Erfolg hat? Nelly versuchte sich abzulenken und starrte das Profil der Frau zu ihrer Rechten an. Sie hatte die Haare zu einer aufwendigen Frisur hochgesteckt, aus der sich keine einzige Strähne gelöst hatte. Auch ihre Kleidung saß perfekt. Weder Bluse, noch Hose schlugen Falten und passten sich wie eine zweite Haut ihren Gliedmaßen an. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Aristokratisches an sich und die dunklen Augen waren wie hypnotisiert auf die geschlossene Fahrstuhltür gerichtet. Nelly stellte sich vor, wie aus ihnen, einem Actionfilm gleich, zwei glühend heiße Strahlen schossen und das Metall vor sich zum Schmelzen brachten.

Mit diesen Leuten wirst du dich nie messen können. Sie werden dich wie einen Fußabtreter behandeln und wegwerfen, wenn er ihnen zu schmutzig und abgenutzt wird. Die Stimme ihrer Mutter meldete sich wieder und setzte sich anklagend und mit einem Hauch Genugtuung wie eine dicke Spinne in ihren Gedanken fest. Seit nunmehr einem Monat hatte sie keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern gehabt. Sie riefen nicht an und nahmen nicht ab, wenn sie es bei ihnen versuchte. Nelly konnte es sich nur schwer eingestehen, aber sie waren enttäuscht von ihrer einzigen Tochter. Nach ihrem Einser-Abschluss an der Military-Highschool von Detroit hatten ihre Aussichten nicht rosiger sein können. Doch ihr Studium im Finanzmanagement hatte ihr nicht das gebracht, was sie erwartet hatte. Die Zukunftschancen in Detroit waren jeden Tag um ein ganzes Stück geschrumpft. Mehr als die Hälfte der Einwohner war arbeitslos und auch mit frischen Collegeabsolventen konnte die Stadt nicht viel anfangen. In New York hatte sie einen Neuanfang gesehen. Sie wollte ein neues Studium beginnen und sich vorher ein Jahr Auszeit nehmen, um währenddessen das nötige Geld durch mehrere Praktika zu verdienen. Die Zustimmung ihrer Eltern war jedoch mit jeder weiteren Absage leiser geworden und war mittlerweile zu einem leisen Flüstern verkümmert, das Nelly längst nicht mehr wahrnahm. Aber sie war noch nicht bereit aufzugeben. Ihr Leistungen an der Highschool sollten nicht umsonst gewesen sein und so war Summerbild-Enterprises eine ihrer letzten Chancen, um sie vor der Rückreise nach Detroit zu retten. Wenn nicht sogar die letzte Chance.

***

Der Fahrstuhl gab ein Rucken von sich, lenkte sie wieder zurück in die Wirklichkeit und kam schließlich zum Stehen. Der Dicke neben Nelly rammte unsanft seinen massiven Rücken in ihre Schulter und bot ihr damit die Gelegenheit, ihm ein leises »Gesundheit« zuzuflüstern. Der Mann schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen missbilligend an, wischte sich ein paar Schweißtropfen von der aufgedunsenen Stirn und ließ Nelly ohne ein weiteres Wort stehen. Auch die anderen quetschten sich unsanft an ihr vorbei, als wäre sie ein Betonpfeiler, der ihnen den Weg versperrte und verschwanden anschließend wie eine aufgescheuchte Meute Antilopen auf den unzähligen Gängen, die sich vor ihr erstreckten. Die Wände waren in einem klaren Weiß gestrichen und auch der Fußboden war so rein, dass man das Gefühl bekam, sich in einer Arztpraxis und nicht in einem der erfolgreichsten Modekonzerne der Welt zu befinden. An der linken Wand schlängelte sich ein verschnörkelter schwarzer Schriftzug.

»Summerbild«. Nelly las sich ein paarmal den Namen laut vor, um zu begreifen, dass sie tatsächlich hier war. Nach den ständigen Absagen und den langen Wartezeiten in den vielen Bewerbungsverfahren, war die Einladung zu diesem Vorstellungsgespräch wie ein Stern an ihrem ansonsten düsteren Horizont erschienen. In der Stellenausschreibung hatte sogar gestanden, dass man bei ausgezeichneten Leistungen am Ende des dreimonatigen Praktikums die Chance auf eine Übernahme hatte.

»Weiter geht die Tür nicht auf.« Eine dürre Braunhaarige gesellte sich zu Nelly und diese merkte, dass sie immer noch im Fahrstuhl steckte.

Jetzt oder nie. Sie drängte die anfänglichen Zweifel und Ängste beiseite und betrat den langen Korridor. Gegenüber des Firmenlogos waren sämtliche Fenster in die Wände gelassen. In den meisten brannte Licht. Nelly war erstaunt, wie früh sich die meisten auf die Arbeit schleppten, war sie doch immer noch das lange Ausschlafen während ihres Studentenlebens gewohnt. Auch die anderen Gespräche waren erst weit nach zehn angefangen. Bei Summerbild herrschten anscheinend andere Regeln und man hatte die potentiellen Kandidaten bereits für 6.30 Uhr beordert. Nelly unterdrückte ein Gähnen, während sie sich weiter den Gang entlang schleppte. Sie brauchte dringend einen Kaffee, sonst bräuchte sie hier erst gar nicht antreten.

Am Ende des Korridors entdeckte Nelly einen Kaffeevollautomaten, der auf einem schmalen Glastisch platziert war. In einer kleinen Schachtel daneben befanden sich verschiedenste Kapseln. Sie brauchte einen Moment, bis sie ihre Lieblingssorte gefunden hatte. Café-au-lait. Während das Gerät unter einem lauten Zischen zu arbeiten begann, begutachtete sie weiter ihre Umgebung. Unzählige Menschen eilten an ihr vorbei und verschwanden hinter ebenso vielen Türen. Einige hatten Aktentaschen bei sich, andere ein paar Briefumschläge und wieder andere einen mobilen Computer, von dem sie zu keiner Zeit ihre Augen ließen. Nelly fragte sich, wie es möglich war, dass alle ohne schmerzhafte Zusammenstöße an ihr Ziel gelangten. Eine Frau kämpfte sich aus dem Menschenstrom und kam schnellen Schrittes auf sie zugeeilt.

Die ersten Sekunden sind entscheidend, dachte Nelly und setzte ihr freundlichstes Lächeln auf.

»Na, zickst du mal wieder rum?« Nelly war kurz verwirrt, ehe sie registrierte, dass die Frau gar nicht sie, sondern den Kaffevollautomaten gemeint hatte, an dessen linker Seite ein blauer Knopf aufleuchtete. Nelly wurde rot. Sie hatte das Wasser vergessen. Mit zwei schnellen Handgriffen füllte sie den leeren Behälter am angrenzenden Waschbecken und fragte die Frau schuldbewusst nach ihrer Lieblingssorte.

»Espresso bitte. Du, hast du den Chef heute schon gesehen?« Nelly schüttelte den Kopf.

Carlo William Summerbild, Nachfolger seines berühmten Vaters William Summerbild und aktuell der heiß begehrteste Junggeselle ganz New Yorks. Nein, den hätte sie bestimmt sofort erkannt. Wieso wollte diese Frau das ausgerechnet von ihr wissen? Ein Geruch von aufgebrühtem Kaffee umhüllte die beiden Frauen und Nelly dachte weiter über ihren möglichen Chef nach. Es gab keinen Tag, an dem nichts über Carlo Summerbild in den Zeitungen stand oder an dem keine Gerüchte über seine unzähligen Frauengeschichten im Internet kursierten. Eine Woche nach seinem Einstand bei Summerbild-Enterprises hatte die Times eine dreißigseitige Sonderausgabe herausgebracht, in dem sie die Zukunft des Konzerns unter der neuen Führungsregie in Frage stellte und hatte dabei alle möglichen schmutzigen Details über Carlo Summerbild ausgegraben. Nelly hatte den Artikel nicht gelesen. Sie wollte sich lieber ein eigenes Bild von ihrem möglichen Chef machen und ihr Urteilsvermögen nicht von wilden Spekulationen leiten lassen. Ohnehin hatte in der Ausschreibung nichts davon gestanden, dass sie als angehende Praktikantin Carlo Summerbild überhaupt zu Gesicht bekam. Der zuständige Personalchef hatte Thomas Swington geheißen.

Vielleicht ist Swington krank und der Chef springt persönlich ein. Angesichts der hohen Angestelltenzahl und dem Umfang, den das Unternehmen besaß, konnte Nelly sich das aber kaum vorstellen. Sie sprach die Frau darauf an.

»Oh. Süße. Es tut mir furchtbar leid, aber dann habe ich dich verwechselt. Mit deinen roten Haaren siehst du Mary Hastingson verdammt ähnlich. Außer die Brille. Das hätte mir auffallen müssen.« Sie angelte sich geschickt ihre Espressotasse und stöckelte zurück in die Menschenwand. Nelly war schockiert, dass die Frau sie mit ihrer Kollegin verwechselt hatte. Selbst in den Hörsälen an der Detroit University hatte sie die meisten Gesichter ihrem Studienfach zuordnen können.

Nelly griff nach ihrem Café-au-lait und hatte alle Mühe das heiße Glas in ihrer Hand zu halten. Sie steuerte in die Gegenrichtung und wurde bald von dem ständig fließenden Menschenstrom mitgerissen. Immer wieder reckte sie ihren Kopf in die Höhe, um irgendwo das Schild mit dem Wort Anmeldung auszumachen. Doch ihre Augen fanden nur die weißen Wände, Decken und die Reihe an Bürotüren auf der rechten Seite. Dreimal versuchte sie einzelne Personen neben sich anzusprechen. Doch keiner beachtete sie, stattdessen starrten die Leute einfach geradeaus und taten so, als hätten sie nichts gehört.

Was ist an einer einzigen Frage denn so schlimm? Habt ihr noch nie nach dem Weg gefragt? Sie wurde allmählich wütend und kämpfte mit ihrem Café-au-lait, der von dem ganzen Geschubse gefährlich hin und her schwappte. Endlich machten die Wände um sie herum einen großzügigen Knick und die Menschenmenge entwich von ihr. Nelly atmete einmal tief durch und nahm einen großzügigen Schluck aus dem Glas. Der Café-au-lait schmeckte wie Seifenwasser und sie verzog angewidert das Gesicht.

Hoffentlich erfüllt wenigstens das Koffein seine Wirkung. Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass sie noch eine Viertelstunde Zeit hatte, sich bei Herrn Swington einzufinden. Sie war vorsorglich früher losgezogen, doch mit einem solchen Menschenaufkommen hatte sie nicht gerettet. Summerbild-Enterprises machte für sie den Eindruck einer wahren Touristenattraktion, die alle anzog, wie ein Übermagnet.

»Die Ausgabe muss heute Abend in den Druck. Ist das Glossar fertig, Kessy?« Eine hohe Frauenstimme erklang neben ihrem Ohr und Nelly hätte fast befürchtet, wieder verwechselt zu werden, wenn die Frau nicht ihren Kopf von ihr abgewandt hätte.

»Ich hoffe es. Michael hat mir noch keine Rückmeldung gegeben. Die Fotostrecke ist auch noch nicht fertig.« Eine andere Frauenstimme antwortete und Nelly wand neugierig den Kopf zur Seite, um ihr Gesicht auszumachen. Auch diese hatte die Haare hoch gesteckt, wie die Frau von vorhin aus dem Fahrstuhl und steckte in nicht minder eleganter Kleidung. Nelly verfolgte ein paar Meter das Gespräch der beiden Kolleginnen. Noch heute Abend würde die Oktoberausgabe des Summerbild-Magazine rausgehen und in zwei Tagen in den Regalen der Zeitungshändler ausliegen. Ehe Nelly sich versah, befand sie sich vor einem weiteren Fahrstuhl. Sie hoffte inständig, dass sie oben endlich fündig wurde und stieg optimistisch in das enge Gefährt. Die Fahrt verlief in keinster Weise anders, als die erste. Jeder war in seine Gedanken versunken und gab keinen Ton von sich. Nelly fühlte sich jedoch weniger beengt, da nicht allzu viele Leute in das 26. Obergeschoss fahren wollten.

***

Die geöffneten Fahrstuhltüren offenbarten diesmal nur einen langgezogenen Gang, den Nelly schnellen Schrittes folgte, da ihr die Zeit allmählich mehr und mehr im Nacken saß. Im Gegensatz zu unten waren auf den ersten Metern keine Fenster in die Wände eingelassen.

Vielleicht finden hier die aktuellen Besprechungen und Shootings statt, von denen niemand etwas mitbekommen soll, ging es Nelly durch den Kopf. Oder die neuen Angestellten werden vor den neugierigen Blicken ihrer Kollegen geschützt. Sie hoffte auf letzteres.

Am Ende des Ganges angekommen, war Nelly kein bisschen schlauer. Vor ihr befanden sich zwei geschlossene Türen. Informations- oder Namensschilder gab es keine. Sie fühlte sich wie in einem Labyrinth gefangen. Wohl oder übel musste sie doch eine dieser Arbeitsmaschinen ansprechen. Doch, als sie sich umsah, stellte sie fest, dass sie ganz alleine war. Missmutig wollte sie sich Richtung Fahrstuhl drehen, als vor ihr eine der beiden Türen aufging. Nelly fuhr erschrocken zusammen. Ihrem Gegenüber erging es nicht anders. Es handelte sich um eine ältere Frau mit grauen Haaren, die in einem strengen Knoten mündeten. Vor Schreck waren ihr zwei dicke Aktenordner aus der Hand gefallen, aus denen sich ein paar Blatt Papier gelöst hatten.

»Was machen Sie hier?«, wurde Nelly angeblafft, während die Frau sich nach den beiden Ordnern bückte. Dabei gab sie den Blick hinter sich frei. Ein dunkel eingerichtetes Büro erstreckte sich vor Nelly. In der Mitte stand ein gewaltiger Schreibtisch, auf dem sich mehrere Monitore reihten. Vor einem von ihnen konnte sie die Silhouette eines Mannes ausmachen , dessen Kopf auf beiden Armen gebettet auf der großen Schreibtischplatte ruhte und sich gleichmäßig im Einklang seiner Atemzüge hob und senkte. Ehe sie weitere Einzelheiten ausmachen konnte, versperrte ihr die Alte mit einer wütenden Miene die Sicht.

»Und nochmal. Was-wollen-Sie-hier?«

»Ich bin wegen der freien Praktikantenstelle hier«, stammelte Nelly und sah, wie sich die Gesichtszüge der Frau ein wenig entspannten.

»Dann haben Sie sich sicher verlaufen.« Nelly nickte kleinlich und kam sich total unfähig vor, dass sie nicht einmal in der Lage war irgendwelche Schilder zu lesen oder von vornherein herauszusuchen, wo sich die Anmeldung befand.

»Kommen Sie. Ich zeige Ihnen den Weg.«


Kapitel 2

Carlo Summerbild gab ein leises Grunzen von sich und versuchte mit seiner rechten Wange eine weichere Stelle auf seinem Unterarm zu finden. Verschwommen nahm er ein paar Stimmen im Hintergrund wahr, doch er wollte sich jetzt nicht darauf konzentrieren. Eigentlich wollte er sich auf nichts konzentrieren. Er wollte einfach nur schlafen. Und er wollte, dass die Kopfschmerzen endlich verschwanden. Die erste Tablette, die Marguerite ihm verabreicht hatte, hatte keine Wirkung gezeigt. In seinem Kopf herrschte Krieg und zwar einer, in dem Atombomben zum Einsatz kamen. Seine Adern pochten so stark gegen seine Schläfen, dass er Angst hatte, dieser könnte jeden Moment explodieren. Dabei hatte er die gleiche Menge wie immer genommen.

»Ich bin gleich wieder da.« Marguerites Stimme löste einen stechenden Schmerz hinter seiner Stirn aus und Carlos brachte nur ein benommenes Murmeln zustande. Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss und ließ ein riesiges Echo durch seinen Körper fahren, das gefühlt von jeder Stelle seines Kopfes wiederhallte.

Enttäusche mich nicht. Das Gesicht seines Vaters erschien vor ihm. Von tiefen Falten durchzogen, aber mit hellwachen, braunen Kugelaugen, die ihn drohend anstierten. Carlos spürte, wie er sich unter dem Blick seines Vaters auf dem Schreibtisch wand.

»Ich kann das schaffen«, sprach er sich selber zu, nur um im nächsten Moment von einer Gegenstimme in seinem Gehirn niedergemacht zu werden, wie ein wehrloses Insekt.

Du wirst mein Erbe in den Ruin treiben und alles zerstören, was ich jahrelang aufgebaut habe. Ich kann das nicht mehr länger mit ansehen. Die Standpauke von William Summerbild war keine zwei Tage her und hallte noch immer dermaßen nach, als hätte er die Worte gerade eben zu ihm gesprochen. Sein Vater hatte ihm ein Ultimatum gestellt. Würde er bis Ende des Jahres keine anständigen Zahlen auf das Papier bringen, wäre er die längste Zeit Geschäftsführer von Summerbild-Enterprises gewesen. Es war Anfang September und es lagen noch vier Monate vor ihm, die über alles entscheiden konnten. Hundertzwanzig Tage, von denen jeder einzelne zählte. Er musste sich etwas einfallen lassen, seinen Kostenplan überdenken und vom chinesischen Produktionsmarkt zurückrudern. Dabei hatte anfangs alles so leicht ausgesehen. Ständiges Essen gehen mit Geschäftspartnern aus aller Welt, wobei er fast nie bezahlte. Dazu wunderschöne Models, die beinahe jedes Mal dabei waren und von denen nicht wenige das Restaurant in seiner Begleitung wieder verließen. Die Geschäftsleute hingegen waren mit dicken Umschlägen voller Geld zurückgeblieben und hatten dieses anschließend sicher irgendwo angelegt. Doch nicht nur die letzten Bilanzen hatten gezeigt, dass sein ausschweifender Lebensstil das Geschäft schädigte. Auch einige seiner wichtigsten Mitarbeiter waren abgesprungen. Darunter seine engste Vertraute Sylta Bergman, persönliche Assistentin und Geliebte gleichermaßen. Der Gedanke an Sylta verstärkte seine Schmerzen. Das Letzte, an dass er sich von ihr erinnern konnte, war ihr angewiderter Gesichtsausdruck, als sie ihn zugedröhnt auf dem großen Tigerkopfteppich in seinem Büro gefunden hatte, eine leere Dose Amphetamin in den Händen. Am nächsten Morgen hatte ihre Kündigung auf seinem Tisch gelegen. In den zwei Wochen danach hatte er sich zusammengerissen, keinen seiner Lieferanten kontaktiert und den größten Teil seines Vorrats im Klo herunter gespült. Doch für den kalten Entzug war im Moment ein denkbar schlechter Zeitpunkt. So hatte er Silvio zurückgerufen und für den nächsten Tag drei Pakete in sein Büro geordert. Sein Handy vibrierte irgendwo und Carlo drückte seinen Kopf noch fester auf die Arme. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten. Er fühlte sich erschöpft, ausgelaugt und seine Muskeln schmerzten.

Wie soll ich hier je wieder vom Schreibtisch hochkommen? Er war motivationslos und hatte keinen Plan, ob er heute in der Lage sein würde, einen anständigen Arbeitstag hinter sich zu bringen. Seit drei Tagen war er kontinuierlich in seinem Büro gewesen, hatte sich durch aktuelle Marktberichte gekämpft, mit Thomas über die Personalpolitik gestritten und war dabei alle paar Stunden auf dem Klo verschwunden, um sich eine neue Dosis Speed zu verabreichen. Anders hätte er die Zeit nicht durchgestanden. Sie rannte ihm davon, entglitt seinen Fingern wie ein Wassertropfen, den der Wind mit sich riss. An Schlaf war nicht zu denken gewesen. Er hatte zwei Nächte durchgemacht. Marguerite hatte ihm ab und dann etwas zu Essen auf den Schreibtisch gestellt und war mit dem immer gleichen missbilligenden Gesichtsausdruck aus dem Büro gewandert. Seit Sylta sich davon gemacht hatte, nahm sie provisorisch die Stellung seiner persönlichen Assistentin ein. Marguerite Havering war als Buchhalterin bei Summerbild-Enterprises angefangen und nach und nach zur engsten Vertrauten seines Vaters avanciert. In den letzten zwei Jahren musste etwas zwischen beiden vorgefallen sein. Denn Marguerite ging zurück in die Buchhaltung und sein Vater holte sich eine andere Bezugsperson und hatte sich vor ca. einem Jahr in den Ruhestand verabschiedet. Marguerite war geblieben, auch wenn sie vom Alter her locker mit seinem Vater zusammen hätte Summerbild-Enterprises verlassen können. Aber Carlo wollte sich nicht über irgendwelche Spekulationen den Kopf zerbrechen. Er war quasi in der Firma aufgewachsen und Marguerite war beinahe wie eine Ziehmutter für ihn gewesen. Seine echte Mutter war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als er fünf Jahre alt war. Dementsprechend konnte er sich kaum an sie erinnern und sein Vater tat so, als hätte es sie nie gegeben. Er wich aus, wenn er ihn auf seine Mutter ansprach oder ließ ihn kommentarlos sitzen. Irgendwann hatte Carlo es aufgegeben, mehr über seine Mutter zu erfahren und sie war schließlich zu einem kleinen Erinnerungsfetzen geschrumpft, der seiner Vergangenheit angehörte. Marguerite Havering dagegen war zu seinem Glücksfall geworden. Sie schwieg wie ein Grab und so konnte Carlo weiterhin tun und lassen, was er wollte, ohne dass sein Vater irgendwie davon Wind bekam.

Das Handy vibrierte ein zweites Mal und ließ die gesamte Schreibtischplatte wackeln. Vor seinen Augen drehte sich alles, als er langsam den Kopf in die Höhe reckte. Carlos Blick war verschwommen und er musste einige Male heftig blinzeln, ehe er das schwarze Telefon neben einer abgestandenen Tasse Kaffee ausmachen konnte. Die Uhr auf dem Display zeigte an, dass es kurz nach halb sieben war. Das grelle Licht brannte dermaßen in seinen Augen, dass er nicht verhindern konnte, wie ein paar Tränen ihren Weg über seine Wangen fanden. WhatsApp zeigte ihm dreihundertfünfzehn neue Nachrichten an. Er legte das Handy zurück auf den Schreibtisch und erhob sie mühsam aus seinem Sessel. Seine Beine gaben kurz nach und er musste sich an der Tischkante festkrallen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, streckte er seinen Rücken durch. Einige Knochen knackten und das Geräusch hinterließ eine leichte Gänsehaut auf seinen gebräunten Unterarmen.

Carlo torkelte in das angrenzende Badezimmer und klatschte sich eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht, in der Hoffnung er würde davon ein wenig wacher werden. Der Anblick im Spiegel war grauenhaft. Unter seinen Augen hatten sich dunkelviolette Äderchen gebildet, die seinem Gesicht den Anschein gaben, er wäre zusammengeschlagen worden. Seine Wimpern waren verklebt und er nahm sich eines der Abschminktücher aus dem Behälter und wischte sich ein paar Mal darüber. Sein Bart hatte die Bezeichnung Drei-Tage-Bart nicht mehr verdient. An einigen Stellen sprießte das Haar vor sich hin, als wenn es kein Halten gab. Anderswo herrschte pure Kargheit. Er sah aus wie ein Flickenteppich.

Bevor er nach dem Rasierer in der Schublade griff, holte er eine weiße Dose aus dem Spiegelschrank.

Zweimal am Tag und du fühlst dich wie Gott. Bei der letzten Lieferung hatte er Sergio nach einer stärkeren Dosierung gefragt, denn Carlo hatte zunehmend gespürt, dass ihn die Wirkung der Droge, der Rush und das anschließende High immer mehr kalt ließen. Stattdessen war er nachts in ein derartiges Tief gefallen, dass er sich immer öfter hatte schlafen legen müssen. Seine Arbeit hatte darunter gelitten, wie ein räudiger Hund. Und das war das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte.

Wenn dir Speed zu wenig ist, kann ich dir gerne eine Mischung Methamphetamin vorbeibringen. Nur zum ausprobieren. Bis jetzt hatte Carlo die Finger von der Dose gelassen, denn er kannte die Bilder der Methamphetaminabhängigen, die ihn aus ihren ausgemergelten Gesichtern von Plakaten und Flyern an vielen Straßenecken angafften. Andererseits konnte er sich nicht vorstellen, was Crystal schlimmeres mit seinem Körper anstellen sollte, wie seine Vorstufe das Speed, welches er seit einem halben Jahr unregelmäßig schnupfte. Er war nicht abhängig, konnte immer wieder auf das weiße Pulver verzichten und erst wieder darauf zurückgreifen, wenn die Monatsabschlüsse oder das Jahresende vor der Tür standen. Auch wenn es wie in diesem Fall noch vier Monate waren. Ein paar Überstunden mehr waren sicher mehr geschäftsfördernd, als geschäftsschädigend. Ohne weiter zu überlegen, griff er nach einem der Dollarscheine, die sich für den Fall der Fälle in seiner Hosentasche befanden. Er schüttete eine fingerspitzengroße Menge auf das zerknautschte Papier und rollte es anschließend mit geübten Handgriffen zusammen. In einem Zug zog er das Pulver durch die Nase. Seine Nasenwände versprühten ein angenehmes Kribbeln und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen griff Carlo nach dem Rasierer.


Kapitel 3

Die Frau hatte Nelly zurück zu den Fahrstühlen des 25. Stockwerkes begleitet und ihr mit einem Fingerzeig bedeutet, welchen der vielen Gänge sie nehmen musste. Ein Blick nach rechts hatte ihr ein riesiges, in Messing eingerahmtes Schild mit der Aufschrift Empfang gezeigt und ihr Gesicht rot anlaufen lassen. Sie konnte froh sein, dass es sich bei ihr nicht um Thomas Swington gehandelt hatte.

Mittlerweile war Nelly inmitten einer weiteren Menschenschlange gefangen, die in akkurater Form vor einem gigantischen Glaskasten ausharrte. Hinter den großen Scheiben konnte sie einige Männer ausmachen, die geschäftig hin und her eilten. Am Dach des Glaskastens blinkten in bestimmten Abständen grelle Nummern auf, woraufhin sich die Schlange ein wenig verkürzte. Geschlagene zwanzig Minuten verfolgte Nelly das Spektakel, ehe sie selber an der Reihe war.

»Name und Ausweis bitte.« Ohne von seinem Computer aufzublicken, hielt ihr ein Schwarzhaariger fordernd seine große Handfläche entgegen. Da Nelly keine Ahnung gehabt hatte, sich hier ausweisen zu müssen, brauchte sie einen Moment, ehe sie die abgenutzte Plastikkarte in einer der Innentaschen ihrer Aktentasche fand.

»Bitteschön.«

»Und Ihren Namen bitte.« Der Mann blickte einen Moment von seinem Bildschirm hoch, nur um sie mit einem genervten Blick zu strafen.

»Ähm, Nelly Rhodes«, stammelte sie.

»Na, also geht doch. Raum dreizehn bitte.« Ohne weiter auf sie einzugehen, klickte der Mann auf seinem Computer herum und Nelly folgte einer schmalen Schleuse, die sie direkt vor eine Vielzahl von offenen Türen brachte. Im Hintergrund vernahm sie, wie eine Computerstimme die Zahl dreizehn wiederholte. Wahrscheinlich blinkte sie im selben Moment an der Anzeige auf, die Nelly nicht mehr sehen konnte. Oberhalb der Türrahmen waren ebenfalls Zettel mit Nummern angebracht. Die dreizehn fand sich an einer Kreuzung zwischen zwei breiten Korridoren. Auch hier waren die Wände in sterilem Weiß gehalten und strahlten eine unheimliche Kälte aus, die Nelly überhaupt nicht mit den farbenfrohen Kleidern der aktuellen Summerbild-Kollektion in Verbindung bringen konnte.


Raum dreizehn selbst kam ihr vor wie ein Wartezimmer. An die Wände waren mehrere Korbstühle gelehnt, auf denen sich eine ausgeglichene Anzahl an jungen Männern und Frauen niedergelassen hatte. In der linken Ecke stand ein Kaffeevollautomat und ein Tisch mit Zeitschriften. Nelly flüsterte ein freundliches »Guten Morgen« und war überrascht, dass ihr ein paar wenige Stimmen antworteten. Mit zwei großen Ausfallschritten war sie an einem der noch freien Plätze angelangt. Der Stuhl war bequem und gab ein lautes Knistern von sich, als Nelly sich setzte. Sofort waren alle Augen auf sie gerichtet. Doch als sie versuchte einem ihrer Beobachter ins Gesicht zu blicken, senkte dieser ertappt den Blick und verschwand hinter den Seiten einer Tageszeitung.

Als hätte der Stuhl bei dir keinen Mucks von sich gegeben. Nelly funkelte den Mann und die Seiten seiner Zeitung noch einen Moment lang an, ehe sie ihre Beine übereinander schlang und begann, mit ihren Fingern an den Rand ihres Glases zu trommeln. Mit beiden Augen visierte sie die Schuhspitzen ihrer neuen Stiefel und stellte verärgert fest, das sich bei dem linken bereits einige Kratzer in das braune Leder gefressen hatten. Sie hatte ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, denn ihre alten waren nicht mehr Vorstellungsgespräch-würdig gewesen. Mit einem Knoten im Bauch erinnerte sie sich an die Rechnungen und Mahnungen, die sich auf ihrem Küchentisch stapelten. Mit der Wohnungsmiete war sie mittlerweile zwei Monate in Verzug, obwohl sie erst vor sechs Monaten von Detroit nach New York gezogen war. Ihr stand das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals. Ihre Eltern hatten ihr den Geldhahn zugedreht und gedroht, ihr erst wieder einen Cent zu schicken, wenn sie eine feste Anstellung hatte oder zurück nach Hause kam. Letzteres wollte sie auf keinen Fall. Sie war die abgebröckelten Hausfassaden und die unbändige Armut satt, die ihr dort beinahe an jeder Straßenecke begegneten. Die großen Automobilkonzerne hatten sich schon vor Jahren verabschiedet und einen Ort gesucht, an dem ihr Geschäft wieder lukrativ wurde. Auch mehr und mehr von Nellys Freunden hatten ihrer Heimat den Rücken gekehrt, in der Hoffnung irgendwo anders ihr finanzielles Glück zu finden. Von den meisten hatte sie nie wieder etwas gehört. Lediglich Lukas Benston, ein Junge aus ihrer Nachbarschaft, der sich als Promoter in Los Angeles hatte durchschlagen wollen, hatte sich wieder blicken lassen. Nach einem Jahr war er zurückgekehrt und hatte jeden davor gewarnt, sich auch nur in die Nähe des schönen Scheins Hollywoods zu wagen.

Nelly konzentrierte sich wieder auf die Leute im Wartezimmer. Die meisten hatten wie sie eben, den Blick nach unten gerichtet. Eine Frau links von ihr, sah der akkuraten Dame aus dem Fahrstuhl erschreckend ähnlich. Leider war sie zu tief in ihr Handy vertieft. An der Kleidung alleine konnte sie sie nicht von den anderen hier anwesenden weiblichen Geschöpfen unterscheiden. Sie trugen beinahe alle das gleiche und in Nelly keimte ein wenig Panik auf, dass sie überlesen hatte, dass bei Summerbild-Enterprises eine Kleiderordnung vorgeschrieben wurde.

Deine Chancen gehen gegen Null.

Bevor Nelly einer Panikattacke verfiel, erschien einer der Glaskastenmänner im Türrahmen, ein Klemmbrett unter den Arm geklemmt. Er rief nach der Reihe die Namen aller Anwesenden auf, die ihm mit einem Handzeichen ihre Bestätigung gaben. Nelly, tat es ihnen gleich, als sie an die Reihe kam. Bei der vermeintlichen Frau aus dem Fahrstuhl handelte es sich um Laura Smith.

»Wir fangen in wenigen Augenblicken mit dem ersten Teil des Tests an. Ich bitte Sie, mir zu folgen.«

Ein Test? Nelly verstand gar nichts mehr. Sie suchte Bestätigung und blickte sich nach ebenso fragenden Gesichtern um, wie sie selbst eines hatte. Jedoch blickten alle allwissend drein und sprangen förmlich aus ihren Stühlen, um ihrem Anführer zu folgen. Sie hatte mit einem Gespräch gerechnet und sich auf die üblichen Fragen vorbereitet, denen man bei so einer Unterhaltung ausgesetzt war.

Warum haben Sie beschlossen ihr Praktikum ausgerechnet bei uns anzufangen? Wie haben sie von der freien Stelle erfahren? Könnten Sie sich eine Zukunft in dem Berufsfeld vorstellen?... Und jetzt sollte sie einen Test schreiben. Wir sind doch nicht mehr in der Schule.

Sie beeilte sich, der aufgebrochenen Horde zu folgen und hatte alle Mühe sich auf ihren neuen Stiefeln zu halten, die nicht nur Kratzer, sondern auch eine beachtliche Höhe von zwölf Zentimetern auswiesen.

Tatsächlich wurde jedem von ihnen ein Platz in einem großen Konferenzraum zugewiesen. Nelly überraschte es nicht, dass auch hier die Wände einheitlich weiß gestrichen waren.

»Der erste Teil wird etwa eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Danach haben Sie zehn Minuten Pause, ehe es mit Teil zwei weitergeht.« Der Mann hatte sich vorne im Raum postiert, wie ein stolzer König, der seinem Volk eine mitreißende Rede vorhielt. Nelly kramte einen billigen Plastikkugelschreiber aus ihrer Tasche und bettelte ihn an, sie den Rest des Tages nicht im Stich zu lassen. Ihre Nervosität wuchs und hinterließ einen leichten Schweißfilm unterhalb ihres Haaransatzes. Sie hasste es, unvorbereitet zu sein.

Jetzt nur nicht durchdrehen. Du schaffst das. Um ihre Worte zu untermauern, klopfte sie dreimal auf die Tischplatte. Ein Ritual, das sie schon in der Schule bei nahezu jeder Klausur praktiziert hatte. Sie hatte nur nicht geahnt, dass sie es je wieder anwenden musste.

Zu dem Mann im Vordergrund hatte sich ein weiterer gesellt, der einen Stapel Papier entgegennahm und sich daran machte, jeweils ein Exemplar auf den Tischen zu verteilen. Die Seiten wurden von einer Heftklammer zusammengehalten und Nelly konnte sich kaum vorstellen, dass sie den Stapel in einer halben Stunden komplett durchackern würde.

»Wenn jemand nicht bereit für den Test sein sollte, so hebe er kurz die Hand.« Mit einem wachsamen Blick wartete der Mann auf eine Antwort. Als keine kam, gab er das Zeichen zum Start.

***

Nelly hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit einfachsten Mathematikaufgaben. Dank ihres Studiums war sie der Zahlenwelt weiterhin treu geblieben und so war es für sie ein leichtes, die Prozentrechnungen und die Bruch- und Wahrscheinlichkeitsaufgaben zu lösen. Zum Ende der dreißig Minuten überkam sie ein Hochgefühl, als eine Frau neben ihr verzweifelt nach einem Taschenrechner fragte. Aus ihrer perfekten Frisuren hatten sich unzählige Strähnen gelöst, die sie aussehen ließen wie einen Strauchdieb. Und die Frau war nicht die Einzige, die mit den Aufgaben zu kämpfen hatte. Ein Mann aus der hintersten Reihe hatte vorzeitig abgegeben und mit einem hochroten Kopf den Raum verlassen. Nelly konnte ihr Glück kaum fassen.

***

Die Pause verging wie im Flug. Im zweiten Teil erwartete sie eine Aufgabe aus der Rubrik der Analysis. Inzwischen hatte sich die Zahl der Abbrechenden auf sechs erhöht. Auf die fünfzehn Warteräume verteilt, waren das 90 Konkurrenten weniger. Um nicht allzu euphorisch zu werden, verzichtete Nelly in der zweiten Pause auf einen weiteren Café-au-lait. Stattdessen suchte sie eine der hoch modernen Toiletten auf und konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen, als sie beim Händewaschen einen Blick in den Spiegel warf. Der Schweißfilm auf ihrer Stirn war verschwunden und ihre mit kleinen Sommersprossen besprenkelten Wangen glühten um die Wette.

Teil drei stellte sie ebenfalls vor keine große Herausforderung. Einer der beiden Männer diktierte ihnen einen ca. eine Seite langen Text mit Fremdwörtern und Vokabeln aus der Modebranche. Bei letzteren hatte Nelly etwas mehr zu kämpfen, war aber froh darüber, dass sie ab und zu ein paar Modemagazine las, wenn sie beim Arzt wartete oder auf der Arbeit nicht allzu viel zu tun war. Anschließend trug derjenige, der sie in den Konferenzraum geführt hatte, eine kurze Abschlussrede, in dem er alle Teilnehmer noch einmal bat, sich eine Stunde lang zurück in die Warteräume zu begeben. Im Anschluss würde das Ergebnis verkündet werden und die besten drei aus jeder Gruppe sollten sich am nächsten Morgen ebenfalls um 6.30 Uhr zum Vorstellungsgespräch einfinden. Das Warten war eine Qual. Nelly kam sich vor wie ein kleines Kind an Weihnachten, so aufgeregt war sie. Da sie kein Glas zur Verfügung hatte, trommelte sie mit beiden Händen auf den Armlehnen des Stuhls und summte dabei die Melodie von I have a dream von ABBA. Keiner nahm ihr ihr Verhalten übel, was Nelly noch mehr freute. Gegenüber von ihr feilte sich Laura Smith die Fingernägel und strahlte dabei eine solche Gelassenheit aus, dass Nelly sich sicher war, sie würde unter den ersten dreien landen.

***

Gegen zehn Uhr kam der Mann mit dem Klemmbrett zurück und las die Ergebnisse vor.

»Ich darf Laura Smith, Timothy Brewster und Nelly Rhodes zur Erreichung ihrer ersten Hürde im Summerbild-Enterprises-Einstellungsverfahren gratulieren. Sie finden sich bitte morgen pünktlich zur besagten Zeit vor dem Büro von Herrn Swington ein. Allen anderen wünsche ich bei ihrem weiteren Werdegang alles Gute.« Mit einem halbherzigen Lächeln auf den Lippen eilte er Richtung Glaskasten davon.

»Yes!« Nelly boxte selbstsicher ihre Faust in die Höhe.

Ich hab es geschafft. Ich hab es geschafft. Ich hab es geschafft. Am liebsten hätte sie einen Freudentanz aufgeführt, doch sie zügelte sich im letzten Moment, um diejenigen nicht noch mehr zu kränken, die es nicht geschafft hatten und einer nach dem anderen den Raum mit einer emotionslosen Maske auf dem Gesicht verließen.

»Nana, meine Liebe. Ich würde mich nicht zu früh freuen. Was ist das Bestehen des Tests im Vergleich zu einem überzeugenden Gespräch bei Mister Swington?« Laura Smith hatte sich an sie gewandt. Ihre Stimme war unnatürlich schrill und Nelly stellte fest, dass es sich bei ihr tatsächlich um die Frau aus dem Fahrstuhl handelte. Im direkten Angesicht waren ihre Augen sogar noch schwärzer, als es heute Früh den Anschein gehabt hatte. Sie wertete Nelly abschätzig von Kopf bis Fuß. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war ihr Ergebnis sehr zufriedenstellend, denn sie grinste überheblich. Zeitgleich ließ sie den Verschluss ihrer Tasche ins Schloss fallen und stolzierte danach aus dem Raum. Mit einer einzigen Frage hatte sie Nelly von ihrem hohen Ross gerissen. Und sie musste sich eingestehen. Laura Smith hatte recht. Was war dieser Test, im Vergleich zu einem persönlichen Gespräch, bei dem man nur durch Worte und Aussehen punkten konnte?

Du hast noch gar nichts erreicht, schalt sie sich und machte sich auf den Rückweg zu den Fahrstühlen.

Wie in Zeitlupe ratterte der Fahrtstuhl die Stockwerken nach unten. Nelly stellte fest, dass sie alle beschriftet waren. Ihr Blick wanderte neugierig nach oben zur 26. Etage. Geschäftsführung stand in großen Lettern daneben und war doppelt unterstrichen. War der schlafende Mann auf dem Schreibtisch etwa Carlo Summerbild gewesen? Das konnte nicht sein. Ein Geschäftsführer schlief nicht am Schreibtisch. Er war unablässig am Telefon, empfing Geschäftsleute und arbeitete abertausende Mails an seinem Computer ab. Schlafen im Büro zählte definitiv nicht zu seinem Aufgabenbereich.

Vor der riesigen Glasfassade des Gebäudes von Summerbild-Enterprises empfing Nelly ein ungemütlicher Herbsttag auf der 5th Avenue. Der Wind trug feuchte Luft vom angrenzenden Harlem River herüber und ließ sie unweigerlich frösteln. Sie musste ihre Schicht für heute Abend absagen und hatte noch einen halben Tag Zeit, sich erneut auf das Gespräch mit Thomas Swington vorzubereiten.

Kapitel 4

Etwa eine halbe Stunde lang hatte sich Carlo noch mit den grässlichen Kopfschmerzen herumschlagen müssen, ehe ihn beinahe schlagartig eine Welle der Euphorie gepackt und mit sich gerissen hatte. Seit dem Campieren in seinem Büro war er erstmals wieder in der Lage gewesen, das gesamte Frühstück aufzuessen, dass ihm Marguerite auf die Schreibtischplatte gestellt hatte. Er genoss den bitteren Geschmack von aufgebrühtem Kaffee und hatte sich sogleich an die Abarbeitung seines Terminkalenders gemacht.

Bis zur Mittagspause hatte er einen französischen Stofflieferanten und eine kanadische Kosmetikmarke auf die Seite von Summerbild-Enterprises gezogen und den Geruch nach frisch gedrucktem Geld förmlich riechen können. Für nächste Woche hatte er zudem zwei Meetings mit dem Vorstand angeordnet, bei denen er die Pläne für die letzten Monate des Jahres darlegen wollte. Anschließend war er den gesamten Nachmittag über in den üblichen Formalitäten abgetaucht, die einem als Geschäftsführer eines Megakonzerns zuteilwurden und hatte gegen neunzehn Uhr erstmals sein Büro wieder verlassen. Auf dem Weg zum Fahrstuhl hatte er Thomas angerufen und so lange auf seinen besten Freund und engsten Mitarbeiter eingeredet, bis dieser sich schließlich geschlagen gab und ihm zusagte, sich mit ihm gegen neun im Penrose, einer angesagten Stadtbar, zu treffen.

Carlo machte vorher einen kurzen Abstecher in seine Penthousewohnung, die sich nur unweit von Summerbild Enterprises an der Ecke zur Madison Avenue befand. Aus seinem Schlafzimmerfenster hatte er einen fantastischen Blick auf den angrenzenden Central Park, in dem man unzählige Bäume mit bunten Laternen geschmückt hatte, obwohl sie in ihren bunten Laubkleidern bereits um die Wette strahlten. Aber auch an grauen und kalten Tagen wie diesem, konnte es sich New York nicht leisten, ein trostloses Bild vor seinen Bewohnern und den Touristen abzugeben.

In Windeseile hatte Carlo den maßgeschneiderten Anzug abgelegt und zu den mindestens zehn weiteren identisch aussehenden Exemplaren in seinen Schrank gehängt. Er nahm eine kalte Dusche, schlüpfte in eine bequeme Jeans und stülpte sich ein dunkelblaues Polohemd über. Beim Verlassen seiner Wohnung griff er nach seiner Lieblingslederjacke, die er bei einem Italienurlaub vor drei Jahren erstanden hatte. Er hatte damals sein ganzes Erspartes für das handgefertigte Stück hinlegen müssen und es fortan zu seinem treusten Begleiter auserkoren, wenn er nicht für Summerbild-Enterprises im Einsatz war.

***

Thomas wartete bereits auf ihn, als er mit vom Wind zerzausten Haaren durch die Eingangstür der Bar schritt. Carlo fuhr sich mit der Hand durchs Haar, um seine Mähne zu bändigen und ärgerte sich, nicht genug Haargel aufgetragen zu haben.

»Pünktlich auf die Minute«, begrüßte sein Freund ihn und klopfte einladend auf den freien Platz neben sich. Carlo überging die sarkastische Begrüßung und ignorierte, dass die Zeiger der großen Uhr über dem Tresen fast bei halb zehn angekommen waren. Stattdessen gab er dem Barkeeper ein Handzeichen. Dieser verstand augenblicklich, griff nach einem Glas und füllte in einem Schwung eine dunkle Flüssigkeit hinein. Guinness. Irisches Schwarzbier. Das Penrose war damals von zwei eingewanderten Iren gegründet worden und hatte sich mit der Zeit zu einem der meistbesuchten Barlounges der Stadt entwickelt. Mit steigender Gästezahl war auch die Auswahl an Getränken vielfältiger geworden. Carlo hatte nie mehr einen zweiten Blick auf die Liste geworfen. Er wusste, dass es sein Guinness gab und das reichte. Nicht das er ein besonderes Verhältnis zu dem Land hegte, Vorfahren oder Ähnliches. Nein, es war der unverkennbar bittere Geschmack des Stout, der ihn in seinen Bann gezogen hatte und es immer noch tat. Was der Martini für Bond war, war das Guinness für ihn.

Mit eiligen Schritten verließ der Mann an der Theke seinen Arbeitsplatz, kam auf ihren Tisch zugesteuert und stellte Carlo das Getränk vor die Nase, nicht ohne ihn dabei auf überhebliche Weise anzugrinsen. Sein Namensschild, das wie ein Verkaufsschild auf seiner Brust prangerte, verriet jedem seinen Namen. Huan. In Carlo erwachte eine leise Erinnerung, die den Namen mit dem südländischen Gesicht in Verbindung zu bringen versuchte. Doch ehe er sich in weiteren Einzelheiten verstrickte, ergriff Thomas das Wort.

»Wie bringst du das fertig?«

»Was soll ich fertig bringen? Dem Typen von der Bar ein Lächeln zu entlocken und ihm dann zu verstehen geben, dass ich nicht schwul bin?« Thomas musste lachen und Carlo traf die Erkenntnis wie ein Blitz, noch bevor er ganz zu Ende gesprochen hatte. Vor ein paar Tagen hatte er die Taschen seiner Lederjacke durchwühlt und dabei einen zerknüllten Kassenzettel des Penrose zu Tage gefördert. Huan hatte in fein säuberlicher Handschrift darauf gestanden, neben dem Namen eine Handynummer. Ihm war bei seinem Fund irgendein Geschäftspartner in den Sinn gekommen, aber nicht der schwule Barkeeper aus dem Penrose, der hier noch nicht allzu lange zu arbeiten schien. Klar, hatte er ihm auf Zack sein Getränk gebracht, aber die Lieblingsgetränke der Stammkunden hingen an einem schwarzem Brett neben den Weinregalen, wie ihm einer der Besitzer anvertraut hatte. Die übrige Anzahl der Angestellten war weiblicher Natur und entsprechend an den größtenteils männlichen Gästen ausgerichtet. Entweder man wollte durch Huan mehr Frauen in die Bar locken oder hatte festgestellt, dass auch die Bankiers und Firmenbosse nicht mehr nur an einem Ufer fischten.

Ebenfalls konnte sich Carlo nicht erinnern, Huan irgendwelche Hoffnungen gemacht zu haben, so absurd es in seinen Gedanken auch klang. Seine stets gebräunte Haut, die schokoladenbraunen Augen und das dichte schwarze Haar ließ neuerdings wohl nicht mehr nur Frauen schwach werden. Carlo, der sich seines ansprechenden Äußeren durchaus bewusst war, rang mit der Fassung, um nicht lauthals los zu prusten. Thomas bewahrte ihn mit einer weiteren Frage vor einem Lachanfall.

»Nein, du weißt was ich meine. Deine gelassene Art. Ich kenne niemanden, der um halb zehn noch so entspannt wirkt, wie du. Nicht nach einem Tag bei Summerbild-Enterprises. Habe ich da irgendwas verpasst?«

»Genau genommen sind es drei Tage.« Geschickt umging Carlo die eigentliche Frage. »Heute ist der erste, an dem ich wieder frische Luft geatmet hab und wieder unter Leuten bin, wenn man Marguerite und meine Gesprächspartner am Telefon mal außen vorlässt. « Thomas blickte ihn erstaunt an.

»Drei Tage?« Dann winkte er ab. Anscheinend hatte er keine Lust hinter Carlos Geschäftsgeheimnisse zu blicken, wusste sie bereits oder hatte Angst. Angst sein geordnetes Familienleben könnte auseinanderbrechen, wenn Carlo ihn wieder irgendwo mit reinzog. Er war seit zwei Jahren glücklich verheiratet, hatte eine kleine Tochter und eine Villa auf Long Island, wo sich auch das Familienanwesen der Summerbilds befand. Dennoch hafteten die wilden Partys, durchzechten Nächte, Frauengeschichten und Drogeneskapaden immer noch an ihm, wie ein altes verklebtes Pflaster und kamen dann zum Vorschein, wenn er mit Carlo unterwegs war. Die Treffen waren seltener geworden, aber es gab sie noch. Heute fand ein ebendieses statt. Wenn auch ohne Frauen, wummernde Bässe und Päckchen mit weißem Pulver, sondern mit einem kühlen Getränk auf dem Tisch und dem Gedanken endlich im Feierabend angekommen zu sein.

»Und was steht bei dir noch an?«, fragte Carlo und ließ die Eiswürfel in seinem Glas eine Runde Achterbahn fahren. Ohne sie war ihm das Guinness nicht erfrischend genug.

»Morgen muss ich mich erst mal mit den Praktikumsbewerbern rumschlagen.«

»Sind es wieder so viele?«

»Noch mehr. Malcolm musste heute sogar auf einen alten Einstellungstest zurückgreifen.«

»Wirklich?« Carlo beobachtete seinen Freund dabei, wie er die dritte Ecke seines Getränkeuntersetzers umknickte und fragte sie, ob das Penrose vorsorglich eine Packung nur für ihn bereit hielt, in dem sie die Exemplare aufbewahrte, die sowieso in den Müll konnten. Denn es war noch nie vorgekommen, dass sie den Laden ohne einen entzwei geteilten Untersetzer verlassen hatten.

»Wirklich. Und die Leute haben sich nicht mal beschwert, dass davon nichts in der Anzeige oder im Internet gestanden hatte.«

»Tja, das nenne ich persönliches Pech«, gab Carlo von sich und verschränkte beide Hände in seinem durchtrainierten Nacken. Was wollten die auch alle bei Summerbild-Enterprises? Wahrscheinlich war es schlichtweg der Drang nach Aufmerksamkeit oder die Gier nach Geld. Summerbild-Enterprises zahlte nicht schlecht und war wie jeder andere Großkonzern gezwungen, Praktikantenstellen auszuschreiben, um sich anschließend mit den neugierigen Schnüfflern herumschlagen zu müssen. Carlo war froh, dass er als Geschäftsführer von dem nervigen Pack verschont blieb und dachte genügsam an das Versprechen auf eine Übernahme, dass er Thomas unter die Stellenausschreibung hatte schreiben lassen. So sicherte er dem Unternehmen die Aufmerksamkeit, die ihm gebührte und die er für sich und seine Geschäfte brauchte. Bis jetzt hatte er nur einen nur einen einzigen der Praktikanten übernommen. Ein Strich in der Landschaft, dessen Gehirn aber ganz und gar nicht dünn beschichtet gewesen war. Er hatte als Laufbursche angefangen, war dann in das Technikteam aufgestiegen, welches die Modenschauen ausrichtete und war nach einem Jahr wegen unzureichendem Arbeitswillen wieder auf der Straße gelandet. Eine Verschwiegenheitserklärung in den zittrigen Händen haltend. Schlauheit war eben doch nicht alles.

»Immerhin sind wir dadurch Dreiviertel losgeworden. Das restliche Viertel werde ich morgen auf zehn verkürzen.« Als wäre sein letztes Wort irgendein Startsignal gewesen, knickte Thomas die Pappe in seinen Händen ein letztes Mal, bevor er sie grob entzwei riss.

Die beiden bestellten jeweils ein weiteres Bier, welches Huan ihnen mit einem ebenso fetten Grinsen auf dem Gesicht servierte.


Noch fetter und du bist ein billiger Enrique Iglesias-Abklatsch.

Huan verfügte selbstverständlich nicht über die Fähigkeit der Telepathie und wand sich unter einem überfreundlichen in spanischen Akzent getauchten »Wenn die Herren noch irgendwas wünschen, bin ich auf der Stelle bei Ihnen« zum gehen. Thomas und Carlo warfen sich ein breites Grinsen zu und stießen aufs Leben an. Anschließend tauschten sie sich über mehr oder weniger belangloses Zeug aus, ehe Carlo gegen Ende wieder auf das Geschäftliche zu sprechen kam.

»Ich habe heute zwei dicke Fische an Land gezogen«, berichtete er stolz und erinnerte sich, wie er Mr. Harnman von Lipoid Cosmetics mit einem eisigen »Ich hoffe, Sie wissen wie ihre Zukunft ohne Summerbild-Enterprises aussehen wird« zur Vernunft gebracht hatte. Alles was man als guter Geschäftsmann brauchte, waren Überzeugungskraft und Macht und von denen hatte er in diesem Moment mehr als genug besessen. Die Worte seines Vaters waren inzwischen nur noch ein behäbiges Rauschen, einem alten Radio gleich, welches zwar einen Sender, aber keinen Empfänger besaß. Carlo fühlte sich großartig, hätte Bäume ausreißen können, wenn es davon in New York nicht so wenig gegeben hätte. Im Central Park war ihm das Unterfangen nicht anonym genug, denn einer Schlagzeile als übergedrehter Holzfäller wollte er dann doch lieber aus dem Weg gehen.

»Glückwunsch.« Thomas klopfte mit der rechten Faust auf den Tisch, zwischen der eine Hälfte des Untersetzers hervor lugte. »Jetzt brauchst du nur noch eine neue persönliche Assistentin. Marguerite wird dein Vater wohl kaum dulden.« Carlo rechnete damit, dass er bei dem Gedanken an Sylta in das Stimmungsloch von heute Morgen zurückfiel, doch sein Inneres blieb komplett ruhig und er versicherte Thomas, sich in den nächsten Tagen um das Problem zu kümmern. Er hatte keine Ahnung, warum sein Vater so dermaßen auf eine rechte Hand des Geschäftsführers pochte, aber die leere Stelle zu besetzen war tatsächlich Teil seines Ultimatums gewesen und das hatte er bis Ende des Jahres zu erfüllen.

***

Gegen Mitternacht riefen die beiden nach der Bedienung, um zu bezahlen. Es handelte sich diesmal um eine Frau. Huan trocknete währenddessen Gläser ab und hielt Carlo auf, als er im Begriff war Thomas aus der Tür nach draußen zu folgen.

»Mr. Summerbild.«

»Was gibt es?« Carlo musste sich auf die Zunge beißen, damit kein gemeiner Spruch seinen Mund verließ.

»Das wurde für sie abgegeben.« Huan reichte ihm einen weißen Zettel und fügte mit flüsternder Stimme hinzu:»Von der dunkelhaarigen Dame in der Ecke.«

Carlo wand unauffällig den Kopf zur Seite. Tatsächlich saßen dort zwei Frauen am Tisch, die synchron von ihren Cocktails schlürften, als machten sie das nicht zum ersten Mal. Die Linke hatte ihre blonden Haare zu einem hohen Zopf gebunden, während die Frau neben ihr ihre braune Mähne in einem strengen Knoten versteckte. Ihre ebenfalls dunklen Augen trafen auf seine und aus der Ferne hatte es den Anschein, als würden sich ihre Mundwinkel verräterisch nach oben verziehen. Carlo nickte ihr kurz entgegen, las den Namen auf dem Zettel und folgte Thomas nach draußen.

»Kennst du eine Laura Smith?«, wollte er von ihm wissen und erntete ein Kopfschütteln.

»Ich auch nicht. Aber man kann ja nie wissen.« Er faltete das Papier und ließ es in einer der Taschen seiner Jacke verschwinden.

Kapitel 5

Nelly rannte eiligen Schrittes über die überfüllte 5th Avenue. Überall versperrten ihr Menschen den Weg und sie verhedderte sich mit einer Spitze ihres Regenschirms in den Haaren einer älteren Dame.

»Kindchen, was fällt dir ein? Ist das die neueste Methode, um alte Menschen auszurauben?«

»Nein, natürlich nicht. Es tut mir furchtbar leid«, versicherte Nelly ihr, während sie das metallene Ende ihres Schirms aus einer der vielen Haarnadeln fummelte. Der Regen setzte sich dankenswerterweise in ihrem Nacken ab und durchnässte ihren Blaser.

Der Tag kann ja gar nicht mehr besser werden. Eine Ewigkeit später hatte sie den Schirm wieder über dem Kopf und die alte Frau war mit einem durchwühlten Haarkneul an der linken Kopfseite zwischen den Passanten verschwunden. Es war kurz nach halb sieben. Dabei war Nelly sogar noch früher aufgebrochen als am gestrigen Tag. Eine ausgefallene U-Bahnlinie hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und nun kämpfte sie sich die Straßen entlang, während am Horizont ein dünner Streifen Licht den Tag ankündigte.

Die haben dich bestimmt schon von der Liste gestrichen. Sie fuhr sich entmutigt über das feuchte Gesicht und hetzte weiter.

Der riesige Glaskomplex des Summerbild-Imperiums thronte an der Ecke zu einer viel befahrenen Straßenkreuzung, sodass ihr nichts anders übrig blieb, als vor der roten Ampel zu warten. Wie gestern waren die meisten Büros mit künstlichem Licht durchflutet und verliehen dem gesamten Gebäude einen goldenen Schein, der alles um sich herum in den Schatten stellte. Ein Taxifahrer gab ein genervtes Hupen von sich, als einer ihrer Mitwartenden die Geduld verlor und über die Straße hetzte. Nelly blieb wo sie war. Bei dem, was der Tag bis jetzt mit sich gebracht hatte, wollte sie sich nicht auch noch in Lebensgefahr bringen. Tot brachte sie Summerbild-Enterprises schließlich gar nichts.

Das Ampelmännchen färbte sich endlich grün und Nelly eilte die letzten Meter geradeaus, ehe sie vor der imposanten Glastür zum Stehen kam, den Regenschirm einklappte und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch in das Gebäude trat. Sie hatte keine Ahnung, wie man mit Bewerbern umging, die nicht pünktlich erschienen.

Ließ man sie gar nicht erst rein und schickte sie ohne ein weiteres Wort wieder zur Tür hinaus? Oder quälte man sie so lange im Gespräch, nur um am Ende zu sagen, dass sie mit Leuten nichts anfangen konnten, die die Uhr nicht lesen konnten? Immer beängstigendere Fragen keimten in ihr auf und sie wollte wieder kehrt machen, als sich die Fahrstuhltüren begannen vor ihr zu schließen.

Sei kein Feigling.

***

Die feuchte Luft von draußen hatte den engen Raum in einen tropischen Regenwald verwandelt und ließ bereits einige Wasserperlen an den metallischen Wänden abperlen. Sie verfolgte die immer größer werdende Stockwerkzahl. Bei der 23 atmete sie einmal tief durch und streckte sich. Der gestrige Tag sollte und durfte einfach nicht umsonst gewesen sein. Bis in den späten Abend hatte sie sich auf das Gespräch vorbereitet, war Internetforen durchgegangen und hatte nach Erfahrungen von Bewerbern gesucht, die die Geduldsprobe bei Summerbild-Enterprises bereits hinter sich hatten. Wirklich Neues war nicht dabei gewesen und sie war schließlich zu den ursprünglichen Fragen und Antworten zurückgekehrt.

Im Gegensatz zu gestern trug sie unter dem Blaser heute eine schneeweiße Bluse und eine dunkelblaue Wollhose, die in ihrem nassen Zustand unangenehm auf der Haut klebte. Die Luft im Fahrstuhl trug zu keiner Verbesserung bei und sie kam sich vor wie ein geschmolzenes Eis in der Mittagssonne. Trotz des Herbstwetters war das Thermometer schon jetzt auf warme 15 Grad gewandert und bot eine explosive Mischung, der man für den Nachmittag freie Bahn für heftige Unwetter gelegt hatte. Das kühle Herbstwetter von gestern war kaum mehr vorstellbar.

Um sie herum herrschte die altbekannte Stille und Nelly betete, dass die Fahrt möglichst bald zu Ende war. Ein lautes Pling erlöste sie schließlich von der unangenehmen Situation und sie betrat den Gang mit dem großen Messingschild. Erfreut stellte sie fest, dass das Gebäude klimatisiert war und ihre erhitzte Haut ein wenig abkühlte. Es kam Nelly sogar ein bisschen so vor, als würde ein frischer Wind durch die Flure streifen und sich daran machen ihre Kleidung zu trocknen.

Der gleiche Mann wie gestern saß hinter der weiten Scheibe, als Nelly diesmal Ausweis und Namen in einem Zug preisgab und entließ sie in die hinteren Räume. Das metallene Tor an der Schleuse hatte gerade seine Pforten geschlossen, als ihr einfiel, dass sie den Mann hatte fragen wollen, wo sich Mr. Swingtons Büro befand. Dafür war es jetzt zu spät. Sie blickte sich um und erblickte zu ihrem Glück Timothy Brewster, der ebenfalls spät dran zu sein schien. Mit gehetzten Blick joggte er an ihrer Seite entlang und geriet kurz ins Stocken, als Nelly ihn ansprach.

»Entschuldigung, aber Sie sind doch auch gestern beim Test gewesen«, setzte sie an und hoffte ein Funken der Erkenntnis in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Doch sein Blick war gehetzt wie zuvor und er kehrte in sein Lauftempo zurück.

»Okey, Sie scheinen sich nicht an mich zu erinnern. Egal. Ich wollte nur fragen, wo sich das Büro von Mr. Swington befindet.« Der Name des Personalchefs war Anlass, dass Timothy Brewster nicht sofort zum Sprint ansetzte und davon preschte. Im Gegenteil, er verlangsamte sein Tempo erneut und rang sich zu einer Antwort durch.

»Geradeaus und dann rechts.«


»Vielen Dank«, antwortete Nelly, doch der junge Mann hörte sie nicht mehr. Sie versuchte mit seiner in der Mitte des Ganges angekommenen Gestalt Schritt zu halten, musste auf halber Strecke jedoch aufgeben.

Am Ende des Ganges gegenüber von Wartezimmer 15 öffnete sich dieser zu einer geräumigen Ecke, in der ebenfalls Korbstühle aufgereiht waren. Ein kurzer Blick ließ Nelly eingeschüchtert stehen bleiben. Es waren mindestens hundert weitere Menschen mit ihr anwesend. Bevor sie sich auf einen der leeren Plätze niederließ, erschien eine Frau an ihrer Seite. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und einige Kabel ragten aus ihrem rechten Ohr.

»Mr. Bouston. Ich bitte Sie, mir zu folgen.« Ein dicklicher Mann erhob sich schwerfällig aus seinem Sessel und hatte einige Momente mit seinem Körpergewicht zu kämpfen, eher er der Frau folgte. Nelly setzte sich, behielt die Uhr im Auge und war überrascht, als der Mann nach 5 Minuten bereits zurückkam und sich auf seinen Platz begab. Seiner Mimik war keinerlei Information zu entnehmen.

Ein perfekter Pokerspieler, kam Nelly in den Sinn und sie versuchte ein paar Sekunden lang ihre Wangen zusammen zu kneifen, die Augenbrauen nach oben zu ziehen und den Blick ins Leere schweifen zu lassen. Anschließend warf sie einen Blick in einen der Spiegel, die über einigen Stühlen an der Wand angebracht waren. Ihre linke Augenbraue zuckte verräterisch nach oben und sie gab es auf, ihr Gesicht in eine emotionslose Maske zu werfen.

Im Spiegel gegenüber von ihr erkannte sie das ebenfalls ausdruckslose Gesicht von Laura Smith, die noch genauso aussah wie am gestrigen Morgen. Die Haare waren perfekt gestylt und die Kleidung saß wie angegossen. Sie schien irgendeinen Punkt zu fixieren, denn ihre dunklen Augen starrten stur geradeaus, während Nelly sie beobachtete. Von ihrer ganzen Erscheinung her passte Laura Smith wie die Faust aufs Auge in die kühle Atmosphäre, die ganz Summerbild-Enterprises ausstrahlte. Nelly musste schlucken und räumte ein, dass ihre Chancen mehr als schlecht standen.

***

Ein paar weitere Männer und Frauen wurden aufgerufen und kamen in kurzen Zeitabständen zurück. Nelly überlegte gerade, ob sie sich einen Kaffee zubereiten sollte, als ihr Name wie ein Echo über die Menge fegte.


»Mrs. Rhodes. Ich bitte, Sie mir zu folgen.« Die in Schwarz gekleidete Frau entfernte sich zügig und Nelly stolperte ihr mit zittrigen Beinen hinterher. Sie vernahm ein leises Gekicher hinter ihr, das verdächtig nach Laura Smith klang und versuchte ihre Aufregung zu unterdrücken.

Es sind nur ein paar Worte. Ein paar Belanglosigkeiten und du hast es hinter dir.

Die Frau führte sie zu einer geschlossenen Flügeltür und klopfte mit einer dürren Faust dagegen.

»Herein.« Eine ausdrucksstarke Männerstimme drang zu Nelly nach draußen und ließ ihr Selbstbewusstsein ein paar weitere Zentimeter schrumpfen.

»Gehen Sie schon rein«, wies die Frau sie an und Nelly bemerkte, dass sie bewegungslos auf der Stelle stehen geblieben war.

***

Thomas Swington saß gelassen auf seinem Schreibtischstuhl, die Hände zu einer Raute gefaltet und blickte kein einziges Mal hoch, als Nelly in sein Büro trat, die Tür hinter sich schloss und unschlüssig auf dem runden Teppich stehen blieb. Stattdessen schien er vielmehr in einige Unterlagen vertieft, die vor seiner Nase auf dem Tisch ausgebreitet waren.

»Guten Morgen,« gab Nelly schüchtern von sich und bezweifelte, dass der Mann ihre Worte gehört hatte. Sie nahm gegenüber in einem Ledersessel Platz, versuchte ihr ihre Angst nicht anmerken zu lassen und streckte selbstbewusst die Brust nach vorne. Als Frau musste man einem Mann etwas bieten, auch wenn dieser scheinbar überhaupt kein Interesse an seiner Außenwelt hegte. Ein Bild tauchte vor ihren Augen auf. Hatten die anderen hier etwa auch ihre fünf Minuten abgesessen und waren ohne ein Wort gesprochen zu haben wieder gegangen? Nelly kam sich vor wie in einem falschen Film. So ging doch niemand mit seinen Bewerbern um, selbst Summerbild-Enterprises konnte sich so etwas nicht erlauben.

»Nun fangen Sie schon an«, forderte Thomas Swington sie auf und machte eine ansprechende Handbewegung.

Nelly fuhr zusammen und war verunsichert. Womit sollte sie anfangen? Bisher hatten ihr immer die anderen Fragen gestellt, die sie dann geflissentlich beantwortet hatte. Aufgefordert hatte sie noch keiner.

Bevor sie noch mehr von der wertvollen Zeit vergeudete, fing sie schließlich an.

»Ich bin. Mein Name ist Nelly Rhodes. Geboren am 24. Mai 1991 im Henry Ford-Krankenhaus von Detroit. Tochter von...«

»Doch nicht so«, unterbrach Mr. Swington sie. »Das steht hier doch schon alles.«

»Oh, natürlich.« Nelly stieg die Schamesröte ins Gesicht, dass sie an den Unterlagen ihre eigene Bewerbung nicht erkannt hatte.

Du hast es vermasselt-schon jetzt. Thomas Swingtons Haltung sprach ebenso wenig vom Gegenteil. Er schaute sie noch immer nicht an und begann ungeduldig mit dem Knopf an seinem Kugelschreiber zu spielen, was Nelly noch nervöser machte. Ihre Kehle war ausgetrocknet und sie bereute, nicht gleich nach ihrer Ankunft einen Café-au-lait zubereitet zu haben. Sorgsam legte sie sich ihren nächsten Satz in ihrem Kopf zurecht.

Bloß nichts falsches sagen.

»Nach meinem Studium an der Detroit-University...« Weiter kam sie nicht. Mit einem lauten Knall wurde die Tür aufgestoßen. Thomas Swington fiel vor Schreck der Stift aus der Hand und Nelly verschluckte sich dermaßen an ihrem unausgesprochenen Satz, dass sie einen Hustenanfall bekam.

»Stimmt es?« Eine kalte Stimme durschnitt die Luft, als wäre sie ein scharfes Messer, dass seine Klingen wetzen musste.

Mit tränengefüllten Augen wand Nelly den Kopf in Richtung der Unruhestifter. Sie erkannte zwei Männer. Einer alt, der andere jung. Der Jüngere hatte dunkles Haar, das in allen Richtungen von seinem Kopf abstand.

Moment. Nelly kannte ihn. Aus den Zeitungen, aus dem Fernsehen, hatte ihn gestern noch auf der Internetseite von Summerbild-Enterprises in die Kamera lächeln sehen. Wenn auch mit geordneter Frisur.

Carlo Summerbild, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und ihr klappte vor Erstaunen die Kinnlade herunter. Was machte der Chef hier? Sie betrachtete den Herren neben Carlo Summerbild und stellte fest, auch ihn aus den Medien zu kennen. William Summerbild. Der Vater. Letzterer guckte ziemlich wütend drein, während das Gesicht seines Sohnes leicht angespannt wirkte.

»Thomas, stimmt es?«, wiederholte der grauhaarige Mann seine Frage und Nelly war verblüfft über die Ähnlichkeit, die ihn immer noch mit seinem Sohn verband. Niemand beachtete sie. Thomas Swington hob langsam seinen Kopf und Nelly war überrascht, wie jung er noch war. Einen Personalchef hatte sie sich definitiv älter vorgestellt.

»Stimmt was?« Er versuchte unwissend drein zu blicken, aber selbst Nelly kaufte ihm sein Schauspiel nicht ab.

»Du weißt, was ich meine. Hat mein Sohn sein Privatleben mal wieder über das Geschäft gestellt und sich bis jetzt nicht, um eine neue Assistentin gekümmert?« Es herrschte eine derartige Stille, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören können, wie einen Klumpen Metall. Nellys Lunge begann zu kribbeln und sie versuchte verzweifelt, den aufkommenden Hustenreiz zu unterbinden. Doch es kitzelte sie dermaßen, dass sie nicht anders konnte und sich mit einem lauten Röcheln die Aufmerksamkeit aller drei Männer bescherte. William Summerbild blickte noch wütender drein, währenddessen die Lippen seines Sohnes ein kleines Lächeln umspielte.

»Vater, kein Grund zu Sorge. Hier sitzt sie.« Er legte seine Hand auf Nellys Schulter. Sie wusste nicht wie ihr geschah, nicht was hier gespielt wurde. Wieso legte dieser fremde Mann seine Hand auf ihre Schulter?

William Summerbild musterte sie misstrauisch und sie lächelte ihn unbeholfen an.

»Und was macht deine Assistentin hier, wenn ich fragen darf?«

Assistentin? Ich hab mich auf eine Praktikumstelle beworben! Bitte, nicht noch eine Verwechslung.

»Natürlich darfst du. Sie greift Thomas ein wenig unter die Arme. Bei dem ganzen Praktikantenansturm wusste er sich nicht mehr zu helfen und da habe ich sie vorbeigeschick. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier zur Zeit los ist.« Die Lüge kam Carlo Summerbild über die Lippen, wie fließend Wasser.

Hallo, das stimmt nicht. Ihr Sohn lügt ihnen direkt ins Gesicht! Merken Sie das nicht? Sein Vater schien glücklicherweise immer noch nicht zufriedengestellt.

»Wie heißt sie denn, die Gute?« Nelly kniff die Augen zusammen.


Rhodes. Gedankenübertragung schien bei ihr und Carlo Summerbild nicht zu funktionieren, denn seine Hand krallte sich fester in ihre Schulter. Sie fragte sich, wieso sie dem Lügner gerade hatte helfen wollen, als dieser die nächste Märchengeschichte auspackte.

»Das hier ist. Vater darf ich vorstellen, Mrs.,ähm Mrs. Smith.«

Ein dämlicherer Name hätte dir nicht einfallen können. Ihr fiel augenblicklich Laura Smith ein, die wahrscheinlich ungeduldig auf ihren Auftritt wartete. Nein, so wollte sie auf keinen Fall heißen.

Und so heiße ich doch auch überhaupt nicht!

»Ich.« Das kümmerliche Wort schaffte es nicht weiter aus ihrem Mund, da sich der Mann in ihrem Nacken noch fester in ihre Schuler grub. Hatte er seine Fingernägel nicht geschnitten oder wieso tat es so verdammt weh? Er beugte sich tiefer und sie vernahm seinen ruhigen Atem neben ihrem Ohr. Er roch nach Aftershave und etwas anderem, was Nelly nicht zuordnen konnte.

»Spielen Sie mit!« In seiner Stimme lag ein Befehlston, der Nelly eine Gänsehaut verlieh. Skrupellos und ohne Gewissen. So wurden die Firmenbosse in Büchern und Filmen vorgestellt. Und jetzt war sie keine zwei Zentimeter von einem dieser Kerle entfernt und spürte wie ihr Herz zu rasen begann. Was konnte ihr passieren wenn sie nicht mitspielte? Beauftragte Carlo Summerbild womöglich einen seiner Männer, um ihr eine Abreibung zu verpassen? Sie stellte sich eine Horde Polizisten vor, die ihre Wohnung durchsuchten und dabei auf blutdurchtränkte Kleidung stießen. Sie hatte wirklich zu viele Thriller gesehen und bevor sie gänzlich durchdrehte, nickte sie, sodass es nur der Mann neben ihr mitbekam.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Summerbild.« Die Worte, die ihren Mund verließen klangen so fremd, als wären es nicht ihre eigenen. Der Druck auf ihrer Schulter entspannte sich und es war, als würde ihr ein Teil einer Last von den Schultern genommen.

In was bin ich hier nur rein geraten?

Kapitel 6

Seit dem Vorfall am Morgen waren gute drei Stunden vergangen. Carlo saß wieder in seinem Büro mit den neuesten Börsenkursen vor seiner Nase. Diese hatte er mit seinem Finanzmanager Brian Kingston durchgehen wollen. Aber die Akten lagen bis jetzt unangerührt auf der linken Tischkante und türmten sich soweit auf, dass sie die Monitore überragten. Das Finanzielle musste warten. Viel wichtiger war jetzt, wie es mit ihm, seinem Vater und seiner unfreiwilligen Assistentin, deren richtigen Namen er immer noch nicht wusste, weiterging. Er hatte in der ganzen Hektik vergessen Thomas danach zu fragen. Hinzu kam, dass William Summerbild ihn so lange mit Argusaugen bewacht hatte, bis er sich von Thomas und der Frau verabschiedet und den Fahrtstuhl in das 26. Obergeschoss genommen hatte. Erst danach war er wieder für sich gewesen. Doch richtig freuen konnte er sich über die Ruhe nicht. Denn vor William Summerbilds endgültigem Abschied , war er gezwungen gewesen, sich eine weitere Drohung anzuhören.

Junge, ich werde dich im Auge behalten. Das dies keinesfalls eine leere Drohung gewesen war, bestätigte sich keine ganze Stunde später. Richard Kelton, Carlos verhasster Cousin und geliebter Neffe seines Vaters sollte fortan aus dem Marketingbereich verschwinden und das alte Büro von William Summerbild beziehen. Dieses befand sich passenderweise Angel an Angel neben Carlos Tür im 26. Stockwerk.

Carlo hätte vor Wut am liebsten die Akten vom Tisch gefegt, beruhigte sich aber im letzten Moment. Er wollte Richard nicht schon am ersten Tag Stoff zum weitertratschen liefern. Warum hatte sein Vater denn nicht bis Jahresende warten können? Bis dahin hätte er hundertprozentig eine neue Assistentin gehabt. Nein, er musste unangekündigt plötzlich in seinem Büro auftauchen. Aber so war er halt. Er konnte Probleme riechen und hatte ein ausgezeichnetes Gespür dafür, genau im in seinen Augen richtigen und in den Augen aller anderen falschen Moment aufzukreuzen. Für Carlo war es eine Fügung des Schicksals gewesen, dass bei Thomas gerade eine der Bewerberinnen gesessen hatte und das ihm so schnell eine mehr oder wenige große Notlüge eingefallen war. Überzeugt konnte das ganze Theater eigentlich niemanden haben, vor allem nicht seinen Vater. Aber Carlo war noch Geschäftsführer und das war für den Moment das Wichtigste. Um alles andere konnte er sich immer noch kümmern.

Allen voran um diese Frau. Er musste sie überzeugen, noch bis zum Ende des Jahres seine persönliche Assistentin zu spielen. Das dürfte die schwierigste Aufgabe sein, die ihm an diesem Tag noch bevor stand. Vorsorglich hatte er seinen Bankchef kontaktiert. Man konnte ja nie wissen, wie faustdick es die Leute hinter den Ohren hatten. Und bei Geld hörte der Spaß bekanntlich auf. Zur Not musst Carlo sich sein Alibi eben erkaufen. Dass er zu dieser Maßnahme greifen würde müssen, glaubte er eigentlich nicht. Denn als Geschäftsführer war man es gewohnt, dass nicht jedermann nach seiner Pfeife tanzte.

Gegen 14:00 Uhr hatte er die junge oder doch ältere-er konnte sich kein bisschen an ihr Aussehen erinnern, Dame in sein Büro zitiert. Die Uhr zeigte auf Zwölf und sein Magen gab passenderweise ein lautes Grummeln von sich.

Zeit fürs Mittagessen. Bevor er den Raum verließ, warf er noch einen letzten Blick auf die einen Spalt breit geöffnete Tür zum angrenzenden Badezimmer. Den Spiegelschrank hatte er seit gestern Morgen nicht mehr angerührt. Trotz des Chaos, mit dem der Tag hereingebrochen war, spürte er auch jetzt nur einen leichten Drang, sich dem weißen Pülverchen zu nähern. Die neue Lieferung stand noch unausgepackt auf dem Toilettendeckel und Carlo hatte überlegt, sich zurückzugeben und gegen eine weitere Ration Methamphetamin einzutauschen. Solange er die Konzentration unter Kontrolle hatte, brachte ihm das neue Zeug weitaus mehr berufliche Fortschritte ein. Dafür war der gestrige Tag das beste Beispiel gewesen.

Sein Magen knurrte erneut und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu seinem Mittagessen. Er fuhr sich einmal mit der Hand über den Bauch.

Ist ja gut, du kriegst schon was.

***

Etwa eine halbe Stunde kämpfte er in der Kantine mit einem zähen Stück Scholle. Zurück in seinem Büro hatte er das Gefühl, sich überall zwischen seinen blitzblanken Zähnen Gräten eingefangen zu haben. Leicht fluchend verschwand er mit Zahnseide und Zwischenraumzahnbürste bewaffnet im Badezimmer, nur um wenige Minuten danach noch fluchender ans Telefon zu stürmen.

Wer hat denn solch ein tolles Timing drauf? Dem Akzent nach zu unterteilen befand sich am anderen Ende der Leitung ein Chinese. Carlo fuhr sich ein paar Mal mit der Zunge über die Zähne und stellte fest, dass zwischen seinem Vorder-und Schneidezahn immer noch ein Stück Gräte hing. Er seufzte und quälte sich anschließend durch ein nicht enden wollendes Telefonat, welches auf Grund des schlechten Englisch seines Gesprächspartners das ein oder andere Mal zu Kommunikationsschwierigkeiten führte und Carlo am Ende fast die Geduld verlieren ließ. Wenn die Menschen schon Geschäfte mit dem Ausland machten, dann sollten sie zumindest in der Lage sein, sich einen Dolmetscher an ihre Seite zu holen. Carlo selbst sprach fließend Englisch, Französisch, Spanisch und Russisch, was der guten Ausbildung einer Privatschule in Vermont geschuldet war. Die restlichen Sprachen deckten seine Leute ab und im Notfall gab es immer noch das Englische. Ehe er wirklich fast einen Kampf mit den Akten starten wollte, klopfte es zaghaft an der Tür. Er warf der Uhr einen kurzen Blick zu. 14.04 Uhr. Seine neue Assistentin.

»Herein«, polterte er, um schon mal klar zu machen, wer hier das Sagen hatte. Es regte sich nichts. Hatte er sie etwa so schnell eingeschüchtert? Er versuchte es ein zweites Mal, diesmal noch lauter.

»Herein!«Und endlich, der Türgriff senkte sich und herein kam, ja herein kam. Auf jeden Fall nicht die Sorte von Assistentin, die er sich für sich selbst vorgestellt hatte: Schlank, blonde Haare und Kurven zum anfassen. Ihm fiel es schwer die Frau vor ihm zu beschreiben, nicht weil sie ihm mit einer anderen Art von atemberaubender Schönheit die Sprache verschlug. Es war eher das Gegenteil. Vor ihm stand ein Mix aus Puck die Stubenfliege, wenn auch mit eckigen Brillengläsern, und den Genen von Pumuckl und Pippi Langstrumpf. Er hatte als Kind ein Faible für europäische Kindergeschichten gehabt und die meisten waren, wie er gerade festgestellt hatte, immer noch in seinem Gedächtnis verankert. Pippi-Pumuckl-Puck begab sich zögernd auf den freien Platz vor Carlos Schreibtisch, strich sich über die blaue Wollhose-wer trägt heutzutage noch Wollhosen?, und setzte sich. Ein schüchternes Lächeln überflog ihr Gesicht. Na gut, dass mit Pumuckl und Puck nahm er zurück, aber Pippi Langstrumpf war noch im Rennen. Auf ihrer Nase tanzten mindestens genauso viele Sommersprossen. Die Frau sah jung aus, fast noch wie ein Schuldmädchen.

Carlo fuhr sich übers Gesicht und schüttelte innerlich den Kopf. Wie hatte er das vorhin übersehen können? Er war anscheinend viel zu beschäftigt mit seinem Vater gewesen, hatte die Frau größtenteils von hinten gesehen und bekam nun die gerechte Strafe für sein Verhalten.

»Ähm, Sie haben mich hierher beordert?« Eine helle Stimme drang an sein Ohr und er schaute der Frau kurz in die Augen. Man musste es ja nicht gleich übertreiben mit der Freundlichkeit.

»Natürlich. Ich entschuldige die Unannehmlichkeiten, die sich im Büro von Mr. Swington zugetragen haben. Das Ganze tut mir unendlich leid. Mrs. Sm.«

»Mein Name ist Rhodes. Nicht Mrs. Smith, wie Sie mich da unten genannt haben.« Carlo zog scharf die Luft ein, hatte er mit einer solchen Antwort von dieser Frau niemals gerechnet. Vielleicht schien das schüchterne Auftreten nur Fassade zu sein und in Wirklichkeit schlummerte in ihr eine knallharte Geschäftsfrau.

»Genau, Sie bringen es auf den Punkt. Glauben Sie nicht, dass ich das Ganze geplant habe. Nein, auf keinen Fall.« Carlo warf einen abschätzigen Blick auf die weiße Bluse mit den Trompetenärmeln. »Es ging nicht anders. Mein Vater. Nunja, wie soll ich sagen. Er sucht nur nach der richtigen Gelegenheit, mir mein Leben schwer zu machen.«

»Und dafür müssen Sie lügen?« Mrs. Rhodes starrte ihn verständnislos an.

»Hören Sie zu. Es ging nicht anders.« Carlo unterbrach sich selbst, als er den Adressaten einer neu eingegangenen Email erkannte. William Summerbild. Was wollte sein Vater von ihm? Vielleicht alles zurücknehmen oder ihn doch rausschmeißen? Er öffnete die Nachricht und ihm stockte der Atem.

Betreff: Deine neue Assistentin

Sohn, glaub nicht, dass ich dir dein albernes Spiel abgekauft hätte. Diese Frau und deine persönliche Assistentin? Wenn ich nicht lache. Ich hoffe sehr für dich, dass sie dich bei deiner Lügengeschichte unterstützen wird. Ansonsten weißt du, was ich mit dir mache...Ich stelle mir gerade vor, wie du diesen Drachen deinen Geschäftspartnern vorstellst. Und noch besser. Ich habe für morgen einen Pressetermin vereinbart, in der du sie aller Welt vorstellen wirst. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir. Gutes Gelingen! W.S.

Er musste den Text zweimal lesen, eher er sich dessen Ausmaß an Konsequenzen bewusst war. Wie hatte er nur so dämlich sein können und geglaubt, er hätte seinen Vater getäuscht?

»Ist alles in Ordnung bei Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?« Die Rothaarige lehnte sich in ihrem Sessel vor und schaute ihn mit einer Mischung aus Besorgnis und Misstrauen an.

»Ich glaube, Sie müssen mir helfen«, sagte Carlo und konnte nicht fassen, welches Gewicht auf seinen Worten lastete.

Kapitel 7

Nelly saß mit einer dampfenden Tasse Kakao in ihrer Zweizimmerwohnung. Um die Beine hatte sie eine bunte Fleecedecke geschlungen, in der sie sich einkuschelte wie ein kleines Kind. Draußen fegte das angekündigte Unwetter die ersten Blätter von den Bäumen, während aus den schwarzen Wolken aggressive Blitze zuckten. Sie fuhr kurz zusammen, als ein Blitz irgendwo unweit ihrer Wohnung einschlug und ihr kleines Wohnzimmer in ein grelles Licht warf. Nelly hasste Gewitter. Schon als Kind hatte sie sich vor den Gewalten der Natur sicher im Keller ihres Elternhauses verkrochen und solange gewartet, bis ihre Mutter sie wieder herausgeholt hatte. Auch jetzt rührte sie sich nicht vom Fleck. Im Gegensatz zu früher war sie diesmal jedoch ganz auf sich alleine gestellt. Einen Keller, in den sie hätte fliehen können, gab es nicht. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass die Gewitterfront New York bald hinter sich lassen würde.

Jetzt mach dich nicht verrückt. Was soll dir hier schon passieren?

Ja, was sollte ihr passieren? Das wusste sie seit dem Gespräch mit Carlo Summerbild vom Vormittag selber nicht mehr so genau.

»Sie können sich Ihr Geld und Ihre Lügen sonst wohin stecken«, war ihr letzter Satz gewesen, den sie dem Firmenboss von Summerbild-Enterprises an den Kopf geworfen hatte, ehe sie wütend sein Büro verlassen hatte. Carlo Summerbild hatte ihr einen dicken Scheck unter die Nase gehalten und sie angebettelt noch bis zum Ende des Jahres in der Märchengeschichte »Nelly Rhodes alias Carlo Summerbilds neue persönliche Assistentin« mitzuspielen. Da war ihr endgültig der Kragen geplatzt. Sie hatte nicht einen Blick auf die Summe des Scheckzettels geworfen, sondern ihn zusammengeknüllt und in Richtung Papierkorb geworfen. Anschließend war sie ohne ein weiteres Wort aufgesprungen und hatte das Firmengebäude mit pochendem Herzen verlassen. Sie war sich vorgekommen wie eine Verbrecherin.

Dabei habe ich doch überhaupt nichts falsch gemacht.

Nelly seufzte, stellte die Tasse Kakao ab und zog sich die Decke über den Kopf. Das Bild von der Polizistenhorde, die ihre blutbefleckte Wohnung durchsucht, schien ihr in diesem Moment gar nicht mehr so abwegig. Hatte sie sich Carlo Summerbild zum Feind gemacht? Würde er ihr nachstellen lassen und dafür sorgen, dass das Gespräch von heute niemals stattgefunden hat? Nelly konnte es nicht sagen. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie Angst hatte. Und das nicht nur wegen dem Gewitter.

***

Das tiefe Echo eines Donners fuhr ihr durch Mark und Bein. Unten auf der Straße war das Zufallen einer Autotür zu hören, auf das sich kurze Zeit später Motorengeräusche anschlossen. Ansonsten war alles still. Beunruhigend still. Nelly rechnete jeden Moment damit, dass die Tür aufgestoßen wurde und sie geradewegs in den Lauf einer Pistole gucken würde.

»Beruhig dich, Nelly! «, sprach sie sich selber Mut zu. Damit sie nicht gänzlich durchdrehte, beschloss sie, sich noch eine weitere Tasse Kakao aus der angrenzenden Küche zu holen. Mit wackeligen Schritten machte sie sich auf den Weg und kam schließlich mit einem halbwegs geraden Gang vor ihrem Herd zum Stehen. Sie griff nach der kleinen Dose Kakaopulver und füllte etwas Milch in den auf dem Herd stehenden Kopf. Während die Milch langsam warm wurde, ließ sie den Blick nach draußen schweifen. Die Bäume vor ihrem Küchenfenster waren zur Seite geknickt und man bekam den Eindruck, als machten sie eine Verbeugung um irgendjemanden willkommen zu heißen. Der Regen trommelte im gleichen Rhythmus auf die Fensterbank und hatte eine beruhigende Wirkung auf Nelly.

»Wenn der Regen einsetzt, ist das Gewitter fast vorüber. « Nelly vermisste die kleinen Weisheiten, die ihr Vater ihr immer auf den Weg gegeben hatte und fühlte sich in diesem Moment wie der einsamste Mensch auf der Welt, obwohl um sie herum Millionen anderer Menschen ihrem Tag nachgingen.

***

Als sich kleine Bläschen in der Milch bildeten, nahm Nelly den Topf und füllte den Inhalt in ihren rotgepunkteten Becher. Die warme Milch bereitete ihr einen wohligen Schauer und sie kehrte ein wenig zuversichtlicher ins Wohnzimmer zurück. Das Gewitter war mittlerweile tatsächlich fast vorüber, denn es war nur noch ein leises Grummeln aus der Ferne zu vernehmen. Nelly nahm die Fernbedienung und zappte wahllos durch das Fernsehprogramm, bis sie bei einer Tierdokumentation über wildlebende Pandas hängen blieb. Der Fotograf erklärte gerade, wie schwierig es war, so nah am Leben der Tiere teilzunehmen, als Nellys Anrufbeantworter nachsprang.

»Hallo, Nelly. Lukas Benston hier. Ich würde dich nicht stören, wenn es nicht wirklich dringend wäre. Ich weiß, was bei dir los ist. Wäre schön, wenn du mich bald zurückrufen konntest. «

Nelly stellte perplex ihre Tasse auf den Couchtisch und tapste in Richtung Telefon. Wieso rief Lukas Benston sie an? Und wieso wusste er, was bei ihr vorging? Wusste etwa mittlerweile ihre ganze Heimatstadt, wo sie sich beworben hatte? Sie drückte die Rückruftaste und Lukas Benston meldete sich bereits nach dem zweiten Klingeln.

»Hallo, Nelly. Schön, dass es so schnell geklappt hat. «

»Hey, ja. « Nelly wusste nicht, ob sie das Ganze schön finden wollte. Sie war eher misstrauisch. »Worum geht es denn, dass ich dich so dringend zurückrufen sollte? «

»Nunja, ich wollte dir eigentlich nicht sofort mit der Tür ins Haus fallen. Aber ist wohl besser so. «

»Nun, sag schon was los ist. « Nelly wurde ungeduldig. Lukas war immer schon ein Kandidat gewesen, dem man alles aus der Nase ziehen musste.

»Dein Vater hat seinen Job verloren. «

Nelly zog scharf die Luft ein und lehnte sich an die Kommode, auf der das Telefon stand.

»Mein Vater hat was? «

Am anderen Ende der Leitung war es kurz still.

»Es tut mir leid Nelly. Ich dachte, es ist besser, wenn du Bescheid weißt. Von euren Nachbarn weiß ich, dass der Kontakt zwischen euch in letzter Zeit nicht so Bombe ist. « Da hatte er Recht. Ihre Eltern hatten es nicht mal für nötig gehalten, sie persönlich zu informieren.

»Kommst du klar? « Lukas Stimme hatte einen sorgenvollen Unterton bekommen.


***

Fortsetzung folgt


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.02.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die an die Liebe glauben.

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