Kapitel 10
„Ach ja?“, fragte ich trocken. Melinda verdrehte die Augen und schnaubte. „Liebes, wenn Manuel hinter dir her ist, hast du weitaus mehr als nur ein Problem.“ Tolle Feststellung.
„Würdest du es jedenfalls übernehmen, auf Dylan aufzupassen?“, fragte Dean. Melinda hatte zwar keine Schultern, aber irgendwie schaffte sie es trotzdem, den Eindruck eines Schulterzuckens zu machen.
„Klar, es kann ja nicht so schwer sein, auf ein Kind aufzupassen“, meinte sie, „Ich muss noch was erledigen, bis dahin kannst du mir ja schon mal ein Gefäss suchen. Aber nicht deine hässliche Tonschale vom letzten Mal! Die war scheusslich.“
Damit verschwand ihr Gesicht von der Wand und es war einen Augenblick still.
„Sie ist jetzt fast 200 Jahre alt, aber sie benimmt sich immer noch wie eine absolut unreife kreischende 17-Jährige…“, seufzte er. Zumindest, bis er meinem skeptischen Blick begegnete. „Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Zufälligerweise bin ich 17!“ Ich starrte ihn böse an.
Scheinbar hatte er vergessen, dass ich kein uraltes magisches und unglaublich cooles Mädchen wie Melinda war, sondern einfach nur ich.
„Tut mir leid“, sagte er schuldbewusst, „Aber du wirkst so… zuverlässig und vertraut für mich. Es ist, als ob ich dich schon viel länger als nur ein paar Tage kenne.“
Entschuldigend lächelte er. Dieses schiefe Lächeln, das meinen Kopf immer wieder leerfegte und mich beinahe zum Höhlenmenschen werden liess (Gott sei Dank nur fast!).
Bevor mir der Mund aufklappen und ich zu sabbern beginnen konnte, lenkte ich das Gespräch wieder auf das mysteriöse Gefäss.
„Was brauchen wir eigentlich, um Melinda zu transportieren?“, fragte ich. Dean stöhnte. „Sie braucht einen Gegenstand, der von Hand gemacht wurde; maschinell fabriziertes Zeugs kann sie irgendwie nicht in Besitz nehmen“, erklärte er mir, als ich ziemlich verdutzt aussah.
„Aber ich habe einfach kein Talent mit Ton“, sagte er verlegen, „Meine Schüssel… Naja, sagen wir es so: Es sieht wie alles Mögliche aus, nur nicht wie eine Schüssel.“
Ich hob lediglich eine Augenbraue. „Willst du damit andeuten, dass du nach über 200 Jahren nicht die Spur einer künstlerischen Ader entwickelt hast?“
„Hei, so habe ich das nicht gesagt“, verteidigte er sich, „Schliesslich male ich sehr gerne, und die Bilder gefallen Melinda viel besser als meine Kunstfertigkeiten mit Ton.“
Mir klappte der Mund auf, als mir dämmerte, was er gerade gesagt hatte. „Warte, stopp mal. Alle diese Kunstwerke“, ich deutete auf den Gang hinaus, „Die stammen alle von dir?“
„Ja“, sagte er und nickte verlegen. „Naja, ich war zum Teil lange alleine, aber ein wenig Farbe konnte ich überall mitnehmen.“
„Wow, und ich habe bis jetzt gedacht, dass du lediglich ein fanatischer Kunstsammler bist.“
Dean grinste mich breit an. „Tja, da siehst du, wie sehr man sich in anderen Leuten täuschen kann!“
Ich verdrehte die Augen und konzentrierte mich wieder auf das Wesentliche.
„Und was nehmen wir jetzt für Melinda? Du kannst ja ein zweiter Picasso sein, aber töpfern kannst du laut Melinda definitiv nicht“, stellte ich fest.
„Tja, dafür habe ich eine Lösung gefunden!“, sagte er triumphierend und wühlte in einem der Küchenschränke.
Nach einigem Scheppern hielt er eine hübsche, blaue Müslischale in den Händen. „Wo hast du die auf einmal her?“, fragte ich zweifelnd.
„Der Vorbesitzer hat es nicht für nötig befunden, den Keller auszuräumen“, meinte er schulterzuckend, „Und da habe ich beim Aufräumen dieses schon fast antike Ding gefunden. Besser als meine eigene Schüssel ist sie auf jeden Fall.“
„Ja, eindeutig!“ Ich sprang fast an die Decke, als plötzlich Melindas Kopf an der Wand auftauchte und sich zu beschweren begann. Ich würde mich nie daran gewöhnen, wie sie einfach so aus dem Nichts auftauchte oder wie Dean sich immer an mich anpirschte, so viel stand für mich schon fest.
„Er ist wirklich ein Künstler, was Farben angeht, aber von Ton hat ein keine Ahnung“, meinte sie kopfschüttelnd, „Das finde ich so tragisch! Kochen kann er auch, aber ein Stück Lehm verformen? Nein, unmöglich, am Ende ähnelt es immer einem unförmigen, klobigen Klotz. Und überhaupt…“
„Ja, jetzt hast du dich genug über mich ausgelassen“, unterbrach Dean ihren Monolog mürrisch. Amüsiert verfolgte ich ihren kleinen Schlagabtausch untereinander.
„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern das Ritual hinter mich bringen. Du weisst, es ist für uns beide nicht gerade angenehm.“ Er verzog sein hübsches Gesicht, als er an das bevorstehende Ritual dachte.
Melinda seufzte wieder theatralisch. Ich war mir sicher, dass sie und Tamara beste Freundinnen werden konnten, oder zumindest hätten sie eine Theatergruppe führen können, mit der Dramatik, die sie beide an den Tag legten.
„Na gut, lass es uns hinter uns bringen. Ich warte dann schon mal im Keller!“ Und damit war sie auch schon wieder verschwunden.
Dean ging zur Küchentür hinaus, als ich ihm schon folgen wollte, doch er drehte sich um und versperrte mir den Weg.
Mit grossen Augen schaute ich ihn an. „Wieso...“ „Nein“, antwortete er, bevor ich meine Frage aussprechen konnte. „Das ist unfair! Ich will auch mitkommen“, bettelte ich.
„Cassie, ich weiss nicht, was deine Kräfte beim Ritual möglicherweise anrichten können, und ich will dich damit nicht in Gefahr bringen“, erklärte er. Ich verarbeitete diese Information einen Moment, doch dann kam mir das perfekte Gegenargument in den Sinn.
„Aber wenn ich wirklich Moms Kräfte geerbt habe, kann ich es euch vielleicht vereinfachen oder zumindest moralischen Beistand liefern“, entgegnete ich.
„Nein!“ „Bitte“, bettelte ich weiter, denn ich wusste, dass er früher oder später nachgeben würde, „Lass mich mitkommen. Melinda hält es bestimmt auch für eine gute…“
„Was soll ich?“, wollte plötzlich eine Stimme neben uns wissen. Ich zuckte zwar wieder zusammen, doch ich war froh, dass ich ein wenig Unterstützung erhielt.
„Melinda“, sagte ich liebenswürdig, „Bist du nicht auch der Meinung, dass eine Hexe euch bei dem Ritual grosse Unterstützung leisten könnte?“
Ihre Augen weiteten sich.
„Schätzchen, machst du Witze? Es ist eigentlich ein hexisches…“
„Sei still!“, versuchte Dean verzweifelt, sie zu unterbrechen, doch ich hatte den wichtigsten Teil gehört.
„Ach ja, es ist ein hexisches Ritual?“ Strafend sah ich Dean an, der schuldbewusst dreinsah.
„Dann helfe ich euch“, bestimmte ich. Melinda sah mich fragend an, doch ich bedeutete ihr, dass ich es ihr später erklären würde.
Sie zuckte mit ihren imaginären Schultern. „Okay, Liebes. Ich warte dann schon mal unten.“
Liebenswürdig klimperte ich mit den Wimpern. „Geh ruhig vor, wir kommen gleich nach!“, bestätigte ich, und vom einen Moment auf den andern war sie weg. Ich lächelte; ich mochte Melinda wirklich.
Mein Lächeln verschwand von meinen Lippen und verwandelte sich zu einem zusammengepressten Strich, als ich mich zu Dean umdrehte.
„Warum hast du mir nicht gesagt?“, fragte ich spitz. Und ich hatte gedacht, über die Lügen seien wir hinweg.
„Weil…“ Er sah mich unglücklich an. Wenn er sich in dem Moment entschuldigt hätte, wär ich ihm direkt um den Hals gefallen und hätte ihm alles verziehen; er sah in dem Augenblick aus wie ein kleiner Schuljunge, der bei einem Streich ertappt worden war.
Doch er liess den Moment verstreichen, und ich gewann meine Fassung zurück.
„Weisst du, es ist nicht leicht für mich, wenn ich dich in einer unvorhersehbaren Situation nicht beschützen kann. Ich weiss schlicht und einfach nicht, ob du dann die Schmerzen auf dich nimmst oder ob du sie nur absorbierst.“ Er fuhr sich mit den Händen durch die ohnehin schon verwuschelten Haare.
„Cassandra“, seine Stimme jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken, „Es macht mich krank, nicht zu wissen ob du dich nun in Gefahr befindest oder nicht, und es macht es nur noch schlimmer, wenn ich selbst der Grund dafür sein könnte!“
Mittlerweile sah er so aus, als würde er am liebsten etwas kaputt machen, dieses Gefühl war mir nur zu gut bekannt – auch wenn ich noch nie tatsächlich etwas aus Zerstörungswut auseinandergenommen habe.
Gerührt strich ich mit meiner Hand sanft über seine Wange.
„Dean, ich verstehe, was du meinst. Im selben Moment mache ich dasselbe durch mit Dylan“, erklärte ich ihm leise, „Ich weiss genau, wie es sich anfühlt, jemanden, der dir etwas bedeutet, selber in Gefahr gebracht zu haben. Aber ich bin nicht wehrlos, und ich verspreche es dir, falls ich es nicht mehr aushalte, dann sage ich es, und du kannst von mir aus die Zeremonie unterbrechen, okay?“ Ich sah ihm tief in die Augen und wusste bereits, dass ich kein Wort sagen würde, auch wenn mich der Schmerz noch so peinigte. Aber das musste Dean ja nicht wissen.
„In Ordnung.“ Er atmete tief ein und wieder aus und schien sich zu beruhigen. „Aber wenn du nur den leisesten Schmerz verspürst, sagst du es mir sofort!“ Flehentlich sah er mich an.
„Klar“, log ich ihn an. Ich meinte, ich wollte nur das Beste für ihn, und wenn ich ihm den Schmerz nehmen konnte – auch wenn das bedeutete, ihn selber zu ertragen – so würde ich es tun, ohne einen Moment zu zögern.
Erleichtert sah er mich an.
„Gut, gehen wir und bringen es hinter uns“, meinte er und lächelte schief. Und wieder einmal war mein Kopf wie leergefegt, als ich dieses Lächeln sah.
Aufmunternd schickte ich ein schüchternes Lächeln zurück und hoffte, dass es ihm kein bisschen besser ging als mir.
Ich erlaubte mir ein selbstzufriedenes Grinsen, als er einen Augenblick lang ziemlich… abgelenkt wirkte.
Schliesslich wandte er sich von mir ab und ging in den Flur hinaus.
Irgendwann, nach etwa 15 Bildern, blieb er vor einer Tür stehen und zog einen antik anmutenden Schlüssel hervor.
Er zog die Tür auf und bedeutete mir, vorzugehen. „Ladies first“, grinste er.
Der Raum hinter der Tür war zu dunkel, als dass ich etwas erkennen konnte. Durch das Licht vom Flur her konnte ich noch knapp den Ansatz einer Treppe sehen und klammerte mich an das Geländer.
Vorsichtig stieg ich Schritt für Schritt die Stufen hinunter.
Gut, ich war die ersten drei Stufen vorsichtig, und danach rannte ich beinahe, weil mir einfach gerade danach war. Jedenfalls bis die Treppe aufhörte und ich gegen irgendetwas Hartes prallte, das mir den Weg verstellte.
„Wieso hast du nichts gesagt?“, fluchte Dean hinter mir.
„Weil ich nichts gesehen habe?“, fragte ich trocken und erinnerte mich daran, dass Katzen ein ausgeprägteres Sehvermögen haben als der Durchschnittsmensch. Oder in meinem Fall die Durchschnittshexe.
„Ja, das ist mir jetzt auch aufgefallen.“ Ich konnte fast spüren, wie er die Augen verdrehte.
„Warte einen Moment hier“, befahl er mir. Etwas Anderes blieb mir ja kaum übrig…
Plötzlich hörte ich das Klicken eines Schalters, und schon erstrahlte der ziemlich kahle Raum in einem warmen Licht.
„Danke, jetzt sehe ich auch etwas!“, bedankte ich mich bei Dean und sah mich neugierig um und erkannte, dass ich in eine grosse Kartonkiste hineingerannt war.
Eigentlich gab es sonst nicht wahnsinnig viel zu sehen: ein grünes Kissen in der Mitte und daneben war ein metallener Kreis in den Boden eingelassen. Melinda war in der dahinter liegenden Wand zu sehen; ausnahmsweise war sie still und hatte die Augen geschlossen.
„Schläft sie?“, flüsterte ich. „Nein, sie meditiert“, gab Dean mir ebenso leise zur Antwort und sah sich um, als er bemerkte, dass ich ratlos dastand, weil ich keine Ahnung hatte, was ich machen sollte.
„Oh, warte kurz, ich hol dir auch ein Kissen“, sagte er und verschwand. Er stand so schnell wieder vor mir, dass ich erst einmal verwirrt blinzelte.
In letzter Zeit tat ich das ziemlich oft.
In seinen Armen hielt er ein unglaublich grosses Monsterkissen, auf dem locker drei Leute bequem Platz gehabt hätten.
Dean legte das rote Ungetüm neben dem anderen Kissen, welches plötzlich winzig wirkte, auf den Boden und bedeutete mir, Platz zu nehmen. Er selbst wollte sich schon auf dem kleinen Kissen niederlassen, als ich ein schlechtes Gewissen bekam.
„Wollen wir nicht tauschen?“, fragte ich ihn, „Dein Kissen wirkt ziemlich klein.“
„Auf gar keinen Fall.“ Dean schüttelte seinen Kopf. Gut, dann eben nicht.
„Und was machen wir jetzt?“ Immer noch ziemlich ratlos sah ich ihn an.
„Melinda und ich werden uns konzentrieren und versuchen, ihre Essenz vom Haus zu lösen und auf die Schüssel zu übertragen. Versuche einfach… Du selbst zu sein“, meinte er und schloss seine wundervollen Augen, „Das wird wahrscheinlich am besten funktionieren.“ Falls überhaupt etwas geschehen sollte.
Er sprach es zwar nicht aus, aber ich konnte seine Zweifel an meinem Vorhaben deutlich wahrnehmen.
Das wiederum spornte mich nur noch mehr an, um… Ja was eigentlich? Klar, ich wollte das Ritual unterstützen, aber ich hatte keine Ahnung wie.
Planlos sah ich mich noch ein wenig im spärlich möblierten Zimmer um, bevor ich nachdenklich Deans Gesicht studierte, da ich sowieso nichts Besseres zu tun hatte, als sinnlos herum zu sitzen.
Er sah völlig konzentriert aus, so wie er da sass, die Augen waren leicht zusammengekniffen… Plötzlich sah ich es.
Es kam aus Deans Mund und Nase, jedes Mal, wenn er ausatmete. Es sah aus wie ein goldener Strom aus Nebel, durchzogen von einzelnen schwarzen Fetzen, pure Energie, die aus ihm selbst bestand.
Im selben Moment bemerkte ich den schmerzhaften Ausdruck, der sich über sein Gesicht gelegt hatte.
Ich wusste, dass er versuchte, es zu verstecken, doch ich sah, wie er sich verspannte und er versuchte, seine von Schmerzen verzerrten Züge wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Instinktiv befahl ich dem Strom in Gedanken, zu versiegen und sich zurückzuziehen. Tatsächlich, der goldene Nebel hörte auf, aus Dean herauszuquellen, und sein Gesicht entspannte sich.
Mir war klar, dass irgendetwas seinen Platz einnehmen musste…
Auf einmal fühlte ich, wie etwas leicht an meinem Bewusstsein zog. Ich versuchte mich zu entspannen und gab dem Ziehen nach.
Als ich ausatmete, fühlte es sich an, als ob etwas… aus mir herausfliessen würde. Es war nicht unangenehm oder schmerzhaft, aber irgendwie war es doch ziemlich komisch.
Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, den Strom zu verstärken, denn ich war mir sicher, dass Melinda vorhin dasselbe getan hatte wie Dean.
Ich vergrösserte das Loch in meinem Bewusstsein und liess mehr von diesem es herausströmen. Irgendwann war ich mir sicher, dass ich das Loch aufrecht erhalten konnte, wenn ich die Augen öffnete.
Langsam schlug ich sie auf und sah auf den Nebel herab, der sich aus meinem Mund und meiner Nase schlängelte. Fasziniert starrte ich ihn an; im Gegensatz zu dem von Dean schimmerte meiner in einer kuriosen Mischung aus blauen und silbernen Schwaden, die sich zu der kleinen Schüssel im Kreis bewegten. Dort nahm ich einen weiteren, aber viel kleineren Strom wahr, der in einem fröhlichen Orange glitzerte.
Es konnte nur der von Melinda sein; es war leuchtete mir ein, dass sie auch ein wenig Energie beisteuern musste, um ihre Essenz in die Schüssel übergehen zu lassen.
Um ihr trotzdem den grössten Teil der Arbeit abzunehmen, schloss ich die Augen wieder und versuchte, das Loch noch weiter zu vergrössern.
In meinem Kopf schlug ich Stück um Stück rund um die Öffnung herum weg, um mehr Platz für den Nebel zu machen… Stückchen um Stückchen weg...
„Cassandra! Wach auf!“ Panisch schüttelte mich Dean. Verärgert rappelte ich mich hoch, doch plötzlich fühlte ich mich unglaublich müde.
„Wieso machst du so einen Aufstand?“, gähnte ich, „Mir geht’s prächtig.“
„Cassandra, dir geht es definitiv nicht prächtig, du hast gerade die Übernahme von drei Stunden auf zehn Minuten verkürzt, in dem du weiss ich wie viel von dir in das Ritual hast einfliessen lassen!“
Ich befreite mich aus seinem Klammergriff und streckte mich genüsslich.
„Ach ja?“ Im Moment war es mir sowas von egal, ich war einfach nur noch müde und wollte schlafen.
Plötzlich machte die kleine blaue Schüssel im Kreis einen Satz auf mich zu.
„Ja hast du!“, erklang Melindas Stimme, „Du hättest dich fast umgebracht, du dummes Ding! Das Ritual dauert nicht um sonst so lange! Du wärst beinahe…!“ Sie zeterte noch ein wenig weiter, aber es störte mich nicht gross; ich war zu müde, um mich wirklich darüber aufzuregen und kuschelte mich in das riesige Kissen.
Doch bevor ich einschlafen konnte, hob mich Dean von meinem bequemen Kissen hoch und trug mich von meinem Schlafplatz weg.
„Hey, was soll das?!“, protestierte ich wenig erfolgreich.
„Wir päppeln dich wieder auf“, erklärte Dean, „Du hast viel zu viel Energie verloren. Du musst in Zukunft darauf achten, das Mass nicht zu verlieren, sonst…“
„Sonst was?“ Dass ich im Moment nicht schlafen konnte, regte mich so sehr auf, dass ich wieder wacher wurde.
„Sonst wirst du ein Teil des Rituals“, sagte er leise, nachdem er seinen Blick über die Wände hatte gleiten lassen.
Sofort veränderte sich mein Zustand von noch ein wenig benommen zu hellwach.
„Melinda… Ist sie deswegen…?“, fragte ich und schaute mich sicherheitshalber noch einmal um.
„Ja“, bestätigte mir Dean bitter. „Sie hatte zu viel von sich gegeben… Und dann ist sie einfach in die Wand hinein gesogen worden.“
„Das ist ja schrecklich!“, flüsterte ich schockiert, „Und seitdem ist sie so eingesperrt?“
Er nickte.
„Bitte, Cassandra“, mir fiel auf, dass er mich nur so nannte, wenn ihn etwas beunruhigte, „Bitte, sei nächstes Mal vorsichtiger. Ich will dich nicht verlieren.“
Bildete ich mir das nur ein oder schlossen sich seine Arme ein wenig fester um mich?
„Gut, ich werde beim nächsten Mal besser aufpassen, versprochen“, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen.
Ich war plötzlich wieder müde und hatte das Gefühl, die nächsten zehn Jahre verschlafen zu können.
Ich wollte gerade die Augen schliessen und ein Nickerchen machen, als mich Dean auf einen ziemlich unbequemen Stuhl setzte. Kurz schüttelte ich meine Benommenheit ab und erkannte, dass wir uns wieder in der Küche befanden.
„Wag es nicht, auch nur an Schlaf zu denken! Ich bin gleich wieder hier“, versicherte er mir und war schon wieder verschwunden.
Er hatte leicht reden! Ich fühlte mich, als ob ich einen Triathlon durchgemacht hätte und sehnte mich nach einem warmen Bett. Oder einem warmen Kissen.
Doch ich gab mir Mühe, nicht einzuschlafen; Dean machte sich ohnehin schon genug Sorgen. Auch wenn ich nicht begreifen konnte, weshalb schlafen gefährlich sein sollte.
Ich überlegte mir gerade, ob es nicht doch für zwei Minuten reichen würde, als Melindas Gesicht neben mir auftauchte.
„Nicht einschlafen!“, schärfte sie mir ein. Anscheinend hatte sie sich beruhigt, denn sie sah nicht so aus, als ob sie mir gerade eine Moralpredigt halten würde.
Gerade als ich kurz doch erwog, die Augen zu schliessen, tauchte Dean wieder auf, mit allem Möglichen in den Armen.
Er stellte alles auf dem Tisch ab und fischte eine Tafel Schokolade aus dem riesigen Haufen, die er mir schliesslich entgegenstreckte.
„Iss!“, befahl er, „Das wird deinen Kreislauf wieder in Schwung bringen und dir dabei helfen, dich vollständig zu erholen.“
„Und ich soll die GANZE Tafel essen?“ Kritisch sah ich ihn an und überlegte mir, ob mir davon wohl übel werden würde.
„Ja“, bestätigte Dean mir, „Es gibt da drin Stoffe, die du jetzt brauchst, und ohne sie wirst du noch eine ganze Weile so benommen rumsitzen. Also iss gefälligst!“
Auf diesen Moment hatte ich mein Leben lang gewartet! Endlich war Schokolade mal zu etwas Anderem nützlich, als um Gewicht zuzulegen!
Ich griff schon fast gierig nach der Tafel, die verlockend in Deans Hand baumelte und mich beinahe anflehte, sie aufzuessen.
Während ich genüsslich an meiner Schokolade kaute, schaute ich Dean über die Schulter und musterte die Gegenstände auf dem Tisch neugierig. Es waren vorwiegend Esswaren wie Kräuter und Obst, der Rest bestand aus abgenutzten Schalen und Schüsselchen.
„Was soll das werden wenn es fertig ist?“, erkundigte ich mich bei Melinda, die sich über dem Tisch materialisiert hatte und jeden von Deans Arbeitsschritten genau beobachtete.
„Das alles wird dir helfen, schnell wieder auf den Damm zu kommen, Liebes“, antwortete sie ohne aufzublicken.
„Aber mir geht es doch ganz gut“, meinte ich, „Er muss sich doch nicht die ganze Mühe um nichts…“
„Cassandra, das ist nicht nichts, wie du es so schön ausdrückst“, unterbrach Dean mich scharf, „Wenn wir jetzt einfach nichts unternehmen, wird deine Magie einfach aus dir herauströpfeln, weil sie das Loch, welches du in deinen Speicher gerissen hast, nicht mehr selber reparieren kann.
Du wirst immer schwächer werden und schliesslich würdest du dem Wahnsinn nachgeben, der die Lücke zu schliessen versuchen wird.
Am Ende würdest du nur noch dahinvegetieren und dich selbst immer mehr im Wahn verlieren, der dich ausfüllt“, schloss er leise und fuhr damit fort, Kräuter zu schnippeln, als wäre nichts geschehen.
Doch seine Arme verspannten sich, und die Messerspitze zitterte leicht, als er sie wieder ansetzte.
„Dean, es tut mir leid, ich wollte das alles gar nicht“, sagte ich vorsichtig und legte behutsam meine Hand auf seinen Arm.
„Aber ich habe doch keine Ahnung, wie so etwas funktioniert, ich wollte nur helfen. Und ich wusste bis eben nicht, dass dieses Loch… sich selbst reparieren kann, wenn ich genug Energie dalasse. Wenn du oder Melinda es mir beibringen könntest, würde ich…“
Wütend drehte sich Dean um. „Nein! Du wirst es in Zukunft lassen“, sagte er leise, aber bestimmt. „Dean, ich…“ Seine Augen blitzten.
„Nein, Cassie, das geht nicht. Ich kann es nicht ertragen, dass ich dich meinetwegen in Gefahr gebracht habe, und das wird sich auch nicht wiederholen. Und damit basta!“
Offenbar war für ihn die Diskussion hiermit beendet, doch ich wollte nicht klein beigeben. Wieso sollte ich ihm nicht helfen wenn ich schon dazu in der Lage war, verdammt noch mal?
Ich holte tief Luft und stellte mich vor ihn.
„Dean Ashton, ich weiss absolut nicht, was du gerade denkst, aber ich bin kein kleines Kind mehr, und ich kann selbst entscheiden, was ich tun und lassen will. Also stell dich meinen Bemühungen, dir helfen zu wollen, gefälligst nicht in den Weg! Wieso stört es dich denn so gross, dass ich dir etwas erleichtern könnte? Du bist schliesslich auch nur ein…“
„Ein Mensch? Das wolltest du doch sagen, oder etwa nicht?“, fragte er mit einem harten Zug um den Mund. Ich holte schon Luft, um ihm etwas Passendes zu erwidern, doch er fuhr einfach fort.
„Ich glaube, dass ist der Grund, Cassandra. Ich BIN kein Mensch, und ich werde auch nie einer sein. All das hier“, er breitete die Arme aus, „Das alles ist nur Fassade. Dahinter lauert noch etwas anderes, und das ist nicht einmal annähernd menschlich. Du siehst nur, was du sehen willst, du verschliesst die Augen vor der Realität und ziehst am Leben vorbei.
Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Miss Hope, aber ich habe noch anderweitige Angelegenheiten zu erledigen“, sagte er kühl und schob sich an mir vorbei.
Die Tür fiel hinter ihm laut ins Schloss, doch darauf blieb es in der Küche totenstill.
„Du… solltest das hier beenden“, brach Melindas stockende Stimme das Schweigen. „Gut“, sagte ich und befolgte ihre Anweisungen mechanisch, doch in meinem Inneren wirbelten die Gedanken wild und ziellos umher.
War ich wirklich so oberflächlich, wie Dean es gerade gesagt hatte? Ich kam mir vor wie ein Trottel. Ich hatte wirklich schon fast vergessen, dass er nicht nur eine menschliche Seite hatte, aber nur fast. Und wenn man es nicht wusste, hätte man es ihm auch nie angesehen: Er verhielt sich wie ein typischer Mensch, ass wie einer (gut, er ass für drei, aber immerhin kein Katzenfutter), bewegte sich wie ein Mensch… Nichts an ihm warnte einen davor, dass er nicht ganz wie der Durchschnitt war.
In dem Moment ging bei mir im Kopf ein ganzer Kronleuchter an.
Das war es!
Ich beschloss, ihn zu suchen, sobald ich mit dem hier fertig war.
Irgendwie sah das Ergebnis aus wie heller Matsch und roch in etwa auch dem entsprechend.
Ich verzog das Gesicht, als mir der Duft in die Nase stieg. „Und das muss ich wirklich trinken?“, fragte ich und starrte Melinda in der Hoffnung an, sie würde mir sagen, das alles sei nur ein kleiner Scherz gewesen und ich dürfte das stinkende Zeug in die Mülltonne kippen.
Ein schadenfreudiges Grinsen breitete sich über ihrem Gesicht aus.
„Da musst du durch, Liebes“, sagte sie und versuchte wenigstens halbwegs, ihre Schadenfreude mit Bedauern zu überspielen.
Ich verzog noch einmal das Gesicht, hielt mir die Nase zu und stürzte alles auf einmal hinunter.
„So, jetzt hast du es doch schon hinter dir, Schätzchen“, meinte Melinda und gab sich Mühe, nicht zu kichern.
Ich stöhne auf, denn mein Magen rebellierte heftig, als das ekelerregende Gemisch dort ankam. „Sollte mir jetzt übel sein?“, fragte ich und befahl meinem Magen, sich gefälligst nicht zu beschweren.
„Ja, noch etwa eine Stunde lang!“, antwortete Melinda fröhlich. „Eine ganze Stunde?! Das überlebe ich niemals…“ Ich fühlte mich, wie wenn ich statt einer kleinen Schüssel eine halbe Tonne verdrückt hätte.
„Doch doch, du schaffst das, ganz bestimmt. Wenn du willst, kannst du jetzt gleich schlafen gehen…“, munterte sie mich auf. „Schlafen?“ Das klang gut. Schon fast zu gut, um wahr zu sein. Im Moment wollte ich nichts weiter, als zehn Jahre zu schlafen und dieses flaue Gefühl im Bauch loszuwerden.
„Ja, wenn du die Treppe hoch die erste Tür links nimmst, bist du…“
Den Rest hörte ich nicht mehr; mein ganzes Ich war darauf ausgerichtet, einen Platz zum Schlafen zu finden. Also schlurfte ich die Treppe hoch und öffnete besagte Tür.
Der Raum dahinter sah wundervoll aus! Er war in den unterschiedlichsten Grüntönen gehalten, aber das Beste daran war das riesige, bequem aussehende Bett in der Mitte.
Ohne gross nachzudenken liess ich mich auf die weiche Matratze sinken, und nach kaum einer Minute spürte ich, wie der Schlaf über mich kam.
Ich erwachte irgendwann aus einem seltsamen Traum. Darin hatten alle bunten Nebel ausgeatmet, und Dean hatte mich getragen, und ich musste so stinkendes… In dem Augenblick stürzte alles wieder auf mich ein: Der Keller, das Ritual,…
Oh Mist, das war also mehr als nur ein Traum gewesen! Schlagartig war ich wach und setzte mich auf, kein leichtes Unterfangen in dem Haufen von Decken, in die ich mich eingekuschelt hatte.
Als ich den Kampf gegen die Decken gewonnen hatte, stolperte ich aus dem Zimmer und rief nach Melinda.
„Melinda! Mel!“ Ich rannte die Treppe hinunter und hätte mir fast den Hals gebrochen, als ich schon wieder stolperte, doch ich musste unbedingt wissen, wo Dean abgeblieben war.
„Meliiiiiinda!“, schrie ich wie von Sinnen.
Ich kriegte fast einen Herzinfarkt, als sie plötzlich vor mir an der Wand auftauchte.
„Was schreist du denn so?“, beschwerte sie sich, „Ich werde von deinem Gebrüll noch taub!“
Irgendwie erinnerte das mich an den Spruch, dass auch Wände Ohren haben, aber es schien mir nicht gerade der passende Moment zu sein, um diesen kleinen Witz zu bringen.
„Wo ist Dean?“, fragte ich stattdessen. Ich musste unbedingt mit ihm sprechen, und ich hatte keine Zeit zu verlieren.
„Keine Ahnung“, meinte Melinda, „Hier im Haus ist er jedenfalls nicht. Er ist immer noch draussen…“
„Wie lange habe ich eigentlich geschlafen?“, wollte ich nun wissen – ich hoffte, dass er sich in der Zwischenzeit wieder beruhigt hatte und nicht mehr so wütend war.
Melinda zuckte mit ihren imaginären Schultern „Was weiss ich, vielleicht zwei oder drei Stunden…“ Ich schluckte leer. Dean machte sich nun schon seit mindestens zwei Stunden Selbstvorwürfe wegen meiner Sicherheit, und er konnte noch nicht einmal etwas dafür!
„Ich komme später wieder!“ Ich hatte mir schon Schuhe und Mantel geschnappt und war gerade dabei, aus der Tür zu stürmen, als mich Melindas Stimme zurückhielt.
„Bitte, tu ihm nicht weh“, bat sie leise, „Ich habe ihn schon lange nicht mehr so aufgewühlt erlebt.“
„Nein, das habe ich auch nicht vor“, gab ich ihr ebenso leise zur Antwort, „Das wollte ich nie.“
Ich schloss die Tür fast lautlos und sah mich um.
Welchen Weg er wohl genommen hatte? Keine Ahnung. Und deshalb suchte ich mir mit dem Zufallsprinzip irgendeine Richtung aus und marschierte los. Früher oder später würde ich ihn finden.
Oder er dich
, schoss es mir durch den Kopf.
Lies weiter in Plursha -11-!
Texte: By Fabienne H.
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Danke an alle meine treuen Leser da draussen - ohne euch hätte ich nie so viel geschrieben.