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Prolog, Sonntag, 14.12.09

Ich sass an meinen Aufgaben und blickte zum Fenster hinaus in die grauen Wolken, aus denen stetig Schnee fiel. Wie schon den ganzen Dezember lang. Seufzend widmete ich mich wieder meinen Aufgaben und sinnierte über meine Situation nach. Heute war der dritte Advent, und in genau zehn Tagen, am 24., würde der Weihnachtsball steigen, das Highlight an unserer Schule. Aber ohne mich. Denn ich, eine wandelnde Katastrophe, hatte immer noch kein Date, was mich nicht allzu sehr wunderte, aber es versetzte einem doch einen gehörigen Stich. Okay, auf eine Art und Weise verstand ich es noch, dass niemand ein Mädchen mitbringen wollte, das letztes Mal fast die Turnhalle abgefackelt hatte. Aber ich konnte doch nichts dafür, dass die ganze Dekoration aus Papier war, und noch viel weniger konnte ich was dafür, dass mir Mirta ein Bein gestellt und ich die Kerze umgeworfen hatte.
Aber egal, ich schweifte wieder ab. Jedenfalls stand ich immer noch, zehn Tage vor Weihnachten, ohne eine Einladung da und so wie es aussah, sollte ich auch keine bekommen. Und das Schlimmste daran war, dass meine allerbeste Feindin Mirta Barton schon so viele bekommen hatte, dass ihr Spint, der als einziger rosa war, überquoll vor Briefen.
Da ich einfach zu blöd war, um meine Mathehausaufgaben zu lösen, starrte ich wieder aus dem Fenster. Anscheinend hatte ich schon ziemlich lange nachgedacht, denn mittlerweile war aus dem feinen Schleier aus Schnee eine weisse Decke geworden.


Kapitel 1, Montag, 15.12.09

Die dicken Flocken fielen immer noch, als ich aufschreckte, weil ich Dad von unten fluchen hörte. „Blödes Auto!“ Schnell warf ich einen Blick auf die Uhr und fluchte willkürlich auch. Es war halb acht, und in fünf Minuten würde in der Schule die Klingel läuten.
Ich stand auf von meinem Schreibtisch, an dem ich die Nacht verbracht hatte, raste ins Bad und wollte mir rasch die Zähne putzen, als ich in den Spiegel blickte und erschrak. Ich sah aus, als hätte ich in eine Steckdose gefasst und einen Stromschlag bekommen, und unter meinen grünbraunen Augen lagen riesige Augenringe. Vielleicht sollte ich nicht in die Schule gehen, so konnte ich mich ja nicht sehen lassen. Ich beschloss, dass es egal sei, und gab mein Bestes, um zumindest die Ringe zu kaschieren und das dunkelblonde Chaos auf meinem Kopf mit einem Haarband zu bezwingen. Nachdem ich mich im Eiltempo angezogen hatte, sauste ich zur Tür hinaus zu Dad. „Könntest du mich heute in die Schule fahren?“, fragte ich ganz unschuldig. „Ich würde ja gerne, aber diese blöde Kiste springt nicht an. Irgendein Biest ist unter die Kühlerhaube geklettert und hat sie kaputt gemacht“, sagte er mit einem Blick auf die beachtliche Pfütze Öl, die sich unter dem Wagen ansammelte.
„Ist denn mein Wagen schon wieder aus der Werkstatt zurück?“, fragte ich stattdessen. „Ja, du hast Glück gehabt. Monty hat ihn gerade erst vorbeigebracht.“ Er schaute stirnrunzelnd auf seine Armbanduhr. „Du bist spät dran, also muss ich Dylan noch irgendwie zu Carry verfrachten“, seufzte er. „Dad, du bist der Beste!“, rief ich ihm noch zu, als ich schon in meinem grünen Alfa Romeo 147 sass und zur Einfahrt hinausfuhr. Ich liebte mein Auto; ich hatte auch definitiv lange genug dafür gespart.
Ich war schon spät dran, als ich vor der Schule ankam und keinen Parkplatz entdeckte, weil mein Parkplatz von einem schwarzen Jaguar besetzt war. Wem gehört der Wagen bloss?, dachte ich, während ich durch den Schnee auf mein Schulhaus zu stapfte. Wer ihn auch immer dort geparkt hatte, hatte offenbar keine Ahnung vom Wort Stammplatz.
Das Auto hatte ich inzwischen auf dem hintersten Platz geparkt, den keiner wollte, weil er nahe beim Lehrerzimmer stand. Zu nahe für den Geschmack eines Durchschnittsschülers.
So in Gedanken versunken stiess ich die Tür auf, die ins Deutschzimmer führte. Ich hatte nochmals Glück gehabt, es klingelte erst jetzt, aber als ich zu meinem Platz lief, sass dort schon jemand. Ich hatte den leisen Verdacht, dass es sich um den Parkplatzklauer handelte.
„Könntest du bitte von meinem Platz weggehen? Hier sitze normalerweise ich“, erklärte ich. Da hob der Angesprochene seinen Kopf und ich sah in grüne, wunderschöne Augen mit einem goldenen Rand um die Pupille, die mir die Sprache verschlugen. Wow.
„Tja, da hast du aber Pech gehabt“, sagte der Neue unfreundlich und holte mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Erstaunt sah ich ihn an. Ich hatte ihn freundlich um etwas gebeten und er schnauzte mich an? Das ging überhaupt gar nicht. Vor allem, da der einzige freie Platz ausgerechnet neben Sabber-Ben gewesen wäre.
„Jetzt halt mal die Luft an“, sagte ich mit zusammengekniffenen Augen, „da drüben sitzt Ben, der Schläger, und er glotzt mich immer an, als ob ich sein Mittagessen wäre. Ich habe nicht vor, mich die ganze Stunde lang von einem Schrank besabbern zu lassen. Könntest du bitte rüber rutschen, so dass ich auf meinem Platz sitzen kann?“ Einen Moment lang starrte er mich einfach verwundert an und liess seinen Blick kurz zu Ben hinüber schweifen, nur um seine unglaublichen Augen nachher wieder auf mich zu richten.
„Aha, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir deinen Platz nicht gestohlen“, sagte er kühl und erhob sich, um sich auf dem anderen Stuhl nieder zu lassen. Als ob er etwas Besseres wäre.
Ich stand trotzdem immer noch da und starrte sein sandfarbenes Haar an. Irgendwie erinnerte es mich an Dünen, und ich war mir schon beinahe sicher, dass es im Wind wie ein Sandsturm aussehen würde.
Erst als Mrs. Morrison in die Hände klatschte, um mit dem Unterricht zu beginnen, setzte ich mich hastig. Die ganze Stunde Grammatik lang getraute ich mich nicht, ihm in die Augen zu schauen, ich hatte mich ihm gegenüber nicht gerade von meiner charmantesten Seite gezeigt. Aber er war irgendwie auch selber schuld, schliesslich wollte er mich neben Ben sitzen lassen. Bah. Nur schon beim Gedanken daran lief mir ein Schauer über den Rücken.
Als die Glocke klingelte, lief ich schnurstracks zu meiner Lieblingsbank. Früher war ich dort immer mit Kate gesessen, aber das würde ich wahrscheinlich nie wieder tun, denn Kate wohnte seit den Sommerferien nicht mehr hier. Sie, ihre fünf Geschwister und ihre Mutter, mussten wegziehen, nach Springfield, weil ihre Tante verstorben war und ihnen ein riesiges Haus hinterlassen hat. Hier in Minnington hat die unglaublich grosse Familie nur eine Dreizimmerwohnung bewohnt, weil sich Kates Mutter nichts Grösseres hatte leisten können. Und so hat sie, von aussen betrachtet, das Beste für ihre Familie getan. Aber nun war Kate genau 453 Kilometer von mir entfernt, an einer neuen Schule, mit neuen Freundinnen, ohne mich.
Genau in dem Moment, als ich die Allee entlang auf die Bank zu lief, fiel mir eine Gestalt auf, die auf meiner Bank sass. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass es niemand anderes war als der Typ mit den atemberaubend grünen Augen von heute Morgen.
„Sag mal, hast du es darauf angelegt, mir meine Stammplätze streitig zu machen?“, fragte ich ihn mit verschränkten Armen. Er sah mich so intensiv an, dass mir der Atem aussetzte, als er antwortete.
„Sorry, ich bin neu an der Schule. Woher soll ich wissen, dass genau du immer da sitzt, wo ich mich setzen möchte?“ Verärgert sah ich ihn an.
„Rückst du jetzt zur Seite oder muss ich die ganze Zeit durch stehen?“ Seine Reaktion darauf war, dass er sich erhob und zum Schulhaus ging. Er hatte etwas... seltsam Anmutiges an sich, so wie er sich bewegte, als er davon schritt. Ich beschloss, zu Hause mal Dad zu fragen, ich wusste nicht, was ich sonst machen konnte. In Minnington kannte jeder jeden, besonders, wenn man Arzt war, vielleicht bekam ich ja seinen Namen raus oder sogar seine Adresse. Die Chancen standen schlecht, Dad nahm das Arztgeheimnis sehr ernst, aber einen Versuch war es mir Wert.

Die nächste Stunde konnte mir gestohlen bleiben: Sport. Wir beschäftigten uns gerade mit Basketball. Naja, die Anderen taten das jedenfalls; ich war ganz zufrieden damit, wenn ich den Ball gerade halbwegs in die Richtung werfen konnte, in die ich gezielt hatte.
Jeder, dem seine Gesundheit etwas wert war, stellte sich soweit wie möglich entfernt von mir auf. Falls das möglich gewesen wäre, hätte ich selbst es auch getan. Nur Kate hätte sich in meine Nähe getraut… Aber das war vorbei. Es wurde mir wieder schmerzlich klar, wie viel sie mir bedeutet hatte, als ich in der Turnhalle ganz allein dastand; auch der Sportlehrer Mr. Pikens wagte sich nicht mehr in meine Nähe, seit ich ihm vor zwei Wochen ziemlich hart den Ball an den Kopf geworfen hatte; er hatte den Rest der Woche mit Aspirin zu Hause verbracht.
Ich versuchte immer noch abseits von den Andern den Korb zu treffen, als mir plötzlich bewusst wurde, dass es in meinem Leben eigentlich nur drei Personen gab, die mir wichtig waren: Dad, Dylan und Kate. Lilly und Luna, meine beiden Rennmäuse, zählten ja wohl nicht wirklich. Irgendwie kam mein Leben mir jämmerlich vor.
Was brachte es mir, eine gute Schulbildung zu haben, wenn bei mir kein Privatleben existierte? Ich grübelte den Rest der Stunde darüber nach und kam zum Schluss, dass ich mein soziales Umfeld wieder ein wenig ausweiten müsste, mich mehr integrieren. Freunde zu finden konnte ja wohl nicht so schwer sein, oder?
 
Zu Hause war niemand; Dad war wahrscheinlich noch in der Praxis.
Ich hatte Hunger und überlegte, was ich zum Abendessen vorbereiten könnte. Ein Blick in den Kühlschrank, und meine Überlegungen lösten sich in der Luft auf. Oder besser gesagt im leeren Kühlschrank. Nach einem Blick in die gähnende Leere seufzte ich und begab mich in den Keller zur Tiefkühltruhe, meiner letzten Hoffnung auf Abendessen.
Nach einem weiteren Blick in gähnende Leere begrub ich diese Hoffnung auf ein warmes Abendessen endgültig und ging wieder nach oben in die Küche. Dad musste unbedingt wieder einkaufen gehen! Das konnte doch nicht so schwer sein; ich nahm mir vor, ihn darauf hinzuweisen sobald er nach Hause kam. Immerhin hatten wir noch ein wenig Brot und Käse, genug Zutaten für ein leckeres Käsesandwich. Da er immer noch nicht da war, verzog ich mich mit meinem Essen in mein Zimmer.
Mein Zimmer war gemütlich eingerichtet, so wie ich es mir wünschte. Es war länglich und hatte ein Fenster mit Blick auf die Einfahrt, die teilweise durch einen uralten Apfelbaum verdeckt wurde. Was Kate und ich alles auf diesem Baum erlebt hatten... Lächelnd erinnerte ich mich daran, wie wir als kleine Kinder jeweils tagelang auf dem Baum gehockt hatten. Vor wilden Piraten hatten wir uns dort versteckt, hatten böse Räuber ausspioniert und zugeschaut, wie Prinzessinnen von ihren Prinzen befreit wurden. Wir selber hatten natürlich so etwas wie Prinzen nicht nötig gehabt, wir hatten uns vor jedem feuerspeienden Drachen selbst gerettet. Ein kleines Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Was hätte ich gegeben, auch nur einen diesen Momente wieder zu erleben.
Die Möblierung des Zimmers war nicht gerade berauschend: Bett, Pult, Schrank und ein Sitzsack. Mehr hatte ich bisher nie gebraucht oder gewollt, aber ich wünschte mir schon lange ein kleines Regal für die vielen Bücher, die sich auf dem Zimmerboden stapelten.
Meine Tagesdecke war schon immer dieselbe, seit ich denken kann. Sie war babyblau und mit der Zeit etwas verblichen, aber ich liebte sie trotzdem, vielleicht auch gerade deswegen. Oder einfach weil sie mich an Mom erinnerte. Mom… Energisch schob ich den Gedanken aus meinem Kopf und sperrte ihn wieder in die winzige Ecke meines Gehirns, die für ihn reserviert war. Das Bett an der rechten Wand nahm fast zwei Drittel der Zimmerlänge ein, der Schrank stand gegenüber. Der Sitzsack lag jeden Tag woanders, auch wenn er meistens neben dem Pult lag, das zwischen Schrank und Bett unterhalb des Fensters seinen Platz hatte. Zwischen all dem lagen unzählige Bücher, von Harry Potter über Cornelia Funkes Tintenherz bis hin zur Bissreihe.

Während ich auf meinem Käsesandwich herum kaute, suchte ich in den Untiefen meiner Schubladen die Steckbriefe der Klasse vom letzten Jahr. Eigentlich wusste ich schon, worauf es heraus lief, schliesslich kannte ich die Leute seit beinahe drei Jahren. Trotzdem hoffte ich, dass es in diesen uralten Steckbriefen irgendeinen Hinweis darauf gab, dass ich es mir doch nicht mit allen verdorben hatte.
Nach einer kleinen Ewigkeit hatte ich sie gefunden und mich in den Sitzsack fallen lassen, wo ich die Mädchen der Liste durchging. Mirta Barton stand ganz zuoberst auf der Liste - wahrscheinlich hatte ihr Vater sogar dafür bezahlt, denn er tat alles, damit seine Mirta immer an erster Stelle stand. Das hiess: Wenn immer Mirta an einer Olympiade oder einem Wettbewerb teilnahm, konnte man nicht gewinnen, weil Mirtas Vater die Richter immer bestach. Also zählte man auf dem zweiten Platz eigentlich als Gewinner, aber wer interessierte sich schon für die Zweitplatzierten?
Die Nächsten auf der Liste waren Elisabeth und Sue Johnson, insgeheim hatten Kate und ich die beiden auf den Namen Mirta-Klone getauft. Die Johnsonzwillinge folgten ihr auf Schritt und Tritt, weil sie schlichtweg zu blöd waren, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Für sie hatte Mirta immer Recht, auch wenn sie behaupten würde, alle Schafe wären rosa und hätten blaue Punkte. Die zwei fielen als Kolleginnen also auch weg.
Bei den fünf nächsten Mädchen standen die Chancen als meine Freundin auch gar nicht gut, da sie entweder der Mirta-Sekte angehörten oder mich aus irgendeinem anderen Grund nicht mochten. Also sah ich mir die Letzte aus der Liste an: Tamara Miwavski. Ich dachte darüber nach, was ich von ihr wusste, und es kam nicht gerade viel zusammen, eigentlich nichts, ausser dass sie ein sehr ruhiger Mensch und ausgesprochen nett wirkte, wenn sie mal mit jemandem sprach. Vielleicht sollte ich  sie morgen einfach mal anquatschen oder mich neben sie setzen, und wer weiss, vielleicht würde ein Wunder geschehen und sie würde von ihr aus ein Gespräch beginnen!
Den Punkt hatte ich also fürs erste erledigt, es blieb nur noch, die Identität des Neuen zu klären. Ich versuchte, wie bei Tamara die wenigen Infos über ihn zusammenzukratzen, aber ich kam nur darauf, dass er tiefgründige, wunderschöne grüne Augen hatte, mit einem goldenen Schimmern um die Pupille.
In dem Moment hörte ich, wie sich unten die Tür öffnete und jemand die Schlüssel auf den Küchentisch warf, was bedeutete, dass Dad nach Hause gekommen war. Deshalb stopfte ich mir noch rasch den letzten Bissen Sandwich in den Mund und stieg die Treppe hinunter. Unten angekommen begann ich damit, meinem Vater Honig um den Mund zu streichen, damit ich heraus bekam, was ich brauchte.
„Na, wie war dein Tag bis jetzt?“, fragte ich möglichst beiläufig. Dad stöhnte auf. Das war kein gutes Zeichen.
„Frag bloss nicht. Die Mutter von diesen Johnsonzwillingen war da, mit Grippe und ihrem kleinen Köter, den sie unbedingt mitschleppen musste. Ich hab vom Gekläff dieses Biestes jetzt noch Kopfschmerzen!“, seufzte er, während er sich umblickte.
„Du hast nicht zufällig etwas für mich gekocht, oder?“ Eigentlich war jetzt der Moment gekommen, ihn darauf hinzuweisen, dass er schon wieder vergessen hatte, etwas einzukaufen. Aber da ich ja etwas von ihm wollte, sagte ich zuckersüss: „Nein, aber wenn du möchtest, mache ich dir ein Sandwich mit Schinken und Käse. Klingt das gut?“ Er liess ein zustimmendes Brummen hören und setzte sich ins Wohnzimmer aufs Sofa, während er auf sein Sandwich wartete.
„Du, sag mal“, begann ich, „Es gibt da so einen neuen Typen an der Schule. Etwa eine Handbreite grösser als ich, sandfarbene Haare und grüne Augen. Hat sich jemand Neues in der Praxis registrieren lassen?“, fragte ich, während ich ihm den Rücken massierte und er sein Sandwich ass.
„Hm, lass mich überlegen...“, machte er nachdenklich, doch als ich schon dachte dass ich ihn hatte, wendete sich die Situation. „Aber das einzige, was mir einfällt ist, dass ich dir dazu nicht erzählen darf. Gar nichts.“ Mist.
„Schon okay, Dad“, sagte ich trotzdem zuckersüss. Ich hatte es versucht, und es war klar, dass ich jetzt sowieso nichts herausbekommen würde, da konnte ich ihn ruhig darauf hinweisen, den Kühlschrank zu füllen. „Ah ja!“, rief ich noch, als ich schon die Treppe hinaufstieg, „Du hast wieder mal vergessen, was einzukaufen. Wenn du was kaufst, koch ich auch! Und vergiss nicht, Dylan abzuholen!“ - „Aber Cassandra, ich hab noch so viel zu tun und…“ Den Rest hörte ich nicht mehr, weil ich in mein Zimmer geschlichen war um zu verhindern, dass ich zum Einkaufen geschickt wurde.
Seufzend wandte ich mich meinem Schreibtisch zu. Heute war zwar erst Montag, aber der Ball würde sich trotzdem nicht von selbst organisieren. Ich war für die Tischdekoration verantwortlich – dieses Jahr würde sie bestimmt nicht aus Papier sein. Irgendwie kam ich mir veräppelt vor, ein Fest zu organisieren, zu dem ich ohnehin nicht gehen würde, weil mich niemand einlud. Vielleicht als Barbedienung…
Ich wusste echt nicht mehr, wieso ich dem zugestimmt hatte. Aber was sollte es, schliesslich heisst es: Jeden Tag eine gute Tat. Ich überlegte gerade, was ich für eine Tischdecke wählen sollte. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden zwischen einer eisblauen und einer festlich roten. Die blaue würde herrlich zum Schnee draussen passen, aber die rote wäre viel romantischer gewesen.
Ach was, zum Teufel mit der Romantik!, dachte ich. Für mich gab es in naher Zukunft sowieso nichts davon.
Um mich auf andere Gedanken zu bringen, beschloss ich, einen Spaziergang im Wald zu machen. Ich liebte es, wenn sich der Schnee über alles ausbreitete wie eine weisse Decke, die allen Schmutz und Dreck der Welt verschwinden liess und den Bäumen weisse, glitzernde Häubchen zauberte. Zumindest liebte ich es so lange, bis es regnete und alles wieder so schmutzig wie vorher aussah.
 Also lief ich die Treppe wieder hinunter und schnappte mir Mantel, Mütze und Stiefel. Dad war schon wieder verschwunden, entweder um die fälligen Einkäufe zu tätigen und Dylan zu holen, oder um die nächste Gruppe von Grippepatienten zu behandeln. Die zweite Möglichkeit hielt ich für viel wahrscheinlicher, aber bei Dad wusste man nie… Ich schloss ab und ging die Einfahrt entlang, um das Haus herum und ab auf den Trampelpfad, der sich rundherum gebildet hatte. Ich genoss es, endlich alleine zu sein und niemanden um mich herum zu haben, der auf mir herumhackte. So stapfte ich durch den Schnee und vergass für kurze Zeit alle Probleme: Mirta, die Johnsonzwillinge, Kate, den Neuen, die ausbleibende Einladung…
Es war herrlich, und ich begann erst kehrt zu machen, als ich meine Füsse vor Kälte nicht mehr spüren konnte. So folgte ich dem Pfad, den ich selbst getrampelt hatte.
Der Schnee fiel mittlerweile wieder dichter, ich konnte meine Hand vor Augen beinahe nicht mehr erkennen, und die Spur, die ich anfangs hinterlassen hatte, war schon wieder zugeschneit worden. So verliess ich mich einfach auf mein Gespür, mein Haus wieder zu finden.
Nach einer halben Stunde zeichnete sich ein dunkler, grosser Schatten vor mir aus den fallenden Flocken ab. Endlich! Ich hatte schon gedacht, ich würde mein Haus nie mehr wieder finden.
Also ging ich zur Vorderseite und war mehr als überrascht, als ich den schwarzen Jaguar von heute Morgen in der Einfahrt erblickte. Was der hier bloss zu suchen hatte? Ich ging weiter zur Tür und wollte sie öffnen, aber sie war abgeschlossen. Ich war aber zu faul, den Schlüssel in den Tiefen meiner Taschen zu suchen, deshalb klingelte ich in der Hoffnung, Dad wäre immer noch zu Hause. Oder, je nach dem, mit Dylan wieder zu Hause.
Wie erwartet öffnete sich die Tür auch, aber... die Person, die in der Tür stand war nicht Dad, sondern ein verwirrter Typ mit dunkelgrünen Augen, die mir im ersten Moment den Atem raubten. Mr. Platzklauer höchstpersönlich.
„Cassandra? Was machst du denn hier?“ - „Dasselbe könnte ich dich fragen¨“, entgegnete ich bissig, was ihn noch mehr durcheinander brachte. Als ich kurz darauf den Eingangsbereich des Hauses etwas genauer betrachtete, spürte ich richtig, wie mir der Kopf trotz der Eiseskälte rot anlief. An den Wänden reihten sich keinesfalls Familienportraits und Schnappschüsse wie bei mir, sondern Landschaftsgemälde, die aussahen, als wäre die Welt ein einziges Kunstwerk. Oh nein! Ein Blick auf das Klingelschildchen bestätigte mich in meinem Entsetzen: Nicht Familie Hope, sondern Mr. Dean Aston war darauf festgehalten.
So ein Mist konnte aber auch nur mir passieren! Ich hatte im Schneetreiben das Haus verwechselt und hatte geglaubt, es sei meines! Okay, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Häusern war nicht zu leugnen, aber da fiel mir gerade wieder ein, dass ich einen durcheinander geratenen Dean vor mir, in seinem Haus, stehen hatte. Ich war ja so ein Trottel. Ein richtig grosser Trottel.
„Ähem... Entschuldige, aber ich glaube fast“, sagte ich nun kleinlaut, „dass ich das Haus verwechselt habe.“ - „Was?!“, entfuhr es ihm, „Aber wo wohnst du denn? Das nächste Haus von hier steht mehr als eine Meile entfernt!“ Darauf erklärte ich ihm, dass ich mich auf einem Spaziergang befunden und mich dann verlaufen hätte. Auf diese Erklärung hin sah er schon wieder etwas gefasster aus und fragte mich höflich: „Sollte ich dich nach Hause fahren oder möchtest du laufen?“
Ich überlegte kurz und wollte ihm – in bester Erinnerung an sein arrogantes Gehabe von heute morgen - schon sagen, dass ich ein grosses Mädchen sei, als ich nach draussen blickte. Angesichts des Schneetreibens antwortete ich dann: „Es wäre nett, wenn du mich fahren würdest.“ Mir behagte die Vorstellung, mit dem Platzklauer in einem Auto zu sitzen, zwar nicht, vor allem weil ich nicht mehr klar denken konnte, wenn er mich mit diesen umwerfenden Augen ansah, aber durch den Schneesturm, der sich zusammen gebraut hatte, zu laufen und mich nochmals im Haus zu irren, war definitiv schlimmer.
Und so kam es, dass mir Dean nur wenige Minuten später die Tür zum schwarzen Jaguar aufhielt, während ich einstieg. Die ganze Fahrt über gab er keinen Mucks von sich und konzentrierte sich ganz aufs Fahren. Klar, bei dem Schneetreiben war es nicht ganz einfach, sich noch mit jemandem zu unterhalten, aber irgendwie wirkte er darauf bedacht, so wenig wie möglich mit mir zu tun zu haben.
Na gut, ich war vielleicht ein klein wenig zickig zu ihm gewesen, aber deswegen brauchte er mich ja nicht zu behandeln, als ob ich giftig wäre oder so. Ich dachte gerade an den Moment, als ich vor seinem Haus gestanden, als mir etwas auffiel. „Woher kennst du eigentlich meinen Namen?“, fragte ich ihn mit gerunzelter Stirn in die Stille hinein. Ohne zu überlegen antwortete er: „Dein Name stand auf dem Klassenfoto, das man mir gegeben hatte.“
Das waren die einzigen Worte, die wir während den endlosen zwanzig Minuten wechselten. Als das Auto vor meinem Haus hielt, bedankte ich mich höflich für die Fahrt und stieg aus.
Ich hatte kaum die Tür geschlossen, als Dad neben mir stand und mich mit Fragen löcherte.
„Wo warst du? Und wieso hat dich der Junge gefahren? Verschweigst du mir etwa was?“, wollte er mit Misstrauen in den Augen wissen. Noch bevor ich die Gelegenheit hatte, ihm alles zu erklären, kam Dylan angerannt und rief: „Cassie! Wo warst du? Du wolltest doch heute mit mir spielen!“, fügte er mit einem traurigen Blick hinzu. „Ja, das hätte ich auch getan, wenn dich Dad früher abgeholt hätte.“
„Dad! Du hast vergessen mich abzuholen!“, sagte er mit vorwurfsvoller Stimme. „Stimmt, das hab ich. Kommt nie wieder vor, versprochen!“ Besänftigt wandte sich Dylan ab und verschwand im Wohnzimmer. Fünfjährige waren so gnädige Geschöpfe…
Nachdem ich ihn aufgeklärt hatte, verschwand das Misstrauen aus Dads Gesicht und machte einem müderen Blick Platz. „Wie schaffst du es nur, dein eigenes Heim zu verwechseln?“, fragte er mit einem liebevollen Unterton in der Stimme. Ich warf ihm einen bösen Blick zu und verschwand ins Wohnzimmer um meine beiden Mäuse zu füttern. Sie warteten schon gierig und warfen begehrliche Blicke auf die Futterdose, die ich in der Hand hielt.
Nachdem ich die beiden gefüttert hatte, ging ich in mein Zimmer und checkte meine Mails, in der Hoffnung, dass mir Kate eine Antwort auf die letzte Nachricht geschrieben hatte. Als ich dann mein Postfach öffnete, fand ich jedoch keine Nachricht von ihr. Wie beinahe immer. Und auch wie immer versetzte es meinem Herzen schon wieder einen Stich. Wenn das so weiterging, würde mein Herz bald aussehen wie ein Nadelkissen.
Hatte sie mich endgültig aus ihrem Leben verbannt und vergessen, was wir alles durchgemacht haben? Sie war mein einziger Halt gewesen bei Moms Unfall, und ich ihrer, als ihr Dad mit ihrer Nachbarin durchgebrannt war, wir waren immer für einander da gewesen. Wir hatten gelacht, geweint, aber anscheinend konnten ein paar Kilometer alles ändern.
Mit Tränen in den Augen schaltete ich den Computer wieder aus und wollte ins Bett. Doch immer, wenn ich die Augen schloss, sah ich Kate, die mit anderen Mädchen herumalberte und lachte, von ihrer doofen ehemaligen Freundin erzählte. Lautlos liefen die Tränen über mein Gesicht, und sie versiegten erst, als in tiefen Schlaf versank.

Er sprang auf den Baum vor ihrem Fenster und blickte hinein. Sie weinte und weinte, und gerade als er dachte, sie würde niemals aufhören zu weinen, stoppten die Tränen und sie glitt in den Schlaf hinüber. Am liebsten wäre die Katze in ihm zu ihr aufs Bett gesprungen und hätte sich an sie geschmiegt, um sie zu trösten.
Aber er hatte sich fest vorgenommen, dass er nur eine kleine Kostprobe ihres Lebens nehmen wollte, dann feststellen würde, dass sie genauso oberflächlich wie alle anderen Mädchen dieser Welt war, dass sie niemals an Nathalia oder Renata herankommen könnte, und dann konnte er weiter sein eigenbrötlerisches Leben führen.
Aber er spürte, sie war anders. Sie dachte nach, was war, was ist und was kommen würde, sie war einfach anders.Weitsichtig und klug, eine heutzutage selten anzutreffende Mischung, aber es war nicht nur das, was sie anders machte, es gab noch etwas Anderes.
Er wusste nur noch nicht, was. Aber für den Moment gab er sich damit zufrieden, einfach nur über ihren Schlaf zu wachen. Sie sah so verloren und einsam aus in ihrem Bett, so klein und verletzlich. Sie durfte nur nichts über ihn oder seine Herkunft erfahren, sonst waren sie beide geliefert. Schon im Auto war es ihm schwer gefallen, nicht sofort umzukehren und sie wieder in sein Haus zu bringen. Er musste sehr vorsichtig sein und durfte ihr nichts von seinen Gefühlen für sie zeigen, sonst konnte er sie verlieren, bevor er sie richtig gekannt hatte.



Lies weiter in Plursha -2-!

Impressum

Texte: Copyright für Texte nur von Fabienne H.
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Migih, ohne Dich und Oli gäbe es dieses Buch nicht. Danke.

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