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Kapitel 1

Wenn du einmal stirbst, zerfällt dein Körper zu tausend Sternen und jeder, der in den Himmel schaut, wird sich in die Nacht verlieben-Unbekannt

»Mira!?«

»Ja, Mama?«

»Bist du gleich endlich mal fertig? Wir müssen los!«

»Ich komme ja schon.« Genervt kralle ich mir meinen Eastpak-Rucksack und stopfe zwei Collegeblöcke in den engen Spalt, der an der Seite aufgegangen ist. Ich habe keine Lust den Reisverschluss weiter zu öffnen und genauso wenig Lust habe ich, unser Haus zu verlassen und die nächsten sechs Stunden in der Schule absitzen zu müssen.

»Können wir nicht ein einziges Mal pünktlich los?«, kommt es weiter von unten.

»Ja, verdammt nochmal!« Ich schlüpfe in meine Sneakers und werfe mir den Rucksack über die linke Schulter. Die Ecken der Collegeblöcke bohren sich unsanft in meinen Rücken. Bevor ich mein Zimmer verlasse, gehe ich zum Fenster und schaue nach drüben.

Er schläft noch. Das erkenne ich sofort. Seine Gardinen sind halb zugezogen und das Fenster ist geschlossen. Wahrscheinlich muss er heute später los. Ein anderer Grund, dafür, dass er noch nicht wach ist, könnte sein, dass das Licht in seinem Zimmer erst gegen zwei Uhr ausgegangen ist.

Warum ich das so genau weiß? Ich habe auf meinem Bett gelegen, Emma von Jane Austen auf dem Kopfkissen gebettet und gewartet, bis seine Statur erst als grauer Schatten hinter den bodenlangen weißen Gardinen und nachdem er das Licht ausgemacht hat, in der schwarzen Finsternis verschwunden ist. Erst dann war auch ich fähig gewesen, mich schlafen zu legen. Das klingt verrückt, ich weiß, aber erklären kann ich mein Verhalten nicht. Sobald ich ihn sehe, schaltet mein Gehirn in den Stand-by-Modus . Ich kann nichts dagegen tun. Es ist so, als würde man vor einem Wirbelsturm davon laufen, obwohl man gerade tief in sein Auge geblickt hat. Und dann reißt es einen mit sich.

»Mira, ein letztes Mal oder ich fahr ohne dich los!«

Ich wende mich vom Fenster ab, drehe mich halb um und sehe aus dem Augenwinkel, wie sich die Gardine drüben ein Stückchen weiter öffnet, aber ich habe keine Zeit, mich noch einmal ganz umzudrehen, um ihn anzustarren. Zum Trost rufe ich mir kurz seinen gerade-aufgestanden-Anblick ins Gedächtnis. Sein schwarzes, vom Kopfkissen zerzaustes Haar, sein weißes T-Shirt, das zur Hälfte in seiner blauen Jogginghose steckt und sein Lächeln, wenn er mir kurz zuwinkt, bevor er sich wieder umdreht und im Nebenraum verschwindet. Ich will es mir mit meiner Mutter nicht schon am Morgen verscherzen und so renne ich widerwillig die Treppe herunter und komme, von der letzten Stufe springend vor ihren schwarzen Lederpumps zum stehen. Das Adrenalin von eben muss mit mir durchgegangen sein, denn ich habe so einen Schwung drauf, dass ich fast vorne über kippe. Im letzten Moment packt mich meine Mutter an den Schultern und schaut mir missbilligend ins Gesicht.

»Willst du dir jetzt auch noch den Fuß brechen oder was?«

»Nein, das habe ich nicht vor«, gebe ich schnippisch zurück, bereue meine Worte aber sofort. Mama war nicht immer so gewesen. Erst nachdem Dad uns verlassen hat und sie mit ihrem bescheidenen Gehalt einer Steuerfachangestellten für uns beide sorgen muss, ist sie so gereizt. Den Haushalt schmeißt sie so gut wie alleine. Tagsüber sitze ich in der Schule fest und arbeite danach meine Nachhilfetermine ab, um wenigstens etwas Geld in die Haushaltskasse zu spülen. Abends fällt es mir dann unheimlich schwer, mich aufzuraffen und das Geschirr abzuwaschen, den Müll rauszubringen oder gar durch das ganze Haus mit dem Staubsauger zu wandern. Wären wir ein Liebespaar, hätte man uns sicher den Beziehungsstaus Es ist kompliziert verpasst.

»Können wir?«Sie geht nicht auf meine Äußerung ein, kramt die Autoschlüssel aus der Tasche und hält mir die Tür nach draußen auf.

Dort erwartet uns ein frostiger Frühlingsmorgen. Es ist Mitte März, aber der Winter will nicht loslassen und hält die Baumkronen weiterhin unter einer weißen Schicht Raureif gefangen. Vereinzelt haben es gelbe Krokusse und Schneeglöckchen geschafft, sich einen Weg aus dem gefrorenen Boden hinaus in die Freiheit zu verschaffen, aber auch sie umgibt heute ein weißes Kleid aus hunderten von Eiskristallen. Ich beginne zu frösteln und warte, bis Mama das Auto aus dem Carport bis auf die Straße gefahren hat.

***

Auf der Fahrt zur Schule herrscht Schweigen. Jede von uns ist in ihren Gedanken versunken. Meine kehren zurück zu ihm. Heute Abend würde ich ihn wiedersehen, lässig am Balkongeländer lehnend und mit einer Zigarette im Mundwinkel. Seine Eltern wissen nicht, dass er raucht. Denn wenn er zu Ende geraucht hat, versucht er den abgebrannten Stummel nicht in einem Aschenbecher auszudrücken, sondern in einem hohen Bogen in das angrenzende Gebüsch zu werfen und das mit einer Leichtigkeit von Coolness, die schon fast verboten gehört.

Ich werde unsanft aus meinen Schwärmereien gerissen, als meine Mutter an der nächsten Kreuzung ins Rutschen gerät, panisch das Lenkrad umfasst, sodass die Knöchel ihrer bleichen Hand noch weiter hervortreten, als sie es ohnehin schon tun und unser Auto mit einem heftigen Ruck an der roten Ampel zum Stillstand bringt. Ein Mann in einem blauen Kombi neben uns zeigt ihr den Vogel, ehe er auf dem Linksabbieger abbiegt und davon braust. Ich verkneife mir einen Kommentar. Gleichzeitig wird die stille Atmosphäre im Auto drückender. Ich atme erleichtert auf, als das alte Backsteingebäude des Freiherr vom Stein-Gymnasiums in Sicht kommt. Über die roten Dachpfannen zieht sich eine frostige Spur, die im Schein der aufgehenden Sonne zu Funkeln beginnt.

»Bis heute Abend Mira und denk daran, am Nachmittag bei den Neumeyers vorbeizuschauen.«

»Mache ich.«

***

Ich knalle die Autotür zu und überquere die Straße, an der ich heraus gelassen wurde. Beide Fäuste tief in den Jackentaschen vergraben und unter meinem Wollschal versunken, um mich vor dem eisigen Wind zu schützen, passiere ich den überfüllten Schulhof. Es herrscht ein wildes Durcheinander aus kreischenden Stimmen, lautem Lachen und dem Fußgetrampel der Schüler, die sich Richtung Eingangstür begeben. Meine erste Stunde ist Mathe bei Herrn Krause.

Nach der zehnten Klasse bin ich ins Naviprofil mit Schwerpunkt Mathe und Physik gewechselt-nicht der Traum aller Mädchen, aber ich komme gut klar. Es gibt keine Zicken bei uns und keine Machos, die meinen, dass sie durch drei, viermal Pumpen in der Woche einen Konkurrenzkampf mit Arnold Schwarzenegger antreten könnten. Wir sind eine kleine Truppe aus zehn Jungs und fünf Mädchen, die eng zusammenhält und bei der jeder jedem hilft.

»Guten Morgen, Mira.« Die Stimme meiner besten Freundin Kiki ertönt hinter mir und keine Sekunde später taucht ihr blonder Lockenkopf an meiner rechten Seite auf.

»Ich hab gar nicht damit gerechnet, dich schon so früh hier anzutreffen«, gibt sie in einer ironischen Tonart von sich und spielt auf meine fast schon tägliche Unpünktlichkeit an.

»Ich habe beschlossen, von jetzt an eine Stunde früher aufzustehen«, gebe ich genauso ironisch zurück.

»Mira Grunwald und früh aufstehen? Wer hat das denn erfunden?« Kiki fängt an zu lachen und boxt mir mit der Faust in die Seite.

»Hey, was ist denn so ungewöhnlich daran?«, will ich von ihr wissen.

»Du kommst am Wochenende doch nie vor elf aus den Federn, meine Liebe. Und dann freiwillig in der Woche eine Stunde früher aufstehen, nur um rechtzeitig in unserem wunderschönen Klassenraum zu sitzen? Nein, das kauft dir keiner ab.«

»Menschen ändern sich«, konter ich.

»Aber nicht ihre Gewohnheiten.«

Vor uns bricht eine Gruppe von fünf Mädchen in lautes Gelächter aus und bleibt mitten im Weg stehen. Kiki und ich quetschen uns an den Seiten vorbei und erklimmen die steile Treppe, die in das Gebäude führt.

»Lernen die denn nie, dass man nicht einfach mitten im Markt stehen bleibt?« Kiki blickt genervt nach hinten, wo die fünf immer noch stehen und vor sich hin gackern.

»Von Gewohnheiten ist sich halt nur schwer zu trennen.« Kiki wirft mir einen vernichtenden Blick zu. Der erste Punkt unser Morgendiskussion geht an mich. Das tiefe Grollen des Pausengongs durchdringt die Flure und lässt uns einige Schritte schneller werden. Die meisten Mitschüler sitzen bereits auf ihren Plätzen, als wir den Klassenraum betreten. Pünktlich um acht kommt Herr Krause dazu, einen Stapel Papier in seinen dürren Armen wiegend, ganz so als würde er ein kleines Baby darin halten.

»Einen wunderschönen Guten Morgen. Wie ihr seht, haben wir heute viel Arbeit vor uns.«

In der Tat ziehen sich die beiden Doppelstunden Mathe in die Länge. Mir schwirrt der Kopf von den vielen Zahlen, die wir in den Taschenrechner hauen und dann in den Lösungsskizzen vermerken müssen. Gegen Ende sinkt meine Konzentration auf den Nullpunkt.

Zum wiederholten Mal schweifen meine Gedanken ab. Ich frage mich, was er gerade macht, ob er noch zur Schule geht, studiert oder arbeiten geht. Sein Aussehen spricht für die letztere Möglichkeiten, jedenfalls das, was sich auf die Entfernung zwischen unseren Fenstern erkennen lässt. Er wirkt reifer und erwachsener, als die Jungs die ich kenne. Die Art, wie er sich bewegt, in einer Hand sein Smartphone, in der anderen die Zigarette, alles an ihm strahlt eine so große Kontrolliertheit aus, als wäre es niemals möglich, dass er auch nur eines von beiden aus Versehen loslassen könnte.

Ob er mich auch so eng festhalten würde? Schnell verwerfe ich jegliche weitere Fantasien, die sich in meinem Kopf beginnen zusammen zu spinnen. Wir haben noch nie ein Wort miteinander gesprochen und es ist unwahrscheinlich, dass sich das in nächster Zeit ändern wird.

»Mia, noch anwesend?« Kiki wedelt mit einem Kugelschreiber vor meiner Nase herum.

»Natürlich«, erwidere ich und versuche aus dem Zahlenchaos vor mir einen Sinn zu erkennen.

»Und warum sitzt du schon gefühlte zehn Stunden auf deinem Platz und starrst Löcher in die Luft.«

»Mache ich doch gar nicht.«

»Machst du wohl.«

»Dann brauchte ich halt ne Pause.«

»Die Pause fängt in einer Viertelstunde an, Frau Grunwald. Bis dahin bringen Sie bitte die Aufgaben zu Ende.« Herr Krause ist hinter uns getreten und starrt über seinen Brillenrand hinweg auf meine halb ausgefüllten Seiten, was mir nicht wirklich dabei hilft, auf den passenden Lösungsweg zu kommen. Im Gegenteil, es setzt mich unter Druck. Der hölzlich-süße Geruch seines Aftershaves brennt mir in der Nase und vernebelt zusätzlich meine Gedanken. Verzweifelt suchen meine Augen einen Weg auf Kikis Tischplatte, doch der erhoffte Geistesblitz bleibt aus. Sie hätte ihre Antworten genauso gut auf Chinesisch verfassen können, so wenig verstehe ich von ihrem Gekritzel.

»Dann werden Sie uns die Aufgaben wohl morgen an der Tafel vorrechnen müssen«, schließt Herr Krause sein Resultat und begibt sich zurück zum Lehrerpult. Mir fällt nichts schlagfertiges ein, mit dem ich gegen seine Aussage kontern kann. So wird mein Tag ganz sicher nicht vor vierundzwanzig Uhr enden.

»Du Ärmste.« Kiki grinst mich von der Seite schadenfroh an. Punkt zwei geht an sie. Unentschieden. Aber der Vormittag ist noch lang. Ich versuche dem Ganzen etwas positives abzugewinnen, schließlich bietet sich mir die Chance durch den Vortrag endlich meine mündliche Mathenote aus dem Keller zu holen und auch Kiki hat längst nicht gewonnen. Wie gesagt, es steht unentschieden.

***

Der Rest des Schultages geht nur unwesentlich schneller vorbei, als die beiden Mathestunden. Für Kiki und mich ergibt sich keine weitere Möglichkeit, neue Punkte in unserem Diskussionsbattle zu sammeln, da sie in der großen Pause von ihrer Mutter angerufen wird, um anschließend ihren kleinen Bruder Paul aus dem Kindergarten abzuholen, der sich beim Spielen verletzt hat. Ihre Mutter geht gefühlt zehn Jobs gleichzeitig nach, steht unter Dauerstress und hat gerademal genug Zeit dafür, ihr eigenes Leben im Griff zu halten. In der Zeit, seit der Kiki und ich befreundet sind-das sind mittlerweile zehn Jahre, habe ich sie nur wenige Male zu Gesicht bekommen. Tagsüber spielt Kiki die Mama für Paul, weswegen sie ihre größte Leidenschaft, das Ballett aufgeben musste. Wir zwei sind sozusagen Leidensgenossinnen, beide vom Vater verlassen und von der Mutter im Stich gelassen, weil sie alles dafür tun, um ihre Familien über die Runden zu bringen.

Mein Handy vibriert in der Jackentasche meines Parkas. Ich greife danach und ziehe es nach draußen. Es ist eine Nachricht von Kiki.

»Morgen mach ich dich fertig.«

Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Grinsen, als ich ihr zurückschreibe.

»Hochmut kommt vor dem Fall, Süße.«

»Das glaubst auch nur du.«

Mit einem unangenehmen Quitschen nimmt der Bus Anlauf in die Haltestelle und schabt dabei so dicht mit den Reifen am Kantstein, dass einige Passagiere erschrocken ein paar Schritte nach hinten weichen. Die Türen gewähren uns Eintritt und ich suche mir einen Platz in der letzten Reihe. An den Scheiben haben sich winzige Tropfen angesammelt, die einen schmutzigen Film hinterlassen, als sie vom Fahrtwind davongetragen werden. Mittlerweile hat die Sonne die gefrorene Eisschicht auf den Häusern zum Schmelzen gebracht und lässt ihr Ergebnis in die Dachrinnen laufen. Ich lehne meinen Kopf zur Seite und schaue nach draußen.

Das Hafenviertel Kiels zieht an mir vorbei und ich beginne gedankenverloren meine Haare um den Zeigefinger zu wickeln- eine nervige Angewohnheit von mir. Früher habe ich tatsächlich daran geglaubt, dass ich davon echte Locken bekommen würde, so wie sie Kiki hat.

Mitten im Studentenviertel verlasse ich den Bus und muss aufpassen, dass ich nicht von einem durchgedrehten Radfahrer erfasst werde, der dachte er sei schneller, als die sich öffnenden Bustüren.

»Kannst du nicht aufpassen?!«, werde ich zu allem Übel auch noch von ihm angepöbelt.

***

Die Neumeyers wohnen in einer der vielen teuren Altbauwohnungen im obersten Stockwerk. Unser kleines Reihenhaus sah konnte dagegen nicht mithalten. Wie immer quäle ich mich die unzähligen Stufen durch das enge Treppenhaus nach oben. Es riecht nach gebratenem Fleisch gepaart mit dem Geruch von Putzmitteln, die sich auf den Fensterbänken in den Fluren reihen.

Ich betätige den Klingelknopf. Schritte hallen nach draußen, kurz darauf wird das Türschloss aufgedreht und ich stehe Frau Neumeyer gegenüber, die sich peinlich berührt über die Jeanshose streicht, um letzte Krümel aus dem Stoff zu entfernen.

»Mira, schön dich zu sehen. Geh einfach durch, Marie sitzt in der Küche.« Ich nicke ihr kurz zu und kämpfe mich durch den überfüllten Eingangsbereich. An den Seiten sind Umzugskartons gestapelt, die bis jetzt noch nicht ausgeräumt worden sind und ich gehe auch nicht davon aus, dass es bei meinem nächsten Besuch anders sein wird. Die Neumeyers gehören eher zu der entspannten Sorte von Mensch, bei denen nicht alles immer sofort erledigt sein muss. Von dieser Gelassenheit könnte sich meine Mutter ein ganzes Stückchen abschneiden.

***

»Ich kann das nicht«, empfängt mich Marie, verschränkt die Arme vor der Brust und zieht einen Fluntsch. Ich seufze, ehe ich mich zu ihr an den Tisch setze. Neben abgebrochenen Bleistiftmienen, liegen kleine Papierkügelchen überall verstreut. Es sieht aus, als hätte eine große Schlacht stattgefunden. Ich spüre, wie sich plötzlich etwas schmerzhaft in meinen Oberschenkel bohrt und fahre mit der Hand über die Sitzfläche des Stuhls. Meine Finger fischen ein zur Hälfte durchgebrochenes Geodreieck aus der Polsterung. Ich lege es auf einen Stapel zerknitterter Schulhefte und starte einen erneuen Versuch, es mir auf dem Küchenstuhl bequem zu machen.

»Wo drückt denn der Schuh, Marie?«

»Wieso der Schuh? Du hast dich doch auf mein Geodreieck gesetzt.«

»Das habe ich auch gar nicht gemeint. Vielmehr wollte ich wissen, wobei ich dir in Englisch helfen soll.«

»Achso, warum sagst du das denn nicht gleich?«

Normalerweise ist Marie ein umgängliches, elfjähriges Mädchen, aber es gibt Tage, an denen sie einen in den Wahnsinn treiben kann. Heute ist so ein Tag. Die ersten zehn Minuten bin ich damit beschäftigt ihre Unterrichtsunterlagen wieder herzustellen, die sich als die kleinen Bombenkugeln auf dem Schlachtfeld vor uns entpuppt haben.

»Ich werde bestimmt eine sechs schreiben und dann streichen Mama und Papa mir das Taschengeld. Dann kann ich mir kein Spielzeug mehr kaufen. Und Klara braucht doch ein neues Kleid.«

»Du wirst keine sechs schreiben. Um das zu verhindern, bin ich ja da.« Behutsam streiche ich dem Mädchen über den Arm und bete inständig, dass ich mein Versprechen halten kann. Bis jetzt haben meine Nachhilfefähigkeiten immerhin dazu gereicht, dass sie halbwegs ihre Hausaufgaben macht und die Spitze in der Strichlistentabelle an einen Mitschüler abtreten musste.

Die nächste halbe Stunde lang versuche ich ihr den Unterschied zwischen den beiden You's der englischen Personalpronomen beizubringen.

»You, das bist du und You, das sollt ihr sein?« Sie guckt mich verunsichert an und zeigt auf die Reihe Küchenschränke gegenüber von uns. Ich nicke ermunternd mit dem Kopf.

»Aber wie soll man sich das denn merken und wieso können die nicht zwei unterschiedliche Worte nehmen?«

»Mit der Zeit wirst du dir überhaupt keine Gedanken mehr darüber machen, das geht dir irgendwann in Fleisch und Blut über.«

»Wirklich?« Marie guckt mir verunsichert in die Augen und ich nicke zum gefühlten tausendsten Mal aufmunternd mit dem Kopf.

***

Die restliche Zeit über helfe ich ihr bei den Hausaufgaben und erkläre ihr, wie man sein Vokabelheft richtig führt. Gegen fünf Uhr packen wir die Sachen zusammen. Marie begleitet mich zur Tür und fällt mir zum Abschied um den Hals.

»Danke Mira«, kreischt sie, lässt mich los und läuft wie ein aufgedrehtes Huhn hin und her.

»Bis Donnerstag dann.« Meine Worte gehen in einem lauten Scheppern unter, als einer der Umzugskartons krachend zu Boden geht und seinen gesamten Inhalt auf dem Teppichboden verstreut. Frau Neumeyer kommt in den Flur gehastet, Maries kleinen Bruder auf dem Arm und bedeutet mir mit einem Handschütteln, dass ich gehen darf und nicht dabei helfen muss, das Chaos zu beseitigen. Mir kommt das ganz recht. So verpasse ich nicht den Bus und bin rechtzeitig zu Hause, wenn er um sechs vom Training zurück kommt. Ich lasse die Tür ins Schloss fallen und eile freudig die Treppen nach unten.

Kapitel 2

Liebe ist nicht das was man erwartet zu bekommen, sondern das was man bereit ist zu geben.

(Katharine Hepburn)

 

Hinter mir geht über Kiel die Sonne unter, als ich auf die lange Auffahrt biege, die zu unserem Reihenhaus führt. Wir wohnen abgelegen vom pulsierenden Stadtlärm in einer Oase aus Ruhe und Stille, die nach einem anstrengenden Tag genug Energie bereitstellt, dass man nicht gleich todmüde ins Bett fällt, sobald man sein Haus betritt. Hinter den Häuserketten erstreckt sich ein altes Villenviertel mit angrenzender Parkanlage, die zu dieser Jahreszeit in allen nur erdenklichen Farben zu blühen scheint und die Luft mit einem herrlich süßen Duft schwängert. In meiner Kindheit haben Mum und ich im Sommer morgens Picknick auf den weiten Grasflächen gemacht und uns anschließend in der Mittagssonne ein Nickerchen gegönnt.

Die erste Villa hinter unserem Haus ist sein Zuhause. Es ist ein riesiges stuckverziertes Bauwerk mit bodenlangen Fenstern und schmiedeeisernen Balkongittern, wie man sie nur aus alten englischen Romanen kennt. Das gesamte Grundstück ist von einer zwei Meter großen Mauer eingekesselt, um ungebetene Gäste fernzuhalten und mir die Möglichkeit zu verwehren, zu seiner Haustür vorzudringen, wenn ich dafür je den Mut aufbringen würde. In meinen Träumen bin ich schon waghalsige Kletteraktionen eingegangen, habe die Mauer überwunden, mich von ihrer Oberkante abgestoßen und bin heldenhaft vor seiner Balkontür gelandet. In der Realität muss ich mich mit dem Blick aus dem Fenster genügen und mehr will ich im Moment auch gar nicht. Mum ist noch nicht zu Hause und so liegt es an mir schnell zwei Tiefkühlpizzen in den Backofen zu schieben, damit wir etwas zu Abendessen haben. In den zwanzig Minuten, während die Pizza backt, versuche ich ein wenig Ordnung in mein Zimmer zu bringen, in Windeseile meine herumliegenden Klamotten zusammen zu tragen und in die Waschmaschine im Badezimmer zu stopfen.

Kiki hat mir mittlerweile zwanzig Pistolen per WhatsApp gesendet, damit ich unseren Wettkampf morgen nicht vergesse. Ich schicke ihr dreißig Kanonenkugeln zurück und pflanze mich auf mein Bett. Der Tag steckt mir in den Knochen und ich recke meine Arme Richtung Decke, um meinen verkrampften Nacken zu entspannen. In der einsetzenden Dämmerung erkenne ich schemenhaft einen Stapel Bierkisten, der sich auf seinem Balkon auftürmt. Nicht mehr lange und die ersten seiner Freunde würden in ihren dicken BMWs und Mercedes in der Straßen halten und die Nachbarschaft mit dem Lärm ihrer Motoren erfüllen. Meistens feiert er gegen Wochenende, wenn seine Eltern auf Geschäftsreisen sind. Welchem Beruf sie genau nachgehen, kann ich nicht sagen. Beide sind Anzugsträger und verlassen meistens in den frühen Morgenstunden beladen mit zwei riesigen Aktenkoffern das Haus und kommen erst am späten Abend zurück. Gestern habe ich beobachtet, wie sie den schwarzen Porsche Cayman mit Reisekoffern beladen haben und anschließend in den Wagen gestiegen und davon gefahren sind.

***

Das schrille Piepen der Eieruhr in der Küche lässt mich nach unten gehen. Ich wundere mich, dass Mum immer noch nicht gekommen ist und erkundige mich in einer SMS, ob sie heute später kommt. Als nach fünf Minuten Warten keine Antwort kommt, fange ich mit dem Essen an, um noch vor sechs Uhr fertig zu sein. Der geschmacklose Pizzaboden klebt mir auf der Zunge und ich sehne mich nach einem selbstgemachten Eintopf mit frischem Gemüse, den mir meine Oma früher mindestens zweimal in der Woche aufgetischt hat. Seit Dad weg ist, habe ich auch sie nicht mehr zu Gesicht bekommen.

»Es ist für uns alle besser, wenn wir erst einmal auf Abstand gehen«, hatte sie mir damals am Tag im Gericht zugesprochen, an dem sich Mum das Sorgerecht für mich erkämpft und Dad sich anschließend auf ewig aus dem Staub gemacht hat. Seitdem sind ganze sieben Jahre vergangen.

Zurück in meinem Zimmer steuer ich direkt auf das Fenster zu.

Bei ihm ist noch alles dunkel, was mich etwas verwundert, da er sonst nie nach sechs vom Training zurück ist. Ich tippe ungeduldig gegen den Fensterrahmen und summe die Melodie eines Liedes, das eben unten im Radio gelaufen ist. Fünfzehn Minuten vergehen, in denen ich das Lied gefühlte tausend Mal in meinem Kopf abgespielt habe. Ich komme mir plötzlich blöd vor, wie ich da vorm Fenster kauer, nur um auf das Winken eines Fremden zu warten, aber meine Augen können nicht loslassen, von den Scheiben, in denen sich das Licht der Straßenlaternen spiegelt und hinter denen es genauso dunkel ist, wie davor. Der Parkplatz für seinen Audi ist leer. Er ist also wirklich noch nicht zu Hause.

Ich zucke zusammen, als mein Handy anfängt zu klingeln. Es ist Mum.

»Ja, was gibt's?«

»Mira, ich stecke noch auf der Arbeit fest. Das mit dem zusammen essen wird also nichts.« Kaum hat sie die Worte ausgesprochen, kommt auch schon das dumpfe Tuten, das mir zu verstehen gibt, dass sie aufgelegt hat. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die Zeit steht still zu stehen, in der ich darauf warte, dass sich draußen etwas regt. Um die Wartezeit zu überbrücken, schnappe ich mir Emma und verkrieche mich in meinem Bett.

***

Gegen acht sind laute Stimmen auszumachen, die sich in den Motorenlärm verschiedener Autos mischen. Schnell tasten meine Hände an den Lichtschalter und keine Sekunde später bin ich im Dunkeln. Ich will nicht, dass mich seine Freunde sehen, wie ich alleine vor dem Fenster herumlungere.

Mittlerweile ist das gesamte Haus hell erleuchtet und sämtliche Fenster stehen sperrangelweit offen. Auf dem Parkplatz kann ich zwei kleine Lichtpunkte ausmachen, die sich als Zigarettenenden entpuppen, als die zwei Gestalten sich der Eingangstür nähern. Es sind ein Junge und ein Mädchen. Letztere wirft sich kokett um den Hals ihres Begleiters, ehe die beiden im Haus verschwinden. Der weiße Audi ist noch nicht da und ich frage mich, wie es seine Freunde ohne ihn ins Haus geschafft haben. Er musste einem von ihnen seine Schlüssel gegeben oder woanders geparkt haben . Meine Mutter würde durchdrehen, wenn sie Kiki alleine in unserer Küche vorfinden würde. Sie traute generell niemandem, außer sich selbst.

Fortsetzung folgt

 

 

 

Impressum

Texte: Daggs C.
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2015

Alle Rechte vorbehalten

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