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Ich hab ziemlich viel nachgedacht in den letzten Tagen. Es handelt sich da rund um 192Stunden.
Ich bin um ehrlich zu sein auch auf keinen wirklichen Schluss gekommen, außer, dass du wohl der größte Versager überhaupt bist. Wenn ich mir dein Leben so anschaue, hast du wirklich nichts geschafft.
Das mag jetzt merkwürdig klingen, weil du ja auch noch relativ jung bist, und was sollst du schon großartig in der Welt verändert haben, aber du kannst nicht mal Kleinigkeiten behaupten, verändert zu haben. Es gibt nichts. Du kannst dir falsche Nägel aufkleben und einen Hosenanzug tragen, die Haare Färben und dir Tattoos stechen, aber dann hast du dich auch nicht wirklich verändert. Du bist optisch vielleicht etwas in Verwegenheit geraten, was aber im ersten Augenblick nicht wirklich auffällt. Du hast nichts geschafft, was mich weiterbringt.
Traurig, oder?
Ich habe Leute in deinem Alter gesehen, die sich Häuser kauften und Kinder zeugten.
Ich habe Leute in deinem Alter gesehen, die millionenschwer waren und geizig.
Ich habe Leute in deinem Alter gesehen, die sich bereits jetzt für den einen richtigen Weg entschieden haben.

Du bist jetzt in dem Alter, in dem man wissen sollte, was man möchte.
In einem Alter, in dem man sich Ziele steckt, wo man in so und so vielen Jahren sein möchte.
In deinem Alter wohnt man nicht mehr zu Hause und kriegt von Mama die Wäsche gewaschen. Und trotzdem tust du nichts dagegen.

Ich hab das Gefühl, dass eine höhere Macht alles Gute um dich herum abfängt. Alles wofür es sich zu leben lohnte, alles was aus einem Menschen ein Individuum macht. Und dieses ganze Zeug erreicht dich nicht. Wird abgeschirmt vor dir. Wird vor dir geheim gehalten. Aber wozu?
Du kommst dir vor wie in deiner eigenen Sitcom, die extra für dich konzipiert wurde, damit du hier auf der Welt vor dich hindümpelst und mich frage, wozu das alles? Eine eigene Show, in der du die Hauptrolle spielst und alle um dich herum als lächerliche Komparsen angeheuert wurde, dir das Leben entweder zu versüßen oder dich komplett daran zu Grunde gehen zu lassen.
Ich habe keine Wahl, ich kenne die Wahrheit über dein Leben nicht. Aber ich kenne die Wahrheiten, die mir erzählt werden, als Wahrheiten verkauft werden, damit ich sie kaufe und bezahle und davon lebe und mich danach richte.
Wie kann eine ganze Horde Menschen wohl in etwas falsch liegen, sich irren, sich etwas ausdenken, wenn es doch in Wahrheit zu deinem Drehbuch gehört. Wie kannst du dich dagegen wehren, wenn du doch gar nicht in der Lage bist zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.
Die Lüge deines Lebens lebst du in ihrer eigenen Wahrheit weiter.
Die Wahrheit deines Lebens lebst du als Lüge unerbittlich weiter.
Ich erkenne sowohl die Wahrheit nicht als solche an, geschweige denn die Lüge als ihresgleichen. Genauso gut könnte ich behaupten, du seist die Komparse meines Lebens. Könnte sagen, dass du in meinem Drehbuch eine wirklich schlimme Rolle übernimmst, dass der Text, den ich lernen muss, heute außerordentlich schwierig war, dass ich es satt habe und aus dem Showbusiness aussteige. Mir meine eigenen Träume und Wünsche verwirkliche. Mir meinen eigenen Lebensunterhalt verdiene und dich auslache, dass du eine Marionette deiner selbst geworden bist, mit Komparsen, die dir das Leben entweder versüßen oder dich zu Grunde gehen lassen. Ich weiß wirklich nicht, an welche Stelle ich stehe und ich kann mir nicht anmaßen zu sagen, ich stünde dort prächtig in der Welt. Ich kann mir nicht anmaßen zu behaupten, es sei bequem, wie ich dort stehe und ich kann mir nicht anmaßen, es sei schon für irgendwas gut, wie ich da stehe. Ich weiß nämlich weder die Bequemlichkeit noch den genauen Standort. Ich stehe einfach. Ich rege mich nicht. Ich gebe mich geschlagen anstatt mich zu wehren. Mir mein eigenes Leben zu suchen und so zu tun als würde ich mich darin zu recht finden.

Leute in Hosenanzügen und aufgeklebten Nägeln sagen dir, wie du zu leben hast, wie du zu leben bestimmt bist. Lächeln über deine Art, deine Weise, dein Leben. Und Leute in Latzhosen und Sicherheitsschuhen lächeln über deine Art, deine Weise und dein Leben. Du steckst mittendrin zwischen Wohlstand und halbem Elend. Zwischen Leben und Tod.
Ich hab Angst.
Du hast Angst.
Du hast Angst zu leben, vor dem Leben, du hast Angst dein Leben mit einem anderen Leben zu teilen, dich für das andere Leben komplett aufzugeben und zum Deppen zu machen um festzustellen nur wieder verarscht worden zu sein.
Du hast Angst vor dem sterben. Nicht mal vor dem Tod. Du hast Angst davor, wie du zu Tode kommst.
Du hast es bis jetzt in deinem Leben nicht geschafft bei einem Autounfall auf dem Weg in den Urlaub um zukommen. Du hast es nicht geschafft von einem Besessenen entführt und umgebracht worden zu sein, du hast es nicht geschafft von einer riesigen Welle gepackt und davon gespült worden zu sein. Du bist eben ein kompletter Verlierer. Du hast es zu nichts gebracht.
Und doch kommt es mir so vor, als wären alle Schicksalsschläge auf einmal eingetreten und hätten sich in ihrer brutalsten Grausamkeit über dich gelegt, wie ein Schatten im Halbdunkeln.
Als hätten sie nur darauf gewartet, dass es dir lange Zeit an nichts mangelte, um dann mit bloßer Gewalt zuzuschlagen. Dich zu packen, dich zu kauen, dich zu schlucken und als Häufchen Elend wieder auszuspucken.

Ich warte und warte und warte das was passiert.
Das die Welt sich schon gnädig stimmt.
Das irgendwann mal was passiert, was mich berührt, das dich erreicht und mit seiner ganzen Intensität dich mitzieht und du bedingungslos mitkommst. Alles stehen und liegen lässt, um einem Ideal zu folgen.
Bin ich ein schlechter Mensch?
Kommt deswegen niemand zu mir?
Erreicht mich deswegen die Welt nicht?
Die Welt ist so grausam. So unordentlich und so unvollkommen. Sie spart an einigen Stellen ein, wo hingegen sie an anderen Stellen im Überfluss zu leben scheint. Aufzublühen in einer Quelle aus Gold und Macht und Glitzer und Glamour.
Es ist absurd, aber ich denke an die Vergangenheit.
Menschen, die mit ihrer Gegenwart nichts anfangen können und sich darin nicht zurechtfinden, stürzen sich immer in die Vergangenheit und versinken da und verbluten, ersticken, tauchen darin ein, lullen sich darin ein und reden sich ein, es wäre alles besser gewesen. Und im schlimmsten Fall wachen sie nie wieder auf!

Ich sehe Menschen am Straßenrand zu Tausenden stehen, die ich schon so oft im Leben gesehen hab. Alle vom gleichen Schlag. Alle identisch. Keiner individuell. Sie sehen gleich aus, tragen den gleichen nichtssagenden Namen und vermitteln das gleiche inkompetente Bild, das sie leben. Das sie am Leben erhält. Jeder auf seine Weise.
Ich gehe an ihnen vorüber und denke darüber nach, dass ich sie alle haben könnte. An jedem Finger zehn oder mehr. Und ich schau dich gleich darauf an und ich stelle fest, dass ich nicht mal einen an einem Finger an einem Tag in einem beliebigen Monat in einem unvollkommenen Jahr haben könnte.

Ich verbringe einen Teil meines Lebens mit einem Teil eines anderen Lebens und ich stelle fest, dass mich dieser Teil zu nichts bringt. Lass ihn los auf die Welt, auf andere, damit er mit jemand anderem einen Teil eines anderen Teils verbringen können. Ich mache mir Vorwürfe, wie blind ich sein konnte zu glauben, dass aneinandergereihte Teile schon ein gutes Leben ergeben könnten. Ich mache dem anderen Teil einen Vorwurf, dass er sich an meinen nicht richtig angepasst hat. Dass er sich nicht angestrengt hat zu mir zu passen und versagt hat. Dass er mir kein Kontra gab. Dass er sich nicht anmaßte mich anzumaßen und dass er neben mir statt mit mir gelebt hat.
Dass ein Puzzle so verwirrend sein kann.
Dass ein Teil dieses Puzzles mit vielen Teilen ein ganzes Leben ergibt.
Und dass es, so klein es auch scheint und so kurz das Leben auch war, immer ein vollständig fertiges Puzzle am Ende eines Lebens ergibt.

Ich mache dir Vorwürfe, dass du meine Zeit vergeudest, dass du mir meine Zeit geraubt und mich hast verbluten lassen in der Zeit, als ich dich am meisten brauchte. Ich mache dir Vorwürfe, dass du so bist, wie du bist und so wie du bist nicht zu dem passt, wie ich sein will. Und ich mache mir wiederum Vorwürfe, warum ich überhaupt jemals einen Teil meines Lebens mit einem Teil eines anderen Lebens geteilt habe.

Du erschreckst die Leute mit deiner Art. Und wenn du sagst, du seist kompliziert und es sei nicht einfach mit dir aus zukommen, lachen sie und tun so, als sei es ein Scherz. Und wenn sie merken, dass du Recht hattest und wenn sie merken, dass sie an dir abprallen wie Wellen an Klippen, dann merken sie meistens, dass sie dich nicht ernst genommen haben. Müssen sich eingestehen, dass sie dich nicht ändern können. Müssen sich vor Augen halten, dass alles woran sie geglaubt haben, dich für sich zu gewinnen, ein Albtraum ist. Und dass sie auf ganzem Wege gescheitert sind. Dass sie gestürzt sind, vom hohen Ross herab in den Dreck.

Die Individualität eines jeden hängt doch davon ab, wie individuell man für jemand anderen ist. Nicht davon, wie individuell man sich gestalten oder lebt, oder vorgibt sich gestaltend zu leben.
Es hängt nicht davon ab, ob man so tut, als wäre man individuell, sondern davon, ob man es von Natur aus ist.
Ich kenne Menschen, die sich an Ideale klammern, daran festhalten etwas sein zu wollen, weil es gerade modern ist. Weil es alle anderen auch tun. Weil man sein möchte wie alle anderen. Und dann stellt man fest, dass man keine Ahnung hat, wie andere denn sind. Dass man eigentlich gar nicht irgendwie und irgendwo und irgendwer Besonderes sein möchte. Man gibt sich damit zufrieden einer unter Tausenden zu sein. Unterzugehen und mitzugehen und mitzulaufen. Weitermachen um jeden Preis. Das Leben nicht wegwerfen, das uns geschenkt wurde- von wem auch immer.
Von der Natur, die dich verspottet. Du warst nur ein Versuch. Einer, der gründlich daneben ging, aber ein Versuch warst du wert. Du hast versucht es der Natur zu zeigen, du hast versucht zu sein wer du bist, wann du bist, wie du bist, dass du bist. Und keiner nimmt es dir ab. Keiner will dich. Keiner schreit nach dir und schaut nach dir und keiner guckt sich nach dir um. Die Leute sehen dich an und schauen durch dich hindurch. Sie pfeifen auf dich anstatt nach dir. Ob es dich gibt, wann es dich gibt, dass es dich gibt, wer weiß das schon?
Denkst du, dass sich jemand fragt, was du heute wohl machst, während er gerade dabei ist für jemand anderen zu kochen?
Während er gerade dabei ist, für jemand anderen die Wäsche zusammenzulegen? Während er gerade dabei ist jemand anderen zu lieben als dich?
Ich denke nicht.
Wir tun so, als würde es das. Als sei es uns nicht egal, dass irgendwo alle sechs Minuten ein frisch geborener Mensch stirbt, weil das Land in das er hinein geboren wurde die Kapazität an Menschenleben längst ausgeschöpft hat. Und um unser Gewissen zu beruhigen geben wir Gold und Glitzer und Glamour dafür her, um ihnen die Kapazität zu erweitern. Doch es hilft nichts. Denn jetzt stirbt nur alle sieben Minuten ein frisch geborener Mensch.
Die Natur setzt uns Katastrophen aus, damit wir lernen zu begreifen zu überlegen zu handeln. Sie weiß, dass sie nur eine gewisse Kapazität erfüllen kann. Sie weiß, dass Leben durch Leben entsteht und durch Leben kaputt gemacht werden kann. Darum gibt sie uns die Macht uns selbst zu zerstören, damit neuer Platz geschaffen werden kann. Sie gibt sich selbst die Macht, wenn wir es nicht durch uns schaffen. Und sie maßt sich an über Leben und Tod zu entscheiden. Sie hilft uns, uns die Entscheidung dafür abzunehmen. Und darum leben wir - oder wir sterben. Wann das ist, weiß die Natur. Und wie es ist, weiß sie auch. Und selbst den Standort und die genaue Uhrzeit. Sie muss wahrlich eine große Macht sein, um so etwas entscheiden zu können.

Das Leben haben wir uns nicht ausgesucht. Es wurde uns auch nicht geschenkt. Geschenke sind nichtssagend, wenn sie uns nicht nützen. Aber was nützt das Leben? Was nützt es dir zu leben? Für jemanden zu leben. An jemanden Leben zu hängen? Entscheide dich auf welcher Seite du stehst.
Gibst du, oder nimmst du?
Verzehrst du, oder wirst du verzehrt?
Bist du der, für den du glaubst dich auszugeben, oder ist es eine Ideologie, für die du zu leben glaubst?

Das Leben hängt an einem seidenen Faden. Es fließt durch unsere Venen, wie roter Wein. Es fließt munter und manchmal schnell. Und es fließt und lebt so vor sich hin.
Es braucht nicht viel, damit es davon abgehalten wird. Es ist furchtbar erschreckend, findest du nicht? Dass das Leben doch so kostbar ist. Und dass es vor Herrlichkeit strotzt.
Ich bin mir sicher, du würdest das auch so sehen, wärst du an meiner Stelle.
Auf einmal ganz plötzlich ändert sich meine Einstellung.
Ich stehe auf der anderen Seite. Ist das nicht komisch?

Ich halte mir den Spiegel vor und betrachte dich.
Von Nahem und von Weitem.
Mit einem geschlossenen und einem geöffneten Augen.
Mit Wut und mit Zufriedenheit.
Ich sehe dich, wie du an mir vorbeiziehst, wie du vorgibst ich zu sein und wie du mich davon überzeugen willst.
Ich sehe dich an und denke nicht im geringsten, dass du ich bist. Ich sehe jemanden, aber nicht mich.
Das Leben wurde mir gerade erneut geschenkt. Ich habe überlebt. Ich werde weiter leben,während andere von mir gingen.
Ich sehe dich an, lächelnd. Aber du lächelst nicht zurück.
Du bist steif vor Schmerz. Entzerrt, könnte man fast sagen.
Im Radio sagen sie, du hast Glück gehabt, dass du überlebt hast. Ich sage dir ganz im Vertrauen, ich hätte es mir anders für dich gewünscht, wenn ich sehe, was aus uns geworden ist.

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Tag der Veröffentlichung: 10.10.2011

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