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Kapitel 3, Mittwoch 17.12.09

Das erste, was ich am nächsten Morgen sah, waren Dylans Füsse. Anscheinend hatte er sich gedreht und schlief jetzt seelenruhig den Schlaf der Gerechten. Leise schlich ich mich aus dem Zimmer, um ihn ja nicht zu wecken.
Unten sass schon Dad, mit der Zeitung in der einen, mit dem Marmeladenbrot in der anderen Hand. Ich murmelte ein verschlafenes „Hallo“, und fragte ihn, ob es heute auch noch schneien sollte. „Nein, heute soll es angeblich nur Sonnenschein und klaren Himmel geben“, brummte er darauf. Ich freute mich wie ein Schneekönig darauf, durch den Schnee zu stapfen und über die weisse, glitzernde Pracht zu blicken. Echte Sonnentage in Minnington waren äusserst selten, oft lag das kleine Dorf unter einer Wolkendecke, die es entweder regnen oder schneien liess oder auch einfach die Sonne verdeckte. Es gab eigentlich noch häufig Wolkenaufbrüche, aber das zählte nicht wirklich…
Vielleicht könnte ich sogar ein Iglu mit Dylan bauen, wenn ich genug Zeit dazu hatte. Ja, das würde ihm garantiert gefallen, und wenn wir es fertig hätten, könnte ich uns Punsch machen. Vorausgesetzt, Dad ging doch noch einkaufen.
„Dad“, begann ich, „Gehst du heute endlich einkaufen? Dylan und ich haben dir eine Einkaufsliste geschrieben, und ich kann dir vielleicht jeden Tag Käsesandwich vorsetzen, aber meinem Bruder kann ich das nicht zumuten. Und mir auch nicht“, fügte ich hinzu. Dad seufzte ergeben und besah die lange Liste, die ich gestern geschrieben hatte. „Na gut, du hast Recht. Aber für was brauchst du so viele…“ - „Dad, ich habe das alles so durchdacht, dass du nicht in einer Woche schon wieder gehen musst“, fiel ich ihm ins Wort, worauf er sich wieder seiner Zeitung widmete. Also machte ich Dylans Frühstück bereit und schlich mich wieder nach oben, um mir meine Klamotten aus dem Zimmer zu holen und noch kurz unter die Dusche zu springen.
Danach zog ich mich an, setzte mich in den Wagen und nahm mir ein wenig Zeit, den funkelnden Schnee zu betrachten. Ich liebte den Winter in Minnington, es war zwar kalt, aber wunderschön. Aber alles Schöne hat ein Ende, und so liess ich meinen grünen Pick-Up an und fuhr los zur Schule.
Dort angekommen, wäre ich fast an meinem Parkplatz vorbeigefahren, weil der ja seit neuestem von Mister Platzklauer besetzt war. Aber als ich genauer hinschaute, verstand ich die Welt nicht mehr: Er war frei! Vielleicht war Mister Platzklauer ein Licht aufgegangen! Oder ich war einfach früher dran als er… Jedenfalls war ich froh, heute nicht schon wieder beim Lehrerzimmer parkieren zu müssen.
Unbeschwert stieg ich aus und sah auf den Schulcampus. Sogar der sah wundervoll aus, wenn die Sonne schien… Ich stapfte los, zielstrebig auf die Turnhalle, wo ich Tamara am Eingang sichtete. Vielleicht konnte ich heute wieder einen neuen Versuch starten, mich mit ihr anzufreunden, allerdings nicht so aufdringlich wie gestern. Deshalb stellte ich mich neben sie und wartete auf ihre Reaktion. Die Zeit verging, und bis die Klingel läutete, würdigte sie mich keines Blickes.
Aber immerhin war sie nicht weggelaufen oder hat mich angeschrien. In der Lektion stellte sie sich dann zwar so weit wie möglich entfernt von mir auf, aber das konnte ich wahrscheinlich eher meinen nicht existierenden Basketballkünsten zuschreiben als meinem Benehmen von gestern.
Bevor ich in die Umkleide verschwand, stellte ich erfreut fest, dass ich heute noch niemandem etwas an den Kopf geworfen hatte. Das war doch schon ein kleiner Fortschritt! Vielleicht würde ich es später, irgendwann, in gaaanz ferner Zukunft, auch noch schaffen, halbwegs den Korb zu treffen oder den Ball zumindest im Feld zu behalten.
In Mathe fiel mir auf, dass Mister Platzklauer Dean fehlte, was hiess, dass ich gar nicht früher dran gewesen war.
Tamara beachtete mich weiterhin nicht, und mittlerweile wäre es mir lieber gewesen, wenn sie sich auf irgendeine Art über mich aufgeregt hätte. Ihre Ignoranz mir gegenüber war die schlimmste Strafe, die es gab. Aber ich glaubte, dass das hiess, dass sie mich doch nicht vollkommen hasste. Oder zumindest noch nicht.
Also beschloss ich, mich am Nachmittag bei ihr zu entschuldigen und sie zu fragen, ob wir nochmals bei null starten könnten. Also verhielt ich mich den restlichen Morgen unauffällig und versuchte, Tamara möglichst aus dem Weg zu gehen. Als es dann endlich klingelte und alle die Cafeteria stürmten, hielt ich es nicht mehr aus und setzte mich zu ihr.
„Was willst du denn schon wieder?“, knurrte sie. „Ähem, ich wollte mich dafür entschuldigen dass ich dich gestern so genervt habe, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich sonst hätte zu dir durchdringen sollen. Du wirkst auf mich immer so…“ – „So eigenbrötlerisch?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ja genau. Jedenfalls: Nimmst du meine Entschuldigung an? So dass wir nochmals von vorne anfangen können?“
Sie streckte mir ihre offene Hand entgegen. „Also, ich heisse Tamara Mikovski, mein Lieblingsessen ist Pizza, meine Lieblingsfarbe Blau und meine Katze heisst Mila. Wie heisst du?“ – „Ich heisse Cassie Hope, ich esse am liebsten Kartoffelsalat von meinem Dad, meine Lieblingsfarbe ist Lila und meine beiden Rennmäuse heissen Lilli und Luna. Und mein kleiner Bruder heisst Dylan... Hey, wieso erzähl ich dir das? Du hast ja gestern schon zugehört und überhaupt fällt mir nichts mehr ein…“ „Schon vergessen“; fiel sie mir ins Wort, „Wir fangen nochmal ganz von vorne an. Ich habe dich noch nie gesehen, noch nie was von dir gehört, und überhaupt hast du mich gestern so zugetextet, dass ein normaler Mensch sich unmöglich alles auf ein Mal merken kann. Also, wo waren wir stehen geblieben?“, sagte sie und grinste breit.

Nachdem ich Tamara schon zum zweiten Mal meine Lebensgeschichte zum Besten gegeben hatte, sie mir Mathe erklärt hatte und wir uns endlich in die Cafeteria verzogen hatten, fragte sie mich genau das, was ich schon mein ganzes Leben lang zu verdrängen versuchte.
„Was ist mit deiner Mom passiert?“; fragte sie mich leise, als wir uns an einen der Tische gesetzt hatten. „Du hast nichts über sie erzählt.“ Ich hob den Blick vom Tablett und sah sie direkt an.
„Bitte, stell diese Frage nie wieder solange wir Freundinnen sind, okay? Ich habe es so oft vergessen wollen und es ist mir zwar noch nicht ganz gelungen, aber ich habe es in die Schublade in meinem Kopf gesteckt, in die diese Sache gehört. Kannst du damit leben?“
Sie sah mir lange in die Augen und sagte dann schliesslich: „Ich kann es auch gut ohne eines deiner Geheimnisse aushalten. Die Frage ist, ob du es aus kannst. Es ist deine Entscheidung.“ Ich holte tief Luft und antwortete ihr. „Ich weiss, ich kann es nicht mein ganzes Leben mit mir herumschleppen, aber ich möchte den Zeitpunkt bestimmen, wenn ich mich damit auseinandersetze, okay?“ Ich blickte sie in der Hoffnung an, sie würde sich damit zufrieden geben. Sie zuckte nur mit den Schultern und sah mich durchdringend an. „Wie gesagt, es ist deine Entscheidung.“ Und damit war das Thema gegessen.

Mit dem Rest des Tages fand ich heraus, dass Tamara mir ähnlicher war, als ich es gedacht hatte. Sie las auch gerne, und Freunde hatte sie auch praktisch keine. Wir hatten sogar denselben Geschmack! Nachdem wir endlos über den Ausgang von Twilight diskutiert hatten – Ich war der Meinung, dass es richtig war, Bella zu einem Vampir zu machen, sie meinte, es wäre besser gewesen, wenn sie ein Mensch geblieben wäre wegen ihrer Persönlichkeit – klingelte es endlich und wir machten uns auf den Weg zum Parkplatz. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir nicht allein waren. „Sag mal, fühlst du dich nicht auch auf eine komische Art beobachtet“, fragte ich sie und sah mich fröstelnd um. „Nein, wieso meinst du?“, fragte sie, erstaunt über den plötzlichen Themawechsel. „Ach, nur so“, murmelte ich und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.

Sein Herz fühlte sich schwer an vor Trauer, er glaubte, es würde gleich in hunderttausend Scherben zerspringen. Er hatte sich noch nie zuvor so gefühlt, diese neue Flut an Gefühlen machte ihm Angst, aber es fühlte sich gleichzeitig an, als würde er erst jetzt richtig beginnen zu leben.
Aber zum Teufel noch mal, wieso? Er kannte sie gerade seit zwei Tagen, und schon fühlte es sich an, als wäre es ein ganzes Leben. Da konnte doch etwas nicht stimmen! Traurig veränderte er seine Gestalt und verdrückte sich in die Büsche und wartete darauf, dass sie endlich den Wagen starten würde.



Nachdem wir uns verabschiedet hatten und ich mich in den Wagen gesetzt hatte, war das seltsame Gefühl immer noch nicht verschwunden. Ich verdrängte diese Gedanken wieder und versuchte mich auf die Strasse zu konzentrieren. Eine Weile lang war das seltsame Zeugs weg, nur um einen Moment später um so stärker zu werden. In diesem einen Moment war ich abgelenkt und hatte nicht bemerkt, dass mir etwas Sandfarbenes vor den Wagen gesprungen war. Ich erschrak fürchterlich und versuchte zu bremsen, aber… „Miauuuu!“
Ich riss die Fahrertür auf und eilte vor die Kühlerhaube. Dort lag eine schwarze Katze mit einem seltsam verdrehten Bein und fauchte mich böse an. Herrje, was hatte ich da nur angerichtet?
„Hey, ich will dir doch nichts tun, Kleiner“, murmelte ich und streckte vorsichtig die Hand nach der Katze aus, worauf sie mich noch mehr anfauchte. „Nanana, benimmt sich denn eine liebe kleine Miezekatze so? Nein das tut sie nicht, also halt mal still!“ Als ich vorsichtig meine Hand nach ihrem Kopf ausstreckte und die schwarze Katze zu kraulen begann, schnurrte sie los wie ein 120 PS Motor.
„Na, das gefällt dir wohl, was?“ Ich musste unwillkürlich lächeln. Ich überlegte gerade, ob ich die Katze so unbeschadet ins Auto verfrachten könnte, als sie sich aufraffte und mühsam zu mir gekraxelt kam.
„Hey! Dein Bein sieht definitiv nicht gesund aus, also lass den Quatsch! Komm, ich bring dich zu mir nach Hause, dort hast du mehr als genug Zeit, um wieder gesund zu werden“, sagte ich und hob sie hoch. Im Auto suchte ich nach Dylans Kuscheldecke und wickelte die schwarze Katze darin ein. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie es auch ja bequem hatte, liess ich den Wagen an und fuhr nach Hause. Ich wunderte mich zwar, dass die Katze schwarz war, im ersten Moment hatte ich gedacht, es wäre eine beige Katze… Aber das war wahrscheinlich nur der Schock, redete ich mir ein.
Dad war zwar kein Veterinärarzt, aber so gross konnte der Unterschied zwischen Katze und Mensch ja auch nicht sein.
Hoffte ich.

Was musste sie ihn auch anfahren, und noch dazu zu ihr nach Hause schleppen? Gerade, als er beschlossen hatte, sich aus ihrem Leben herauszuhalten? Und was wäre gewesen, wenn sie ihn als etwas anderes angefahren hätte? Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre nicht als eine gewöhnliche Hauskatze vor ihrem Wagen gelandet…
Auch wenn er sich das nur vormachte, dass er hatte Abstand nehmen wollen, es war ihm lieber, als zuzugeben, dass er sie mochte. Wollte. Begehrte.
In seinen 218 Jahren hatte er noch nie so etwas verspürt. Es war eine Art von Emotionen, wie er sie bei Renata verspürt hatte, aber noch viel stärker. Und dieses Gefühl hatte ihn fast zerstört, als sie aus seinem Leben gerissen wurde. Könnte er das auch ein zweites Mal überleben? Er wollte es nicht herausfinden.
Aber wie sollte er diesen Instinkt ignorieren, der da in ihm erwachte? Den Instinkt des Werwesen, das ebenso ein Teil von ihm war, wie seine menschliche Natur?
Sein ganzes Leben lang hatte man ihm eingeflösst, dass ausgestorbene Arten wie er es war, könnten nicht fühlen. Aber das hier war etwas ganz anderes. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, konnte er nicht mehr klar denken, wenn sie da war. Und wenn sie nicht da war, war Denken noch viel schwerer. Er musste lächeln beim Gedanken, dass sie sich um ihn sorgen würde, dass ihre Hände über sein Fell streichen würden. Es würde ihn unmenschliche Beherrschung fordern, aber das war es wert. Abgesehen davon war er ja gar kein richtiger Mensch.
Vielleicht könnte er sich dann doch wieder einreden, dass er nur einmal von ihrer Nähe kosten würde und dann für immer verschwände. Ja, beschloss er, das musste fürs erste genügen. Aber er wusste, er musste es ihr sagen, irgendwann, irgendwie. Würde sie davon laufen? Oder ihn annehmen, wie er war? Er wusste es nicht, zum ersten Mal in seinem ganzen Leben konnte er die Reaktion eines Menschen nicht einschätzen.
Sie war ein geschlossenes Buch für ihn. Aber er würde sie schon noch knacken, doch diesmal würde es eine Herausforderung sein wie noch nie. Die Jagd hatte begonnen, und wieder lächelte er und streckte sein Bein. .
Seine Beute entwischte ihm nie. Gar nie.



Hatte die Katze gerade gelächelt?!? Misstrauisch starrte ich sie an. Plötzlich drehte sie den Kopf und sah mir mit ihren vollkommen grünen Augen bis auf den Boden meiner Seele. Ich hatte das Gefühl, dass all meine Geheimnissee und intimsten Momenten vor ihr ausgebreitet waren. In Gedanken breitete ich rasch ein Tuch darüber aus, und plötzlich verschwand der „Seelenblick“ wieder aus dem Gesicht der Katze und sie war wieder ein ganz normales Tier. Seufzend wischte ich mir über das Gesicht und beschloss, dass alles nur Einbildung war. Oder ich war traumatisiert. Okay, das war vielleicht übertrieben, aber immerhin erklärte das, weshalb die Katze gelächelt hatte. Falls sie überhaupt gelächelt hatte.
Als ich in die Einfahrt abbog, bewegte sich Greeneye. Ich hatte beschlossen, dass ich sie so nennen sollte, bei so grünen Augen wäre es eine Schande gewesen, ihr einen anderen Namen zu verpassen. Als ich sie behutsam aus dem Sitz hob, schnurrte sie schon wieder wie ein Motor und ich musste lächeln.
Anscheinend mochte sie mich, obwohl ich sie angefahren hatte, und nur schon aus dem Grund wollte ich sie behalten. Meine Mäuse hätten zwar genau so viel Freude an ihr wie Dad, wenn er erfuhr, was ich wieder nach Hause geschleppt hatte. Aber mit Lilly und Luna war er erst auch nicht einverstanden gewesen, und trotzdem wohnten die zwei jetzt bei uns. Insgeheim glaubte ich mittlerweile, dass Dad die beiden Racker noch mehr liebte als ich und sie auch gar keinen Fall wieder hergeben würde.
Ich kramte gerade nach dem Schlüssel, als sich die Tür öffnete und Dylan den Kopf hinaus streckte und das schwarze Bündel in meinen Armen neugierig betrachtete.
„Cassie, was hast du da in meine Kuschelwuschel eingewickelt?“, fragte er misstrauisch und ich musste seufzen. Seine Kuschelwuschel war ihm heilig, und wehe wenn etwas da drin war, was nicht da rein gehörte.
„Glaub mir, du wirst es mögen. Ist Dad schon da?“, wollte ich wissen „Nein, Daddy ist immer noch am Arbeiten, Carry hat mich vor knapp zwei Minuten hier abgesetzt, weil sie wusste, dass du gleich nach Hause kommst. Zeigst du mir jetzt, was da drin ist?“, fragte er und stand auf die Zehenspitzen, um unter die Decke zu linsen.
„Nein, du wartest jetzt, bis Dad da ist!“, sagte ich bestimmt und hob die Arme ein wenig höher. „Das ist nicht fair! Ich will auch mal schauen, schliesslich ist es meine Wuschel!“, protestierte er. Trotzdem liess er mich rein und folgte mir in die Küche, wo ich Greeneye auf den Tisch legte. Als ich mich umdrehte, sah mich Dylan herzerweichend mit seinem besten Hundeblick an und bettelte weiter. „Bitte Cassie, nur einmal ganz kurz unter die Decke schauen. Nur gaaanz kurz!“
Ich schaute mich um, ob doch nicht Dad aufgetaucht war und beugte mich danach zu Dylan hinunter. „Na gut, aber wehe du verrätst Dad etwas!“, mahnte ich ihn und hob seine Wuschel an. „Oh!“, machte er, als er Greeneye sah, und seine Augen leuchteten. „Darf ich das Kätzchen mal streicheln?“
Ich hatte es gewusst. „Nein, Dylan, das geht nicht. Vielleicht ist das Kätzchen krank und du steckst dich dann an“, erklärte ich ihm geduldig. „Und warum hast du es dann in meine Wuschel eingewickelt? Wird sie jetzt auch krank?“, fragte er besorgt und streckte die Hand aus, um Greeneye auszuwickeln.
„Ja, im Moment ist Wuschel auch vielleicht krank, aber“, ich hob die Hand, als er mich traurig ansah, „Wuschel geht es nach einer Wäsche wieder gut. Und du müsstest Medikamente wie Hustensirup nehmen…“ Dylan zog sofort die Hand zurück, als er das Wort ‚Hustensirup‘ hörte. Das bewirkte Wunder bei ihm, seit er mit vier eine Bronchitis gehabt hatte. Da blitzte eine Idee in seinen Augen auf.
„Duhu, Cassie, passe ich nicht auch in die Waschmaschine?“, fragte er hoffnungsvoll. Ich prustete und hielt mir den Bauch vor Lachen. „Nein, Dylan, ich glaube, das würde nicht funktionieren“, erklärte ich ihm, nachdem ich mich einigermassen erholt hatte und musste mir ein erneutes Lachen verkneifen, als er enttäuscht den Kopf hängen liess. In diesem Moment hörte ich eine Stimme hinter mir.
„Was soll nicht gehen?“, fragte Dad und schaute mich verwirrt an. „Dylan wollte mit Wuschel in die Waschmaschine klettern“, erklärte ich ihm und versuchte, nicht wieder loszuprusten. „Aha, ich verstehe“, sagte er. „Und was liegt da mit Wuschel auf dem Tisch?“ „Öhm Dad, bist du nicht furchtbar müde und …“ – „Cassie, was ist da drin?“, fragte er wieder. Mist, es hatte nicht geklappt.
„Versprichst du mir, es dir wenigstens anzusehen bevor du es rauswirfst?“, fragte ich hoffnungsvoll. Er fuhr sich müde über das Gesicht und seufzte schliesslich ergeben. „Dann zeig schon her wenn es sein muss“, sagte er und beugte sich mit gerunzelter Stirn über Greeneyes Decke.
„Cassie, wieso schleppst du Tiere an, die offensichtlich völlig gesund sind?“, fragte er und hob Greeneye hoch, um sich ihre Beine anzusehen. Ihr Hinterbein… wieso stand es nicht mehr in diesem unnatürlichen Winkel ab wie vorhin?
„Dad, die Katze ist mir vor den Wagen gesprungen und hat sich dabei verletzt! Ich hab gesehen wie ihr Bein… abgestanden hat!“, sagte ich verzweifelt. Ich musste definitiv mehr schlafen! „Hm“, machte Dad, „Jedenfalls geht es ihr wieder gut. Du siehst, es gibt keinen Grund, Lilly und Luna diesem Terror auszusetzen!“ Oh-oh. Ich glaubte fast, Dad mochte Greeneye nicht.
„Aber Dad, was ist, wenn Greeneye…“, setzte ich an, aber Dad unterbrach mich entsetzt. „Du hast ihm einen Namen gegeben?!? Dann ist es hoffnungslos bei dir“, seufzte er, „Aber ich sage dir, er springt nur einmal auf Terrarium und er ist genauso schnell wieder weg, wie er gekommen ist, okay?“ – „Okay!“, erwiderte ich freudig, „Aber wieso sagst du er?“ „Vielleicht, weil er ein Kater ist?“, erwiderte er und setzte sich. „Vorerst kann Greenie…“ – „Dad, er heisst Greeneye“, unterbrach ich ihn. „Dann eben Greeneye, hier bleiben, aber er kommt nicht in mein Zimmer oder in Dylans. Und ins Wohnzimmer darf er nur unter Aufsicht! Oder… Hm… Ich glaube, ich verfrachte die Mäuse zu mir. Sonst gäbe es bei Dylan Staatstrauer wenn Greenie hier“ – „Greeneye!“ – „Luna auffressen würde und er dann keine Maus mehr hätte“, sagte er kopfschüttelnd.
„Mit diesen Bedingungen kann ich leben“, befand ich und verschwand mit Greeneye ins Badezimmer. Er kuschelte sich gemütlich an mich und begann wieder zu schnurren. Im Bad setzte ich ihn auf ein weisses Handtuch und bürstete ihn mit einem feinen Kamm durch, den ich auf einem Flohmarkt erstanden hatte; aber das Handtuch war nach wie vor weiss. Erleichtert atmete ich auf; immerhin musste er keine Lausbehandlung machen. Nacheiner weiteren Prozedur befand ich, dass er auch keine Zecken, Milben oder sonst was in der Richtung hatte, auch sein Bein war wieder vollkommen normal.
Ich konnte nicht einmal Schürfwunden finden! Dabei hatte ich ganz sicher Blut auf der Strasse gesehen. „Du verbirgst etwas vor mir, du kleiner Schuft!“, sagte ich zu Greeneye und sah ihm tief in die Augen. Sie waren wie zwei grüne Wälder, verloren in der schwarzen Unendlichkeit seines Fells. Er maunzte und mir war, als ob ich etwas in seinen Augen aufblitzen sah. Ich hätte schwören können, dass es etwas wie tiefes Bedauern war.
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte ihn nur mit meinem Blick dazu zu bringen, mir alles auf der Stelle zu erzählen.
Aber was er auch immer mit seinem Bein angestellt hatte, ich würde es schon noch herausfinden.

Oh Gott, es war eindeutig: Sie wollte ihn wahnsinnig machen! Noch ein paar solcher Blicke, bei denen sich ihre Lippen so kräuselten, und er würde vergessen, weshalb er ihr nichts zeigen durfte. Sie machte ihn noch wahnsinnig.
Er sog ihren Duft tief ein, als sie ihn vom Boden aufhob und in ihr Zimmer trug und auf ihr Bett setzte. Sie roch so vertraut... Nach Sicherheit.
Als auch sie sich setzte, sprang er ihr auf den Schoss und kuschelte sich an sie. All seine vergeblichen Versuche vorhin, sich einzureden, er könne sie wieder verlassen, wurden zunichte gemacht, als ihre Hände gedankenverloren über sein weiches Fell glitten. Das allein liess ihn seine dunklen Erinnerungen seiner Kindheit für den Moment vergessen, liessen ihn Renata vergessen, Mom, Dad… Er begann zu schnurren und genoss ihre Berührungen.
Plötzlich änderte sich der Rhythmus ihrer Hände auf seinem Fell. Sie dachte an etwas, etwas, das sie unendlich traurig machte und sie von innen her auffrass. Am liebsten wollte er den Grund für ihr Unbehagen auf der Stelle in Fetzen reissen und ihr Gesicht von der Dunkelheit befreien, die sich darauf breit gemacht hatte.
Zärtlich stiess sein Kopf ihre Hand an, worauf sich immerhin ein winziges Lächeln zeigte. Zufrieden schnurrte er. Er würde alles tun, um sie Schatten zu vertreiben, die sie quälten. Alles und noch mehr.
Er spürte, auch sie hatte etwas verloren. Und er würde ihr helfen, es wieder zu finden.



Lies weiter in Plursha -4-!

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.01.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Migih, ohne Dich und Oli gäbe es dieses Buch nicht

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