Cover





Er hatte sich verändert. Es war mehr als nur das. Sie kannte ihn nicht mehr. Das Bild von ihm wurde unscharf. Der Blick, mit dem sie ihn jahrelang so stolz angesehen hatte, verblasste. Er gehörte jetzt einer anderen Frau, das wusste sie, das wusste er. Und es war ganz offensichtlich, dass diese neue Frau an seiner Seite nicht mehr ihre Mutter war.
Das Leben ist wandelbar und in den letzten acht, neun, achwas, zehn Jahren hatten sie sich irgendwann auf halber Strecke verloren.
Er lebte schon lange ein Leben, von dem sie nichts mehr verstand und kein wirklicher Bestandteil mehr davon war. Er verfolgte nun Ziele, die er mit ihr nie in Betracht gezogen hätte. Und wenn man ehrlich war, hätte er längst dieses Leben gelebt, das er nur führte, wäre sie nie in seines getreten.
Als sie damals ging war es ihre Entscheidung gewesen, die er seither bitter bereute.
Ihre Entscheidung war niemals gegen ihn gerichtet. Die Beziehung zueinander stand schon lange auf wackeligem Grund. Er liebte sie, das wusste sie. Eben genauso viel, wie ein Vater seine Tochter lieben konnte. Und er hatte ihr auch einiges bedeutet. Wie viel, das war ihr nie klar gewesen.
Er war schließlich ihr Vater. Und sie waren verpflichtet dazu, sich zu lieben. Das tat man schließlich in solch einer Beziehung.

Alles fühlte sich falsch an ihm an. In seiner Nähe zu sein, zerbrach ihr das Herz. Er war schrecklich falsch geworden. Er bewegte sich nicht mehr so, wie sie ihn kannte. Benutzte Worte, die sie nicht von ihm kannte. Die falschen neuen teuren Anzüge, das Auto, das Haus. Es sah wohlhabend aus und stellte man ihn daneben, so wirkte er klein und zerbrechlich und sein Vermögen übertünchte ihn mit Hohn.

Früher war sie nie Gast gewesen, wenn sie zu Besuch war. Sie gehörte dazu. In seinem neuen Leben war sie eine Begleiterscheinung, die sich nicht mehr wegradieren ließ. Und das störte sie. Sie wurde niemandem vorgestellt. Sie kannte seine neue Familie nicht. Sie wusste nichts von ihnen. Und das wollte er so. Das wusste sie. Sie wurde abgeschirmt. Nicht zu ihrem Wohl, aber doch soweit, dass die anderen sie nicht bemerkten und Fragen stellen konnten. Wer war sie? Nicht einmal sie konnte sich diese Frage beantworten. Sie gehörte dazu, das war es doch!
Sie war die Parallele, die man nicht brauchte, eine Vergangenheit, die man nicht wollte, eine Zukunft, in der man sie nicht haben konnte.
Sie und er, ein eingeschworenes Team. Niemand dazwischen. Niemand der störte. Und jetzt sollte sie auf einmal der Störenfried sein?

Es fiel ihr schwer, ihn los zulassen. Ihn in die Fänge einer fremden Frau zu geben, die sie nicht sonderlich mochte. Und er wich ihr immer öfter aus, auf Fragen, die gestellt werden mussten. Er hatte sich ihr noch nie geöffnet. Es gab Momente, da waren sie kurz davor gestanden, dem anderen alles anzuvertrauen, aber die Scham über Geschehenes war oft größer als der Durst nach Alkohol, der zur Offenheit beitrug.
Sie kannte viele seiner Geschichten aus der Jugend und Kindheit. Und viele, so kam es ihr vor, glichen ihrer eigenen.
Er kannte all ihre Geschichten, schließlich war er maßgeblich daran beteiligt gewesen. Und er und sie wuchsen an diesen Geschichten bis zu dem Tag, als sie auszog.

Jetzt, da sie erwachsen war und er alt geworden zu sein schien, waren diese Geschichten, die sein Leben schmückten nicht mehr oft von ihrer Anwesenheit durchtränkt. Und er hätte nicht mit Sicherheit sagen können, welche er von ihnen tatsächlich miterlebt hatte.
Es kam die Zeit, als sie sich trennten. Sie war noch fast ein Kind und doch schon groß. Und er dachte, sie würde sich schon für den richtigen Weg entscheiden. Welcher dieser allerdings war, das wusste er selbst nicht. Käme er überhaupt mit ihr zurecht? Würden sie miteinander auskommen? Würden sie sich lieben, wie Vater und Tochter das nun mal mussten, oder würden sie anfangen sich zu verachten?
Er musste darüber nicht nachdenken. Sie entschied sich gegen ihn. Das war sein Gefühl. Sie entschied sich gegen ihn! Und als er begriff, dass sie sich keineswegs gegen ihn entschieden hatte, fing er an, sie ihrer Entscheidung wegen zu verachten.

Die vorpuberträen Anfälle, auf die er gehofft hatte. Die Jugend, die er wieder erleben wollte, durch ein Kind, durch sein Kind. Das erwachsen aus der Kindheit in die Selbstständigkeit. Das bittere Weinen am anderen ende der Telefonschnur. Die Diskussionen, abends später nach Hause kommen zu dürfen. Einzuladen, wen sie wollte und wann sie wollte, mit ihrem Besuch zu machen, was sie wollte.
All das verpasste er.
Sie meldete sich seltener und er dachte weniger an sie. Und der Schmerz über den Verlust wurde überdeckt durch diese neue Frau.

Er bemühte sich wenig um sie. Sie besuchte ihn ab und an in seinem Haus. Ein Haus, das sie kannte. In dem sie aufgewachsen war und in das sie irgendwann später zurück kehren wollte, das stand fest. Ein Haus, das er eintauschen wollte gegen ein komplett neues Leben. Ein Leben abseits von ihr und abseits von allen Altlasten. Diese Frau, sie machte das aus ihm.
Sie erinnerte ihn an seine Vergangenheit. Wenn er sie ansah, wenn er mit ihr sprach, sie in seiner Nähe hatte, all das war schrecklich für ihn. Eine Erwachsene, die sein Kind war und der verpasste Zeitraum dazwischen.

Heute stand sie vor ihm und sah einen alten Mann, weitaus älter, als er eigentlich war. Eingefallen und verblichen, wie eine alte Polaroid- Fotografie, die zu lange in der Sonne gelegen hatte. Vergilbt und nostalgisch.

Es waren Blicke und Worte und Gesten, die sie nicht an ihm kannte.
Selten werdende Gespräche. Distanz, bis zum Überlaufen ausgeschöpft. Die Tage wurden kürzer, so schien es ihr und die Jahre waren verstrichen und was sie vor sich sah, war keineswegs mehr ihr Vater.
Es waren Jahre des Schweigens, Jahre in denen sie sich nicht füreinander interessiert hatten.
Irgendwann, weder sie noch er wussten den genauen Zeitpunkt, hatten sie sich verloren. Die Nähe, die Geborgenheit, das Vertrauen zwischen ihnen, es war erloschen. Auf halbem Weg erstickt.
Er liebte sie, das wusste sie. Eben genauso viel, wie ein Vater seine Tochter lieben konnte. Und er hatte ihr auch einiges bedeutet. Wie viel, das war ihr nie klar gewesen.
Er war schließlich ihr Vater.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /