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Kapitel 8, Freitag, 19.12.09

Ich wachte in denselben Kleidern wie gestern auf, als mein Wecker klingelte. Stöhnend rieb ich mir die Augen und setzte mich auf. Wieso, um alles in der Welt, hatte ich mich nicht umgezogen?
In dem Moment kehrten meine Erinnerungen an gestern Abend zurück. Dean war 200 Jahre alt, und nicht nur eine Werkatze, sondern auch ein Werpuma. Super. Wenn ich Glück hatte, war ich nur verwirrt und hatte mir den ganzen gestrigen Abend eingebildet. Wenn nicht…
„Guten Morgen! Hast du gut geschlafen?“, fragte eine mir nur zu gutbekannte Stimme. Mist. Jetzt konnte ich mir nicht einmal mehr einbilden, dass die ganze Geschichte nur in meinem armen, verwirrten Hirn stattgefunden hatte.
„Morgen“, brummte ich. „Klar habe ich gut geschlafen! In den Kleidern schläft es sich besonders gut“, murmelte ich.
Dean grinste breit und sah mich an. „Abgesehen davon, dass du absolut zerknittert aussiehst, geht es dir dem Fall gut“, befand er.
„Wieso sollte es mir nicht gut gehen?“, fragte ich. Zwei Minuten, nachdem ich gerade aufgewacht war, war mein Hirn einfach noch nicht wahnsinnig leistungsfähig.
„Reine Routinefrage“, behauptete er. Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an. Aber dabei beliess ich es auch; so früh brachte ich einfach noch nicht die Kraft auf, mit ihm zu diskutieren. Viel zu anstrengend. Trotzdem zwang ich mich dazu, aufzustehen und meinen Schulsack zu packen.
„Wenn du nichts dagegen hast, gehe ich jetzt frühstücken.“ Wie zur Bestätigung liess mein Magen ein lautes Knurren verlauten was mich daran erinnerte, dass ich gestern bis auf meine Frühstücksflocken nicht gegessen hatte.
„Und was mache ich bis dahin?“, wollte er wissen. Ich zuckte mit den Schultern. „Was weiss ich. Geh ein paar Mäuse fangen, oder spuck Fellknäuel aus. Was Katzen eben so tun. Ich gehe jedenfalls frühstücken“, beschloss ich und liess Dean im Zimmer stehen.
Hmm… Wenn Dad schon gegangen war, könnte er mir ja Gesellschaft leisten oder auch etwas Vernünftiges essen. Auch wenn er sich in einen Kater verwandeln konnte, nahm ich an, dass er ein normales Frühstück einer Dose Katzenfutter vorzog.
Als ich unten ankam, erwartete mich ein Zettel auf dem Küchentisch. Darauf stand, dass Dad heute früher weg musste, weil er einen Notfall hatte und mich bat, Dylan heute zu Carry zu bringen.
Da ich selber auch noch in die Schule musste, sollte ich mich beeilen. Also ging ich hoch, um Dylan zu wecken.
Als ich an meinem eigenen Zimmer vorbei kam, warf ich einen raschen Blick hinein, um zu schauen, was Dean machte.
Er stand wieder einmal vor dem Schreibtisch und sah sich die Fotos darüber an.
Ich schnaubte. Hatte er etwas nichts Besseres zu tun?
Als er gehört hatte, dass ich die Türe geöffnet hatte, drehte er sich um. „Du hast nicht zufällig etwas zu essen für einen hungrigen Werkater?“, fragte er mit einer Unschuldsmiene.
„Kater fressen Mäuse und Vögel, also fang dir dein Frühstück gefälligst selbst“, zog ich ihn auf. Er schauderte und verzog das Gesicht. „Weisst du eigentlich, wie ekelhaft die Dinger schmecken?“
„Nein, und ich will es auch gar nicht wissen“, grinste ich und ging hinaus. „Wenn du essen willst, musst du dein Frühstück selbst machen!“, rief ich ihm noch hinterher, als ich auf dem Flur zu Dylans Zimmer ging. Leise öffnete ich die Tür und sah einen schnarchenden Fünfjährigen. Schon wieder! Und trotzdem würde es mir nie irgendjemand in diesem Haushalt glauben.
Auf Zehenspitzen umging ich die Legoklötze und Dominosteine, bis ich an seinem Bett stand.
Ich beugte mich vor und raunte in sein Ohr; „Aufstehen, Dylan! Ein neuer Tag wartet auf dich!“ Dylan drehte sich und kicherte. „Nichts ins Ohr sagen, Cassie! Das kitzelt!“, rief er und kicherte nur noch mehr.
„Dann steh auf“, lachte ich und klaute ihm die Decke.
„Na gut“, schmollte er. „Aber ich will Rührei zum Frühstück!“
„Ah ja? Und wer soll die machen?“, wollte ich wissen. „Duuu!“, rief Dylan und begann wieder loszukichern.
„Dann steh endlich auf!“, grinste ich. „Vielleicht mache ich dir dann ein Rührei.“
Als er gehört hatte, dass ich ihm Rührei machen würde, schwang er sich aus dem Bett und rannte den Flur und die Treppe hinunter.
Ich lächelte und ging ihm nach. Vor meinem Zimmer machte ich kurz halt und sah Dean, der immer noch vor den Fotos stand.
„Willst du nicht auch runterkommen?“, fragte ich. Er drehte sich um und lächelte. „Klar, wenn du nichts dagegen hast“, meinte er, „Und was erzählen wir Dylan?“
„Ich sag ihm, dass du mit mir zur Schule gehst und dein Auto kaputt ist und deshalb mit mir fährst. Oder so ähnlich. Kommst du jetzt?“ Ich sah ihn fragend an.
„Seit wann gehe ich zur Schule?“, fragte er und grinste. „Nur weil du 218 alt bist, heisst das nicht, dass du dich vor der Schule drücken kannst“, grinste ich zurück. „Also komm jetzt und iss etwas oder lass es bleiben. Abgesehen davon hast du dich ja gemeldet und warst auch schon in der Schule. Aber beeil dich jetzt! Schliesslich muss ich Dylan noch zu Carry bringen, bevor wir los müssen.“
Ich ging zur Tür hinaus und die Treppe hinunter, wo mich Dylan schon belagerte.
„Cassieee ich habe Huuuunger!“, krähte er und zog mich ungeduldig in die Küche. „Ja ja, setz dich hin und warte. Dein Rührei macht sich ja nicht von selbst“, sagte ich und öffnete den Kühlschrank. Dylan war schon wieder verschwunden.
Dad war gestern wirklich irgendwann einmal einkaufen gewesen! Ich war stolz auf mich, dass ich ihn doch dazu hatte überreden können und konnte mir ein selbstzufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Ich holte die Schachtel mit den Eiern und machte mich daran, eine Pfanne zu suchen, als Dean auftauchte.
„Auch ein Rührei?“, fragte ich und durchsuchte gerade einen der unzähligen Schränke.
„Was verschafft mir die Ehre, dass du mir auch ein Rührei machen willst?“, wollte er wissen.
„Ich weiss auch nicht“, erwiderte ich, „Aber ich glaube, ich bin nicht ganz dicht, dass ich dich frage, also nütz es gefälligst aus. Willst du jetzt eins oder nicht?“ Mittlerweile hatte ich die Bratpfanne gefunden und machte mich daran, den Herd anzuschalten.
„Wenn du darauf bestehst, nehme ich auch gerne vier davon.“
Ich verschluckte mich gerade, als ich das hörte. „Vier? Hast du die letzten Wochen eigentlich nichts gegessen?“
„Nein, eigentlich schon“, lachte er, „Erhöhter Stoffwechsel wegen den Wandlungen.“
„Was für Wandlungen?“, wollte Dylan wissen, der inzwischen wieder zurückgekommen war.
Ich wechselte einen schnellen Blick mit Dean und sah, dass er dasselbe dachte. Rasch liess ich mir eine Notlüge einfallen.
„Dylan, er hat gesagt Wanderungen, nicht Wandlungen. Du musst besser zuhören“, sagte ich tadelnd. In dem Moment wurde mir klar, dass das mit dem besseren Zuhören wahrscheinlich keine so gute Idee gewesen war, weil er jetzt seine Ohren nur noch mehr aufsperren würde, aber was soll‘s.
„Wer ist das überhaupt?“, fragte Dylan, nachdem er mir offenbar glaubte.
„Darf ich vorstellen: Dean, das ist mein kleiner Bruder Dylan Hope, Dylan, das ist Dean Ashton. Ein Schulkollege, der eine Mitfahrgelegenheit braucht, weil sein Wagen ausgestiegen ist.“
„Wieso isst er dann bei uns Frühstück?“, wollte Dylan wissen. Ich seufzte genervt, mir wurde gerade wieder demonstriert, wie Fünfjährige gern alles und jeden hinterfragen.
„Weil es so ist. Ende der Diskussion“, sagte ich. Den Teil mit dem Frühstück hatte ich nicht bedacht.
„Okay, aber ich habe immer noch Huuuuuunger!“, rief er mir wieder in Erinnerung. „Ja, ich weiss, und wenn du mir mal die Gelegenheit geben würdest, hätte ich dir auch schon längst ein Rührei gemacht. Und jetzt gehst du dich anziehen und kämmen, bis ich dich rufe. Verstanden?“
Statt mir eine Antwort zu geben, flitzte Dylan schon wieder die Treppe hoch und verschwand in seinem Zimmer.
„Ich liebe meinen kleinen Bruder über alles, aber manchmal ist das Dasein als grosse Schwester schon anstrengend“, sagte ich zu Dean und verzog das Gesicht.
„Ich fühle mit dir, aber glaub mir: Ein kleiner Bruder zu sein ist cool“, erwiderte Dean und grinste zu breit, als dass ich ihn ernst nehmen konnte.
„Blödmann“, murmelte ich. Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass er es trotzdem gehört hatte, aber er hatte es verdient.
„Bleibst du jetzt eigentlich bei denen vier Rühreier? Oder sind es inzwischen noch mehr geworden?“, fragte ich.
„Ich bleibe bei meinen vier. Ich will ja nicht, dass du dich meinetwegen überanstrengst“, erklärte er. „Äusserst grosszügig von dir“, gab ich sarkastisch zurück. „Ich hätte dich dein Frühstück doch selber machen lassen sollen“, brummte ich. „Selber schuld, dass du es angeboten hast“, grinste Dean.
Ich liess die Eier in der Pfanne brutzeln und zog mir einen Stuhl an den Küchentisch heran.
„Jetzt wo schon Zeit hast… Ich darf dich immer noch über deine Familie ausfragen, schon vergessen?“ Meine gute Laune von diesem Morgen war auf einmal wie weggeblasen, als ich daran dachte, dass er auf Mom zu sprechen kommen könnte.
„Weisst du, ich muss noch fertig kochen und Dylan zu Carry bringen und die Betten machen und so…“, versuchte ich mich herauszuwinden.
„Keine Ausreden, ich bin dran“, sagte er erbarmungslos. Ich gab mich geschlagen. „Na gut“, seufzte ich. „Aber du hörst sofort auf mit den Fragen, sobald Dylan in Hörweite ist. Es gibt Dinge, von denen er nichts weiss, und das möchte ich auch noch eine Weile so beibehalten.
In Ordnung?“
„Einverstanden“, willigte Dean ein. Er holte gerade Luft, um mir eine Frage zu stellen, als Dylan ausser Atem wieder in die Küche gerannt kam.
„Cassie, Greeneye ist weg!“, sagte er verzweifelt. Bevor ich ihm eine Antwort geben konnte, haspelte er weiter. „Ich habe in meinem Zimmer gesucht, in deinem Zimmer, im Bad, sogar im Keller und in Dads Zimmer, aber er ist nirgends!“ „Dylan, beruhige dich doch! Ich bin sicher, Greeneye geht es gut. Ich habe ihn heute Morgen nach draussen gelassen, als er vor der Verandatür sass und wie verrückt daran scharrte. Er kommt bestimmt wieder zurück, wenn er dann Hunger hat“, improvisierte ich und versuchte, Dylan zu beruhigen.
Irgendwie fand Dylan meine Argumente nicht allzu überzeugend, denn schaute immer noch unglücklich aus. „Und was, wenn er jetzt nur noch Mäuse fängt? Dann kommt er nie mehr zurück“, sagte unglücklich. „Glaub mir, Greeneye mag keine Mäuse“, versicherte ich ihm und musste mir ein Grinsen verkneifen. Er mochte ja WIRKLICH keine Mäuse.
„Bist du dir sicher?“ „Ganz sicher“, bestätigte ich ihm und stocherte ein wenig im Rührei herum.
„Ich glaube, man kann jetzt essen“, verkündete ich.
Darauf sassen Dean und Dylan wie auf Kommando am Tisch und warfen begehrliche Blicke auf die Pfanne, die ich da in meinen Händen hielt. Ich musste den Kopf schütteln. Typisch Mann. Wenn sie das Essen sehen, vergessen sie alles rund um sich herum. Sogar den verschwundenen Kater oder die Fragen, mit denen man mich löchern wollte.
Nachdem alle Teller gefüllt waren, ging Dylan nach oben. Anscheinend hatte er das Problem mit Greeneye wirklich vergessen, nachdem er sein Frühstück zu Gesicht bekommen hatte.
Dean war jedoch nicht so leicht abzulenken und hatte sich mit verschränkten Armen an der Küchenkombi aufgebaut. Es erinnerte mich an gestern, als er genau so dagestanden hatte, um mir von der drohenden Gefahr der B.M.A. zu erzählen.
Beim Gedanken an die Behörde wurde mir übel, weil mir wieder einfiel, was er gesagt hatte.
„Du musst zwangsläufig ein Teil der magischen Gemeinschaft werden.“
„Worüber denkst du gerade nach?“, riss mich Deans Stimme aus meinen Gedanken.
„Nichts was dich angeht. Gedanken sind noch privater als das Postgeheimnis“, grinste ich ihn an. Ich hatte mich für den Zwischenfall mit dem Brief noch nicht entschuldigt, aber ich hatte es auch nicht vor. Schliesslich gab es das Postgeheimnis wirklich.
Der Brief! Ich hatte ihm immer noch nichts davon erzählt, dass wir zusammen auf den Ball gehen würden! Ups. Vielleicht sollte ich ihn langsam darüber in Kenntnis setzen, sonst würde er mir womöglich noch absagen, und Sabber-Ben würde mich einen Kopf kürzer machen, wenn er erfuhr, dass ich ihn bewusst angelogen hatte. Und ich glaube, dass es meinen Kopf nicht retten würde, wenn ich süss aussehe und ihm erzähle, dass Dean krank geworden wäre.
Ich beschloss, dass es höchste Zeit war, meinen Kopf zu retten und Dean seine Begleitung vorzustellen.
„Dean“, begann ich, „Du weisst sicher, dass am 24. der Ball steigt… Gehst du hin?“, fragte ich ganz unauffällig. So unauffällig wie ein Elefant im Porzellanladen.
„Ich weiss es noch nicht“, erwiderte er leichthin. Ich atmete einmal tief ein und beschloss, dass Angriff die beste Verteidigung war.
„Gut, dann weisst du jetzt, dass du gehen wirst. Und ich werde dich begleiten“, sprudelte es aus mir heraus. Als ich sein fassungsloses Gesicht sah, fügte ich ein kleines „Wenn du willst“ hinzu.
Nach einigen Momenten hatte er sich wieder gefasst und lächelte sogar. „Gerne. Ich war schon viel zu lange an keinem Ball mehr gewesen, wenn ich es mir recht überlege“, antwortete er.
Erleichtert atmete ich auf. Bis auf weiteres sah es ganz so aus, als wäre mein Kopf gerettet. Puh.
Ich sah auf die Uhr und wusste, dass wir uns beeilen mussten, wenn wir Mr. Holeman nicht ganz gegen uns aufhetzen wollten. Dieser Tyrann gab unglücklicherweise nicht nur Biologie, sondern auch Mathematik, Physik und Chemie. Unter anderem war das dem Lehrermangel an unserer Schule zuzuschreiben; aber die Direktorin befand, das Mr. Holeman alles im Griff hatte und deshalb nichts geändert werden müsste. Aber sie hatte bei ihm ja auch keinen Unterricht.
„Dylan, bist du soweit?“, rief ich, als ich mit meinen eigenen morgendlichen Tätigkeiten fertig war.
„Komme gleich!“, schrie er und verschwand im Bad.
Unterdessen ging ich wieder nach unten zu Dean und zog mir Mantel und Stiefel über.
„Dylan! Beeil dich!“, rief ich ungeduldig die Treppe hoch.
„Ich komme ja schon!“ brüllte er zurück.
Ich seufzte und dachte über das Vorurteil nach, Frauen hätten lange im Bad. Meiner Meinung nach war das völlig überholt. „Läuft das immer so bei euch?“, fragte Dean mit einem eindeutig amüsierten Glitzern in den Augen. Ich dagegen fand es weniger lustig, mir die Lunge aus der Brust zu schreien, weil Dylan sonst ewig oben geblieben wäre.
„Ja“, bestätigte ich ihm finster. „Ich geh schon mal vor und kratz deinen Wagen frei“, meinte er und verschwand, bevor ich irgendetwas dazu sagen konnte. Ganz ein Gentleman.
In dem Moment polterte Dylan die Treppe hinunter und dampfte an mir vorbei, um sich seine Jacke anzuziehen.
„Wir können gehen!“, verkündete er.
„Dean wartet bestimmt schon lange auf uns“, sagte ich zu Dylan, um ihm wenigstens ein bisschen ein schlechtes Gewissen einzureden, auch wenn Dean höchstens eine halbe Minute warten musste.
Ich schloss ab und ging hinter Dylan her.
Draussen lehnte Dean am Auto und seine Haare wirbelten im Wind wie ein Sandsturm in der Wüste. Ich hatte doch Recht gehabt!
„Alles einsteigen!“, rief ich, als ich zur Fahrerseite lief.
Während der Fahrt war es ziemlich still gewesen. Dylan kannte Dean noch nicht so gut, und Dean wusste offensichtlich nicht, worüber er sich mit Dylan unterhalten konnte. Nach ein paar mickrigen Versuchen gab er es schliesslich auf und starrte dafür mich an.
Meiner Konzentration war das nicht gerade hilfreich, aber es gelang mir trotzdem, Dylan pünktlich bei Carry abzuliefern.
Als ich die Autotürhinter mir schloss, atmete ich erleichtert auf. Ich hatte zwar eine ganze fünfminütige Fahrt zur Schule vor mir, während dem mich Dean ausfragen würde, aber im Moment kam mir das nicht so schlimm vor. Oder wenigstens noch nicht.
Zu meiner Überraschung jedoch blieben seine Fragen aus. Kurz vor der Schule konnte ich es mir nicht mehr verkneifen, den Grund dafür zu erfahren.
„Wieso willst du nicht über meine Familie wissen?“, fragte ich ihn in einer scharfen Kurve. „Ich dachte, du wärst so unglaublich wissbegierig.“
Statt mir eine Antwort zu geben, zuckte er mit den Schultern.
„Ich finde es nicht gerade… ungefährlich, dich etwas zu fragen, was dich aufregen könnte, während du am Steuer sitzt und ich neben dir“, meinte er schliesslich trocken.
„Ach ja?“, schnaubte ich, „Weisst du, immer hin würde ich dich nicht aus dem Fenster zerren, aus 4 Meter Höhe springen und dich dann, halb erfroren, im Schnee als Puma anknurren.“
Statt sich darüber aufzuregen grinste er. „Du hast dich erschreckt?“ – „Was glaubst du eigentlich?“, schnappte ich und boxte ihn auf den Arm. „Ich stehe allein im dunklen Wald, es ist kalt und überall knackt und knistert es – ein klein wenig furchteinflössend, vor allem, wenn man immer damit rechnen muss, dass man jeden Moment von einem Berglöwen angefallen werden kann. Meinst du nicht?“, fragte ich.
„Bitte, führ dich doch nicht so auf! Ich hatte in keinem einzigen Augenblick auch nur erwogen, dich als Beute zu betrachten“, erklärte er mir und sah mich gekränkt an.
„Vielen Dank auch“, murmelte ich, als ich auf die Schuleinfahrt abbog.
Heute konnte ich ungestört auf meinen Lieblingsparkplatz fahren – Mister Platzklauer sass ja bei mir im Auto. Es war ein gutes Gefühl, meinen Parkplatz zurückzuhaben.
Als ich den Motor ausschaltete, ging mir auf, wie eifersüchtig ich Mirta mit Dean machen konnte. Er sass in meinem Auto – wir hatten zwar nichts miteinander, aber das musste ja keiner wissen.
Ein fieses Lächeln legte sich über mein Gesicht, als ich mir eine tobende Mirta vorstellte, erbost darüber, dass der neue heisse Typ nichts von ihr wollte. Ja, das wäre definitiv eine reine Wohltat – als Vergeltung für all die Gelegenheiten, in denen sie mir das Leben schwer gemacht hatte. Vor allem für den letzten Weihnachtsball und die damit ausbleibenden Einladungen für dieses Jahr.
„Cassandra? Geht es dir gut?“ Besorgt schaute mich Dean an.
„Klar“, machte ich unsicher. „Wieso meinst du?“ Anscheinend war ich in den zwei Minuten, in denen ich Rachepläne mit ihm geschmiedet hatte, nicht wahnsinnig anwesend gewesen.
„Du hast irgendwie ziemlich abwesend gewirkt.“ - „Ähm, ich habe über etwas nachgedacht“, antwortete ich ihm ausweichend. Wahrscheinlich wäre er nicht wirklich davon begeistert, eine Figur in meinen bösartigen Plänen für Mirta zu spielen.
„Ja, das konnte man eindeutig erkennen. Schliesslich reichte es nicht, vor deinem Gesicht mit den Fingern zu schnippen, um dich wieder in die Realität zu holen“, sagte er trocken. Autsch. Ich musste unbedingt meine Rachegedanken in den Griff bekommen.
„Okay, es kann sein, dass ich ein wenig tiefer in Gedanken versunken war als üblich“, gab ich zu. „Würdest du mir dem Fall deine unglaublich tiefgründigen Gedankengänge verraten?“, fragte er mich mit hochgezogener Augenbraue. „Vergiss es“, antwortete ich, „Gedanken sind immer noch geheimer als die Post.“
Offensichtlich erinnerte er sich an den Zwischenfall mit dem Briefchen von Ben, denn er sah ziemlich verlegen aus. Ha! Auch ein Werwesen hatte seine Schwachpunkte! Das musste ich mir unbedingt im Hinterkopf behalten für spätere Gelegenheiten.
Ich hätte unser Geplänkel noch gerne ein wenig die Länge gezogen, aber in dem Moment läutete leider die Klingel, die unbarmherzig verkündete, dass wir noch höchstens drei Minuten hatten um in die Mathestunde zu kommen.
Das reichte nie im Leben, wenn Mr. Holeman heute pünktlich dran war und schon im Klassenzimmer wartete. Ich stieg hastig aus und sah auf meine Armbanduhr. Noch 2 Minuten und 50 Sekunden.
„Dean, wir sollten uns beeilen, wenn wir heute Nachmittag nicht die Kaugummis von den Tischen kratzen wollen… Dean? Dean!“
Dean reagierte nicht das kleinste Bisschen auf meine Rufe, sondern sass immer noch unbeweglich im Auto und starre gerade aus. Ungeduldig wedelte ich mit der Hand vor seinem Gesicht.
„Was ist eigentlich los mit dir? Wieso sitzt du nur so da und befindest es nicht für nötig, dich zu bewegen? Also ich möchte auf gar keinen Fall den Kopf von Holeman gewaschen bekommen!“ Hektisch schaute ich wieder auf meine Uhr. Noch 1 Minute und 30 Sekunden.
Ich lehnte mich tiefer durchs offene Fenster hinein. „Deeeeeean!“, rief ich und wurde immer lauter. „Dean Aston! Beweg dich, du fauler Sack“, brüllte ich schon beinahe. Ich stand kurz davor, die Nerven zu verlieren. Bei einem anderen Lehrer wäre es nicht so schlimm gewesen, wir hätten nur einen Hinweis darauf gekriegt, nächstes Mal pünktlich zu sein und die Sache wäre geritzt gewesen. Holeman verlangte ein Elterngespräch, wenn man zu spät kam. Und das konnte ich genauso wenig brauchen wie Dean (wen wollte er schliesslich zu einem Elterngespräch mitbringen?).
Da mein Geschrei absolut nichts brachte, seufzte ich und schaute mich um, um zu sehen, was seinen Blick so fesseln konnte, dass ihm egal war, wenn seine Trommelfelle platzten.
Mein Blick schweifte über den Schulcampus. Vereinzelt waren noch Schüler zu sehen, die auf dem Weg in ihre Zimmer waren. In dem Moment klingelte es zum zweiten Mal, aber wir waren sowieso zu spät, jetzt kam es darauf auch nicht mehr an.
Da war nichts Auffälliges. Halt! An einem Baum gelehnt stand eine hochgewachsene Person in einem langen, schwarzen Mantel und starrte zu uns hinüber. Sie passte nicht recht an eine Schule, eher auf einen Friedhof oder etwas Ähnliches.
Als ich ihr ins Gesicht sah, lief er mir kalt den Rücken hinunter, und in meinem Kopf schrie alles danach, wegzulaufen.
„Dean?“, sagte ich nun leiser. „Vielleicht sollten wir gehen. Der da drüben sieht nicht allzu freundlich aus.“
Wieder sah ich zu der Person hinüber. Sie war extrem bleich, und die schwarzen Augen des Mannes glitzerten wie die eines Raubtiers, wenn es Beute sieht.
Doch Dean machte immer noch keine Anstalten, sich zu bewegen. Ich rüttelte an seiner Schulter. „Dean!“, flüsterte ich eindringlich, „Lass uns von hier verschwinden! Der Typ sieht gefährlich aus!“ Er sass immer noch wie festgefroren auf seinem Sitz.
Ich seufzte genervt und beschloss, wieder nach Hause zu fahren, wenn er sich schon nicht freiwillig bewegen wollte. Falls wir jetzt noch Holeman trafen, wären wir sowieso tot, und heute würden wir nur Wiederholungen machen. Nichts, was man nicht nachholen konnte.
Also stieg ich wieder ein und fuhr los.
Im selben Moment, als der komische Typ aus seinem Gesichtsfeld verschwand, war es, als würde Dean auftauen. Er schnappte wie ein Fisch nach Luft und sah sich wild um.
„Wo ist er?“, fragte er mit verzerrter Stimme.
„Keine Ahnung“, sagte ich und zuckte mit den Schultern, „Wahrscheinlich steht er immer noch am Baum und friert sich…“ – „Dreh um!“, befahl er mir und unterbrach mich damit.
„Geht’s eigentlich noch? Erst reagierst du nicht, wenn ich dich anspreche, und dann meinst du, du kannst mir einfach sagen, was ich zu tun habe? Vergiss es!“, erklärte ich ihm verärgert und gab Gas.
Wo war eigentlich sein innerer Gentleman, .wenn man ihn mal brauchen konnte? Machte der gerade Ferien und liess den Puma frei?
Offenbar hatten Dean meine Worte zur Vernunft gebracht und er zuckte zusammen. „Entschuldige, ich… Ich weiss nicht, was dieser Kerl mit mir gemacht hat, aber es gefällt mir eindeutig nicht“, knurrte er. „Was du nicht sagst“, murmelte ich.
Mir ging ein Licht auf. Vielleicht hatte Bleichgesicht ihn hypnotisiert und er hat deshalb nichts gesagt oder getan! In meinem Kopf machte ich mir die Notiz, Bleichgesicht nie in die Augen zu sehen, falls ich ihn wieder einmal sehen sollte.
„Hast du ihn schon mal irgendwo gesehen?“, wollte ich wissen. Dean versteifte sich beinahe unmerklich. „Nein, wieso fragst du?“
„Du lügst mich schon wieder an“, stellte ich fest. Dean seufzte. „Woran merkst du das bloss?“ „Angeborener Lügendetektor“, behauptete ich. Er musste ja nicht wissen, an was ich es erkannte hatte.
„Also, von wo kennst du ihn?“, bohrte ich nach, „Und warum wolltest du es mir nicht sagen?“
„Er ist einer der Vampire, die unseren… Meinen Clan überfallen hatten.“ Ich legte eine Vollbremsung ein, weil ich fast in einen Baum gefahren war. „Und das sagst du mir jetzt?! Du hast kein Taktgefühl“, entschied ich. „Du wolltest es ja unbedingt wissen.“ Ich stöhnte. Wieso fragte ich alles im falschen Moment?
„Und was wollte er hier?“, wollte ich wissen. „Ich weiss es nicht“, gab Dean leise zur Antwort, „Das ist es ja, was mich beunruhigt. Wenn er in der Nähe ist, dann ist der Rest von seinem Zirkel nicht mehr weit.“
„Ein Zirkel?“, quiekte ich auf, „Es gibt da draussen noch mehr von den Dingern?“ Ich atmete tief durch und versuchte nicht daran zu denken, dass da draussen in der Nähe ein ganzer Haufen von blutrünstigen Vampiren sein Unwesen trieb.
„Leider“, bestätigte mir Dean düster. Ich war kurz davor, diese Atemübungen aus dem Fernsehen zu machen. Stattdessen beschloss ich, dass dafür keine Zeit war und versuchte mich wieder zu beruhigen.
„Also, und wie werden wir die wieder los?“, fragte ich, „So wie es aussieht, ist und Sonnenschein keine Hilfe oder?“
Dean lachte leise. „Nein, das kann man so nicht sagen. Nur die Ältesten können in die Sonne, ohne zu Staub zu zerfallen.“
Erleichtert atmete ich auf. Wenigstens so lange, bis mir aufging, dass das bedeutete, ein Ältester hatte es auf uns abgesehen. „Okay, und was machen wir mit dem, der uns vorhin beobachtet hat?“
Dean zuckte mit den Schultern. „Im Moment gar nichts. Was willst du sonst machen? Den Knoblauch und die Pfähle rausholen und auf Vampirjagd gehen?“, fragte er.
„Keine Ahnung, aber vielleicht sollten wir uns etwas einfallen lassen, wie ich sie davon abhalten kann, in mein Haus zu kommen und meine Familie und mich auszusaugen?“, schlug ich vor, „Ich will mein Blut noch ein wenig behalten.“
„Ich lass mir schon was einfallen bis Sonnenuntergang“, brummte er, „Vertraust du mir so wenig?“
„Willst du darauf wirklich eine Antwort?“
„Wenn ich es mir recht überlege, nein danke.“
Während Speedy neben mir noch ein wenig darüber grübelte, was er machen konnte, fuhr ich wieder los nach Hause. Ich hatte definitiv keine Lust, dort anzukommen und zu sehen, dass die Blutsauger alles zu Kleinholz verarbeitet hatten, weil ich getrödelt hatte.

Zehn Minuten später konnte ich beruhigt feststellen, dass sie noch nicht auf die Idee gekommen waren, mein Haus auseinander zu nehmen.
Ich beschloss, für den Rest des Tages zu Hause zu bleiben; Dylan konnte ich deswegen ja ein wenig früher abholen. Falls Dean bis dann eine Idee eingefallen war, wie wir mein zu Hause vampirsicher machen konnten.
Wir setzten uns am Küchentisch zusammen und zermarterten uns die Köpfe darüber.
„Und es gibt nichts, was sie abschreckt? Kein Knoblauch oder Kreuze?“
„Nein. Das ist alles nur Aberglaube“, erklärte er mir. „Wir könnten uns doch eine riesige UV-Lampe besorgen und damit das Haus bestrahlen“, schlug ich stattdessen vor. Klar, und wie erklärst du das deinem Dad? Abgesehen davon wären wir den Meistervampiren immer noch ausgeliefert“, bemerkte er.
Also verwarf ich meinen Plan mit der Lampe wieder. Einen Versuch war es wenigstens wert gewesen.
„Haben sie irgendwelche Allergien?“, fragte ich plötzlich. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, Vampire würden auf Salz reagieren. „Nein“, seufzte Dean. „Das ist ja das Problem! Sie haben keine Allergien, keine Schwächen… Das Einzige, was einen Vampir wirklich umbringt, ist ein sauberer Schlag, der ihm den Kopf abtrennt. Sonst muss man damit rechnen, dass fast alles wieder heilt. Und da sie keinen Schmerz mehr verspüren, interessiert es sie auch nicht, wenn du ihnen etwas Brennendes unter die Nase hältst oder sie mit Weihwasser bedrohst“, sagte er unglücklich.
„Also gut, mit solchen Mitteln kommen wir also nicht an sie heran… Aber was ist mit einem Bann? Oder einem Zauberspruch?“ Ich hoffte, dass – falls es so etwas gab – eine Hexe oder Magierin in der Nähe wohnte, die uns helfen würde.
Dean lachte rau auf. „Die letzte Frau, die so etwas konnte, ist vor 160 Jahren gestorben“, meinte er, „Und ein Schamane hilft uns auch nicht weiter. Sie sind mächtig – aber Magie wirken, das kann nur eine echte Hexe.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Haben wir denn sonst noch eine Option?“, fragte ich.
„Nein“, antwortete Dean leise.
„Na gut, dann überlegen wir uns eben etwas“, sagte ich optimistisch. Die Idee mit der Hexe liess mich einfach nicht los.
„Meinst du, diese Frau hatte Kinder oder so was? Vielleicht hat sie ihre Kräfte an sie weitervererbt, und ihre Ururenkel haben die Möglichkeit dazu, und zu helfen!“, strahlte ich, stolz auf meinen Einfall.
„Bitte, wenn du willst, geh nur recherchieren“, sagte er mit ausgebreiteten Händen, „Aber ich glaube nicht, dass sie Urenkel mit ihren Fähigkeiten hat.“
Ungeduldig klackte ich mit meinen Fingernägeln auf die Tischplatte. „Ja, das ist mir egal, aber wenn ich dann doch etwas finde, bist du mir schliesslich auch nicht böse, oder? Also, her mit dem Namen!“, forderte ich. Ich stand schon auf und wartete nun im Türrahmen darauf, dass er endlich den Namen ausspuckte.
„Gut, wenn du meinst, dass das etwas hilft, nur zu. Aber sei nicht enttäuscht, wenn…“ „Jaja, schon klar. Aber wie hiess die Frau denn?“, wollte ich wissen und wurde immer ungeduldiger.
„Gwendolyn Mirianne Julie Lockwood“, antwortete Dean.
Der Name traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Fassungslos starrte ich ihn an.
„Das kann nicht sein“, stiess ich hervor. „Doch, sicher stimmt das“, beteuerte er verwirrt.
„Dean, treib keine Scherze mit diesem Namen!“ Ich schrie mittlerweile fast.
„Aber es ist so! Ich habe sie sogar gekannt! Ich…“
„Dean, du hast meine Mom gekannt?“, flüsterte ich.
„Deine Mutter?“ Wenn er nicht schon vorher verwirrt gewesen war, war er spätestens jetzt völlig durcheinander gebracht.
„Gwendolyn Mirianne Julie Lockwood war meine Mom, Dean.“

Lies weiter in Plursha -9-!

Impressum

Texte: Text by Fabienne H.
Tag der Veröffentlichung: 18.02.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Migih, ohne Dich und Oli gäbe es dieses Buch nicht. Danke.

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