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Liebes Drachentagebuch


Liebes Tagebuch,
was ich jetzt schreiben muss, das weigert sich, geschrieben zu werden. Ständig frage ich mich, ob ich geträumt habe oder sogar verrückt geworden bin. Ich habe mich entschlossen, dass ich mir einfach vorstelle, meine Gedanken, die mich gerade nicht mehr loslassen, wären wahr…
Also erzähl ich denen, die es ohnehin niemals lesen werden, völlig unbefangen:
Gestern hab ich die Welt der Drachen besucht. Ja, wirklich! Ich wusste selbst nicht, dass es diese Wesen überhaupt gibt, auch wenn ich es mir immer gewünscht habe. Warum? Weil ich etwas Mächtiges in der Welt vermisse. Etwas Besonderes. Etwas Magisches. Für mich waren Drachen nie gefährlich. Im Gegenteil.

Und gestern, als ich mit dieser Gruppe junger Leute unterwegs war, die sich wie ich dieser „Exkursion“ angeschlossen hatte, in einen Wald, der tatsächlich „Zauberwald“ genannt wird, da – nein - sowas schreibt man nicht…

Tun wir noch einmal so, als wäre es wahr:
Also ich und diese Exkursion mit hauptsächlich jungen Leuten – es könnte beinahe eine Schulklasse sein... also wir wanderten durch diesen Wald, der sich Zauberwald nennt. Doch diese Wanderung sollte für mich das unwichtigste an diesem Ausflug werden. Wir trafen uns auf einem Parkplatz, fuhren mit dem Bus zu einem weiterem Parkplatz am Rande dieses Zauberwaldes, führten unwichtige Kennenlerngespräche und wanderten los.

Ich hatte eine junge Frau in meinem Alter an meiner Seite, und wie es sich für Frauengespräche so gehörte, tratschten wir erst einmal scheinheilig über unsere Beweggründe zu dieser Exkursion, um uns dann unseren Mitreisenden zuzuwenden. Ich mag oberflächliche nicht...
Währenddessen passierten wir schönste Waldflora - nein wirklich - ich kann mich in so etwas verlieren und muss mich in der Regel sehr darauf konzentrieren, ob XY mit dem 3-Tage-Bart nun als allgemein männlich und attraktiv gilt oder eben eher dem Nieschenfrauengeschmack entspricht.
Ich bin so eine Nieschenfrau.
Aber manchmal kann ich mich dem allgemeinen Dünkel eben auch nicht entziehen. Und so kamen meine Gesprächspartnerin und ich bald überein, dass der charismatische, schwarzhaarige Jüngling, der sich so sportlich fern von uns immer weiter in Richtung Gruppenspitze bewegte, doch unser erklärter – und unerreichbarer – Schwarm war.
Warum eigentlich unerreichbar?

Meine Güte, ich war froh , als wir endlich diesen Rastplatz erreichten, an dem sich der Großteil der Gruppe auf die Hütte mit dem überteuerten Proviant stürzte – einschließlich meiner Weggefährtin, die sich eben an den von uns genau analysierten dunkelhaarigen Schwarm heranmachte.
Ich fand ihn tatsächlich recht hübsch.

Ich begab mich proviantlos an den Bach nebenan und lies die mittlerweile nackten Füße in dem kalten Wasser baumeln, während ich mich fragte, warum es mir immer noch so schwer fiel, menschliche Kontakte zu knüpfen. Ich bin eine Einzelgängerin seit ich denken kann. Smalltalk ist für mich unglaublich anstrengend und einen wildfremden jungen Mann anzusprechen käme überhaupt nicht in Frage. Eine Träumerin bin ich auch noch, was ebenfalls nicht gerade zu meiner Beliebtheit beiträgt. Und dass ausgerechnet ich dem Drachen begegne, das lässt mich bis heute darüber nachgrübeln, ob es da nicht irgendeinen Zusammenhang gibt...

Denn an diesem Tag sah ich, mit den Füßen im Bach des Zauberwaldes baumelnd, dieses selten gesehene Schimmern zwischen den Bäumen im Wald über mir.

Ich weiß noch, dass ich kurz die Luft anhielt. Zu wirr war auf einmal die ganze Situation, in der vor mir das Dickicht zu glimmen begann und hinter mir dümmliche Witze von Halbstarken und Möchtegernerwachsenen die Ruhe zerschnitten.
Doch der Lärm hinter mir verblasste mehr und mehr. Ich sah nur noch dieses sanfte Schimmern zwischen den Bäumen, und obwohl ich wusste, dass ich eine Träumerin war, kribbelte auf einmal mein ganzer Körper und mein Herz begann zu rasen. Und weil die Geräusche hinter mir immer leiser wurden und die ohnehin schon fremden Mitreisenden plötzlich noch fremder wurden, entschied ich, dass es keinen Unterschied machen würde…
Barfuß durchschritt ich den Bach. Es fühlte sich schön an. Weiche, algenbewachsene Steine schmeichelten meinen Füßen.
Dann der Waldboden. Falls etwas an ihm unangenehm war, ich spürte es nicht. Da war Moos, da waren Nadeln und das Laub der Bäume um mich herum, und alles glich einem weichen Teppichboden. Das Flüstern und Lachen hinter mir verklang weiter und wurde unwirklich. Vor mir schillerte nur noch dieses seltsame Leuchten hinter dem Hang…
Ein Drache.

Wenn ich dieses Wort so schreibe, dann erscheint mir das alles noch immer wie ein seltsamer Traum oder ein Hirngespinst oder eine Fantasie. Es ist mir gleich. Ich will nicht, dass es Traum ist! Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn dort liegen, im Wald, in dieser Senke voll Unkraut. Ich sehe seine silbrigen Flanken sich heben und senken, wenn er atmet. Ich sehe seine smaragdgrünen Augen blicklos in die Leere starren, währenddessen sich seine Krallen unaufhörlich in das weiche Moos graben, um es wieder loszulassen… auf und zu... Er wirkt so... einsam?

Es dauert lange, bis ich seinen Blick einfangen kann. Am Ende stehe ich so nah vor seinem Haupt, dass er mich mit einer einzigen Bewegung in zwei Teile beißen könnte. Seine Schuppen erinnern mich an Muscheln.

Die Tatze des Drachen hebt sich plötzlich. Ich erschrecke. Sein geschmeidiger Leib gerät in Bewegung und er nähert sich mir ruhig genug, dass ich all meine Angst verlieren kann. Ich wage es sogar, mich ihm noch weiter zu nähern. Als ich dann auf seinem Rücken sitze und er sich mit mir in den Himmel erhebt, da bleibt die Zeit für mich stehen.

Jetzt, da ich diesen Bericht schreibe, ist es mir so dermaßen gleich, ob meine Erinnerung der Wahrheit entspricht oder ob ich einem Tagtraum erlegen bin. Selbst wenn ich mir all das nur eingebildet habe, ich würde daran festhalten. Ich erinnere mich an die Wolken unter mir, an den warmen, schillernden Leib des Drachen, an die Freiheit… ich sehe in der Ferne die tanzenden Körper der anderen Drachen, dort hinten am Horizont und noch viel näher… rote Drache, grüne Drachen, goldene Drachen. Sie schwimmen durch die Luft und umschlingen einander, stürzen hinab und gleiten dahin, und hinter ihnen färbt sich der Horizont langsam rot.
Ich wage es nicht, das in Frage zu stellen, was ich dort sah, dort oben, in der Freiheit.

So unglaublich intensiv war das Gefühl - wer es noch nicht gespürt hat wird nicht wissen, dass "Intensität" selbst als Gefühl bereits seine Berechtigung hat. Der Drache und ich, wir flogen dahin, durchschnitten die Luft und... es gab eine Verbindung zwischen uns. Er raste fort und fort, tanzte sich in Extase und ich konnte nicht fallen, das wusste ich - ich war mit ihm verbundem, im Himmel, im Geiste, und welche Kapriolen er auch schlug, ich fiel nicht von ihm ab.
Wir waren eins.

Wir wurden eins.
Dort hinten am Horizont sah ich noch immer die anderen Drachen tanzen. Mir war klar, dass dort die Grenze zu einer anderen Welt liegt. Und ich wollte es wagen... wir tanzten um des Tanzens Willen. Und je weiter wir uns ihrer Welt näherten, desto mehr verschmolzen der perlmuttfarbende Drache und ich. Bald gab es uns nicht mehr. Bald gab es nur noch mich und er würde das gleiche sagen - ob er überhaupt sprechen kann?
Wir flogen - ICH flog in berauschendem Tempo auf diese magische Grenze vor uns zu, hinter der die anderen Drachen wahrhaftig ihre Kapriolen schlugen. Geschmeidige Wesen in der Ferne. Bunte, schillernde, tanzende Andere.
Meine Flügel entfalteten sich weiter, zerschlugen kraftvoll spielerisch den Wind und... unterwarfen sich mir. Ich beherrschte die Luft und beherrschte meinen drakonischen Laib. Schneller und noch schneller glitt ich dahin zu dieser unsichtbaren, aber spürbaren Grenze...

Da war es auf einmal, als würde mich ein Schlag von der Seite erfassen, auch wenn ich heute weiß, dass es "nur" ein Windstoß war - welch Glück. Aber es war nicht die Grenze.
Der Schlag war so heftig, dass ich die Kontrolle über meinen so eben neu gewonnen, geschmeidigen Körper verlor und ich spürte mich nur noch stürzen. Ein schreckliches Gefühl. Flügel hin oder her. Wenn man fällt, dann weiß man nicht sofort, wo der Boden ist.

Den Boden fand ich mit Gewalt. Ich weiß nicht, wie tief ich gestürzt bin, aber der Aufprall war nicht einmal annähernd so schmerzhaft wie er hätte sein müssen, wäre ich ein Mensch gewesen. Dann hätte ich ihn vermutlich nicht überlebt.
So hob ich meinen Kopf am Ende meines schlangenartigen Halses und sah mich verwirrt vor mich hinwiegend um. Vor mir landete ein mächtiges schwarzes Schuppenwesen.

Ich dachte nichts.

Ich hätte vielleicht Furcht haben müssen. Ich frage mich heute, wie andere reagiert hätten, wenn dieses riesige, finster geschuppte Ungetüm sie zu Boden geworfen hätte. Ich blieb innerlich erloschen. Wie ich es eben immer war bis ich den Himmel erobert hatte. Und vielleicht hätten andere ihn genau deshalb nie gesehen.

Der schwarze Drache richtete sich auf und begann drohend mit den Flügeln zu schlagen. Die Bewegung, die er mit scheinbarer Leichtigkeit ausführte, entfachte einen Windstoß, der in der nahen Umgebung die Bäume umknickte. Ein mächtiger Körper, Düsternis, Kraft... Ich war wie gebannt. Auf einmal war mir klar, dass ich so etwas Schönes noch niemals gesehen hatte. Ich fürchtete mich nicht, aber die Botschaft des Drachen war klar. Einem uralten Ritual folgend duckte ich mich und presste meine Flügel dicht an meinen Körper. Da senkte der schwarze Drache sein Haupt bis zu mir hinab.
Diese Augen werde ich niemals vergessen. Nicht diese seltene Farbe hielt mich fest, nicht das fast schwarze Braun mit den dunkelgrünen und goldenen Sprenkeln. Es war der Ausdruck in seinen Augen Es war sein Blick der mich in den Bann schlug. Diese Augen hatten alles gesehen... Mein Herz begann zu rasen und ich konnte plötzlich vor Aufregung nicht mehr stillhalten. Ich hob den Kopf, um ihm noch näher zu sein, wobei ich seinen Blick nicht loslassen konnte. Einen kurzen Moment lang schien es als würde eine Verbindung zwischen mir und diesem König der Drachen entstehen...
Dann zuckte er zurück. Ein tiefes Grollen kam aus seiner Kehle, das ich bis tief in die Eingeweide spürte. Seine Botschaft war klar. Ich musste zurück. Am Ende war ich noch immer ein Mensch.

Als ich mich dort unten am Bach wieder umdrehte, als ich mehrmals blinzeln musste um den jungen Mann vor mir zu erkennen, der mich besorgt und mit angenehm tiefer Stimme fragte: „Hey. Wo schaust du denn da gerade hin? Du heißt Maja, nicht wahr?", da wurde „die Wahrheit“ – was auch immer das sein mag, auf einmal unerheblich. Ich starrte in dunkelbraune, fast schwarze Auegn mit seltenen grünen und goldfarben Sprenkeln. „Sag mal..,“ frage ich und werde dabei wohl ziemlich rot. „Da oben, an diesem Hügel dort, an dem dieser Busch steht, ja, den einsamen dort oben, den meine ich… was siehst du dort?“

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Tag der Veröffentlichung: 27.03.2012

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